Cantals Tränen - Armin Rößler - E-Book

Cantals Tränen E-Book

Armin Rößler

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Beschreibung

„Angriff.“ Luz Andrade hörte den Schrei, schloss die Augen und öffnete seinen Geist. Tatsächlich. Er fühlte die tödliche Welle des unverständlichen Hasses heranrasen, sah die Spur, die sie hinter sich herzog, den sich rasch ausbreitenden Korridor, in dem sich die Schwärze des Weltraums von einem Moment auf den anderen blutrot verfärbte. Die Flammen des Verderbens näherten sich unaufhaltsam. Grell leuchtend bahnten sie sich ihren Weg. (aus „Barrieren“) Geschichten aus einer fernen Zukunft und von fernen Welten, weit draußen, in den Tiefen des Weltraums: exotische Außerirdische, mächtige Raumschiffe, Menschen mit übersinnlichen Fähigkeiten und Wurmlöcher, die viele tausend Lichtjahre voneinander entfernte Planeten verbinden – das sind die Zutaten von Armin Rößlers „Argona-Universum“. Nach den Romanen „Entheete“, „Andrade“ und „Argona“ liegt mit „Cantals Tränen“ der erste Band mit neun Erzählungen aus diesem Universum vor. Sie spannen den Bogen über die unterschiedlichsten Epochen und Schauplätze dieser groß angelegten Space Opera.

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Von Armin Rößler bisher erschienen:

Entheete, Roman, Band 1 der Argona-Trilogie

Andrade, Roman, Band 2 der Argona-Trilogie

Argona, Roman, Band 3 der Argona-Trilogie

Cantals Tränen, Neun Erzählungen aus dem Argona-Universum

In Vorbereitung:

Die Nadir-Variante, Ein Roman aus dem Argona-Universum

Armin Rößler

Cantals Tränen

(c) 2016 Wurdack Verlag, Nittendorf

www.wurdackverlag.de

Lektorat: Ernst Wurdack

Covergestaltung: Tithi Luadthong

Inhaltsverzeichnis
Cantals Tränen
Vorwort
Schwärzer als die Nacht, dunkler als der Tod
Der große See
Das Gespinst
Das Versprechen
Barrieren
Cantals Tränen
Martys Weg
Fremd

Vorwort

Schuld ist – natürlich – der Verleger. Nicht nur an diesem einen Buch, sondern an einer ganzen Reihe von Büchern. Letztlich sogar an einem kompletten Universum.

Blicken wir zehn Jahre zurück, auf Anfang 2006. Der Roman »Entheete« lag in den letzten Zügen seines Entstehens, und Ernst Wurdack, in diesem Fall Verleger und Lektor in Personalunion, hatte das Ende noch nicht gelesen, weil es auch noch nicht geschrieben war, da kam schon die unmissverständliche Forderung: »Eine Fortsetzung muss her.« Dagegen wehrt sich selbstverständlich kein Autor der Welt. Und so wurde aus einem eigentlich abgeschlossenen Science-Fiction-Roman mit den beiden folgenden Büchern »Andrade« (2007) und »Argona« (2008) eine Trilogie und aus einer bereits ein Jahr zuvor veröffentlichten Kurzgeschichte (»Barrieren«) die Keimzelle des Argona-Universums.

Der Wunsch nach einer Fortsetzung zu »Entheete« kam genau zum richtigen Zeitpunkt. Hätte die Geschichte völlig abgeschlossen sein müssen, wäre das Finale vermutlich ganz anders gestaltet worden, eine entsprechende Idee hat es auch tatsächlich gegeben. So musste es aber weitergehen, und da kam für den Autor der zündende Einfall, »Entheete« und den zweiten Roman »Andrade« durch die Story »Barrieren« (schon 2005 in der Anthologie »Überschuss« veröffentlicht) zu verknüpfen, gerade recht. Das Ende von »Entheete« bereitet den Boden für die Welt, in der »Barrieren« spielt, und »Barrieren« erzählt die Vorgeschichte von »Andrade«. Angesichts dieser Fügung ist es fast schon logisch, dass im Lauf der Jahre neben den drei Romanen und einem vierten, der fast abgeschlossen ist (»Die Nadir-Variante«), zahlreiche weitere Kurzgeschichten entstanden sind. Sie ergänzen die Bücher, greifen vertraute Figuren oder Schauplätze wieder auf oder fügen dem Argona-Universum völlig neue Facetten hinzu. In »Cantals Tränen« liegen die meisten von ihnen, darunter drei Originalveröffentlichungen, nun erstmals gesammelt vor. Und auch was die weiteren bereits erschienenen, hier aber fehlenden Geschichten angeht, gibt es bereits konkrete Pläne.

Den Auftakt in diesem Buch macht eine neue Geschichte, »Schwärzer als die Nacht, dunkler als der Tod«. Sie entführt den Leser in die Frühzeit des Argona-Universums, als der Flug durch Wurmlöcher für Menschen noch keine Selbstverständlichkeit darstellt, wie das später der Fall ist. Im Mittelpunkt steht ein Wissenschaftler, der die Abhängigkeit von den seltsamen Außerirdischen beenden will, den Lotsen, die die Raumschiffe durch die Wurmlöcher steuern, während die menschliche Besatzung sich im künstlichen Tiefschlaf befindet. Es folgt »Der Große See«, gleich die zweite Originalveröffentlichung. Hauptfigur dieser Geschichte ist Magellan Crefeldt, der Senso-Tech, der auch in »Entheete« mitwirkt, hier aber noch ein paar Jahre jünger ist und am Anfang seiner beruflichen Laufbahn steht. Auch der Roboter Vickers ist in »Der Große See« schon mit dabei.

Dann gibt es eine ganze Reihe von Geschichten, die zwischen »Entheete« und »Andrade« angesiedelt sind, der große Zeitsprung zwischen den beiden Romanen eignet sich dafür natürlich perfekt. Zunächst einmal ist da »Das Gespinst« (ursprünglich veröffentlicht in der Anthologie »Lotus-Effekt«, 2008), in dem der Guer Barbieri zum ersten Mal in Erscheinung tritt. Wer ihn nur aus dem Roman »Argona« kennt, erfährt hier, was es mit seinem Symbionten, dem titelgebenden »Gespinst«, auf sich hat. In »Das Versprechen« (2011 in »Emotio« erschienen) werden dann erstmals im vorliegenden Buch die Kotmun erwähnt, die die Galaxis mit einem furchtbaren Krieg überziehen, wie man aus »Andrade« und »Argona« weiß. Kleiner Gimmick am Rande: Der Raumstation Penquareel wird der Leser in »Die Nadir-Variante« wieder begegnen.

»Barrieren« schließt sich an, die Geschichte um den Ment Luz Andrade und seine ebenso faszinierenden wie unheimlichen geistigen Eigenschaften – die Kotmun werden dieses Mal nicht nur erwähnt, sondern haben auch ihren ersten richtigen Auftritt. In »Cantals Tränen« (aus S.F.X, 2007) steht dann ein eher exotisches Fremdwesen im Mittelpunkt, von denen es im Argona-Universum ja so einige gibt. Auch in dieser Story gibt es zwei Bestandteile, die einen Bezug zu »Andrade« herstellen. Zum einen die Welt Abito mit dem Volk der Auian, die uns hier zu einer Zeit begegnen, als sie noch nicht von den Kotmun angegriffen worden sind, wie das in »Andrade« der Fall ist; zum anderen ist da der namenlose Coparr, der, das kann an dieser Stelle ruhig verraten werden, mit Moseyl, dem »Suchenden« aus »Andrade«, identisch ist.

Den Ments, den Menschen mit übersinnlichen Fähigkeiten, widmen sich die beiden nächsten Erzählungen. »Martys Weg« (erstmals 2008 im Corona Magazine Nummer 200 veröffentlicht) erzählt die Vorgeschichte der Titelheldin, der wir ebenfalls in »Andrade« begegnen. Und »Fremd« (2014 im Corona Magazine Nummer 300 erschienen) stellt mit Skiff Berger einen Ment in den Mittelpunkt, der in »Barrieren« zwar nicht namentlich erwähnt wird, aber sinnbildlich für die im Schatten von Luz Andrade stehenden Beschützer des Planeten agiert, die nach dem Kampf gegen die Macht vom Todesmond nach einer neuen Orientierung im Leben suchen.

Den Abschluss dieses Buches macht dann ein weiterer neuer Text, »Heimkehr«, angesiedelt nach dem Finale von »Argona«, nach dem Ende des Kriegs mit den Kotmun. Ein Soldat kehrt nach Hause zurück – und erlebt eine brutale Enttäuschung, wie sie schlimmer nicht sein könnte. Auch hier gibt es kurzes Wiederlesen mit einer Figur aus »Argona« … Und obwohl »Heimkehr« sicher kein schlechtes Ende wäre, sind damit natürlich noch längst nicht alle Geschichten aus dem Argona-Universum erzählt.

Ganz wichtig ist an dieser Stelle ein großes Dankeschön an alle, die mitgeholfen haben, dass es diese Geschichten überhaupt gibt: an Heidrun Jänchen, Dieter Schmitt und Ernst Wurdack für Lektorat, Fehlersuche, Verbesserungsvorschläge, Lob, notwendige Kritik und viel Geduld über die Jahre hinweg; an meine Frau Silke und meine Kinder Meline und Finnegan für die Zeit, in der ich diese Geschichten schreiben konnte; und natürlich allen Lesern, die sich für das interessieren, was ich mir ausgedacht habe und auch noch weiter ausdenken werde.

Schwärzer als die Nacht, dunkler als der Tod

Es ist schwärzer als die Nacht, durchfuhr es Holm Petersen, während er fasziniert auf den riesigen Monitor starrte. Das Wurmloch war nicht einfach nur die vollkommene Schwärze, es schien auch das Licht aus seiner Umgebung regelrecht abzusaugen. Die Sterne in seiner unmittelbaren Nachbarschaft verschwanden nicht, sie erloschen. Und es ist dunkler als der Tod, dachte Petersen in einem Anflug unlogischer Furcht. Ihn fröstelte, und er zitterte am ganzen Körper, so stark war die plötzliche Angst. Als wolle sie ihn von dem Gebilde fernhalten, ihn vertreiben. Doch gleichzeitig wurde er wie magisch von dem Wurmloch angezogen. Ihm galt sein Streben, seine Sehnsucht. Petersen wünschte sich nichts mehr, als bei vollem Bewusstsein durch das wundersame Gebilde reisen zu können.

Es war nur ein kleiner Schritt, zumindest sah es so aus. Er wollte ihn gehen, aber bislang war er immer zurückgeschreckt. Warum eigentlich? Der Gefahr wegen? Was war sie schon gegen seinen großen Traum?

Mach es, dachte Holm Petersen. Niemand kann dich aufhalten. Und dann überschritt er tatsächlich die unsichtbare Linie, den Ereignishorizont. Nun hätten ihn die ungeheuren Gezeitenkräfte zerreißen müssen. Doch nichts geschah, auf eine ihm unerklärliche Art und Weise war er davor geschützt. Stattdessen verdrängte das Licht mit einem Schlag die absolute Dunkelheit.

Direkt vor Petersen öffnete sich ein Tunnel, wie er noch nie zuvor einen gesehen hatte: Alles leuchtete, flackerte, strahlte – seine Augen schmerzten, und er musste sie für einige Momente schließen, um die Eindrücke zu sortieren und seine hektisch durcheinander purzelnden Gedanken zu beruhigen. Als dann endlich auch sein Herz nicht mehr wild pochte und sein Puls wieder normal schlug, wagte Petersen es. Er gestattete seinen Augen, sich zu schmalen Schlitzen zu öffnen und die fremde Umgebung vorsichtig zu betrachten.

Die Wände des Tunnels mussten aus reiner Energie bestehen. Überall rund um Holm Petersen herum leuchtete es irisierend auf. Er selbst schien im Tunnel zu schweben, sich langsam und behäbig vom einen zum anderen Ende zu bewegen. Da war ein schwacher Widerstand, doch nichts, das ihn aufhalten konnte. Ich werde mein Ziel erreichen, dachte Petersen. Eigentlich hatte er das bereits, denn er war jetzt mitten im Wurmloch, wie er sich das immer gewünscht hatte, und zwar nicht etwa als ein bewusstloses Stück Fracht an Bord eines Schiffes, sondern bei klarem Verstand. Er sah das Innere des Wurmlochs, er sog die Bilder auf, sie nahmen ihn gefangen. Er fühlte eine Gänsehaut, hätte aber nicht sagen können, an welcher Stelle seines Körpers.

Am Ende des Tunnels, gar nicht so weit entfernt, entdeckte Petersen eine kreisförmige Öffnung. Er wusste, dass das Wurmloch eine Abkürzung darstellte, die einen Punkt des Universums mit einem anderen verband, ohne dass die tatsächliche Distanz eine Rolle spielte. Einige wenige Schritte ersetzten eine quälend lange Reise. Der Zielpunkt war zu erkennen: eine Sonne, um die mehrere Planeten kreisten. Bald schon würde er dort sein.

Das Licht tobte um ihn herum. Er fühlte Kopfweh, das stärker wurde. Trotzdem hielt Petersen seine Augen stur weiter geöffnet. Er wollte sich nichts entgehen lassen.

Hin und wieder war es ihm möglich, durch die Tunnelwände hindurch zu sehen. Stellen, die eben noch undurchdringlich wirkten oder wie helle Flammen aufloderten, wurden unvermittelt durchsichtig. Dann erspähte Petersen, was hinter dem Tunnel lag. Doch er hatte es bereits zuvor geahnt. Das Wurmloch, durch das er gemächlich schwebte, war natürlich nicht die einzige Verbindung zwischen den Sternen. Petersen entdeckte eine Vielzahl weiterer Tunnel, dich sich kreuz und quer ihren Weg bahnten. Manche waren leer, in anderen konnte er Objekte erkennen, bei denen es sich um Raumschiffe handeln musste. Es waren nur kurze Schlaglichter, die er aufschnappte; um Details wahrzunehmen, ging alles deutlich zu schnell. Petersen sah ein Schiff, dann war es schon wieder weg. Natürlich war er neugierig. Fremde Völker, die durchs All reisten, und das praktisch direkt vor seinen Augen. Doch es blieb ihm unmöglich, auch nur zu erahnen, wie ihre Transportmittel aussehen mochten. Die Stellen, an denen sich die Tunnelwand für ihn öffnete, verschwanden dafür viel zu rasch. So blieben seine Eindrücke vage.

Das Ziel vor ihm wurde größer, die Reise ging zu Ende.

Holm Petersen fühlte tief in sich große Zufriedenheit.

Dann wurde es dunkel.

Mit dem Erwachen kam die Enttäuschung. Es hat so real gewirkt, dachte Petersen. Und: Jetzt erst recht. Ich werde es schaffen.

Es klopfte. Holm Petersen wurde aus seinen Gedanken gerissen.

Natürlich hatte er kein echtes Klopfen gehört. Das Schott, das sein Labor vom Rest Wheelers abgrenzte, leitete den Schall ebenso wenig wie die Wände. Die KI hatte das Geräusch erzeugt, um ihn auf einen Besucher aufmerksam zu machen.

»Verdammt«, fluchte Petersen. »Ich hatte doch ausdrücklich angeordnet, dass ich nicht gestört werden möchte.«

»Es ist Caity Liu«, sagte die KI mit ihrer sanften, geschlechtsneutralen Stimme.

»Verdammt«, wiederholte Petersen. Liu war die neue wissenschaftliche Leiterin der Station. Rossetti, ihr Vorgänger, hatte ihn weitgehend in Ruhe gelassen. Doch mit seinem Abschied brachen offensichtlich andere Zeiten an.

Petersen schaute sich rasch um. Er war glücklicherweise ein ordentlicher Mensch. Nirgends lag etwas herum, das Liu Aufschluss über seine Forschungsergebnisse hätte geben können. Auf seinem Computerbildschirm wechselte er rasch die Ansicht, weg von seinen aktuellen kniffligen Berechnungen, hin zu unverfänglichen Daten, allgemeinem Wissen über die Wurmlöcher, das er längst in- und auswendig kannte. Liu würde das jedoch vermutlich nicht wissen. Für sie war er nur einer von vielen.

Natürlich musste Petersen seiner neuen Chefin berichten. Trotzdem wollte er vermeiden, dass sie durch allzu genaue Kenntnisse seiner Arbeit am Ende seine Lorbeeren einheimste. Er kannte die Frau nicht, er wusste nicht, wie sie tickte.

»Lass sie herein«, sagte er.

Lius Anblick überraschte ihn. Er hatte sie bisher noch nicht gesehen und eine ganz andere Vorstellung von ihr gehabt. Petersen hatte nämlich Rossettis Abschied genauso geschwänzt wie Caity Lius Antrittsrede vor der versammelten Forscherrunde. Er stand kurz vor dem Durchbruch und wollte keine Minute seiner kostbaren Zeit verschwenden.

»Guten Tag, Dr. Petersen«, sagte Liu. Die Asiatin war eine zierliche Person, höchstens einen Meter sechzig groß. Ihr halblanges, schwarzes Haar hatte sie im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden. Unter dem weißen Laborkittel trug sie ein weinrotes Kostüm, das ihr gut stand. Ihre Schuhe hatten nur dezente Absätze, Liu widerstand also der Versuchung, sich größer zu machen, als sie war. Sie schien nicht unter Minderwertigkeitskomplexen zu leiden. Und sie war noch jung für ihre Position, definitiv keine vierzig. Ihr Gesichtsausdruck ließ sich nur schwer deuten. Was ihm wie eine höfliche Maske erschien, mochte auch Missfallen sein. Schließlich hatte er sie seit ihrer Ankunft auf der Station gemieden – zwar nicht bewusst, sondern rein aus Zeitgründen, aber es mochte ihr womöglich so erschienen sein.

»Dr. Liu.« Petersen nickte ihr zu und versuchte ein freundliches Lächeln. Es gelang ihm nicht sonderlich gut.

»Leider waren Sie nicht anwesend, als ich mich Ihren Kollegen vorgestellt habe«, sagte Caity Liu. Es klang nicht vorwurfsvoll und sollte es vielleicht auch nicht sein. Dennoch nahm es Petersen als Tadel wahr. Er spürte, dass er errötete.

»Ich …«

Sie ließ ihn nicht ausreden. »Die Arbeit geht immer vor, dafür habe ich vollstes Verständnis.« Ihre Worte kamen nüchtern, ohne große Leidenschaft, aber Petersen merkte sofort, dass er diese Frau nicht unterschätzen durfte.

»Sie haben allerdings meine Ankündigung verpasst, dass ich plane, einmal wöchentlich jedem Labor einen Besuch abzustatten. Ich weiß, dass mein Vorgänger das anders gehandhabt hat. Mir steht nicht zu, über Dr. Rossetti zu urteilen, und ich gönne ihm seinen sicher wohlverdienten Ruhestand. Aber eine derart, verzeihen Sie, laxe Führung, liegt nicht in meinem Interesse. Ich bin die wissenschaftliche Leiterin dieser Station, ich möchte wissen, was an Bord passiert, und ich möchte vor allem auch Ergebnisse sehen.«

Petersen beherrschte sich, nicht mit den Zähnen zu knirschen. Liu ließ keinen Zweifel daran, dass sie sich auf der Karriereleiter im Eiltempo auf dem Weg nach oben befand. Sie würde nicht ihr Leben lang auf Wheeler bleiben, zumindest hatte sie das nicht vor. Er musste noch vorsichtiger sein, als er ohnehin schon befürchtet hatte.

Aber vielleicht …

Vielleicht fand er in Caity Liu auch genau die Unterstützerin, die er benötigte. Dafür musste es ihm gelingen, einen gesunden Mittelweg zu finden. Er durfte ihr nicht zu viele Informationen geben. Und gleichzeitig musste er sie so weit anfüttern, dass sie ihm nicht nur keine Steine in den Weg legte, sondern ihm auch aktiv unter die Arme griff.

»Dr. Liu«, sagte er, und jetzt gelang ihm das Lächeln. »Ich freue mich wirklich, Sie zu sehen. Und es tut mir aufrichtig leid, dass ich bisher noch nicht die Gelegenheit gefunden habe, mich Ihnen vorzustellen. Aber meine Forschungen …«

Er musste die Kunstpause nicht länger als notwendig ausdehnen.

»Woran arbeiten Sie?«, fragte Liu.

Petersen deutete auf die Wand. Obwohl sein Labor tief im Inneren von Wheeler lag, war darauf ein Blick in den Weltraum zu sehen. Genauer: auf Wurmloch Nummer sieben, so die nüchterne Bezeichnung im Sternenkatalog für das Objekt seiner Begierde.

»Das ist nicht sonderlich originell. Fast alle Forschungen auf dieser Station haben in irgendeiner Form mit den Wurmlöchern zu tun. Deshalb sind wir ja hier.«

Er nickte und überlegte für einen kurzen Moment, wie viel er verraten durfte. »Asche auf mein Haupt«, sagte Petersen dann. Er lächelte nicht mehr. Unwillkürlich gab er seiner Stimme einen feierlichen Klang. »Ich will wissen, was beim Flug durch das Wurmloch passiert.«

»Die Lotsen …«

Jetzt unterbrach er Caity Liu. »Die Lotsen steuern das Schiff, und die Mannschaft liegt derweil im künstlichen Tiefschlaf. Das ist so, seit uns das Geschenk des interstellaren Raumflugs gemacht worden ist und die sanfte Passage durch die Wurmlöcher den alten Aufriss-Antrieb mit seinen schmerzhaften Nebenwirkungen abgelöst hat. Wir nehmen es hin. Oder haben es bislang hingenommen. Aber wäre es nicht interessant, wenn wir endlich erfahren würden, was in der Zeit geschieht, in der das Schiff durch das Wurmloch fliegt? Wenn wir am Ende vielleicht sogar ganz auf die Lotsen verzichten könnten? Wenn wir unsere eigenen Herren wären und nicht mehr auf andere angewiesen? Auf Fremdwesen, die wir nicht einmal ansatzweise verstehen? Auf diese seltsamen, unheimlichen Möchtegern-Vögel?«

»Das wäre …«

»Das wäre fantastisch«, sagte er. »Das wäre ein Durchbruch, eine Revolution. Es würde uns ungeahnte Möglichkeiten eröffnen.«

Caity Liu war sichtlich überrascht. Damit hatte sie offenkundig nicht gerechnet. Holm Petersen freute sich über den kleinen Erfolg. Gleichzeitig fragte er sich, ob er nicht ohne Not schon viel zu viel ausgeplaudert hatte. Er musste sich in seiner eigenen Begeisterung bremsen, durfte sich nicht vom Überschwang mitreißen lassen.

»Was haben Sie vor?«, fragte sie. Ihr Gesichtsausdruck hatte sich während des gesamten Gesprächs kein bisschen verändert. Erst jetzt schien sie ein wenig ernster dreinzublicken, falls das überhaupt möglich war.

»Der Mensch ist nicht für den Flug durch ein Wurmloch geschaffen«, stellte Petersen fest und rang noch immer mit sich, wie viel von seinem Wissen und seinen Plänen er eigentlich preisgeben wollte. Das war eine Wahrheit, die jeder kannte. Menschen wurden wahnsinnig, wenn sie es wagten, ein Wurmloch bei Bewusstsein zu durchqueren. Deshalb schickte man sie üblicherweise in einen künstlichen Tiefschlaf. Ihr Schiff wurde derweil von den Lotsen gesteuert. Das funktionierte seit Jahrzehnten reibungslos. Allerdings entzogen sich die seltsamen Vogelwesen immer noch jeglicher Kommunikation, die über diesen Transport hinausging. Deshalb vermochte auch niemand zu sagen, ob ihre Dienste bis in alle Ewigkeit zur Verfügung stehen würden. Oder ob sie vielleicht irgendwann eine Gegenleistung forderten. Was auch immer das dann sein würde.

»Ich möchte die Abhängigkeit beenden«, sagte Petersen. »Ich will erreichen, dass ein Mensch ein Schiff durch ein Wurmloch steuern kann. Und dass er auch anschließend noch bei klarem Verstand ist.«

Caity Liu schwieg. Sie musterte ihn, als wolle sie überprüfen, ob er für diese Idee und Herausforderung der richtige Mann war. Petersen kannte die Antwort bereits, deshalb hielt er ihrem Blick stand.

»Was ist Ihr Ansatz?«, fragte sie.

»Ich befinde mich auf keinem schlechten Weg«, sagte er ausweichend, merkte aber gleich, dass das nicht ausreichend war. So billig kam er leider nicht davon. »Die Lotsen sind der Schlüssel«, fügte er hinzu und biss sich auf die Zunge. Damit hatte er wohl endgültig zu viel verraten. Aber wenn er ihre Unterstützung wollte, musste er zumindest einen Teil seiner Erkenntnisse preisgeben. Es war ein schwieriger Spagat.

»Inwiefern?«

»Ihr Gehirn funktioniert auf eine Art und Weise, die uns fremd ist.«

»Also?«

Petersen zögerte. Was soll’s, sagte er sich dann. »Ein Scan«, antwortete er. »Ein umfassender Gehirnscan, der vollständig dokumentiert, was sich im Schädel eines Lotsen abspielt, wenn er ein Raumschiff durch das Wurmloch steuert.«

»Das ist unmöglich«, sagte Caity Liu. »Und schon allein der Versuch ist unerhört gefährlich.«

»Ich bin bereit, das Risiko auf mich zu nehmen.«

»Wenn es schiefgeht …«

»Wenn es schiefgeht, darf es auf keinen Fall auf die gesamte Menschheit zurückfallen. Es muss die Tat eines Einzelnen sein, das ist mir bewusst. Ein Fehlschlag darf nicht das Zeitalter der menschlichen Raumfahrt beenden.«

Caity Liu nickte.

»Ein Erfolg allerdings …« Er kostete seine Worte jetzt aus und wusste gleichzeitig, dass er längst viel, viel mehr gesagt hatte, als es jemals seine Absicht gewesen war. »Ein Erfolg würde ein ganz neues Zeitalter einläuten.«

Barrett hatte es geschafft, dass seine Papiere immer in Ordnung gewesen waren. Mit dem Handel, der dort dokumentiert war, hatte er allerdings nur einen Bruchteil seiner Gewinne erzielt. Von seinen Schmuggelgeschäften wussten nur die wenigsten Menschen. In Petersens Fall hatte es dafür verwandtschaftlicher Verbindungen bedurft.

Er hatte Jonas Lehrmann nie leiden können. Dass sich seine Schwester an einen solchen Versager vergeudete, hatte er nur schwer verstehen können, wirklich akzeptieren wollte er es bis heute nicht. Die Liebe … Davon wusste er nichts und würde wohl auch niemals tiefschürfendere Erkenntnisse gewinnen. Holm Petersens Leben war seinen Forschungen gewidmet, Zwischenmenschliches interessierte ihn nicht.

Lehrmann war Raumfahrer, was vielleicht die Faszination erklärte, die Petersens Schwester für ihn entwickelte. Aber er war auch eine gescheiterte Existenz und musste mit den Jobs vorliebnehmen, die sonst kaum jemand haben wollte. Als er Petersen von Kapitän Barrett erzählte, war er betrunken. Jedoch hatte er sich immerhin noch so weit unter Kontrolle, dass er nur das erzählte, was ihm aufgetragen worden war. Vielleicht brauchte er den Alkohol, um überhaupt den Mut aufzubringen, Petersen die Wahrheit über seinen aktuellen Arbeitgeber zu gestehen. Lehrmann war nur der Mittelsmann.

Barrett brauchte Ersatzteile für den Antrieb seines Schiffs. Offizielle Kanäle konnte er nicht nutzen, weil der überraschend hohe Verschleiß sicher bei einigen Stellen Misstrauen geweckt hätte, was er unbedingt vermeiden wollte. Und obwohl er selbst als Schmuggler tätig war, schien er seinen eigenen Hehlern in diesem Fall nicht zu trauen.

Petersen hatte die entsprechenden Verbindungen und keine Skrupel. Das Geld, das für ihn dabei abfiel, steckte er mit Begeisterung in seine Forschungen.

Das Geschäft ging nicht nur einmal über die Bühne. Auch als Jonas Lehrmann Petersens Schwester sitzen ließ und das Weite suchte, arbeiteten Barrett und er noch genauso zuverlässig zusammen. Deshalb wusste Holm Petersen, dass er von dem Schmuggler ohne Probleme einen Gefallen einfordern konnte. Und der bestand im speziellen Fall in einem Flug mit der Stolt durch das Wurmloch.

»Treib es nicht zu bunt«, sagte Barrett nur.

Petersen nickte. »Der Lotse wird nicht das Geringste bemerken.«

»Das hoffe ich. Mit diesen Vögeln ist nicht gut Kirschen essen. Ich würde nur ungern auf ihrer schwarzen Liste landen.«

»Im Idealfall wird er überhaupt nichts bemerken«, sagte Petersen. »Und falls das wider Erwarten doch passieren sollte: Ich bin an Bord. Du kannst mir die Schuld in die Schuhe schieben.«

»Das werde ich auch tun«, knurrte Barrett. Er hätte vom Typ her einen guten Piraten abgegeben, wenn ihm auch die Augenklappe fehlte oder der Papagei auf der Schulter: ein baumlanger Kerl, einen guten Kopf größer als Petersen, mit spiegelblanker Glatze, buschigen Augenbrauen und einem massigen Körper, dabei aber nicht fett, sondern muskulös und dazu noch mit bedrohlich wirkenden Tätowierungen auf den Armen, die zu seinem meist grimmigen Blick passten.

Holm Petersen gab ihm keine Antwort. Er hatte längst beschlossen, alles Weitere auf sich zukommen zu lassen. Dieser Flug war ein ganz wichtiger Schritt auf seinem Weg, vielleicht der wichtigste überhaupt. Er wollte sich durch nichts davon ablenken lassen, sein Ziel zu erreichen. Dass er dabei ein großes Risiko eingehen musste, war ihm bewusst.

»Du bist dir sicher, dass einer der beiden Lotsen diesen Raum aufsuchen wird? Absolut sicher? Das ist doch einfach nur ein Lagerraum …«

Barrett zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, wie oft ich mit der Stolt schon die Passage durch ein Wurmloch hinter mich gebracht habe, hier oder in ganz anderen Ecken der Galaxis. Und keine Ahnung, wie viele Lotsen wir insgesamt an Bord hatten – niemand kann die Kerle voneinander unterscheiden, doch es werden ja kaum immer dieselben gewesen sein. Aber es war jedes einzelne Mal dieser Raum hier, in dem sich einer von ihnen aufhalten wollte, während sie das Schiff durchs Wurmloch steuerten. Der zweite Ort hat tatsächlich gewechselt, aber dieser hier ist immer dabei gewesen. Jedes Mal, ohne Ausnahme. Warum, kann ich dir nicht sagen.« Er schnaufte. »Also, ja, ich bin mir sicher.«

Petersen hob abwehrend die Hände. »Schon gut. Der Aufwand ist beträchtlich, und ich wollte nicht …«

Barrett unterbrach ihn. »Pass auf, dass er nichts bemerkt. Alles andere interessiert mich nicht. Und jetzt sollte ich langsam meine Arbeit machen, sonst fliegen wir nirgendwohin.« Damit verließ er den Lagerraum.

Holm Petersen sah sich um. Er konnte keinen Hinweis darauf entdecken, was ausgerechnet diesen Ort in den Augen der Lotsen so attraktiv machte, dass sie ihn jedem anderen an Bord der Stolt vorzogen. Wahrscheinlich war es nicht wichtig, und vielleicht hätte er einfach auf Barrett vertrauen sollen, trotzdem beschäftigte es ihn. Ich würde es gerne verstehen, dachte Petersen.

Der Boden war hart wie überall auf dem Schiff, die Wände und die Decke schmucklos. Die technische Ausstattung beschränkte sich auf ein Gerät zur bordinternen Kommunikation, einen Mini-Bildschirm samt Sprechanlage. Mehr gab es nicht, auch keine Möbel oder Regale. Im einen Eck standen mehrere Plastikboxen, übereinander gestapelt, jede etwa kniehoch, grau und unscheinbar. Barretts Schmuggelware oder eher etwas, das er offiziell transportierte? Daran war Petersen nur mäßig interessiert. Aber die Kisten eigneten sich hervorragend für seine Zwecke. Der Kapitän hatte ihm freie Hand gelassen, also scheute er sich nicht, die oberste Box beiseitezustellen und die nächste zu öffnen. Der Inhalt ließ ihn grinsen. Es war nicht verboten, Spirituosen durch den Weltraum zu schippern. Doch womöglich umging Barrett den Zoll. Oder mit dem Schnaps war alles in Ordnung, und er tarnte damit nur andere Güter, die er deutlich besser versteckt hatte.

Egal. Bis sie ihr Ziel erreichten und dort eventuell kontrolliert wurden, würde Petersen seine Geräte längst wieder entfernt haben.

Er schob die Flaschen zusammen, bis genügend Platz war, um den Scanner in der Kiste unterzubringen. Dann verschloss er sie sorgfältig und wuchtete die andere wieder nach oben. Alles sah aus wie zuvor.

Petersen ging in die andere Ecke des Lagerraums, in der sich keine Waren befanden. Er fuhr mit den Fingern forschend über die nackte Wand. »Wo hast du nur …«, murmelte er vor sich hin, dann stieß er auf den sanften Widerstand. Er zog einen winzigen Stift aus der Tasche und fuhr mit ihm in die schmale Ritze. Eine kleine Tür klappte lautlos auf und offenbarte ein Fach. »Glück gehabt«, sagte Petersen. Es war leer. Hier verstaute er den zweiten Scanner, das zusätzliche Gerät, mit dem er auf Nummer sicher ging, um keine böse Überraschung zu erleben, falls das andere nicht wie gewünscht funktionieren sollte oder gar entdeckt wurde. Das Türchen machte er wieder zu. Es verschmolz fugenlos mit dem Rest der Wand.

Holm Petersen stellte sich in die Mitte des Raums und sah sich noch einmal ganz genau um. Natürlich wusste er, wo er hinzuschauen hatte, doch es beruhigte ihn, dass ihm nichts besonders auffällig erscheinen wollte. Die optische Seite war vielleicht auch nicht das Problem. Kritisch wurde es, sobald die Geräte aktiviert waren. Die Lotsen zählten unzweifelhaft zu den seltsamsten Lebewesen des bekannten Universums. Dafür musste man nur wissen, dass sie Raumschiffe durch Wurmlöcher steuerten. Niemand vermochte zu sagen, wie ihre Sinne funktionierten und was sie wahrnehmen konnten.

Aus Petersens Sicht gab es drei Möglichkeiten: Der Lotse entdeckte die Scanner nicht. Dann gab es auch kein Problem. Oder er bemerkte die Geräte, ignorierte sie aber, weil er über diesen Dingen stand – auch das wäre letztlich in Ordnung. Blieb Option Nummer drei: Das Vogelwesen fühlte sich durch Petersens Messungen in seiner Aufgabe gestört. Dann würde es darauf reagieren. Auf welche Art und Weise konnte kein Mensch vorhersagen.

»Ich muss es tun«, machte sich Petersen selbst Mut. »Es ist die richtige Entscheidung.«

Er aktivierte die Scanner. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Er lief langsam in Richtung der Zentrale. Von dort aus würde er die Ankunft des Lotsen beobachten können.

Petersen hatte sich in einen Winkel zurückgezogen, in dem er keins der vier Besatzungsmitglieder störte, aber trotzdem alle Bildschirme im Blick behalten konnte. Er war angespannt und kaute nervös an den Fingernägeln. Als er sich dabei ertappte, hörte er auf. Wenig später hatte er den Finger jedoch schon wieder im Mund. Es stand viel auf dem Spiel. Wenn sein Versuch scheiterte, würde es nicht einfach werden, die Messungen zu wiederholen. Schon gar nicht, wenn die Lotsen sich daran störten.

»Soll ich dir etwas zu tun geben?«, fragte Barrett.

Petersen schüttelte den Kopf. »Danke für das Angebot, aber das bringt nichts. Ich wäre kaum von Nutzen. Lass uns einfach hoffen, dass es jetzt schnell geht.«

»Mach dir nicht zu viele Hoffnungen«, sagte Barrett.

Barrett hatte natürlich weit mehr Erfahrung mit diesen Situationen als Holm Petersen. Es zeigte sich, dass tatsächlich Geduld gefragt war. Als das kleine Schiff der Lotsen dann endlich auf einem der Bildschirme auftauchte, atmete Petersen erleichtert auf. Bald merkte er jedoch, dass ihm das Warten jetzt sogar noch schwerer fiel. Das Schiff näherte sich der Stolt nur sehr langsam.

»Verdammt«, fluchte Petersen.

Von Barrett kam ein leises Lachen. Seine Kollegen widmeten sich ihren Aufgaben und ignorierten Petersen weitgehend.

Die Lotsen dockten endlich am Handelsraumer an. Ein Monitor zeigte schon wenig später, dass sich ein Schott öffnete. Zwei ungelenk wirkende Gestalten, in Raumanzüge gehüllt, die Gesichter von Helmen verborgen, betraten den Hangar. Sie durchquerten ihn und entledigten sich der Schutzkleidung, alles jedoch viel zu langsam für Petersens Geschmack. Dann ging es in staksigen Schritten aus dem Hangar hinaus.

»Bitte«, sagte Holm Petersen leise. Er ballte die Fäuste. Sein Herz pochte wie wild.

Das eine der beiden Vogelwesen erhörte ihn. Während es seinen Artgenossen ans andere Ende der Stolt zog, betrat dieser Lotse tatsächlich genau den Lagerraum, in dem der Wissenschaftler seine Geräte versteckt hatte.

Petersen verspürte grenzenlose Erleichterung. Diese wurde gleich darauf von einer neuerlichen Sorge abgelöst. Was, wenn der Lotse die Scanner bemerkte? Petersen hielt den Atem an.

Es war schwer zu beurteilen, ob das Vogelwesen sich im Lagerraum umschaute oder keinerlei Neugier für seine Umgebung entwickelte. Das lag an seinen Augen. Sie waren fast schon riesig in Relation zum eher kleinen Kopf, und ihre Pupillen bewegten sich sehr schnell. Womöglich konnte der Lotse mühelos auch zur Seite sehen.

Er schien jedoch nichts bemerkt zu haben, das ihn störte, so wirkte es zumindest auf Holm Petersen. Der Lotse ließ sich auf den harten Boden nieder und verharrte dort regungslos. Sein Gefieder hatte eine gräuliche Farbe, die Flügel waren nicht richtig entwickelt, sondern nur Stummel – fliegen würde er damit garantiert nicht können.

An Bord der Stolt hatte er ohnehin andere Aufgaben. Gemeinsam mit seinem Artgenossen sollte der Lotse das Schiff durch das Wurmloch steuern. Dafür mussten sie irgendwie miteinander und auch mit dem Bordcomputer kommunizieren. Auch das eröffnete natürlich noch die Möglichkeit, dass im Rahmen dieses Austauschs die Scanner-Impulse entdeckt wurden. Trotzdem spürte Petersen, dass er allmählich ruhiger wurde.

Gleich ist es so weit, dachte er.

Die Stolt befand sich kurz vor dem Wurmloch.

»Es wird Zeit«, sagte Barrett. Petersen wäre gerne wach geblieben, aber er wusste, dass das nicht ging. Noch nicht. Er drückte sich fest die Daumen, dass er sich auf dem richtigen Weg befand.

Ein kleiner Roboter war darauf programmiert, die Menschen mit dem notwendigen Medikament zu versorgen. Niemand blieb während der Passage durch das Wurmloch bei Bewusstsein. Alle Mitglieder der Besatzung wurden in einen künstlichen Tiefschlaf versetzt, aus dem sie erst dann wieder erwachen durften, wenn das Schiff sich in der Sicherheit des normalen Weltraums befand. Der menschliche Geist war einfach nicht für diese Reise geschaffen. Petersen wollte das ändern. Und er befand sich jetzt vielleicht nur noch einen kleinen Schritt von seinem großen Ziel entfernt.

Die Spritze entlud sich mit einem leisen Zischen. Petersen spürte die Wirkung sofort und ließ sich im Sessel zurücksinken. Es war verlockend, gegen den Tiefschlaf anzukämpfen. Doch dafür hatte er nicht die Kraft. Ihm wurde schwummrig und schließlich immer schwärzer vor Augen. Dann wehrte er sich nicht mehr länger. Vollkommene Dunkelheit umfing ihn. Er sank in die Bewusstlosigkeit.

Das Nächste, was Petersen wahrnahm, war Übelkeit. Ihm war schlecht, und er hätte sich am liebsten übergeben. Er benötigte einen kurzen Moment, um zu verstehen, wo er sich befand. Als er es endlich begriffen hatte, wollte er das Gefühl der Benommenheit mit aller Macht abschütteln. Er versuchte, sich auch gleich aus dem Sessel zu stemmen.

Stechende Kopfschmerzen waren die Antwort. Holm Petersen ächzte. Von irgendwoher erklang ein Lachen. Vielleicht Barrett, vielleicht einer der anderen Raumfahrer. Sie waren den Flug durchs Wurmloch gewohnt, ganz im Gegensatz zu Petersen, und würden ihn ebenso wie das Betäubungsmittel sicher besser vertragen haben. Um Petersen herum drehte sich alles, wie bei einer wilden Fahrt auf dem Karussell.

»Die …« Er krächzte, schon das eine Wort kam ihm kaum über die Lippen. Niemand reagierte darauf. Und die Kopfschmerzen wurden noch stärker.

Petersen tat das einzig Vernünftige: Er lehnte sich wieder zurück, schloss die Augen, gab den Kampf auf, überließ es seinem Körper, die Nachwirkungen der Passage und des kurzen künstlichen Tiefschlafs zu bekämpfen. So sehr der Wunsch in ihm brannte, sofort an die Daten zu gelangen, die die beiden Scanner gesammelt haben mussten, so sehr ließ er sich jetzt von der Vernunft die nächsten Schritte vorgeben. Du musst ohnehin warten, bis die Lotsen das Schiff verlassen haben. Wahrscheinlich verlor er also überhaupt keine Zeit, wenn er sich noch ein paar Minuten lang erholte.

Die milchigen Schleier verschwanden nur langsam wieder vor seinen Augen. Doch seine Geduld wurde belohnt: Die Benommenheit ließ nach, seine Gedanken wurden klarer.

Er stand auf. Die Knie waren weich, doch er hielt seinen Körper aufrecht. Er musste sich auch nur kurz auf der Lehne des Sessels abstützen.

Barrett trat zu ihm. »Alles in Ordnung?« Seine Stimme war fest wie immer, auch sonst war ihm nichts anzumerken.