CAPREA - EIN TEIL DES SYSTEMS - León Grösch - E-Book

CAPREA - EIN TEIL DES SYSTEMS E-Book

León Grösch

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Beschreibung

Die Zukunft: Eine überbevölkerte Welt wird von einer totalitären Regierung beherrscht. Jean lebt mit seiner Familie in Caprea, einem der drei großen Länder des Kontinents Bestia. Gemeinsam mit den Ländern Ursus und Lupus werden Spiele veranstaltet, die den zynischen Zweck verfolgen, der Überbevölkerung entgegenzuwirken - diese Spiele fordern Tausende von Opfern, damit der Rest der Gesellschaft nicht unter katastrophalen Bedingungen leben muss. Doch schließlich formiert sich eine systemkritische Widerstandsvereinigung... CAPREA - EIN TEIL DES SYSTEMS ist der Debüt-Roman des deutschen Science-Fiction-Autors León Grösch (Jahrgang 1999).

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LEÓN GRÖSCH

 

 

CAPREA -

EIN TEIL DES SYSTEMS

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

Signum-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Impressum 

Das Buch 

CAPREA - EIN TEIL DES SYSTEMS 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

Dreiundzwanzigstes Kapitel 

Vierundzwanzigstes Kapitel 

Fünfundzwanzigstes Kapitel 

Sechsundzwanzigstes Kapitel 

Siebenundzwanzigstes Kapitel 

Achtundzwanzigstes Kapitel 

Neunundzwanzigstes Kapitel 

Dreißigstes Kapitel 

Einunddreißigstes Kapitel 

Zweiunddreißigstes Kapitel 

Dreiunddreißigstes Kapitel 

Vierunddreißigstes Kapitel 

Fünfunddreißigstes Kapitel 

Sechsunddreißigstes Kapitel 

Siebenunddreißigstes Kapitel 

Achtunddreißigstes Kapitel 

Neununddreißigstes Kapitel 

Vierzigstes Kapitel 

Einundvierzigstes Kapitel 

Zweiundvierzigstes Kapitel  

Dreiundvierzigstes Kapitel 

Vierundvierzigstes Kapitel 

Fünfundvierzigstes Kapitel 

Sechsundvierzigstes Kapitel 

Siebenundvierzigstes Kapitel 

Achtundvierzigstes Kapitel 

Impressum

 

Copyright © 2023 by León Grösch/Signum-Verlag.

Lektorat: Dr. Birgit Rehberg

Cover: Copyright © by Christian Dörge.

 

Verlag:

Signum-Verlag

Winthirstraße 11

80639 München

www.signum-literatur.com

[email protected]

Das Buch

 

 

Die Zukunft: Eine überbevölkerte Welt wird von einer totalitären Regierung beherrscht. Jean lebt mit seiner Familie in Caprea, einem der drei großen Länder des Kontinents Bestia. Gemeinsam mit den Ländern Ursus und Lupus werden Spiele veranstaltet, die den zynischen Zweck verfolgen, der Überbevölkerung entgegenzuwirken - diese Spiele fordern Tausende von Opfern, damit der Rest der Gesellschaft nicht unter katastrophalen Bedingungen leben muss.

Doch schließlich formiert sich eine systemkritische Widerstandsvereinigung... 

 

Caprea - Ein Teil des Systems ist der Debüt-Roman des deutschen Science-Fiction-Autors León Grösch (Jahrgang 1999). 

CAPREA - EIN TEIL DES SYSTEMS

 

  Erstes Kapitel

 

 

»Ich fürchte den Tod. Die Ungewissheit mag vielleicht einer der unzähligen Punkte sein, weshalb ich meine Gedanken immer wieder in eine andere Richtung lenke, auch wenn ich am Ende des Tages doch nur wieder dort stehe, wo ich begonnen habe. Ich glaube nicht an ein Paradies, geschweige denn an eine Art Fegefeuer. Da steckt ein Wertesystem hinter, dass in meinen Augen keinen Sinn ergibt. Ein Mensch wird nach den Kriterien bewertet, die jener selbst aufstellt, dass erscheint mir mehr als Paradox.« Mit diesen Worten beginnt Jean sein Traumtagebuch.

Er trägt es immer bei sich, um seine Gedanken zu verschriftlichen, denn anders, als man vermuten würde, befinden sich nicht nur seine Tiefschlafträume darin, sondern auch seine Tagesträumereien. Immer, wenn er einen stillen Moment für sich hat und dem Trubel des Alltags entfliehen kann, verschanzt er sich in der Ecke eines Raumes oder hinter einem Busch in den Gärten der Stadt. Der heutige Auszug entstand in der örtlichen Bücherei, wo Jean ein Großteil seiner Tage verbringt. Auch, wenn er bisher nicht, wie seine Mitbürger, in Bücher eintauchen konnte, gefällt ihm der Gedanke ein Teil des großen Ganzen zu sein. Ein Teil des Getriebes, gar ein Teil, welches das System am Laufen hält. Das ist das, was er sein will, das ist das, was andere von ihm verlangen. Außerdem genießt er den Geruch von altem Papier, weshalb er stets zwischen den Geschichtsbüchern der drei Länder sitzt. Dort halten sich nämlich nur selten andere Menschen seines Alters auf, wenn es hochkommt, trifft er am Tag zwei bis drei ältere Damen oder Herren.

Manchmal schaut er über die Brüstung den anderen 20- bis 25jährigen zu, wie sie verstreut zwischen Philosophie und Wissenschaft umherirren. Es ist ein wenig so, als schaue man Ameisen zu, die sich auf den ersten Blick ohne Sinn und Verstand bewegen, aber bei genauerer Betrachtung ein höheres Ziel verfolgen. Obwohl Ameisen wahrscheinlich kein treffender Vergleich sind, dafür sind die Menschen in Caprea viel zu stur. Sie sehen nur ihr eigenes System und tun alles dafür, dass dieses in ihren Augen perfekte Konstrukt, nicht zusammenfällt. Hier wäscht die eine Hand zwar nicht die andere, hier arbeitet im Grunde jeder für sich, aber damit ihr Lebensstandard nicht sinkt, würden diese Menschen alles tun.

Es muss Jahre her sein, dass der letzte Mensch wirklicher Arbeit nachging, der er nicht freiwillig beiwohnt. Mittlerweile ist so gut wie jede Arbeit automatisiert. Alles läuft über ein unterirdisches System, das mit jedem Haus verbunden ist und die wichtigsten Notwendigkeiten direkt nach Hause liefert. Angefangen bei der Produktion, sei es die Landwirtschaft oder die Elektroherstellung, bis zur Auslieferung. Das macht die Idee von Geld unnütze, weshalb jeder Mitbürger ein monatliches Darlehn erhält, das beliebig genutzt werden kann, um sich Lebensmittel, Kleidung oder sonstige Spielerein zu besorgen. Jeder hat immer die gleichen Mittel und niemand muss in Armut leben. Sollte jedoch jemand den regen Wunsch verspüren doch zu arbeiten, gibt es selbstverständlich die Möglichkeit der, zum einen, individuellen Arbeit, sprich der Selbstständigkeit oder, zum anderen, den Beruf des Ordnungshüters. Dieser bringt einem noch ein zusätzliches Darlehn, beziehungsweise dient oftmals auch für viele als Beschäftigungstherapie, weshalb nicht wenige für die Regierung arbeiten möchten.

Man sagt Caprea sei das erste, der drei Länder, welches für die Spiele gestimmt habe. Praktisch ein Vorreiter in Sachen Modernisierung. Und das gilt nicht nur politisch, sondern auch technisch ist Caprea für seinen Fortschritt bekannt. Ursprünglich gab es nur Ursus und Lupus, als dann jedoch Menschen aus verschiedensten Städten der Länder rebellierten, entschloss man sich kurzerhand Caprea zu bauen. Das klingt simpel, wenn man es so beschreibt, aber im Kern ist es genau das. Schließlich war auf dem Festland kein Platz mehr, also musste das Meer herhalten.

Es dauerte Jahrzehnte, bis das schwimmende Land endlich bereit für seine Einwohner war, aber schlussendlich trug die harte Arbeit Früchte. Schon nunmehr als ein halbes Jahrhundert umschwimmt Caprea Lupus und Ursus. Es ist vergleichbar mit dem Lauf der Sonne. Bei Winteranbruch befindet sich das Land im Norden und im Sommer im Süden. Dadurch garantiert man einen warmen Sommer und T-Shirt-Wetter, aber auch weiße Schneeschichten in beheizter Unterwäsche. Aktuell befindet sich Caprea kurz vor dem südlichsten Punkt, weshalb sommerliche Outfits auf den Straßen dominieren.

Beim Bau von Caprea träumte man von idyllischen Landschaften, einer Oase des Lernens und von Intellekt. Offen gesagt wird der Intellekt tatsächlich oftmals in den Aufführungen bewiesen, jedoch sind die Landschaften in Jeans Augen nicht sonderlich vorzeigbar. Es handelt sich zum Großteil um platte Ebenen, auf denen in immer gleichen Abständen gleichgeformte Bäume platziert wurden. Das Wasser, was durch die ganze Stadt fließt, lockert das steife Bild etwas, aber dies dient auch weniger der Ästhetik als dem Zweck. Mithilfe der Strömungen werden Häuser mit Strom versorgt, also ist selbst diese Besonderheit im engeren Sinne keine Besonderheit mehr. Selbst die Häuser unterscheiden sich hier grundlegend. Ihre weiße bis teilweise beige Fassade und ihre geschwungenen Mauern haben nichts mit Kastengebäuden gemeinsam. Auch von der Höhe setzen sich diese Wohngebäude durch ihre maximal vier Etagen vom Rest ab. Generell gleicht die Stadt aufgrund ihrer Sepiafarbgebung einem Foto, das man bei seiner Großmutter im Keller findet,

Auf dem Festland unterscheidet sich das Leben im Grunde vollkommen. Natürlich kann dabei nicht die Rede von den anderen Kontinenten sein, schließlich stehen nur die obersten 19 in Kontakt zu ihnen, aber hier, auf dem Festland des Kontinents Bestia befinden sich, wie bereits gesagt, die beiden Länder Ursus und Lupus. Jean war weder in dem einen noch in dem anderen, aber die verstaubten Bücher im hintersten Regal sagen über Ursus, dass es der Ursprung der ersten Großstadt überhaupt sei. Angeblich gibt es kein Gebäude, dass weniger als 20 Stockwerke besäße. Umgerechnet auf ein ganzes Land, sollte das eine stolze Einwohnerzahl ergeben. In den grünen Büchern sind Bilder von Lupus zu sehen, auch wenn ihre Abbildungen nicht in Farbe gedruckt wurden. Die Menschen dort scheinen primitiver zu leben, fast wie Höhlenmenschen, mit dem Unterschied, dass sie nicht nur in Höhlen wohnen, sondern auch ganze Städte in den Bäumen errichteten.

Jedes Land arbeitet für sich autonom und verfolgt seine ganz eigenen Ziele. Ein eigenes Justizsystem, unabhängige Bildungssysteme und sogar die Sprachen unterschieden sich in ihren Feinheiten. In Ursus wird sich beispielsweise anders gegrüßt als in Caprea oder gar in Lupus. Lediglich das Spielsystem haben alle drei gemeinsam.

In jedem Land existieren drei Arenen, was im Gesamten neun Arenen in Bestia ergibt. Diese wurden gebaut, nachdem Caprea vollständig in Betrieb genommen wurde und ihr einziger Existenzgrund ist die Wahrung der Stabilität. So heißt es zumindest immer in offiziellen Ankündigungen, da sie eigentlich nur der Tötung dienen.

Als Anfang des Jahrhunderts die Bevölkerungszahl dermaßen anstieg, dass Hungersnot und Platzmangel die Tagesordnung regieren, musste eine Lösung gefunden werden. 19 Regierungsmitglieder der drei Länder, acht aus Ursus, sechs aus Lupus und fünf aus Caprea, kamen zusammen und gründeten die Liga zur Wahrung der Stabilität. Auch hier taucht dieser unpassende Begriff auf.

Rapide wurden die Arenen errichtet und jedem Menschen wurde eine Nummer zugeteilt, das heißt, sofern dieser sein 19. Lebensjahr erreicht. Die Regeln sind einfach. Einmal die Woche werden siebzig Nummern gezogen, zehn für jeden Tag der Woche. Jede Nummer repräsentiert einen Einwohner aus entweder Ursus, Lupus oder Caprea. An jedem Wochentag wechselt das Land. Montags und donnerstags finden die Spiele in Caprea statt, zumeist in der Hauptstadt Amaltheia, dienstags und freitags in Lupus und als Highlight die Mittwochsaufführung und die Wochenendshows in Ursus. Diese werden live ausgestrahlt für jeden sadistisch angehauchten Psychopaten zu verfolgen. Dazu muss erwähnt werden, dass der Terminus Aufführungen, der offiziell genutzte ist, aber auf das Wesentliche reduziert handelt es sich um Spiele, weshalb keiner dieses Wort im Alltag verwendet. Bei einer Aufführung oder auch Show erhalten die Kandidaten keine Rolle, es ist vergleichbarer mit Improvisationstheater, nur, dass sie wirklich um ihr Leben spielen und es kein Schauspiel ist. Die Angst und der Tod sind real. Das Wort Aufführung dient im groben also nur der Beschönigung, um nicht von Todesspielen sprechen zu müssen.

Wird deine Nummer gezogen, bringt man dich in eine Arena und du wirst gezwungen an den Spielen teilzunehmen. Das Problem allerdings ist, dass nicht nur du allein für dein Schicksal verantwortlich bist, da auch alle Nummern im Bereich von 500 über und unter dir als Zuschauer in die Arena geschickt werden. Dort treffen also von zehn Kandidaten, die eine Aufführung umfasst, jeweils tausend Zuschauer aufeinander. Wer einfach Mathematik beherrscht weiß, dass somit ein Stadion mit 10.000 Menschen gefüllt ist.

Die Chose nimmt hier jedoch noch kein Ende. Jeder dieser 10.000 Menschen ist gezwungen zu wetten. Sie wetten auf einen der zehn Kandidaten und werden dann in der Arena verteilt. Verliert ein Kandidat stirbt folglich nicht nur er, sondern auch die 1.000 Personen, die auf ihn gewettet haben. Einfache Mathematik zur Wahrung der Stabilität oder mit anderen Worten: Eine Art und Weise der Massenvernichtung.  

Das wahrlich interessante jedoch ist, dass man nie vorher weiß, welche Spiele bei einer Aufführung zu spielen sind, man kann es lediglich abschätzen. Caprea ist bekannt für seine Logikrätsel, Ursus für den Kampf und Lupus für allerlei sportlichen Wettkampf.

Dieser ständige Kontakt mit dem möglichen Tod verursacht dementsprechend bei vielen Träumereien, als Art der Selbsttherapie. Jean lässt sich somit, zumindest seit seinem 19. Geburtstag vor zwei Jahren, ständig neue Theorien einfallen, wo die ganzen Toten hingehen. Der Himmel scheint ihm unwahrscheinlich, Wiedergeburt in dieser Welt sinnlos und sein Herz auf eine Wage zu legen wirkt biologisch fragwürdig, weshalb als einzige Antwort »nichts« in Frage kommt. Ein entkommen aller Probleme durch einen ewigen Fall in das tiefe Schwarz.

»Willst du dir das Buch ausleihen?«, ertönt eine piepsige Männerstimme. Jean hebt seinen Blick, ab von seinem Tagebüchlein und schaut einen alten Greis an, dessen beste Tage schon hinter ihm liegen. Er deutet mit einer zittrigen Hand auf ein grünes Buch, was aus dem Regal gerutscht war und mit einer Kante nun an Jeans Knie anlehnt. In seiner Versenkung merkte Jean nichts davon.

»Hörst du schlecht? Ob du das Buch ausleihen möchtest? Dann bräuchte ich das nämlich, damit ich die Kennnummer vermerken kann.«

Jean schüttelt wortlos seinen Kopf und schiebt das Buch mit seinem Knie zurück in das Regal. Eine Weile starren sich beide an und die Situation wurde von Sekunde zu Sekunde seltsamer. Auch der Herr schüttelt nun seinen Kopf, wenn es auch vielmehr eine enttäuschte Bewegung ist: »Jeden Tag...«

Jean streift seinen Blick im Raum umher, als versuche er der Konversation bewusst aus dem Weg zu gehen. Er beobachtet wie der Kronleuchter von der hohen Decke leicht geneigt über der Marmortreppe baumelt und zählt seine abhängenden Kristalle.

»Jeden Tag kommst du her und machst nichts, als dein eigenes Buch zu lesen. Ich weiß nicht, ob du das Prinzip einer Bücherei verstehst, aber du kannst hier auch was Neues lernen. Weißt du, man muss nicht zwangsläufig dumm sterben.« Der Herr machte eine mahnende Fingerbewegung und fasste sich mit der zweiten Hand an den Kopf. Jean zieht sein Buch an sich heran und umfasst es kräftig. Mit geschlossenen Augen erhebt er sich und drückt sich seitlich an dem Mann vorbei, um in Richtung der Treppe zu stolpern. Blitzschnell steigt er die drei Etagen hinab und nimmt die Drehtür am Eingang.

Er hat das System immer akzeptiert, aber an Tagen wie diesen, fühlt es sich so an, als würde das System ihn nicht akzeptieren. Auch wenn er sich stets Gedanken macht, wie der Folgetag aussehen würde, ist es für ihn immer in Ordnung, dass die Aufführungen stattfinden. Am Ende kann er sowieso nichts daran ändern, er ist kein Mann von Bedeutung, ein Niemand, der zwischen den Menschenmassen problemlos verschwindet.

Schon als Kind war er immer die Ausnahme. Während sein Vater ein Logikgenie ist und sogar schon in Akademien Vorträge halten durfte, begnügte er sich mit einfachen Bauklötzen. Für seine Eltern unbegreiflich. Wenn man Jean mit einem Wort zusammenfassen müsste, würde der Terminus »Normal« oder auch »simpel« äußerst zutreffend sein. Wobei normal eher die Beschreibung ist, die Jean für sich selbst wählt, wenn man ihn fragt, wie er denn in seiner Freizeit sei.

»Junger Mann!«, schreit ihm eine Stimme hinterher, woraufhin Jean stehen bleibt und zurückblickt. Der alte Mann steht in der Tür des Gebäudes und hält ein Buch über seinem Kopf. Eigentlich widerspricht es jeder Zelle seines Körpers, aber Jean möchte nicht unhöflich sein, zumindest kein zweites Mal, nachdem er so unverfroren einfach hinausgestürmt war, und läuft zum Gebäude zurück.

Es ist ihm ein Rätsel, wie es der Mann schaffen konnte, die Treppen so schnell zu nehmen, da seine Statur keinen sportlichen Eindruck hinterlässt. Seine gebeugte Haltung und seine zittrigen Knie unterstreichen seine Theorie, aber man soll ein Buch nicht nach seinem Einband beurteilen.

»Nimm das hier mit«, flüsterte ihm der Mann zu, noch bevor Jean vor ihm steht. Er hält ein Buch in seiner Hand, dessen Einband blau ist. Goldene Buchstaben zieren die Seite und es steht geschrieben: Caprea, ein Teil des Systems.

Der alte Herr beugt sich etwas nach vorne und sagt: »Finde deinen Platz im System und du wirst sehen, dass dir alles leichter erscheint.« Jean will es nicht laut zugeben, aber für ihn war klar, dass der Mann verrückt sein muss. Ständig sprechen alle immer von einem System, sogar Jean selbst nutzt dieses Wort ständig, aber was Finde deinen Platz heißen soll, weiß eigentlich keiner so genau. Schätzungsweise soll es nur davor bewahren aufständische Gedanken zu haben, wahrscheinlich ein von der Regierung abgekartetes Spiel. Aber Jean spielt nicht und wer nicht spielt, kann auch nicht verlieren.

Er greift nach dem Buch und läuft im zügigen Schritt in die Richtung seines Hauses. Er nimmt, wie fast jeden Tag, die Abkürzung durch den Park, über die unzähligen Brücken und quer durch das Künstlerviertel. Der wahrscheinlich einzige Ort in ganz Caprea, an welchem die Wände nicht einfarbig bleiben. Er wendet sich an den feststehenden Tischen mit Schachbrettmuster vorbei, bevor er hinter einem Schild in die Büsche abbiegt und einen kleinen Bach überspringt, um an der Hintertür seines Hauses zu stehen. Auch sein Haus wahrt den generellen Look der Stadt mit dem Unterschied, dass ihr Garten einen gepflegteren Eindruck macht, da seine Mutter dort Eisenhut züchtet. Er betätigt die Klinke der Holztür und tritt ein.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Das Essen ist serviert und jeder findet sich im Esszimmer ein. Der Tisch ist reichlich gedeckt, sodass schon im Vorhinein klar ist, dass mehr als die Hälfte im Abfall landen würde. Jean lässt seinen Blick über seine Familie schweifen und beobachtet, wie sie sich ungehemmt über das Essen hermachen.

Sebastian Bernard, zweifacher Gewinner der Spiele, einmal in Lupus und ein weiteres Mal in Caprea. Camille Bernard, erster Platz bei den Aufführungen in Lupus und mehrfach Überlebende als Zuschauerin. Sie nahm bereits an drei Wettbewerben als Zuschauerin teil und wettete immer auf den Gewinner. Daher kommt auch ihr Spitzname: die Buchmacherin. Es gehen ständig neue Gerüchte herum, dass sie nicht nur Teil der Aufführungen war, sondern sie angeblich auch selbst machen würde, da die Menschen nur schwer verstehen, dass sie einfach ein sehr gutes Gespür für Wetten hat. Manieren haben jedoch beide nicht, das ist ihr wahrscheinlich einzig untypisches Merkmal, dafür dass sie in Capella, einer Stadt in Caprea aufwuchsen. Jeans Vater isst das Fleisch mit bloßen Händen und ignoriert das Besteck neben sich gänzlich und seine Mutter bekleckert sich mit Orangensaft, weil sie zu viel, zu schnell trinkt. Bei einer solchen Beschreibung könnte man davon ausgehen, dass es sich um Neandertaler handle, aber es ist zu versichern, dass sie abgesehen von ihrem Essverhalten sehr kompetente und intelligente Menschen sind. Nicht umsonst sind beide mehrfach Überlebende der Spiele.

Auch, wenn es für Jean unbegreiflich ist, so sind seine Eltern stolz auf das, was sie selbst erreichten. Es ist wie ein Aushängeschild für die Familie und fast abendlich hört man Anekdoten über die Aufführungen und Hirngespinste, wann denn endlich die eigenen Kinder Ehre und Ruhm für das Haus bringen würden. An einen möglichen Verlust wird nicht gedacht.

Daneben Großmutter Amaury, stadtweit bekannt, da sie in ihren bisher 92 Jahren kein einziges Mal eine Arena betreten musste. Ständig erzählt sie von der Zeit vor den Spielen, aber niemand außer Jean schenkt ihr wirklich Gehör. Ihr Ehemann und damit Jeans Großvater Louis fiel in den Aufführungen, nicht direkt als Kandidat, sondern als Zuschauer. Es war eines der ersten Arenaspiele und zu seinem Unglück verstarb der Spieler, auf den Louis sein Leben wettete.

An der Tischfront thront Louise Bernard, das jüngste der drei Kinder, vor kurzem ihre Spieltauglich erhalten, mit anderen Worten, sie ist 19 Jahre alt. In Gedenken an ihren Großvater erhielt sie ihren Namen, auch wenn sie ihn nie kennenlernen durfte. Sie kommt ganz nach ihren Eltern und kann es kaum erwarten an den Spielen teilzunehmen.

Zu guter Letzt fehlt noch Jeans Bruder Philippe, dessen Platz eigentlich immer leer bleibt, da er seine Zeit lieber in seinem Zimmer verbringt als bei der Familie. Er ist Louise Zwillingsbruder und trotzdem könnten die beiden nicht unterschiedlicher sein. Während Louise bekannt für ihr extravagantes Verhalten ist, hält sich Philippe im Schatten und bleibt unbemerkt. Er ist verschlossener und man erfährt nur selten etwas über ihn.

»In vier Minuten beginnt die nächste Ziehung«, exklamiert Camille, so dass es selbst die Nachbarn hören. Jeder greift das bei sich umliegende Geschirr und bringt es hastig in die Küche, damit der Esstisch rasch frei wird. Es ist ein durcheinander, wo jedes nicht Familienmitglied sofort überfordert wäre, doch diese Familie ist eingespieltes Team. Noch bevor der letzte Teller in der Spüle landet, ist die Hälfte des Tisches gewischt und der Boden gesaugt.

Jean verfolgt das Schauspiel schweigend und trägt nur wenig dazu bei.

»Noch 2 Minuten!«, gibt Vater Sebastian von sich. Es ist jede Woche eine Tortur für Philippe, denn er wird zu diesem besonderen Anlass aus dem Zimmer geholt und muss neben Jean Platz nehmen. Das Radio wird regelrecht in die Mitte des Tisches geworfen und eingeschaltet: »Kommen wir zur wöchentlichen Ziehung. Wie in jeder Woche haben die gezogenen Nummern eine halbe Stunde Vorbereitungszeit, bevor sie sich an den jeweiligen Treffpunkten der Stadt einfinden müssen. Auch wie immer folgt die Warnung, bei einem Fluchtversuch folgt eine Dauerteilnahmeberechtigung an den Aufführungen. Möge die Ziehung beginnen und ich wünsche jedem Zuhörer viel Spaß! Als erstes haben wir die Nummern für Montag. 82.364.992, wow, wir fangen heute niedrig an. Es folgt die 6.341.632.912.«

Diese Durchsagen ziehen sich und fast alle sind sichtlich aufgeregt, welche Zahlen kommen würden. Jean lässt es auf sich zukommen, er hat die Nummer 4.219.009.124, was er sich leicht merken konnte, da er immer, wenn er die Zahl erwähnt, zu hören bekommt, dass es sich um ein Palindrom handle. Eine Zahl, die vorwärts, so wie rückwärts gleich zu lesen ist. Anfangs wusste er nicht so recht, was er mit dieser Information anfangen solle, da ihm das Wort Palindrom unbekannt war. Keiner in seiner Familie hat eine solche besondere Zahl, vielleicht noch seine Großmutter, die mit ihrer Zahl sogar im nur vierstelligen Bereich ist.

»Nun die Donnerstagszahlen.«

Bis zu diesem Zeitpunkt ist keiner der Familie einberufen worden, weder als Kandidat noch als Zuschauer, aber die Familie ist dermaßen auf das Radio fixiert, dass niemand bemerkt, dass sich Phillipe still und heimlich davon macht. Jean entschließt kurzerhand ihm zu folgen, woraufhin auch ihre Großmutter die Gelegenheit nutzt.

In Philippes Zimmer ist es düster und die Wände sind mit Plakaten aus Wissenschaftsmagazinen überflutet. In der Mitte fährt unterirdisch eine kleine Spieleisenbahn, welche man durch das Glas beobachten kann. Philippe bemerkt nicht, dass Jean sein Zimmer betritt und starrt weiterhin auf das Whiteboard vor ihm. Erst als Amaury hinter sich die Zimmertür schließt, schreckt er auf und dreht sich zu ihnen.

»Was macht ihr hier? Ihr verpasst die Ziehung«, stottert er im Versuch die beiden aus seinem Zimmer zu scheuchen. Mit einer raschen Handbewegung wischt er über das Whiteboard um zu verhindern, dass Jean und Amaury erkennen würden, was er geschrieben hat.

»Die können wir auch nächste Woche noch hören«, erwidert Amaury mit ihrer rauen Stimme und setzt sich auf den kleinen Sessel neben der Tür. Sie macht eine Bewegung mit ihrem Finger, um den beiden Jungs zu signalisieren, dass sie sich vor ihre Füße setzen sollen. Etwas verwirrt folgen sie ihrer Anweisung, auch wenn sich Philippe sträubt.

»Damals, noch bevor überhaupt an die erste Arena gedacht wurde, litten die Menschen. Ich will die Arenen nicht verteidigen, ganz im Gegenteil, ich halte sie für einen falschen Ansatz, aber eines muss man ihnen gutheißen. Seit ihrer Existenz gibt es diese Art von Leid nicht mehr. Keiner muss mehr hungern, keiner lebt auf den Straßen, aber...«

»Aber ein Leid durch ein anderes zu ersetzen, macht in meinen Augen genauso wenig Sinn!«, unterbricht Phillipe seine Großmutter. Amaury hält kurz inne und fährt fort: »Es ist ein Unterschied den Tod fürchten zu müssen, als dem Tod ins Auge zu blicken. Durch Verhungern stirbt man definitiv, durch die Aufführungen gibt man den Menschen Hoffnung. Das ist nun Mal der Gedanke, der sich bei den Menschen festgesetzt hat. Aber ich sehe, dass ihr nicht wie eure Eltern seid und das verlangt auch niemand. Es ist normal nicht an den Spielen teilnehmen zu wollen, ich finde es viel bedenklicher, wenn es jemand will. Und glaubt ja nicht, dass eure Eltern oder jemand in dieser Familie wirklich teilnehmen möchten. Jeder von ihnen fürchtet sie, aber es erfüllt sie mit Stolz, wenn sie für unseren jetzigen Lebensstandard kämpfen dürfen. Es ist Ansichtssache, aber ich möchte, dass ihr weiterhin so kritisch bleibt, denn nur durch Kritik gibt es Änderung zum Besseren. Ich sage nur, dass es wichtig ist beide Seiten zu verstehen.«

Unsicher, weshalb ihre Großmutter ihnen diese Geschichte erzählt, schauen sich die Jungs an. Phillipe verachtet die Spiele, aber trotz alledem muss er einen Weg finden, damit klarzukommen. Schließlich ist es nicht möglich, sich einfach in Wohlgefallen aufzulösen.

»Das ist ein gutes Buch, habe ich vor Ewigkeiten auch Mal gelesen, könnte man sagen. Hab‘ viel daraus gelernt«, sagt Amaury mit entschlossener Stimme und deutet auf das Buch in Jeans Jackentasche. »Die Ziehung müsste vorbei sein, was meint ihr, schauen wir nach den anderen?« Jean rafft sich auf und reicht seiner Großmutter die Hand, um ihr aus dem Sessel zu helfen. Philippe schüttelt genervt den Kopf und weigert sich, um in seinem Zimmer bleiben zu können. Eigentlich will auch Jean bei seinem Bruder bleiben, deshalb ist er ja hinterhergelaufen, aber es fühlt sich so an, als würde seine Großmutter von ihm erwarten, dass er sie begleite.

Zurück im Esszimmer sitzt der Rest der Familie noch am Tisch. Louise feilt sich ihre Nägel, dabei ein Bein lässig über die Stuhlkante geworfen und Jeans Eltern verbringen ihre Freizeit vor einem Buch. »Die Wissenschaft hinter Schach« befindet sich fest im Griff von Sebastian, ein Buch, dass er nun schon mehr als vier Mal gelesen hat. Vor ihm und Camille ist eine Eieruhr platziert, die herunterläuft. Jean hört ihr Ticken, da es sonst still ist. Mit einem schrillen Klingen kennzeichnet sie, dass die Zeit abgelaufen ist, und Camille und Sebastian tauschen die Bücher in ihrer Hand. Jean weiß nicht, welchen Zweck dies verfolgt, aber seine Eltern sind bekannt für ihr teilweise irrational-seltsames Verhalten. Die allgemeine Aufregung hält sich in Grenzen, weshalb Jean bereits beim Eintreten davon ausgeht, dass niemand der Familie zu den Spielen gerufen wurde. Ein Blick auf die Haustafel bestätigte ihm seine Theorie.

In jedem Haus in Caprea ist eine Tafel montiert, die, sobald alle Nummern gezogen sind, automatisch einen Wochenplan erstellt und genaue Namen und sonstige Angaben, die von Nutzen sein könnten, anzeigt. Diese Tafel, die sogenannte Haustafel, bildet weder die Nummern der Familie ab, noch, dass sie Zuschauer seien.

Ab und an schaut sich Jean an, wer ausgewählt und welcher Text über sie verfasst wurde, immerhin ist dies der einzige Weg Informationen über die Kandidaten zu erhalten. Ist man erst einmal als Zuschauer in der Arena, gibt es keine Möglichkeit sich weitergehend zu informieren. So erklärte es ihm zumindest immer seine Mutter. Sie sagt, bevor man in die Arena käme, müsse man wetten, ohne additionale Informationen zu bekommen und davor könne man entspannen, was auch immer sie damit meint.

Alle Angaben, die von Bedeutung sein könnten, stehen dort geschrieben. Darunter Name, Adresse, Hobbys und Besonderheiten. Diese Informationen sind allseits bekannt und werden ständig auf dem neusten Stand gehalten. Dies geschieht mithilfe einer monatlichen Umfrage, die jeder auszufüllen hat. So haben die Leute die Möglichkeit durch beispielsweise Hobbys zu erkennen, wer bessere Chancen in bestimmten Shows hat. Aktuell befindet sich eine Emma Hernández auf dem ersten Platz der Dienstagsshow. Ihre Hobbys sind Arbeit mit Tieren und Listen erstellen. Auch wenn es nicht sonderliche viele Angaben sind, kann man daraus bereits ablesen, dass man bei Sportspielen besser nicht auf sie wettet und da dienstags die Spiele in Lupus stattfindet, kann man sich ungefähr ausmalen, in welche Richtung es sich entwickelt.

Zu allem Übel wird jedoch das genaue Spiel der Show auf der Tafel nicht gezeigt, denn dieses wird erst in der Arena enthüllt. Daher ist es wichtig, sich die Kandidaten gut einzuprägen, dazu dient die halbe Stunde Vorbereitungszeit, bevor man sich an der Sammelstelle abholen lässt. Andererseits muss man wählen, bevor das Thema der Aufführung enthüllt wird, also fühlt es sich wie ein Puzzle an, das man aus wirren Informationen zusammensetzt, um eine ungefähre Richtung abzuschätzen, in die das Spiel gehen könnte.

Die Montagsaufführung beginnt bereits zwei Stunden darauf und wie zu erwarten, schaltet die Familie den Fernseher ein, um es sich anzuschauen. Bewusst wird eine Kamerafahrt am Publikum ausgelassen und nur das Spielfeld gezeigt. In diesem Spiel sitzen die zehn Kandidaten an einem runden Tisch und schauen in das Gesicht ihres Gegenübers. Vor Ihnen befinden sich fünf Karten, jede hat eine andere Farbe. Nacheinander sagt jeder Kandidat die Farbe an, die er oder sie wählen wird. Dann heben alle gleichzeitig eine Karte hoch, dabei muss nicht die Karte genommen werden, dessen Farbe man zuvor angesagt hat. Wählen zwei gegenüberliegende oder nebeneinandersitzende Spieler nun dieselbe Karte, sterben sie. Es geht also darum seine Mitspieler zu lesen und zu erkennen, ob sie lügen. In diesem Spiel können bis zu zwei Spieler gewinnen, das gibt es selten, öfter ist es nur einer oder manchmal auch drei, aber niemals mehr. Nachdem zwei Spieler erschossen werden, entschließt sich Jean auf sein Zimmer zu gehen, um die Tortur nicht mitansehen zu müssen. Er erkennt den Logikfaktor hinter dem Spiel, von dem seine Schwester ununterbrochen spricht, nicht. Es sei laut ihr eine Frage der Taktik, während ihr Vater hinzufügt, dass Einschüchterung ein zentrales Element zum Gewinnen sei. Es ist kein Wunder, dass die Familie Bernard in ihrer Stadt bekannt ist, immerhin analysieren sie so gut wie jede Aufführung.

»Das ist eine reine Glückssache, das muss ich mir nicht antun«, mit diesen Worten verabschiedet sich Jean auf sein Zimmer. Von dort hört er noch den Jubel vom Nachbarshaus, als würden sie auf eine bestimmte Person hoffen. Er versucht den Trubel um sich herum zu ignorieren, doch schafft es nicht einzuschlafen. Nach einer Weile schaut er sich im mittlerweile dunkeln Raum um, da nicht einmal mehr das Licht unter dem Spalt seiner Zimmertüre zu sehen ist und interpretiert die Formen und Bewegungen, die sein Gehirn ihn glauben lässt zu sehen. Mit einer zufälligen Drehung im Bett stößt er mit seinem Arm gegen die auf dem Boden liegende Jacke und erfühlt das Buch aus der Bücherei. Da er sowieso nicht im Stande ist endgültig einzuschlafen, wirft er einen Blick hinein.

 

 

 

 

  Drittes Kapitel

 

 

Es ist Donnerstag, als Jean seinen Bruder Phillipe in die Werkstatt begleitet. In seiner Freizeit verbringt Phillipe einige Stunde darin und tüftelt an unnützen Gerätschaften. Es ist seine Art der Beschäftigungstherapie und eine Ablenkung vom sonstigen Alltag. Die Werkstatt ist im Besitz eines Freundes von Phillipe, der hin und wieder auch Hausbesuche macht und daher die Arbeitsstätte frei für allerlei verrückte Ideen für Phillipe lässt.

Angekommen, macht sich Jean ein Bild, indem er die große Werkstatt durchläuft. In alter Zeit war diese Halle in Nutzung für Zeppeline und andere Fluggeräte, das lernte Jean durch seine Großmutter. Heutzutage findet man dort nicht mehr als Maschinen ohne jegliche Daseinsberechtigung. Nicht funktionierende elektrische Kutschen, Holzboxen, die nicht geöffnet werden können oder auch blinkende Lampen, die ohne Sinn und Verstand leuchten.

Eigentlich begleitet Jean seinen Bruder, um das Buch zurück in die Bücherei zu bringen, denn er hat es innerhalb der letzten Tage bis auf das letzte Wort verschlungen. Er dachte nicht, dass ein Werk, welches über Capreas System berichtet, ihn fesseln könne, aber ihm wurde rasch das Gegenteil bewiesen. Anders, als der Titel vermuten lässt, handelt es sich nicht um Propagandalektüre zur Beschönigung der Spiele, sondern vielmehr um die Geschichte Capreas. Die Grundidee, ein neues Land zu konstruieren, um erst recht das Töten verhindern zu können. Einst vereinten sich die Menschen, aufgrund der Krise, aufgrund der Überbevölkerung und es wurde dringlich nach einer Lösung geforscht. Das ganze Land ist das Ergebnis eines versuchten Rettungsrings. Verschiebt sich ein Teil der Menschheit auf neuen Platz, bleibt mehr Platz in alten Regionen. Leider wurde sich verkalkuliert und auch Caprea war nach nur wenigen Jahr überfüllt. Daraus resultieren die Aufführungen, als unausweichlicher Weg.

Ein Teil des Systems zu sein bedeutet also nicht, jede Entscheidung hinzunehmen, sondern etwas zum System beizutragen und es zu verbessern. Kritik als Mittel der Kommunikation und Veränderung, die noch immer gesucht wird. Jean möchte, dass dieses Buch seinen Weg zu seinem Besitzer zurückfindet, doch zuvor hilft er Philippe in der Werkstatt.

Es ist untypisch Jean an einem solchen Ort zu sehen, da er dürr ist und generell den Eindruck erweckt, er könne sich nur schwer auf den eignen Beinen halten. Als Phillipe ihn also fragt, ob Jean ihm helfe einen Wagen anzuheben, damit er das Rad anschrauben könne, verwundert ihn dies umso mehr.

Vor der alten Holzkutsche betrachtet Jean das auf dem Boden liegende Rad. Dies allein macht bereits einen schweren Eindruck, wie sollte er dann die ganze Kutsche anheben. Er geht sich mit seiner Hand durch die kastanienbraunen, kurzen Haare und zeigt damit nach Außen, dass er nachdenkt.

»Da vorne«, flüstert Phillipe, während er in einer Schublade kramt. Er deutet mit einer gezielten Kopfbewegung auf eine Hebemaschine. »Würde das Ding noch funktionieren, bräuchte ich dich nicht, aber leider muss man den Hebel unten gedrückt lassen, damit es nicht nachgibt. Wärst du so freundlich?«

Jean nickt und zieht das Gerät in Richtung der Kutsche. Er hebelt mehrfach und stellt daraufhin einen Fuß auf die Vorrichtung, damit die Kutsche nicht abstürzt. Phillipe schraubt, ohne lange zu schauen, das Rad an und dreht es zweimal in beide Richtungen, um zu schauen, ob es eiert.

»Du kannst den Fuß wegnehmen«, murmelt er mit einer dicken Schraube im Mund. Sobald Jean den Fuß vom Hebel nimmt, stürzt der Wagen hinab und das Rad knackt laut. Auch Phillipe schaut verdutzt, denn normalerweise sollte ein Kutschenrad nicht so einfach brechen, selbst wenn es schon alt ist. Mit einer fixen Handbewegung öffnet er die Tür zum Inneren des Wagens und allerlei Schnickschnack fällt vor seine Füße. Erschrocken versucht er die Tür wieder zu zuknallen, aber einige Handtücher, kleine Koffer und Pullis versperren den Schließmechanismus.

»Phillipe?«, ertönt eine Stimme aus dem Inneren des Durcheinanders. Philippe versucht erneut die Tür zu schließen, dieses Mal zieht er sogar die Handtücher beiseite und trotzdem scheitert er. Jean, neugierig, wie er ist, zögert nicht lang, bevor er auf die andere Seite geht und die zweite Tür aufreißt. Es sitzt eine junge Frau auf der Bank, umgeben von Anziehsachen und einem alten, dreckigen Kissen.

Philippe lässt von der Tür ab und geht auf Jean zu. Mit festem Griff packt er ihn und zieht ihn beiseite: »Das hast du nicht gesehen, das wirst du weder Maman noch Papa sagen, geh einfach und lass das meine Sorge sein.«

»Du hast leicht Reden. Mach nicht so ein Geheimnis daraus, jetzt ist es sowieso zu spät«, merkt die junge Dame an, während sie aus dem Wagen steigt. Ihre Haare sind feuerrot und als sie lächelt zieht sie nur eine Seite ihrer Lippe an. Ihre Kleidung ist eine Mischung aus alten Schuhen, einem Pulli und einem schwarzen Rock. Jean erkennt den Rock wieder, denn seine Mutter suchte vor einigen Tagen danach.

Philippe macht einen Schritt in die Richtung des Mädchens: »Wieso zur Hölle bist du in der Kutsche?! Wir hatten eine Abmachung! Du solltest gar nicht hier sein.«

»Falsch. Markus hat mich hergeschickt, weil er heute zuhause Besuch seiner Eltern hat.« Markus ist Philippes Freund und der Besitzer der Werkstatt.

»Ist er wahnsinnig? Er wusste, dass wir herkommen würden!«, schreit Philippe lauthals durch das hallende Gebäude, woraufhin er sich vor seiner eigenen Stimme erschreckt und sogleich die Lautstärke senkt: »Wie soll ich das bitte erklären?«

Die junge Frau rollt ihre Augen und reicht Jean die rechte Hand: »Ich bin Elena und ich bin eine Wilde.«

Einige Sekunde folgt Stille. Sichtlich weiß Jean nicht, was Elena damit meint, und beginnt langsam seinen Kopf zu nicken. Sein Bruder atmet genervt aus und erklärt, dass es Menschen gibt, die keinem der Länder angehören.

»Wilde« ist ebenfalls ein Begriff, der durch die Regierung etabliert wurde und der Grund, weshalb Jean nie zuvor von diesem Term hörte, ist, dass sie über die Jahre hin rar wurden. Wilde haben keine Nummer und somit können sie nicht an Spielen teilnehmen, da sie nicht gezogen werden konnte. Daraus resultiert jedoch auch, dass sie unter dem Radar leben müssen und keine eigene Wohnung besitzen oder sich ein eigenes Leben aufbauen können. Sofern ein Wilder oder eine Wilde gemeldet wird, reagieren die obersten 19 augenblicklich und jene werden Mitspieler der nächsten Arenashows. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte nie zuvor ein Wilder oder eine Wilde gewonnen.

»Elena verbrachte ihre Kindheit in Lupus...«

»Danke Schatzi, ich kann für mich selbst reden«, unterbricht Elena mit einem ironischen Unterton. »In Lupus lebten wir unter der Stadt, haben uns von Abfall ernährt, den man oben in den Bäumen fallen lassen hat und auch wenn’s dramatisch klingt, war‘s eigentlich in Ordnung. Vor drei Monaten wurden wir von einer Frau entdeckt, die uns zu sich einlud. Einfältig, wie wir waren setzten wir uns vor ihre Wohnung, wo sie uns, man könnte sagen, fürstlich behandelte.« Elena spreizte den kleinen Finger ab und imitierte eine Teetasse. »Doch, bevor wir uns versahen, standen bereits Ordnungshüter vor unserem Versteck, verraten durch jene Frau, die uns zuvor so freundlich empfing, und verhafteten meinen Vater und meine Schwester. Beide waren Teilnehmer der nächsten Show in Ursus.« Elena senkt ihre Stimme und wird leiser. Mit einem Ruck setzt sie sich auf den Auftritt der Kutsche. »Marta war nicht einmal 17 und musste trotzdem teilnehmen und das schlimmste war, dass sie es sogar beinahe geschafft hätten, wäre mein Vater nicht gestürzt. Ein Mann spaltete seinen Schädel mit einem Axthieb.« Eine Träne lief ihre Wange hinunter und ihre Stimme begann zu stocken: »Und meiner Schwester ebenfalls.«

Philippe nimmt Elena in den Arm, sie drückt ihn von sich und stellt sich mit durchgedrückten Rücken gerade hin, um ihre Unsicherheit zu verbergen und Jean steht regungslos vor ihnen: »Ich dachte, man dürfe erst teilnehmen, wenn man 19 ist?«, flüstert Jean vor sich hin.

Mit einem lauten Knall schlägt Elena ihre Hand gegen die Kutsche und springt wutentbrannt auf: »Nichts, von dem, was sie dir sagen, ist wahr! Sie töten Menschen und da ist es egal wen. Diese Menschen gehen wortwörtlich über jede Leiche!«

Es hallt erneut im ganzen Gebäude und einige Leute sammeln sich vor dem geöffneten Hangar, sodass eine Stimme von außerhalb hineinruft: »Ist da drinnen alles in Ordnung?« Philippe ballt seine Fäuste zusammen: »Die Menschen hier sind viel zu neugierig und stecken ihre Nasen in wirklich jede Angelegenheit.« Mit lauter Stimme schreit er: »Verschwinden sie!«, woraufhin er zum Eingang sprintet und das elektrische Tor hinunterfahren lässt.

Jean wird panisch und läuft im zügigen Schritt zum Ausgang, ohne sich zu verabschieden.

»Sprich mit niemandem!«, ruft Phillipe hinterher, in der Hoffnung, dass Jean seine Bitte in Betracht ziehen würde. Nie zuvor war Jean unsicherer, was zu tun sei. Er knallt die kleine Tür im Hangar zu und lehnt sich gegen die staubige Wand. Würde jemand herausfinden, dass sein Bruder eine Wilde beherbergt, würde man ihn wegsperren, wohl eher noch in die Arena stecken und sollte Jean es melden, könnte beiden das gleiche Schicksal bevorstehen. Er beschließt zu schweigen und auf das Beste zu hoffen, selbst wenn er nicht sicher ist, was das Beste in diesem Fall überhaupt sei.

Um auf neue Gedanken zu kommen, wandert er in die nahliegende Bücherei. Am Eingangsstand informiert er sich, ob der alte Mann an dem heutigen Tage dort zu finden sei, doch da er weder seinen Namen kennt, noch weiß, wer ihn kennen könnte, stellt sich sein Vorhaben schwierig dar.

Weder die Dame am Infostand vermag ihm zu helfen noch irgendein Mitarbeiter in den Gängen, sodass Jean auf den Entschluss kommt, dass der alte Mann nicht dort zu arbeiten scheint. Auch das Buch kann nicht im Programm der Bücherei gefunden werden, was im Klartext bedeutet, dass es nicht von dort ist.

Jean ist verwirrter als zuvor. Nicht nur, dass er das Geheimnis seines Bruders verschleiern muss, sondern nun besitzt er auch ein Buch eines Wildfremden, der sich nicht einmal als Mitarbeiter identifizierte.

Jean sucht seine Schreibecke auf und kramt sein Traumbuch aus einer Jackentasche. Er schreibt nieder, was er für Vermutungen aufstellt, aber keine macht schlussendlich einen richtigen Sinn. Woher weiß der alte Mann, dass Jean oft in der Bücherei schreibt, hatte er ihn beobachtet? Was solle er wegen Elena tun? Er verbringt die nächsten Stunden damit sich diese Fragen zu notieren:

»Wenn mein Bruder sterben muss, wird er mich dann noch sehen können? Kann man überhaupt etwas sehen, wenn man stirbt? Im jungen Alter sterben zu müssen ist zudem nicht nur ein Unglück für das Opfer, sondern auch für die Angehörigen. Früher als seine eigenen Eltern zu sterben, muss für diese eine Qual sein. Bei einigen Urvölkern herrschte der Gedanke, dass Tote für das sogenannte Seelenheil der Lebenden verantwortlich sind. Vielleicht ist dies der tiefere Sinn, den alle suchen zu glauben. Stirbt Philippe, achtet er aus dem Jenseits auf die Menschen im Diesseits, nicht unbedingt, wie ein Schutzengel, sondern eher auf die Gesundheit der Seelen. Er würde darauf achten, dass sie nicht vergiftetet würden. Andererseits kann hier ebenfalls die Himmel und Höllentheorie greifen. Er kommt in den Himmel, weil er eine Unschuldige beschützt. Oder er kommt aus genau diesen Gründen in die Hölle, wer weiß das schon. Abgesehen davon kenne ich Elena nicht einmal, wer bin ich, sie nach einem einzigen Gespräch zu beurteilen? Woher soll ich wissen, ob sie unschuldig ist? Das System hat immer funktioniert und nur selten beschwert sich jemand.«

»Entschuldigung?«, mischt sich eine Frau mit Hut und Kind in seinen Denkprozess ein. Jean schaut die dunkelhaarige Dame an und ignoriert das Kind an ihrer Hand: »Wer ist Elena?«, fragt sie voller Neugier. Jean zuckt zusammen, als sie ihren Namen erwähnt, findet aber schnell eine gelassene Antwort: »Wer?«

»Elena, du murmelst immer wieder ihren Namen und auch gerade am Hangar hörte ich jemanden diesen Namen sagen.« Das Kind nickt stark, während es an einem Lutscherstiel festhält. Jean ist fassungslos, dass jemand ihn bis zur Bücherei verfolgte, nur um zu erfahren, wer Elena sei. Sie muss gehört haben, wie Elena im Hangar vor Wut schrie. Er weiß, dass der Schlüssel zu einer guten Lüge ein lockeres Auftreten ist, weshalb er so entspannt zu lügen versuche, wie es ihm möglich ist: »Es ist ein Spiel, wenn sie es genau wissen wollen. Kennen sie Marco Polo? Fragen sie die Kinder auf den Straßen auch, wer Marco ist und wo Polo bleibt? Das dürfte alles sein.«

Schockiert von seiner eigenen Antwort steht Jean vom Boden auf und stolziert selbstsicher auf die Treppe zu. Diese Antwort ist vielleicht von seinem Bruder zu erwarten, aber nicht einmal er selbst rechnete damit, dermaßen direkt antworten zu können. Er wagt keinen Blick zurück, aber er sieht vor seinem geistigen Auge, wie die Frau wahrscheinlich erzürnt den Kopf schüttelt und davonstampft. Das Kind würde dabei hinterhergezogen werden und seinen Lutscher verlieren.

In Windeseile rennt Jean über den Marktplatz, erneut durch den Park, nach Hause und verkriecht sich in seinem Zimmer.

 

 

 

 

  Viertes Kapitel

 

 

Der Abend bricht an und an diesem letzten Sonntag des Monats, werden im Laufe des Tages die Holzhütten für das Sternenfest vorbereitet. Einmal jährlich trägt es dazu bei, das Leben in Caprea zu feiern. Auch in diesem, wie eigentlich jedem Jahr macht sich Jean mit seinen Eltern und seiner Schwester auf den Weg in die Innenstadt. Nur sein Bruder bevorzugt es seine Zeit zuhause zu verbringen. Jean ist dankbar, dass dieses Fest stattfindet, schließlich fällt es im schier unmöglich nicht an Elena zu denken und an die Verkettung von Ereignissen, die zum Vorschein käme, würde man sie entdecken. Doch das Besondere am Sternenfest war schon immer, dass Jean bisher all seine Sorgen von seinen Schultern gleißen lassen und den Moment genießen konnte.

Der Marktplatz füllt sich sekündlich stärker und selbst, wenn man früh kommt, sind die vorderen Plätze schon lange belegt. Innerhalb der letzten Jahre alterten die Kinder und das Erlebnis ist nicht mehr mit dem von früher zu vergleichen, da schlicht und einfach die kindliche Bewunderung fehlte. Jeans Vater beispielweise trug Louise früher immer auf seinen Schultern, doch mittlerweile ist sie zu alt.

Ihre Mutter besorgt an einer der vielen Holzhütten ein Crêpe für jeden und Louise beschwert sich, dass auf ihrem viel zu wenig Sahne sei, als das Spektakel seinen Lauf nimmt. Alle Lichter der Stadt werden simultan ausgeschaltet und der Sternenhimmel kann auf diese Art und Weise in all seiner Pracht in Erscheinung treten. Selbst die kleinen Hütten schalten ihre Beleuchtung aus und die Verteilung der Ware findet von nun an im Dunklen, beziehungsweise mit winzigen Leuchtpunkten auf ihren Jacken, statt. Mithilfe eines Laserpointers zeichnen sie Sternkonstellationen an den Himmel, während Louise versucht, irgendwelche Formen daraus zu erkennen.

»Ich erkenne da nichts, was soll das sein?«, ruft sie gen Himmel, während der Laserpointer den großen Wagen zeigt. Die Leute im Umkreis beginnen zu kichern, aber Louise besitzt genug Selbstsicherheit, um sich davon nicht beirren zu lassen. Camille erklärt ihrer Tochter, wofür die Sternenbilder stehen und gestikuliert dabei wild mit ihren Händen und auch wenn Jean das Schauspiel sehr genießt, kann er, anders als erwartet, nicht vergessen. Ihm schwirren Elenas rotes Haar, das seltsame Buch durch den Kopf und er fühlt sich, als würde er allmählich verrückt werden. Er beschließt seiner Familie ein Zeichen zu geben, dass er sich umschauen würde und drängelt sich durch die Menge. Jean fragt sich, was Elena im Moment tun würde, immerhin sitz sie im Dunklen und kann nicht so mir nichts, dir nichts herumspazieren.

»Nein danke, ich brauche keine Sektenpropaganda«, bekundet eine Dame mit Hut am Rande der Menge. Ihre Nase ist angehoben, als versuche sie auf den Mann ihr gegenüber hinabzuschauen. »Propaganda? Ich dacht‘ die Menschen hier wären schlau, lauf weiter«, erwiderte der Mann mit geballter Faust.

Jean verfolgt das Gespräch begeistert und will sich just in diesem Moment auf eine Bank gegenübersetzen, als er bemerkt, dass es sich bei dem Mann um Philippes Freund handelt. Er ist der famose Besitzer der Werkstatt und auch über Elenas aktuelle Lage im Bilde. Jean kennt ihn, denn nicht allzu selten besucht er seinen Bruder zuhause oder bleibt zum Mittagessen bei der Familie. Sein Name ist Markus und er ist ein breit gebauter Mann, dessen Lebensinhalt aus Werkeln und Haarpflege besteht. Ständig spricht man ihn wegen seiner tiefschwarzen Rasterlocken oder dunklen Hautfarbe an. Zudem steht er an einem selbstgebastelten Holzstand, der sich dahingehend von den anderen unterscheidet, dass er kein Dach besitzt. Auf dem Tresen des Standes liegen drei gestapelte Bücher und ein alter, rostiger Nagel.

Jean nähert sich dem Stand und wird unverzüglich von ihm entdeckt: »Wenn dat nicht die ältere Version von Philippe is‘. Und? Du kennst Elena jetzt auch, hab‘ ich gehört?« Jean reißt schlagartig die Augen auf und zischt, dass der Mann namens Markus, schweigen sollte.

»Entspann dich, die sind alle hier mit den Sternen beschäftigt, niemand hört uns zu. Abgesehen davon reden wir nur über eine Elena, sagt ja keiner, dat es wat Verbotenes sei.« Und tatsächlich ignoriert jeder im Umkreis das Gespräch und verfolgt stattdessen das Bild, das der Laserpointer in den Himmel zeichnet. »Es frisst dich. Hat es mich auch, aber irgendwann is‘ es eine Sache der Gewohnheit. Es wird von Mal zu Mal weniger schlimm.«

»Du hast das schon Mal gemacht?«

»Schon drei Mal, um exakt zu sein und bis jetzt lief immer alles jut. Sobald wir alles vorbereitet haben, schicken wir sie auf ein Boot und dann fahren sie in die unbekannte Welt. Jener Ort, der außerhalb von Bestia liegt, da sind sie sicherer als hier, selbst wenn niemand so genau weiß, wat einen dort erwartet.«

»Naja, jeder ist nicht richtig, die oberen 19 stehen im Kontakt mit den anderen Kontinenten.«

»Wow, wie toll. Ich schätze beim nächsten Mal ruf‘ ich einfach meinen Kumpel da oben an und sag ihm, dat ich ein Boot brauche und frage, in welche Himmelsrichtung man am besten fährt«, antwortet Markus mit ironischem Unterton. Jean zuckt verlegen die Schultern, als er sich die Ablage genau anschaut. Erst beim zweiten Blick bemerkt er, dass es sich bei den Büchern um exakte Kopien jenes Buchs handeln, welches er vom alten Mann bekam.

Er packt nach einem Buch, um sicher zu gehen und als er die Seiten durchblättert, erkennt er es mit Sicherheit wieder. Er schaut Markus erwartungsvoll an, als würde er darauf hoffen, dass er sich erklärt. »Ich dachte du hast schon eins?« Jean nickt leicht.

»Wat is‘? Wenn du’s gelesen hast, brauchst du mich auch nicht so anzuschauen«, betont Markus, doch Jean besteht darauf, dass er ihm erkläre, wo er das Buch herhabe.

»Dat weißt du nicht? Halleluja, wo bisse da nur reingerutscht. Lass mich vorne anfangen. Seit ungefähr einem Jahr nun zeigen einige, nennen wir sie Anhänger, ihre Unzufriedenheit mit dem System. Leute sterben zu lassen kann nicht die Lösung sein. Dat Problem is‘, dat diese Kohlköppe dermaßen brutal vorgehen, dat die meisten von uns im Untergrund handeln müssen. Man legt sich einen falschen Namen zu, und so weiter, ich schätze, dat muss ich dir nicht erklären. Mit dir sind wir mittlerweile ungefähr dreißig Leute, die versuchen die Welt zu verbessern und der Grund, weshalb dir dat niemand sagt, is‘ wahrscheinlich der, dat ich der Einzige bin, der nicht vor ein paar Ordnungshütern zurückschreckt. Du willst es vielleicht nicht, aber herzlichen Glückwunsch, du bist mittendrin. Wir sind der Widerstand! Dat Buch is‘ unser Versuch, unsere Weltanschauung zu verdeutlichen. Bücher findest du überall hier, wie sollen dann ein oder zwei Schmöker mehr auffallen?«

»Jean?«, schreit die Stimme seiner Mutter aus der Menge und unterbricht damit Markus Monolog. Markus greift eine Hand von Jean und hält sie fest am Tresen, sodass es ihm sogar ein wenig Schmerzen bereitet: »Du bist jetzt ein Teil von uns. Lass deine Eltern aus dem Spiel und halt die Luke geschlossen, dann is‘ niemand in Gefahr, alles klar?«

Jean reißt seine Hand heraus und dreht sie ein paar Mal im Kreis, um den Schmerz zu überspielen. Er wendet sich seiner Mutter zu und verschwindet in der Menschenmasse. Jean ringt im Kopf mit sich selbst und spielt jegliche Szenarien durch, was passieren könnte, wenn er nicht schweigen würde. Er weiß, dass seine Eltern ihn nicht verraten würden, denn auch wenn sie auf Seiten des Systems stehen, ist Blut immerhin noch dicker als Wasser. Aber eines lässt ihm keine Ruhe. Würden seine Eltern wirklich in Gefahr sein, sofern er rede, würde die Kette von unheilvollen Ereignissen nur in die Länge geschmiedet? Mit einem Ruck zieht seine Mutter ihn zu sich: »Willst du noch einen Crêpe?« Auch wenn es nett war, dass sie ihren Sohn suchte, um ihn diese Frage zu stellen, hätte sie sich dennoch keinen unpassenderen Zeitpunkt aussuchen können.

Jean bejaht die Frage seiner Mutter und nimmt einen Crêpe mit zusätzlichem Zucker. Anders, als er erwartet hätte, sind seine Gedanken nun noch konfuser als vorher. Er weiß zwar, woher das Buch ist, aber wer es geschrieben hat, bleibt weiterhin ein Rätsel. Vor allem der Grund, warum der alte Mann ihm dieses Buch in die Hand drückte, wurmt ihn.

»Du siehst besorgt aus«, stört Jeans Mutter seinen Gedankengang. Es ist immer das Gleiche, selbst wenn Jean keinen einzigen Gesichtsmuskel verzieht, weiß seine Mutter immer, dass etwas nicht stimmt. So war es damals, nachdem Jean von einige Gleichaltrigen gemobbt wurde, so ist es noch heute.

»Ich dachte schon, dass du vor Tagen zu mir kommen würdest, aber scheinbar frisst du es lieber in dich hinein. Du musst nichts sagen, wenn du nicht willst, aber wenn du möchtest, kannst du mit uns sprechen.«

Jean ist dankbar für die Fürsorge seiner Mutter und ihren liebevollen Vorschlag, aber er weiß genau, dass es dieses Mal tatsächlich eine Sache ist, die er mit sich selbst ausmachen muss. Eine besondere Frage jedoch kann er sich nicht verkneifen: »Was findet ihr an den Spielen so fesselnd? Wieso hängt ihr so sehr an ihnen?«

Nach einem kurzen Zögern antwortet Camille: »Es sind nicht die Aufführungen an sich, die uns so begeistern, es ist der Weg, der gegangen wird, um eine Krise zu führen. Auch, wenn der Tod nicht das ist, was diese Menschen verdienen, das ist uns selbstverständlich bewusst, ist dies eine Lösung, die unsere Länder verbindet. Alle Menschen ziehen an einem Strang, um das Wohlbefinden eines Jeden zu garantieren und dass ist lange nicht selbstverständlich. Wir könnten es niemals verkraften, würde einer unserer Kinder in den Spielen sterben, ich möchte nicht, dass du so denkst, aber wir sind der einfachen Meinung, dass jeder seinen Beitrag leisten muss, um unseren Standard zu wahren. Weshalb glaubst du, schauen wir jede Aufführung? Die Antwort ist unkompliziert, das Stichwort ist Vorbereitung. Je mehr man sieht, desto mehr könnt ihr verinnerlichen und sollte es irgendeines schicksalhaften Tages so weit sein, dass ihr ausgewählt werdet, dann seid ihr bereit und kehrt als Sieger nach Hause zurück. Hat dir Oma nie erzählt, weshalb es die Spiele überhaupt gibt?«

»Doch, es gibt zu viele Menschen auf Bestia, also musste...«

»Natürlich, dass ist eine Teilantwort«, unterbricht Camille ihren Sohn.

---ENDE DER LESEPROBE---