Carl Friedrich von Siemens 1872–1941 - Johannes Bähr - E-Book

Carl Friedrich von Siemens 1872–1941 E-Book

Johannes Bähr

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Beschreibung

Ein politischer Unternehmer in Zeiten des Umbruchs

Carl Friedrich von Siemens gehört zu den bedeutenden Unternehmern einer Zeit voller Krisen und Umbrüche. Er wurde nach dem Ersten Weltkrieg „Chef des Hauses Siemens“, leitete den Konzern während der großen Inflation und der Weltwirtschaftskrise, aber auch im „Dritten Reich“ bis in die ersten Kriegsjahre hinein. Erstmals zeichnet die Biografie ein umfassendes Bild von der Persönlichkeit und dem vielseitigen Wirken dieses Mannes, der die Siemens-Unternehmen neu ordnete, auch zehn Jahre lang an der Spitze der Reichsbahn stand und sich als Abgeordneter einer demokratischen Partei politisch betätigte. Die Studie zeigt, wie er sich zunehmend von den Parteien abwandte und sich seine Haltung im „Dritten Reich“ erneut wandelte, von einer Anpassung an das Regime zu einer wachsenden persönlichen Distanz.

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Seitenzahl: 677

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Johannes Bähr

CARL FRIEDRICH VON SIEMENS

1872–1941

Unternehmer in Zeiten des Umbruchs

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Copyright © 2023 by Siedler Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Markus Miller, München

Bildbearbeitung: Regg Media GmbH, München

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagabbildung: Siemens Historical Institute, Berlin

ISBN 978-3-641-31063-9V002

www.siedler-verlag.de

Inhalt

Einleitung

1. „Carly“: Herkunft, Jugend und Orientierungssuche

Behütete Kindheit in Charlottenburg

Der leidige „Schulkram“

Der Bruder Wilhelm als Vaterersatz

Ein Bummelstudium und zwei Heiraten

2. Der Aufstieg in den Siemens-Unternehmen

Bewährungsjahre in England

Neues Heim und Familienbande

Vom Überseegeschäft an die Spitze der Siemens-Schuckertwerke

3. Liberaler Reformer zwischen Krieg und Revolution

Hinter der Front

Unternehmer in der Kriegswirtschaft

„Einigkeit macht stark“ – der Zusammenschluss zum Branchenverband

Das Kriegsende und das Abkommen mit den Gewerkschaften

Das Trauma einer zweiten Revolution

Erste Schritte in die Politik

4. Die schwierigen Anfänge als „Chef des Hauses Siemens“

Nachfolger der Brüder

Die Kriegsfolgen und die Interessengemeinschaft mit Stinnes

Konflikte um die Wirtschafts- und Betriebsverfassung

Die Inflationskrise und das Wohl der Familie

Als Unternehmer in der Politik

Die Last der Ehrenämter

Privates Drama und persönliche Krise

5. Die große Zeit

Going alone: Abwendung von der Interessengemeinschaft und Absage an die AEG

Ausbau zur „technischen Holding“

Familienunternehmen im Übergang: Führungsstil, Traditionssinn und soziale Leistungen

Erfolg mit Hindernissen: Die Neuausrichtung der Reichsbahn

Zeitthemen

Im Niedergang des Liberalismus

Wider die „Zwangswirtschaft“

Amerika ist anders

Die „Überfremdung“ der deutschen Elektroindustrie

6. Abkehr von Weimar

Neuer Glanz auf dem Heinenhof

Unternehmensführung in der Weltwirtschaftskrise

Zeitenwende im Reich und Konflikte um die Reichsbahn

„Gegen die ungezügelte Vorherrschaft des Parlamentarismus“ – die politische Bilanz

Im Wahljahr 1932

7. Unter dem Hakenkreuz

Gescheiterte Pläne

Die Anpassung an den NS-Staat

Ausscheiden aus dem Verbandswesen und neue Ehrenämter

Präsident der Reichsbahn in den Jahren 1933/34

„Eines denkenden Volkes unwürdig“ – die Verfolgung der Juden

Aufschwung nach der Krise und Ausbau des Rüstungsgeschäfts

Bewahrung des Hauses Siemens

Die Spannungen mit der DAF

8. Die bitteren letzten Jahre

„Von einer Horde politischer Abenteurer regiert“ – im Sog der NS-Kriegswirtschaft

Vergebliche Sehnsucht nach einem Alterssitz

Resümee Ein Unternehmer der Moderne zwischen Krisen und Kriegen

Anhang

Verzeichnis der Abkürzungen

Anmerkungen

Quellen- und Literaturverzeichnis

Veröffentlichte Quellen

Erinnerungen, Nachrufe, edierte Reden und Schriften

Literatur

Internetveröffentlichungen

Abbildungsnachweis

Personenregister

Firmenregister

Einleitung

Unter den bedeutenden Unternehmern, die die Familie von Siemens in einer seltenen Häufung hervorgebracht hat, nimmt Carl Friedrich von Siemens einen besonderen Rang ein. Seine Biografie ist schon deshalb aufschlussreich, weil er den Siemens-Konzern so lange geleitet hat wie kein anderer im 20. Jahrhundert, von 1919 bis 1941. Noch viel mehr gilt dies, wenn man bedenkt, um welche Zeit es sich handelte: die höchste Inflation der deutschen Geschichte, die schwerste Weltwirtschaftskrise, die Entstehung der ersten deutschen Demokratie und deren Zerstörung, die nationalsozialistische Gewaltherrschaft und der Angriffskrieg Hitlers. In der Unternehmergeschichte stehen im Allgemeinen Pioniere und Gründerfiguren im Vordergrund. Doch ist das Handeln von Erben in Zeiten solcher Herausforderungen und Umbrüche in vieler Hinsicht aussagekräftiger.

Als jüngster Sohn des Unternehmensgründers Werner von Siemens wurde Carl Friedrich nach dem Ersten Weltkrieg „Chef des Hauses Siemens“ – eine Bezeichnung, die er einführte. Die Siemens-Firmen hatten damals den ersten schweren Rückschlag ihrer Geschichte erlitten. Die hohen Kriegsfolgeschäden, die Mangelwirtschaft der Nachkriegszeit und die stetige Geldentwertung zwangen zu neuen Strategien. Carl Friedrich fand sich zugleich in einer neuen familiären Konstellation wieder. Nach dem Tod seiner sehr viel älteren Halbbrüder Arnold und Wilhelm in den Jahren 1918/19 lastete die Verantwortung für die Unternehmen und das Wohl der Familie erstmals auf den Schultern eines einzigen Mannes. Es lag nun ganz an ihm, den Einfluss der Familie mit dem stark wachsenden Kapitalbedarf ihrer Stammgesellschaft Siemens & Halske zu vereinbaren. Zugleich war Carl Friedrich fest entschlossen, sich für eine liberale Sammlungsbewegung einzusetzen, um dem Bürgertum zu politischem Gewicht in der neuen Demokratie von Weimar zu verhelfen.

Damit sind die drei Themenfelder skizziert, die Schwerpunkte dieser Biografie bilden: das unternehmerische Handeln, die Wahrung des Familienunternehmens und das politische Engagement.

Als Unternehmer hatte sich Carl Friedrich von Siemens auf immer neue Herausforderungen einzustellen. Das Auslandsgeschäft musste neu aufgebaut werden, in der Inflation bot es sich an, starke Partner zu suchen, und danach mussten neue Wege gegangen werden, um an das benötigte Kapital zu gelangen, die Weltwirtschaftskrise zwang dazu, mit festen Prinzipien zu brechen, durch die rasante Entwicklung der Nachrichtentechnik entstanden neue Wettbewerber auf dem Weltmarkt, und die Rüstungskonjunktur des „Dritten Reichs“ führte zu einer scheinbar unaufhaltsamen Verschiebung des Geschäfts von zivilen zu militärischen Aufträgen. Carl Friedrichs Zeit glich einer Art Labor für unternehmerisches Handeln, und dies blieb für ihn nicht auf den Siemens-Konzern beschränkt. Nachdem er 1924 das Amt des Präsidenten der Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft übernommen hatte, leitete er zwei der fünf größten deutschen Unternehmen mit insgesamt rund 800.000 Beschäftigten.

Dabei war Carl Friedrich während des Kaiserreichs in einem anderen, weil transnational aufgestellten Firmengeflecht seiner Familie herangewachsen. Siemens war damals noch eine europäische Unternehmensgruppe, wie sie die drei Brüder der Gründergeneration errichtet hatten. Carl Friedrich hatte sich seine ersten Sporen sechs Jahre lang in der Leitung der britischen Siemens-Gesellschaften verdient – eine Welt, die durch den Ersten Weltkrieg verloren ging. Umso wichtiger war es, den verbliebenen Besitz in Deutschland und den Zusammenhalt innerhalb der Familie zu sichern. Dabei konnten die Stammgesellschaften Siemens & Halske und Siemens-Schuckertwerke nicht mehr in der früheren Weise von einem Mitglied der Familie geleitet werden. Die Unternehmen waren dafür zu groß und ihre Struktur zu komplex geworden. Wenn er als Oberhaupt der Familie weiterhin oberster Leiter der Geschäfte bleiben wollte, dann musste Carl Friedrich Verantwortung an die Vorstände delegieren, und diese mussten bereit sein, seinen Grundsätzen der Unternehmensführung zu folgen.

Carl Friedrichs ausgeprägte Neigung, auch politisch zu wirken, ist vor dem Hintergrund seiner Erwartungen in die Einführung der Demokratie in Deutschland zu sehen. Er organisierte Parteispenden und ließ sich 1920 für die linksliberale Deutsche Demokratische Partei in den Reichstag wählen. Drei Jahre später wurde er Präsident des – allerdings als „unpolitisch“ geltenden – Vorläufigen Reichswirtschaftsrats. Carl Friedrich wollte nie ganz in die Politik wechseln, aber er verstand sich in der Weimarer Republik als ein politisch agierender Vertreter der Wirtschaft. Der Wandel in seiner Wahrnehmung des Politikbetriebs und die damit einhergehende wachsende Distanz sind ein Lehrstück für die Gefährdung einer Demokratie.

Für eine Biografie über Carl Friedrich von Siemens ergibt sich aus den Brüchen in seiner Zeit das Problem, dass die Darstellung immer wieder neu ansetzen muss. Wechselnde Rahmenbedingungen, Problemlagen und Protagonisten lassen keinen kontinuierlichen Fluss zu. Verstärkt wird dies noch dadurch, dass auch Carl Friedrichs Privatleben nicht stetig verlief. Zweimal wurde er geschieden, und enge Freunde hatte er nicht, nur einen alten Studienfreund, mit dem er sporadisch korrespondierte.

Carl Friedrichs geschäftliche Tätigkeit ist dagegen umfassend dokumentiert. Die Biografie kann sich hierzu auf die Bestände des exzellent geführten Siemens-Archivs im Siemens Historical Institute stützen, das zu den ältesten und größten deutschen Wirtschaftsarchiven zählt. Seit wenigen Jahren ist das Archiv wieder an seinem ursprünglichen Standort in Berlin-Siemensstadt untergebracht. Neben dem umfangreichen Nachlass von Carl Friedrich von Siemens konnten dort auch einschlägige Akten aus Nachlässen mehrerer Vorstandsmitglieder – genannt seien hier nur Carl Köttgen und Max Haller – sowie aus der Überlieferung des Aufsichtsrats ausgewertet werden. Für die frühe Zeit Carl Friedrichs ist das archivierte Tagebuch seines Bruders und Vorgängers Wilhelm von Siemens eine außerordentlich ergiebige Quelle.

Aus Gründen, die sich nicht erschließen lassen, bricht die archivische Überlieferung der Korrespondenz innerhalb der Familie Siemens nach Wilhelms Tod im Oktober 1919 ab. Die Korrespondenzen zwischen Carl Friedrich und seinen Kindern gelten als verschollen und werden vermutlich nicht mehr erhalten sein. Gleiches gilt für die Korrespondenz mit seinen Schwestern. Auf Reisen wird er auch mit seiner zweiten und seiner dritten Ehefrau, Augusta („Tutty“) und Margarete, korrespondiert haben, doch offensichtlich ist auch keiner dieser Briefe erhalten geblieben. Die vorliegende Biografie kann deshalb notgedrungen nur kursorisch auf das Privatleben Carl Friedrichs in seiner Zeit als Konzernchef eingehen.

Neben den Beständen des Siemens-Archivs konnten im Bundesarchiv Berlin zahlreiche Akten eingesehen werden, die eine komplementäre Überlieferung zu der des Unternehmens bilden. Aus diesen Quellen erschließen sich Carl Friedrichs Tätigkeit als Präsident der Reichsbahn und seine Aktivitäten als Repräsentant der deutschen Industrie. Darüber hinaus wurden für die Biografie auch einschlägige Akten aus den Nachlässen der Industriellen Hugo Stinnes und Paul Reusch ausgewertet.

Bei der Bedeutung Carl Friedrichs und der Qualität seines großen Nachlasses im Siemens-Archiv erscheint es ganz unverständlich, dass die historische Forschung mit ihm stiefmütterlich umgegangen ist. Seit seinem Tod ist nur die 1960 vom Zeitzeugen Georg Siemens veröffentlichte, hagiografisch ausgerichtete Biografie über ihn erschienen, die sich auf Vorarbeiten des Siemens-Archivars Friedrich Heintzenberg stützen konnte.1 Seitdem ist der Kenntnisstand lediglich um zwei Beiträge von Siemens-Archivaren und die von der Carl Friedrich von Siemens Stiftung veröffentlichte Festrede von Günter Schmölders zum 100. Geburtstag ihres Namensgebers bereichert worden.2 Die Literatur zur Geschichte der Siemens-Unternehmen in der Zeit Carl Friedrichs bietet erhellende Ausführungen zu seinem Wirken.3 Gemeinsam haben alle genannten Veröffentlichungen, dass sie von Siemensianern und dem Unternehmen oder einer Stiftung der Familie von Siemens verbundenen Autoren verfasst wurden.4 Möglicherweise gab es bei Siemens Bedenken, die Biografie Carl Friedrichs von unabhängigen Historikerinnen und Historikern untersuchen zu lassen, weil er auch in der NS-Zeit gelebt hatte.

Dabei haben in der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte Biografien von Industriellen aus der Zeit Carl Friedrich von Siemens’ seit geraumer Zeit Konjunktur. War die 1998 erschienene gewichtige Stinnes-Biografie von Gerald D. Feldman noch ein Solitär, so folgten in den letzten Jahrzehnten Biografien über Paul Silverberg, Paul Reusch und Carl Duisberg.5 Auch in der Siemens-Historiografie wurde in den letzten zehn Jahren durch mehrere von Wissenschaftlern verfasste Biografien ein neues Kapitel aufgeschlagen. Diese Reihe war aber ganz der ersten Generation der Siemens-Unternehmer, den Brüdern Carl, Werner und William, gewidmet.6

Wie alle archivgestützten Projekte der letzten Jahre hat auch die Arbeit an dieser Biografie unter pandemiebedingten Einschränkungen gelitten. Anders als ursprünglich geplant, konnte das Buch nicht zum 150. Geburtstag von Carl Friedrich von Siemens erscheinen. Dass an dem Projekt dennoch festgehalten wurde, ist den verständnisvollen Auftraggebern zu verdanken. Ganz besonderer Dank gilt der Werner Siemens-Stiftung für die Förderung dieser Biografie. Die Recherchen für das Projekt sowie die Drucklegung wurden vom Siemens Historical Institute ermöglicht und gefördert, wofür ihm ebenfalls großer Dank gebührt. Für die fachkundige Bildauswahl aus den Schätzen des Siemens-Archivs danke ich vielmals Christoph Frank, für die hervorragende Unterstützung bei der Sichtung der Archivbestände Dr. Frank Wittendorfer und Dr. Ewald Blocher. In den Dank mit einbezogen seien die früheren Werkstudenten Christopher Heise und Sebastian Stahn. Die Entstehung dieses Buchs konnte sehr davon profitieren, dass sie beim Siedler Verlag in guten Händen lag. Jasmin Jonietz und Elke Posselt haben das Werk auf dem langen Weg vom Schreibtisch zum Büchertisch vorbildlich betreut, Fabian Bergmann hat das Manuskript ebenso sorgsam wie gründlich lektoriert.

1.„Carly“: Herkunft, Jugend und Orientierungssuche

Behütete Kindheit in Charlottenburg

„Der kleine – wie ich annehme – letzte Spross ist ein kräftiges, wie es scheint recht gut organisiertes Exemplar, wiegt 3½ kg, hat prächtigen Appetit und gesunde Lunge, lässt also einstweilen nichts zu wünschen übrig.“1 So begeistert beschrieb der – damals noch nicht nobilitierte – Berliner Unternehmer Werner Siemens seinen jüngsten Sohn wenige Tage nach dessen Geburt am 5. September 1872. Die Mutter des Kindes, Antonie Siemens, erholte sich währenddessen nur langsam von der Entbindung. Es war nicht sicher, ob sie an den bevorstehenden Feiern zum 25-jährigen Jubiläum des von Werner Siemens geleiteten und mitgegründeten Unternehmens Siemens & Halske (im Folgenden S&H) teilnehmen konnte. Da der Firmenchef das Jubiläum nicht ohne seine Frau begehen wollte, verschob er kurzerhand die Feier vom 1. auf den 12. Oktober.2 Seitdem wird bei Siemens der Gründungstag am 12. Oktober begangen – eine Tradition, die zu den festen Bestandteilen der Unternehmenskultur gehört, auch wenn ihre Entstehung bald in Vergessenheit geriet.

Carl Friedrich von Siemens, 1873

Einen Tag nach dem Jubiläum wurde der jüngste Spross der Familie getauft.3 Das Datum wurde wohl gewählt, weil die große Verwandtschaft bereits zur Firmenfeier nach Berlin eingeladen war. Gleich sechs Verwandte traten als „Taufzeugen“ auf: der Großvater mütterlicherseits, Professor Carl Georg von Siemens aus Hohenheim bei Stuttgart, Werners Bruder Carl, der damals die britische Siemens-Firma mitleitete, Wilhelm Siemens, der 17 Jahre alte Halbbruder des Täuflings, Anne Siemens geb. Gordon, die Gattin von Werners in England lebendem Bruder William, und Elise Siemens geb. Witthauer, die Gattin von Werners Bruder Friedrich, einem Fabrikanten in Dresden.4 Als Rufnamen erhielt der Junge den Vornamen der beiden erstgenannten Taufpaten. Jahrzehnte später erweiterte er den Rufnamen Carl um seinen zweiten Vornamen Friedrich, vermutlich um sich im Unternehmen von seinem Onkel Carl abzuheben.

Werner von Siemens (2. v. rechts, stehend) mit seinen Brüdern Walter, Carl, Otto (v. links) und William mit dessen Frau Anne, um 1860

Das Aufgebot an Taufpaten vermittelt einen Eindruck von der Größe und Zusammensetzung der Familie Siemens. Werner hatte zahlreiche Geschwister, von denen bei Carl Friedrichs Geburt noch sieben lebten, und zeichnete sich durch einen starken Familiensinn aus. Die Brüder Carl und William hatten wesentlich zum Aufstieg der Siemens-Unternehmen beigetragen. Carl durch den Aufbau des Russlandgeschäfts von S&H, William als Mitgründer und Leiter der britischen Firma Siemens Brothers.5 Zwischenzeitlich hatte Werner die Vision entwickelt, dass die Unternehmen der drei Brüder später einmal „unter der Leitung unserer Jungens eine Weltfirma à la Rothschild“ werden könnten.6 Doch William blieb kinderlos, und Carl hatte nur einen Sohn als möglichen Nachfolger. Umso glücklicher schätzte sich Werner, dass ihm mehrere Söhne vergönnt waren. Aus seiner ersten Ehe mit Mathilde geb. Drumann, einer entfernten Verwandten aus Königsberg, gingen vier Kinder hervor: Arnold (geb. 1853), Wilhelm (geb. 1855), Anna (geb. 1858) und Käthe (geb. 1861). Vier Jahre nach dem frühen Tod Mathildes, die im Alter von 40 Jahren an Tuberkulose starb, ging Werner 1869 eine zweite Ehe ein. Wieder heiratete er eine Verwandte, die damals 29-jährige Antonie Siemens („Toni“) aus Hohenheim bei Stuttgart. Trotz des Altersunterschieds war die Ehe ausgesprochen glücklich. Antonie belebte den Familiensinn ihres Mannes neu, und Werner akzeptierte, dass sich seine Frau ihrer Heimat weiterhin eng verbunden fühlte. Nach der Hochzeit ließ er für sie ein Landhaus im Stuttgarter Vorort Degerloch bauen.7

Ein Jahr nach der Hochzeit wurde das erste Kind von Antonie und Werner geboren, die Tochter Hertha. Da in Berlin gerade eine große Begeisterung über die Erfolge im Krieg gegen Frankreich herrschte, wurde das Mädchen nach einem Kriegsschiff benannt.8 Bei aller Freude über die Geburt der dritten Tochter trieb Werner weiterhin die Sorge um, dass die Familie zu wenig Söhne haben könnte. Sein Bruder Carl hatte zwei Töchter und einen Sohn, der Bruder Ferdinand war Vater von vier Töchtern, der früh verstorbene Bruder Hans hatte drei Töchter und einen Sohn hinterlassen. Mit der Geburt von Carl Friedrich war diese Befürchtung des Familienunternehmers verflogen. Beglückt schrieb Werner seinem Bruder William, „dass die behauptete Degeneration der Familie Siemens – darin bestehend, dass keine ausreichende Jungens-Remonte mehr stattfände – eine Wendung zum Besseren genommen hat“.9 Carl Friedrichs Bruder Wilhelm sah dies aus seiner Perspektive ähnlich: „Ich bin besonders vergnügt, dass es endlich einmal ein Junge ist. Hoffentlich kommen noch mehr von dieser Sorte.“10

Villa Siemens in der Berliner Straße 36, Charlottenburg, 1862

Carl Friedrich wuchs als behütetes Nesthäkchen in einem idyllischen Umfeld auf. Der Vater war nicht mehr der rastlose Pionierunternehmer früherer Jahre, sondern ein angesehener, vermögender Industrieller. Er ließ sein Landhaus in Charlottenburg zu einer repräsentativen Villa ausbauen. Dieses Haus in der Berliner Straße 36 (heute Otto-Suhr-Allee 10–16) hatte er einst für seine erkrankte erste Frau erworben. Es war damals nur ein Sommerhaus in einem noch ländlich geprägten Vorort, doch für die älteren Kinder war der große Garten mit einem Teich, einer Spielwiese und einem Pferdestall ein wahres Paradies.11 Antonie bestand nach der Heirat darauf, dass die Familie aus der im Zentrum Berlins, neben dem S&H-Werk in der Markgrafenstraße gelegenen Wohnung vollständig nach Charlottenburg umzog. Der Vorort war inzwischen durch eine Pferdebahn mit der Innenstadt verbunden und hatte sich zu einem beliebten Wohnsitz des Berliner Honoratiorentums entwickelt. Zu den Nachbarn der Familie Siemens gehörten hier inzwischen der Bankier Robert Warschauer und der Historiker Theodor Mommsen.12

Nach dem Umbau in den Jahren 1874 bis 1876 wurde die Siemens-Villa in Charlottenburg zu einem gesellschaftlichen Treffpunkt. Werner und Antonie gaben große Diners und festliche Bälle mit viel Prominenz aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Regelmäßig waren mit dem Hausherrn befreundete Professoren der Berliner Universität, die zu den bedeutendsten Naturwissenschaftlern ihrer Zeit zählten, zu Gast. Auch eine graue Eminenz der Politik ging in der Villa ein und aus. Die Tochter Käthe berichtete davon später:

„Abgesehen von den vielen Pflichtgesellschaften, die die Stellung meines Vaters mit sich brachten, war unser Haus der Mittelpunkt eines interessanten Freundeskreises, zu denen [sic] besonders Helmholtz, du Bois-Reymond, Kirchhoff, Gustav Hansemann u. a. gehörten; auch Lothar Bucher, die rechte Hand Bismarcks, möchte ich hier erwähnen, der ein ständiges Sommerquartier bei uns hatte.“13

Werner und Antonie von Siemens mit ihren Kindern Arnold, Käthe, Wilhelm, Hertha, Anna und Carl Friedrich (v. links), 1876

Die Brüder Carl Friedrichs hatten inzwischen das Elternhaus verlassen. Wilhelm („Willy“) war nur wenige Wochen nach der Geburt des kleinen Bruders auf ein Gymnasium in Straßburg gewechselt. Da er häufig kränkelte, glaubten der Vater und die Ärzte, dass ihm das mildere Klima in dem ein Jahr zuvor von Deutschland annektierten Elsass helfen würde.14 Angesichts des tragischen Schicksals seiner Mutter ist die Sorge um Wilhelm verständlich. Auch Arnold, Werners ältester Sohn, hatte schon unter einigen gesundheitlichen Problemen gelitten. Er besuchte zunächst die städtische Gewerbeschule, begann dann eine Mechanikerlehre bei S&H, entschloss sich aber schon nach sechs Monaten, die Lehre abzubrechen und bei einem Ulanenregiment in Stuttgart den Militärdienst abzuleisten.15 Anna, die ältere Halbschwester Carl Friedrichs, zog ein Jahr später ebenfalls an den Neckar, in ein Mädchenpensionat in Cannstatt bei Stuttgart.16 Wie ihr Bruder Arnold suchte sie die Nähe zu Antonies schwäbischer Verwandtschaft.

Carl Friedrich, der damals von allen „Carly“ genannt wurde, verbrachte zusammen mit seiner Schwester Hertha die gesamte Kindheit in Charlottenburg. Zu ihren Spielgefährten gehörten die Kinder der benachbarten Industriellenfamilie March, einige der 16 Kinder Mommsens und manche Sprösslinge aus der großen Verwandtschaft Werners. Die bereits zitierten Erinnerungen Käthes vermitteln auch einen Eindruck von dem familiären Leben in der Siemens-Villa:

„Vor allem aber war unser Haus ein Sammelpunkt für alle nähere und fernere Verwandtschaft. Besonders Sonntags fand sich oft ein großer Kreis von Vettern und Kusinen zusammen, auch Freunde meiner Brüder kamen ins Haus, so dass es meist sehr vergnügt bei uns zuging.“17

Adelheid Mommsen, das zehnte Kind des Gelehrten, erinnerte sich später an die Kinderfeste in der Nachbarschaft und wie Carly sich bei einer dieser Feiern eine ganze Schüssel Süßspeise mit roter Sauce sicherte.18 Zu den Höhepunkten des Jahres gehörte das Winzerfest, das Werner Siemens im Garten seiner Villa veranstaltete. Beliebt waren auch die Kartoffelfeuer, bei denen Siemens und Mommsen gemeinsam mit anderen Nachbarn Würstchen brieten.19

Aus Carlys Kindheit sind nur wenige Episoden überliefert. Sicher ist, dass er im Unterschied zu seinen häufig kränkelnden und zur Melancholie neigenden Brüdern ein lebhafter, putzmunterer Junge war. Als Antonie den Sommer 1874 mit den beiden jüngsten Kindern bei ihren Eltern verbrachte, während das Heim in Charlottenburg umgebaut wurde, schrieb sie ihrem Mann:

„Gefreut habe ich mich übrigens über den Jungen [Carl Friedrich], mit dem sich Hertha viel rumbalgte, dass er ihr, als sie ihn schlug, eins ins Gesicht versetzte, dass sie gewiss für immer genug hatte, – der wartet nicht lange mit der Revanche.“20

Einige für Carly eindrucksvolle Ereignisse lassen sich aus der Biografie des Vaters und der Geschichte des Unternehmens erschließen. So wird er erlebt haben, wie die Siemens-Villa am 1. März 1879 als erstes Privathaus in Deutschland elektrisch beleuchtet wurde. Werner Siemens führte diese technische Sensation mithilfe eines mobilen Generators aus dem Unternehmen bei einem Ball mit 250 Gästen vor.21 Drei Monate später präsentierte S&H auf der Berliner Gewerbeausstellung am Lehrter Bahnhof die erste elektrische Bahn. Die Fahrt mit der kleinen Schmalspurbahn war ein Spektakel, das viele Berliner anzog. Die Siemens-Kinder werden mit die Ersten gewesen sein, die sich auf die Wagen setzen durften.22 Wie sehr sie ihren Vater verehrten, der solche Wunder vollbrachte, kann man nur erahnen.

Antonie von Siemens mit ihren Kindern Hertha und Carl Friedrich, 1881

Auch für Carl Friedrich war der Vater ein großes Vorbild, aber anders als seine älteren Brüder empfand er dies nicht als Belastung und es hielt ihn nicht davon ab, so manchen Streich zu spielen. Nachdem die Siemens-Villa dauerhaft mit elektrischem Licht ausgestattet worden war, machte er sich einmal an den Drähten eines Kronleuchters zu schaffen und verursachte dadurch einen Kurzschluss, den ein Monteur aus dem Unternehmen beheben sollte. Um sich den Zorn des Vaters zu ersparen, brachte Carly den Monteur dazu, den Kurzschluss als Folge eines Blitzschlags auszugeben. Werner fand die wahre Ursache schnell heraus, doch mit einer harten Strafe musste sein Jüngster nicht rechnen.23 Der Unternehmer war ein nachsichtiger, fast überbesorgter Vater. Als Carly im Alter von acht Jahren an einer Nierenerkrankung litt, kam es über seine Behandlung fast zu einem Zerwürfnis zwischen dem Vater und dem Hausarzt.24 Bei einer anderen Erkrankung des jüngsten Sohns zog Werner gleich den angesehensten Mediziner des Landes, Rudolf Virchow, zurate.25

Der leidige „Schulkram“

In der Schule wurde es für Carly ernst. Auf der Vorbereitungsschule für das Gymnasium erhielt er im Sommer 1881 zwar ein insgesamt gutes Zeugnis, wurde aber auch ermahnt, weil er „zu flüchtig und unaufmerksam“ sei. Der Vater gab dem Lehrer die Schuld, doch der Wechsel auf das Gymnasium musste verschoben werden.26 Erst im Frühjahr 1884, im Alter von elfeinhalb Jahren, kam Carl Friedrich auf das humanistische Joachimsthalsche Gymnasium in Wilmersdorf. Warum er nicht auf das in der Nähe des Elternhauses gelegene Charlottenburger Gymnasium (ab 1874 Kaiserin-Augusta-Gymnasium) geschickt wurde, das sein Bruder Wilhelm vor dem Wechsel nach Straßburg besucht hatte, lässt sich nur vermuten.27 Das Joachimsthalsche Gymnasium hatte einen erstklassigen Ruf und eine große Tradition, die bis zur Gründung im Jahr 1607 als Fürstenschule der Hohenzollern zurückreichte. Erst wenige Jahre vor Carl Friedrichs Eintritt war die Lehranstalt aus der Burgstraße im Zentrum Berlins in ein neues, repräsentatives Gebäude an der Kaiserallee (heute Bundesallee) im Vorort Wilmersdorf umgezogen, das heute von der Universität der Künste genutzt wird. Möglicherweise wählte Werner Siemens das Joachimsthalsche Gymnasium aus, weil ihm von den pädagogischen Fähigkeiten des Direktors Karl Schaper berichtet worden war. Vielleicht war aber auch ausschlaggebend, dass Carly dort zeitweise ins Internat („Alumnat“) gegeben werden konnte – wie es etwa Ende Juni 1884 wegen eines Krankheitsfalls im Elternhaus geschah. Der Vater erwartete sich davon einen pädagogischen Nutzen: „Es wird dem Jungen sehr gut tun, mal ganz unter Jungens und Männern zu leben. Er wird zu waschlappig in der steten Weiberwirtschaft.“28 Erfreut erfuhr Werner damals, dass der Direktor mit den schulischen Leistungen des Sohns recht zufrieden war. Sie wurden insgesamt mit „gut“ bewertet, nur in Latein hatte Carly ein „Genügend“.29 Das Leben in den Alumnatsräumen muss für den Elfjährigen aus der Siemens-Villa ein Schock gewesen sein. Der Kunsthistoriker Alfred Krücke, der als Schüler vier Jahre nach Carl Friedrich auf das Joachimsthalsche Gymnasium kam, erinnerte sich daran, dass die Stockwerke des Alumnatsflügels „im Innern aufs Haar einer Kaserne“ glichen und dort jeweils zehn bis zwölf Schüler „in kahlen und unbehaglichen Wohn- und Schlafräumen hausten“.30

Carl Friedrich von Siemens, 1886

Carlys Begeisterung galt dem Sport, was ihm eine Ermahnung des Direktors einbrachte. Wie er später einmal mitteilte, wurde er darauf hingewiesen, dass „diese brotlosen Künste sicherlich nicht im Sinne meines Vaters lägen“.31 Seine schulischen Leistungen ließen in der Pubertät nach, bald konnte seine Versetzung nur noch mit zusätzlichem Unterricht bei einem Hauslehrer gesichert werden. In der Untertertia (8. Klasse) reichten allerdings auch dessen Bemühungen nicht mehr aus, um den mittlerweile 15-Jährigen auf dem Gymnasium zu halten. Im Mai 1887 gab der Klassenlehrer Carly eine Mitteilung an die Eltern mit, die ein Alarmsignal war:

„C. sitzt im Lateinischen Letzter und ist weitaus der schlechteste Schüler der Klasse. An Aufmerksamkeit, Ordnung und Fleiß läßt er es gänzlich fehlen. Auch im Griechischen ist er einer der Letzten.“32

Die Mitteilung wurde offenbar nicht vom Vater unterschrieben zurückgebracht. Da sie sich später noch im Besitz der Familie Siemens befand, hat Carly die Nachricht des Klassenlehrers vermutlich einbehalten.33 Werner Siemens machte sich über die schulischen Leistungen seines Jüngsten aber auch so keine Illusionen. Für die schlechten Noten in Latein und Griechisch dürfte er aus eigener Erfahrung Verständnis aufgebracht haben, aber ohne Ordnung und Fleiß war dieser Sohn für die Unternehmensnachfolge ungeeignet. Im Juli 1887 schrieb Werner seinem Bruder Carl: „England, Rußland und Wien bilden doch dumme Zukunftsfragezeichen wegen nicht ausreichenden Nachwuchses! Ob mein Carly einschlagen wird, ist noch sehr fraglich.“34

Aus einem Brief von Carl Friedrichs Schwester Hertha an die Halbschwester Anna vom 7. Oktober 1887 geht hervor, dass er nicht versetzt worden war und das Gymnasium verlassen sollte. Die besorgte Hertha hoffte, „dass so schnell wie möglich etwas anderes mit ihm beschlossen wird“.35 Wenige Wochen später schrieb sie an Anna:

„Carli ist seit einer Woche in Pension in Berlin, Du weißt doch, dass er in das Falk-Realgymnasium gekommen ist, u[nd] bei dessen Direktor in Pension. Hoffentlich nimmt er sich nun endlich ein bischen zusammen, der dumme Junge!“36

Ein Jahr später konnte sich „der dumme Junge“ immerhin mit einem Adelstitel schmücken. Aus Carl Friedrich Siemens wurde im Mai 1888 Carl Friedrich von Siemens, da Kaiser Friedrich III. dem Vater den erblichen Adelstitel verlieh.37

Die Hoffnung, dass Carly das Lernen auf dem neusprachlich-naturwissenschaftlich ausgerichteten Realgymnasium leichter fallen würde, wurde enttäuscht. Zwar wurde er versetzt, aber ob er das „Einjährige“, wie die Mittlere Reife damals hieß, erreichen würde, war ungewiss.38 Der Vater engagierte einen Privatlehrer, der ihn als externen Schüler im Elternhaus unterrichtete. Im Mai 1889 teilte Hertha Anna mit, „dass Carly jetzt hier zu Hause Privatstunden hat“. Seine Schwester war von den Vorteilen dieser Lösung überzeugt:

„Denn in der Schule kommt er einfach nicht vom Fleck u[nd] verbummelt somit dort seine Zeit, u[nd] hier muss er ordentlich arbeiten u[nd] hat, wie ich mich ja selbst überzeugen kann, einen sehr guten Lehrer, der ihn famos zu nehmen weiß u[nd] ihm seine Faseligkeit am ersten abgewöhnen kann.“39

Carly konnte nun größere Freiheiten genießen als im Pensionat. Gemeinsam mit Hertha und Kindern der Nachbarn March fuhr er morgens zum Schwimmunterricht.40 Der Vater ließ sich das pädagogische Talent des Privatlehrers Dr. Doorup einiges kosten. Er zahlte ihm 45 Mark pro Woche – mehr, als ein junger Oberlehrer verdiente – und stellte eine Extragratifikation in Aussicht, falls der Sohn das Realschulexamen bestehen würde.41 Dem Pädagogen gelang es, sich die Belohnung zu verdienen. Im Frühjahr 1890 bestand Carl Friedrich die Untersekunda (10. Klasse) und damit das „Einjährige“.42 Allerdings war er mit 17 ½ Jahren inzwischen in einem Alter, in dem sich andere Gymnasiasten auf das Abitur vorbereiteten.

Der erfolgreiche Abschluss der Mittleren Reife motivierte Carly, den Rückstand gegenüber gleichaltrigen Gymnasiasten durch Überspringen einer Klasse zu verkürzen. Er meldete sich am Königlichen Kaiser-Wilhelm-Realgymnasium, einer renommierten Lehranstalt in Berlin-Mitte, zur Aufnahmeprüfung für die Unterprima (12. Klasse) an. Obwohl er sich – vermutlich wieder mithilfe eines Privatlehrers – intensiv vorbereitete, fiel er durch die Prüfung.43 Doch Carl Friedrich gab nicht auf und steckte sich ein noch höheres Ziel. Nun wollte er an diesem Gymnasium nach zweijähriger Vorbereitung durch Privatlehrer als Externer das Abitur bestehen. An Fleiß fehlte es ihm jetzt nicht. Die Büffelei habe ihn „viel Mühe und Überwindung gekostet“, schrieb er später.44 Als im September 1892 die Abiturprüfungen begannen, schien der Lohn der Mühen zum Greifen nahe. Die schriftlichen Prüfungen verliefen in Mathematik, Physik und Französisch recht gut, in Englisch nicht ganz schlecht; in den mündlichen Prüfungen in Latein und Französisch erreichte Carly zumindest ein „Genügend“. Doch sein Aufsatz im Fach Deutsch wurde mit „nicht genügend“ bewertet, und mit dieser Note in Deutsch konnte das Abitur nicht bestanden werden.45 Zu Carl Friedrichs Unglück war der deutsche Abituraufsatz erst acht Monate zuvor in einer neuen Prüfungsordnung für die höheren Schulen in Preußen so aufgewertet worden, dass er als Prüfungsleistung im Abitur nicht mehr kompensiert werden konnte. Die Änderung ging auf eine persönliche Intervention Kaiser Wilhelms II. zurück, der eine stärkere national-pädagogische Ausrichtung der Prüfungen gefordert und den bis dahin vorgeschriebenen lateinischen Abituraufsatz für nutzlos erklärt hatte.46

Als Carl Friedrich am 19. September das niederschmetternde Ergebnis seiner Abiturprüfung erhielt, befanden sich die Eltern gerade in München und am Starnberger See zu Besuch bei dem befreundeten Bildhauer Adolf von Hildebrand.47 Carly musste den Misserfolg daher seinem Vater in einem Brief beichten. Die Formulierungen, die er wählte, sagen einiges über das Selbstverständnis des 20-Jährigen aus:

„Lieber Papa! Du sagtest gestern Abend, man müsste stets den Misserfolg in Betracht ziehen, wenn man eine Sache erreichen will. Dieser Misserfolg ist leider eingetreten. Wie, ist mir selber kaum klar, denn ich war nach dem Ausfall der schriftlichen Arbeiten meiner Sache sehr sicher.“48

Die Schuld gab Carl Friedrich dem Deutschlehrer, der ihn „scheinbar nicht besonders leiden“ könne. Möglicherweise sei die Bewertung auch davon beeinflusst worden, dass er beim Ministerium um eine vorzeitige Prüfung nachgesucht habe. Zugleich ließ er durchblicken, dass er nicht beabsichtigte, das Abitur zu wiederholen:

„Ich bin nun vor die Frage gestellt, ob ich es noch einmal versuchen soll oder nicht. Ich habe ja absolut keine Begabung für dergleichen Schulkram und es hat mir viel Mühe und Überwindung gekostet, mich darauf zu concentriren. In Deutschland hat es ja viel Werth, im Ausland ist es belanglos das Examen gemacht zu haben. […] Die Sache ist zwar sehr unangenehm, man muss sich aber in das Unabänderliche fügen.“49

Nachdem der Vater diesen Brief gelesen hatte, war er offenbar fassungslos. Er ließ, was selten vorkam, seine Frau antworten. Antonie bat den Sohn, umgehend nach München zu kommen und sich mit den Eltern zu beraten. Carl Friedrich hatte bereits beschlossen, mit einem Freund zwei Wochen in der Schweiz zu wandern, um sich von den Strapazen des Lernens zu erholen. Als Kompromiss fuhr er nun erst nach München und von dort aus weiter in die Schweiz.50

Auf den ersten Blick erscheint es recht überheblich, dem Vater nach dem Nichtbestehen des Abiturs mitzuteilen, dass dieser Abschluss international überschätzt werde. Carl Friedrich bediente sich dabei aber nur eines Arguments, das schon seinem ältesten Bruder nützlich gewesen war. Arnold hatte 1873 im Alter von 19 Jahren die Gewerbeschule ohne Abschluss verlassen. Er schrieb damals seinem Bruder Wilhelm:

„Der Gedanke wurde mir immer schrecklicher, noch ein halbes Jahr länger auf der Schule zu bleiben und ich überredete Papa, dass es für mich doch keinen Vorteil weiter haben würde, da unser Examen eigentlich zu nichts berechtete und ich auch ohne dasselbe auf allen Universitäten pp. immatrikuliert werde.“51

Wilhelm wiederum musste dem Vater zwei Jahre später mitteilen, dass er das Gymnasium ohne Abitur verließ. Er fiel im Juli 1874 in Straßburg durch die Prüfung und scheiterte im Februar 1875 erneut, dieses Mal als Externer am Köllnischen Gymnasium in Berlin.52

Als Carl Friedrich das Abitur nicht bestand, wusste er also, dass dies für den Vater nicht die erste derartige Enttäuschung war und die Folgen nicht allzu schwerwiegend sein würden. Wilhelm hatte auch ohne Abitur an mehreren Universitäten studiert, Arnold eine Zeit lang das Polytechnikum in Stuttgart besucht. Nach den damaligen Bestimmungen war es möglich, sich ohne Abitur zu immatrikulieren. Das Studium konnte dann allerdings nicht mit einem Examen abgeschlossen werden. Ein Sohn von Werner von Siemens musste jedoch auch keines nachweisen, um ins väterliche Unternehmen eintreten zu können. Werner war daran gelegen, dass die Söhne sich so bald wie möglich auf die Nachfolge vorbereiten konnten. Als Carl Friedrich für das Abitur büffelte, hatten seine älteren Brüder bereits die Leitung von S&H übernommen.

Georg Siemens hat in seiner Biografie Carl Friedrichs dessen schlechte schulische Leistungen darauf zurückgeführt, dass der jüngste Sohn des prominenten Industriellen im Elternhaus verwöhnt worden sei („zu viel Humus, zu wenig Steine“).53 Doch eher sind die Gründe wohl bei Carl Friedrich selbst zu suchen. So verwies der langjährige Siemens-Archivar Lothar Schoen darauf, dass Carly ein „sehr temperamentvoller Mensch“ gewesen sei, dem die Zwänge der Schule und stures Auswendiglernen nicht behagt hätten.54 Für den Jugendlichen spielte wohl auch die Motivation eine wichtige Rolle. Ein begabter Pädagoge wie der Hauslehrer Doorup konnte ihn zu guten Leistungen beflügeln. Stures Lernen war für ihn dagegen „Schulkram“. Im Unterschied zu seinem älteren Bruder Wilhelm lagen Carl Friedrich trotz der Rückschläge Selbstzweifel fern. Aus seiner Sicht hatte er nicht versagt, sondern war fürs Pauken eben nicht begabt. Sein Selbstbewusstsein litt auch nicht unter den Erwartungen des übermächtigen Vaters. Wilhelm hatte als 18-Jähriger in einer depressiven Phase seinem Tagebuch anvertraut, dass ihn die Furcht quäle, „einmal untüchtig und großen Vaters kleiner Sohn zu sein“.55 Einige Jahre später riet der Vater Wilhelm, sich „immer einfach zu geben, wie Du bist und nicht wie Du glaubst, dass Du sein müsstest“.56 Carly benötigte diesen Rat nicht. Er gab sich so, wie er war.

Der Bruder Wilhelm als Vaterersatz

Gut zwei Monate nach dem Scheitern Carl Friedrichs im Abitur starb Werner von Siemens am 6. Dezember 1892 an einer Lungenentzündung. Den Sohn traf dieser Verlust in einer Zeit, in der er stärker als je zuvor auf Rat angewiesen war. Es lag nun an Arnold und Wilhelm, ihrem Bruder den Rückhalt zu geben, den er beim Vater nicht mehr finden konnte. Werner hatte damit schon bei der Geburt des 55 Jahre jüngeren dritten Sohns gerechnet. Seinem Bruder William, dem er einst selbst den Vater ersetzt hatte, schrieb er damals:

„Seine Triumphe im Leben werde ich schwerlich noch erleben, doch ich vertraue, dass seine älteren Brüder, der Familientradition entsprechend, Vaterstelle an ihm vertreten werden, wenn ich es nicht mehr kann, mache mir also deshalb keine weiteren Sorgen.“57

Arnold und Wilhelm waren sich dieses väterlichen Auftrags sehr bewusst. Sie wurden zum wichtigsten Halt ihres jungen Bruders, allerdings in sehr unterschiedlicher Weise. Arnold unterstützte Carl Friedrich, wahrte aber eine gewisse Distanz. Wilhelm wurde hingegen zu einem echten Ersatzvater. Dieser Unterschied entsprach dem Naturell der Brüder und auch ihrer Rolle in der Leitung des Unternehmens. Arnold, über den wenig bekannt ist, führte ein eher zurückgezogenes Leben an der Seite seiner geselligen Frau Ellen geb. Helmholtz, einer Tochter des berühmten Physikers. Werner von Siemens hielt seinen ältesten Sohn für „zu bescheiden und gutmütig“.58 Georg Siemens nennt Arnold in seiner Carl-Friedrich-Biografie weniger feinfühlend einen „Phlegmatiker“.59 Wilhelm legte dagegen seine jugendlichen Selbstzweifel nach und nach ab, auch wenn er melancholisch veranlagt blieb. Er studierte einige Jahre lang Physik, Chemie und Mathematik. Anschließend trat er 1879 bei S&H in das noch recht neue Forschungslabor ein und bewies dort zur Freude des Vaters ein beachtliches Talent für Technik.60 Als dieser sich 1890 im Alter von 74 Jahren aus dem Unternehmen zurückzog, wurden die beiden so unterschiedlich veranlagten Brüder zu gleichen Teilen Gesellschafter von S&H. In seinem Testament verpflichtete Werner von Siemens Arnold und Wilhelm, später Carl Friedrich als weiteren Gesellschafter aufzunehmen.61

Schon bald nach der Trauerfeier für den Vater beratschlagten die Brüder und die Mutter mit Carl Friedrich, ob er einen weiteren Anlauf für das Abitur wagen sollte. Wilhelm riet zunächst dazu.62 Am Jahreswechsel 1892/93 war sich die Familie aber einig, dass der 20-Jährige nicht noch länger Schüler bleiben sollte. Dafür gab es auch gesundheitliche Gründe. Carl Friedrichs Augen hatten unter den Anstrengungen des Lernens auf das Abitur gelitten. Er war darüber in größter Sorge und konsultierte den renommierten Leiter der Göttinger Augenklinik, Ermann Schmidt-Rimpler, einen früheren Stabsarzt der Charité und Schüler des Augenheilkundlers Friedrich von Graefe, bei dem Arnold als Kind in Behandlung gewesen war.63

Die Augenerkrankung scheint Carl Friedrich allerdings rasch überwunden zu haben, da er sich wenige Wochen später zum Militärdienst meldete und bei der Musterung für tauglich befunden wurde.64 Wilhelm wollte dem angeschlagenen Bruder noch andere Perspektiven eröffnen. Er schlug ihm vor, die Zeit bis zum Dienstantritt im Herbst 1893 bei der britischen Siemens-Gesellschaft in London zu verbringen und an einer Seekabelexpedition dieses Unternehmens teilzunehmen.65 Wilhelm ging dann sogar noch weiter und bot Carl Friedrich an, ihn im Frühjahr auf einer Reise in die USA zu begleiten.66 Das war das richtige Rezept, um den jungen Bruder wiederaufzurichten.

Wilhelm (links) und Arnold von Siemens, 1895 / undatiert

Ende März 1893 reiste Carl Friedrich nach London. Das dortige Zweigunternehmen Siemens Brothers & Co. Ltd. war 1858 von Werner und seinem in England lebenden Bruder William als Spezialunternehmen für das Seekabelgeschäft gegründet worden.67 Geleitet wurde Siemens Brothers jetzt von Alexander („Ali“) Siemens, einem Adoptivsohn des mittlerweile verstorbenen William. Carl Friedrich konnte gleich nach seiner Ankunft an einer Seekabelverlegung durch die Irische See teilnehmen. Wie sehr ihn diese Erfahrung begeisterte, geht aus einem Brief Antonies an ihre Stieftochter Anna hervor:

„Karly’s Aufenthalt in England scheint ihn sehr zu befriedigen und die acht Tage auf dem Schiff ohne jede Gelegenheit deutsch zu sprechen war herrlich für ihn. In Belfast hat er noch etwas Home Rule Agitation mitgemacht u[nd] gesehen wie der Sekret[är] Balfour gefeiert […]“.68

Drei Wochen nach Carl Friedrich traf auch Wilhelm in London ein. Beide gingen am 21. April in Southampton an Bord des Schnelldampfers Fürst Bismarck, der regelmäßig die Route Hamburg–Southampton–New York befuhr. Begleitet wurden sie von ihrer Schwester Anna und deren Mann, dem Papierfabrikanten Richard Zanders aus Bergisch-Gladbach. Die Fürst Bismarck war damals der neueste Schnelldampfer der HAPAG und zeitweise das größte deutsche Passagierschiff. Wilhelm beschrieb die Überfahrt in seinem Tagebuch: „Die Reise war im allgemeinen kalt und nass. Wir begegneten Eisbergen, hatten zum Teil rauhes Wetter, auch einen Sturm, dann zuletzt Nebel und landeten am 28. früh in Hoboken.“69

Noch am Tag ihrer Ankunft konnten sich die Reisenden eine Parade auf der Fifth Avenue ansehen. Die USA feierten den 400. Jahrestag der Ankunft Kolumbus’ in Amerika. Aus diesem Anlass fand eine Weltausstellung, die World’s Columbian Exposition, in Chicago statt, an deren Eröffnung Wilhelm wenige Tage später teilnahm. Carl Friedrich und das Ehepaar Zanders hatten es nicht so eilig und waren an den Sehenswürdigkeiten New Yorks stärker interessiert. Sie blieben erst einmal dort und reisten Wilhelm dann nach Chicago hinterher.

Wilhelm hatte auf der Weltausstellung nicht nur den von langer Hand vorbereiteten Stand von S&H zu eröffnen. Er musste auch die ein Jahr zuvor in Chicago gegründete Tochtergesellschaft Siemens & Halske Electric Co. of America inspizieren. Dieser Gründung, die von seinem Bruder Arnold und dem Direktor des Charlottenburger Werks durchgesetzt worden war, hatte er von Anfang an skeptisch gegenübergestanden. Beim Besuch in Chicago fand er seine Befürchtungen bestätigt. Missmutig reiste Wilhelm Ende Mai über New York nach Europa zurück.70

Für Carl Friedrich war der Besuch in Chicago weniger einprägsam, er wollte von dort aus auch nicht die Heimreise antreten. Der Aufenthalt in den USA war für ihn kein Geschäftstermin, sondern eine Chance, das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ kennenzulernen. So trennte er sich von seinen Mitreisenden und fuhr Richtung Westen, zum Yellowstone-Nationalpark, der ein Jahr zuvor das weltweit erste Schutzgebiet dieser Art geworden war, und weiter nach San Francisco. Nach rund zwei Monaten traf er Ende Juli wieder in Chicago ein.71 Es sind keine Reiseberichte von ihm überliefert, doch hatte die Tour durch die USA zweifellos eine starke Wirkung auf ihn. Bis dahin hatte der 20-Jährige noch nicht viel von der Welt gesehen. Während seine Schwester Hertha mit den Eltern in den Kaukasus und durch Italien hatte reisen können, da sie als Mädchen kein Gymnasium besuchen durfte, hatte er die Schulbank gedrückt.72

Wie aus einem Brief der Mutter hervorgeht, kam Carl Friedrich recht selbstbewusst und guter Dinge aus den USA zurück, doch Antonie war skeptisch: „von dem much improved merke ich nicht viel; hoffentlich ist die Veränderung nach dem Militärjahr fruchtbarer“.73 Zum 1. Oktober 1893 trat Carl Friedrich den Militärdienst an. Da er im Gymnasium den Abschluss der 10. Klasse, das „Einjährige“, bestanden hatte, dauerte der Dienst für ihn nur ein Jahr, während Wehrpflichtige mit einem niedrigeren Schulabschluss drei Jahre lang dienen mussten. Als „Einjähriger“, der sich freiwillig gemeldet hatte, konnte er sich zudem den Truppenteil aussuchen. Carl Friedrich entschied sich für ein Ulanenregiment. Bei diesen Kavallerieverbänden waren Einjährig-Freiwillige aus vermögenden Familien weitgehend unter sich, da sie nicht nur für ihre Ausstattung, sondern auch für die Kosten des Pferdes aufzukommen hatten. Für Carl Friedrich dürfte es naheliegend gewesen sein, sich für die Ulanen zu entscheiden, da er gerne ritt und seine Brüder bereits bei einer derartigen Einheit gedient hatten.74 Auf Wunsch seiner Mutter hatte er sich das Schleswig-Holsteinische Ulanen-Regiment Nr. 15 ausgewählt, das seit 1871 in Straßburg – und damit nicht allzu weit von ihrem Haus bei Stuttgart – stationiert war.75 Seinen Vorschlag, mit ihm dorthin zu ziehen, lehnte Antonie empört ab. Sie sah es nicht als ihre Aufgabe an, den Sohn auch noch als Soldaten zu verhätscheln.76

Aus Carl Friedrichs Zeit beim Militär liegen keine Schilderungen vor. Den Briefen Antonies an Anna lässt sich zumindest entnehmen, dass er unter dem Drill nicht besonders litt. Schon Ende November kam die Mutter zu Besuch nach Straßburg.77 Wenige Wochen später war Carl Friedrich über Weihnachten in Charlottenburg. Antonie konnte feststellen, dass er sich bei den Ulanen „ganz wohl im Grunde“ fühlen würde.78 Im Februar schrieb sie: „Die militärischen Chicanen geniren mich für ihn gar nicht, ich gönne sie ihm, so wie sie ihm körperlich gut bekommen.“79 Dies war wohl auch der Fall. Carl Friedrich dürfte sportlicher geworden sein. Er konnte sich nun ganz dem Reiten widmen, das er vorher als Hobby, auch gemeinsam mit seiner Schwester Hertha, betrieben hatte.80

Ein Bummelstudium und zwei Heiraten

Antonie hatte beschlossen, im Anschluss an Carl Friedrichs Militärdienst mit ihren beiden Kindern nach München zu ziehen. Sie litt schwer unter dem Tod ihres Mannes und wollte nicht mehr in der Villa in Charlottenburg bleiben, wo sie alles an ihn erinnerte. Ende Oktober 1894 bezog die Familie in München eine repräsentative Wohnung im Palais Eichthal in der Brienner Straße 52 (seit 1956 Brienner Str. 12) – nicht weit von der heutigen Siemens-Konzernzentrale.81 München bot sich nicht nur wegen des kulturellen Angebots als zeitweiser Wohnsitz an. Carl Friedrichs Eltern waren hier in den letzten Jahren immer wieder zu Besuch gewesen, da Werner den in München und Florenz arbeitenden Bildhauer Adolf von Hildebrand beauftragt hatte, verschiedene Porträtbüsten von ihm anzufertigen. Dabei war nicht nur zwischen den beiden Männern, sondern auch ihren Familien eine tiefe Freundschaft entstanden. Werner hatte Hildebrand durch den Zoologen Anton Dohrn kennengelernt, der mit dem Bildhauer seit Langem eng befreundet war und 1872 die Zoologische Station in Neapel, eines der ältesten außeruniversitären Forschungsinstitute, gegründet hatte. Von dieser Pioniertat beeindruckt, hatte Werner damals Dohrn mit einem Kredit in Höhe von 30.000 Mark unterstützt und sich dafür eingesetzt, dass die Zoologische Station eine Förderung durch das Auswärtige Amt erhielt.82 Im Februar 1892 waren Werner, Antonie und Hertha in Neapel von Dohrn wärmstens empfangen worden. Die befreundeten Familien Dohrn und Hildebrand pflegten eine mediterrane Geselligkeit, die das Ehepaar Siemens sehr genoss und die Tochter Hertha begeisterte. Im September 1892 berichtete sie ihrer Schwester Anna von einem Treffen mit den Dohrns und Hildebrands in Starnberg:

„So viel Harmlosigkeit bei so viel Bildung, so viel Vornehmheit bei so viel Urwüchsigkeit – fast möchte ich sagen Volkstümlichkeit, so viel gute Form in der angenehmsten Ungebundenheit u[nd] Formlosigkeit. […] Was mich so freut ist d[a]ss P[apa] u[nd] M[ama] sich auch sehr wohl in dieser Gesellschaft fühlen.“83

Es war eine Geselligkeit ohne Standesdünkel und Eitelkeit, obwohl jeder der Männer auf seinem Gebiet zur Prominenz gehörte. Doch bestand ein großer Altersunterschied. Als Werner starb, waren Hildebrand 45 und Dohrn 52 Jahre alt. Antonie passte ihrem Alter nach also gut in den Münchner Freundeskreis. Doch konnte sie nach dem Umzug nicht so unbeschwert in der bayerischen Metropole leben wie bei den früheren Besuchen mit ihrem Mann. Hildebrand war inzwischen stark durch die Arbeit an seinem bekanntesten Werk, dem monumentalen Wittelsbacher Brunnen, beansprucht, während Dohrn nur gelegentlich nach München kam – und ohne die beiden blieb Antonie in der dortigen Gesellschaft außen vor. Ende November 1894 schrieb sie an Anna:

„Wir leben äußerst häuslich, waren einmal im Theater und Concert; bei uns sehen wir manchmal Hildebrand u[nd] Tochter Abends zum Essen, auch heute erwarten wir sie. Ein wenig mehr Verkehr wäre mir persönlich gar nicht unangenehm, nur kann ich mich nicht entschließen Menschen zu besuchen die ich gar nicht kenne.“84

Noch stärker belastete die Mutter, dass sich ihre Kinder nicht so verhielten, wie sie es erwartete. Carl Friedrich hatte sich an der Technischen Hochschule eingeschrieben, besuchte zwei Stunden am Tag Vorlesungen, war aber nach Antonies Eindruck „noch sehr wenig drin im ernsten Studium“ und widmete sich mehr seiner Leidenschaft für das Reiten.85 Hertha wiederum begann, Interessen zu entwickeln, die nicht den Rollenerwartungen an eine junge Frau aus den höheren Kreisen der Gesellschaft entsprachen. Bisher hatte sie dieses Klischee erfüllt, hatte nach der Konfirmation ein Jahr in Mädchenpensionaten in Montreux und Stuttgart verbracht, sich der Malerei gewidmet und ihre Eltern auf Reisen begleitet. Für bildende Kunst begeisterte sie sich weiterhin, aber Hertha wollte jetzt ebenso die Universität besuchen wie ihr Bruder. Für eine Frau war der Besuch von Vorlesungen damals aber nur möglich, wenn sich ein Hochschullehrer bereit erklärte, sie als Gasthörerin aufzunehmen. Durch die Unterstützung Dohrns gelang es Hertha, eine Zusage des Münchner Physiologen Johannes Ranke zu erhalten.86 Sie ging das Studium mit größerem Eifer an als ihr Bruder und gab sich auch äußerlich als eine moderne junge Frau, indem sie sich das Rauchen angewöhnte, das Carl Friedrich wohl schon beim Militär begonnen hatte.87

Für Antonie war es schwer, sich damit abzufinden, dass ihr Alltag von zwei Zigaretten rauchenden Studierenden bestimmt wurde und nicht von geselligen Treffen mit Freunden und Bekannten. Dass Carl Friedrich sich nicht auf sein Studium konzentrierte, war schon bedenklich genug, aber Herthas Drang zu studieren fand die Mutter geradezu schockierend. Antonie war überzeugt, dass sich ihre Tochter damit ins Verderben stürzte.88 Als Dohrn Hertha in den Semesterferien nach Neapel einlud, hoffte die Mutter, dass sie dort auf andere Gedanken kommen würde.89 Doch das Gegenteil war der Fall. Durch die Eindrücke in der Zoologischen Forschungsstation begeisterte sich Hertha noch mehr für Naturwissenschaften. Im anschließenden Sommersemester studierte sie in München bei einem der führenden deutschen Chemiker, dem späteren Nobelpreisträger Adolf von Baeyer.90

Hertha und Carl Friedrich von Siemens, 1895

Carl Friedrich war nur ein Semester in München vergönnt. Auf Drängen Wilhelms kehrte er im Frühjahr 1895 nach Berlin zurück und schrieb sich an der Technischen Hochschule Charlottenburg ein. Wilhelm war nicht unbemerkt geblieben, dass sein junger Bruder im Münchner Umfeld das Studium vernachlässigte. Um dies zu ändern, wollte er ihn wohl unter persönliche Beobachtung stellen.91 Es sollte anders kommen. Nach seiner Rückkehr lernte Carl Friedrich in Berlin Sophie Passeckel kennen, eine fünf bis sechs Jahre ältere Frau, die angeblich eine Ausbildung zur Theatersängerin absolvierte.92 Er verliebte sich heftig in sie und geriet ganz in ihren Bann. Im Laufe des Sommers entschloss sich das Paar zu heiraten. Eine Hochzeit im Kreis der Familien wollte Sophie unbedingt vermeiden. Angeblich würde ihr Onkel in Hamburg, bei dem sie nach dem Tod ihrer Eltern aufgewachsen sei, niemals einer Heirat zustimmen. Um die Verwandtschaft vor vollendete Tatsachen zu stellen, reiste das Paar heimlich nach London und gab sich dort am 15. September 1895 das Jawort.93

Erst als die Jungvermählten eine Woche später in Carl Friedrichs Berliner Wohnung einzogen, erfuhren seine Mutter und die Brüder von der Heirat. Die Familie war schwer schockiert. Antonie, die wenige Wochen zuvor nach Charlottenburg zurückgezogen war, wollte ihren Sohn nicht mehr sehen und schrieb ihm einen Trennungsbrief; Carl Friedrichs Schwägerinnen Elly und Ellen lehnten es ab, Sophie in ihr Haus zu lassen; seine Brüder legten dem Paar nahe, Berlin zu verlassen und nach London überzusiedeln.94 Um dem Konflikt mit der Familie zu entgehen, zogen die jungen Eheleute dorthin. Carl Friedrich meldete sich wieder bei Siemens Brothers. Alexander Siemens, der Direktor der britischen Siemens-Gesellschaft, lud das Paar ein, ihn auf einer Kabelexpedition ins Amazonasgebiet zu begleiten. Anfang Dezember traten die beiden diese ungewöhnliche Hochzeitsreise an.95

Die Ehe Carl Friedrichs mit einer unbekannten Nachwuchskünstlerin löste in der Familie auch deshalb so heftige Reaktionen aus, weil es bei den Siemens eine Tradition gab, innerhalb der Verwandtschaft oder des engeren Umfelds zu heiraten.96 Verwandtschaftsehen waren im Bürgertum lange Zeit recht verbreitet, sie trugen dazu bei, das Milieu zu stabilisieren. Angeheiratete aus der Verwandtschaft wussten, wie sie sich zu verhalten hatten, und das Vermögen blieb bei einem frühzeitigen Tod des Ehemanns in der Familie. Werner hatte in erster wie in zweiter Ehe eine entfernte Verwandte geheiratet, Wilhelm war mit seiner Kusine Elly, einer Tochter seines Onkels Ferdinand, verheiratet, Arnold mit der Tochter des Physikers Hermann von Helmholtz, eines engen Freundes seines Vaters. Vor diesem Hintergrund musste Carl Friedrichs Ehe mit Sophie auch als Absage an die Prinzipien der Familie verstanden werden.

Wilhelm hatte den Verdacht, dass sein junger, in der Liebe noch recht unerfahrener Bruder einer Frau auf den Leim gegangen war, die es nur auf sein Vermögen abgesehen hatte. Er ging davon aus, „dass auf seiner Seite nur Ungeduld und Schwäche, auf ihrer Seite Berechnung angenommen werden muss“.97 Sophie hatte wohl durchaus Gefühle für Carl Friedrich, doch dieser war eben auch eine sehr gute Partie. Als Miterbe seines Vaters galt er als einer der reichsten Junggesellen Berlins. Schon bald erfuhr die Familie Siemens von Gerüchten über Sophies Vorleben. Wilhelm beauftragte daraufhin zwei Anwälte, Erkundigungen einzuholen.98 Die Nachforschungen bestätigten die schlimmsten Befürchtungen. Ein Offizier aus Wien und eine Berliner Friseuse gaben schriftliche Erklärungen ab, in denen sie sich recht eindeutig zu früheren Beziehungen Sophies äußerten. Auch stand nun fest, dass die junge Frau von Siemens weder an einem Theater ausgebildet wurde noch aus Hamburg stammte, sondern sich mit einer erfundenen Lebensgeschichte einen vermögenden Junggesellen aus einer prominenten Familie geangelt hatte.99

Als Carl Friedrich und Sophie an Pfingsten 1896 zu Besuch nach Berlin kamen, präsentierte Wilhelm seinem Bruder die Ergebnisse der Ermittlungen. Carl Friedrich wollte zunächst nicht glauben, einer Hochstaplerin aufgesessen zu sein. Dann zog er die Konsequenzen, trennte sich von Sophie und erteilte einem Berliner Anwalt Vollmacht für eine Scheidungsklage. In seiner Verzweiflung wollte er zunächst nach Guatemala entfliehen, wo sich sein Freund Adolf Mohr aufhielt.100 Schließlich blieb er doch noch einige Zeit in London. Während Carl Friedrich die Scheidung wollte, bestand Wilhelm darauf, die Ehe für ungültig erklären zu lassen, damit Sophie den Namen von Siemens abgeben musste und keinen Anteil am Vermögen Carl Friedrichs erhielt.101

Das Verfahren zog sich hin, da Sophie in Brüssel untergetaucht war und alle Versuche scheiterten, ihr die Klage auf Ungültigkeitserklärung dort zuzustellen. Nachdem auch noch ein Zeuge seine Aussage widerrufen hatte, entschlossen sich die Brüder Siemens auf Rat des Anwalts, das Problem mit Geld zu lösen.102 Sophie ging darauf ein und verpflichtete sich, wieder den Namen Passeckel anzunehmen. Am 6. April 1897 wurde die Ehe geschieden.103 Für ihren Verzicht auf den Namen von Siemens wurde Sophie reich entlohnt. Wilhelms Tagebuch zufolge erhielt sie eine jährliche Pension von 6.000 Mark – ein Betrag, der dem Gehalt eines Regierungsrats entsprach.104 Carl Friedrich gab gegenüber der Einkommensteuer-Veranlagungskommission noch sehr viel höhere Summen an. Demnach hat seine geschiedene Gattin eine lebenslange Rente erhalten, die sich in den ersten beiden Jahren auf 24.000 Mark, in den drei folgenden Jahren auf 18.000 Mark und danach auf 12.000 Mark belief.105

Antonie hatte sich schon bald mit Carl Friedrich ausgesöhnt, beide reisten zusammen nach Paris und Rom, wo Hertha den Winter 1896/97 verbrachte.106 Die Briefe der Mutter aus dieser Zeit zeigen, wie sehr Carl Friedrich unter dem Ehedebakel litt. Kurz vor Weihnachten schrieb Antonie an Anna: „Er ist schwer u[nd] schwierig zu fassen, wenn man [ihn] nicht nochmals brechen will u[nd] dann seinem Schicksal überlassen: es sind böse Tage.“107 Carl Friedrich löste die Wohnung in London auf, scheint aber erst im Sommer 1897 das Studium fortgesetzt zu haben.108 In Wilhelms Tagebuch werden zwei Studienfreunde Carl Friedrichs aus dieser Zeit erwähnt: Adolf Mohr (Spitzname „Amor“) und Charles Gorrissen.109 Beide waren für Carl Friedrich wohl ein wichtiger Rückhalt. In erster Linie gelang es ihm aber aus eigener Initiative, die deprimierende Erfahrung seiner ersten Ehe zu überwinden. Nach der Trennung von Sophie begann er, sich für das Segeln zu begeistern, und gab den Bau einer Rennjacht in Auftrag. Die formschöne, schnelle Jacht wurde auf den Namen seiner Schwägerin Elly getauft.110

Carl Friedrich begnügte sich nicht damit, die Havelseen bei Berlin zu durchkreuzen. Als erste in Deutschland gebaute Rennjacht nahm die Elly im Herbst 1896 an Regatten in England teil.111 Der sportliche Ehrgeiz ihres Besitzers war damit noch nicht gestillt – im Juni 1897 gewann Carl Friedrich bei einer Regatta der Kieler Woche den ersten Preis.112 Dieser Leistung zollten auch die Brüder Respekt, zumal die Kieler Woche durch die Anwesenheit des Kaisers ein gesellschaftliches Ereignis ersten Ranges war. Wilhelm II. und sein Bruder Prinz Heinrich nahmen mit ihren Jachten persönlich an den Wettbewerben teil. Beide standen an der Spitze des elitären Kaiserlichen Yacht-Clubs, in dem sich während der Kieler Woche eine Hautevolee aus Politik, Militär und Wirtschaft traf. Unter ihrem Einfluss wurde der Segelsport auch zu Schauveranstaltungen der Marine und zur Propaganda für die aggressive Flottenpolitik des Kaisers genutzt.113 Carl Friedrich ging es um den Sport, aber ein Sieg bei einer Regatta in Kiel stärkte nicht nur sein angegriffenes Selbstbewusstsein, sondern brachte ihm auch gesellschaftliches Ansehen ein. Dass er mit fast 25 Jahren keine anderen Leistungen vorzuweisen hatte, interessierte bei einem erfolgreichen Sportler nicht.

Während dieser Kieler Woche wurde in Berlin am 18. Juni 1897 die Siemens & Halske Aktiengesellschaft gegründet. Carl Friedrichs Patenonkel Carl und der Deutsche-Bank-Vorstand Georg von Siemens – ein Vetter zweiten Grades – hatten schon lange auf die überfällige Umwandlung der Kommanditgesellschaft gedrängt, doch Werner von Siemens hatte sich bis zu seinem Tod dagegen gesperrt.114 Inzwischen war Carl von St. Petersburg nach Berlin gezogen, um Arnold und Wilhelm mit seiner geschäftlichen Erfahrung zu unterstützen. Neben den Zwängen des Kapitalmarkts und des Wettbewerbs mit der stark expandierenden AEG war es vor allem seinem Einfluss zu verdanken, dass sich Carl Friedrichs Brüder entschlossen, das Unternehmen anlässlich des 50-jährigen Firmenjubiläums in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln.115

Anders als von Werner befürchtet, blieb das Unternehmen auch mit dieser Rechtsform in der Hand der Familie. Das Aktienkapital in Höhe von 35 Mio. Mark wurde zunächst vollständig von Mitgliedern der Familie Siemens übernommen.116 Doch war abzusehen, dass die im Aufsichtsrat vertretene Deutsche Bank und ihre Konsortialpartner in Zukunft an Einfluss gewinnen würden. Die Umwandlung erleichterte es S&H, große Anleihen aufzunehmen, und in den beiden folgenden Jahren mussten bereits zwei Kapitalerhöhungen durchgeführt werden. Während Arnold und Wilhelm in den neuen, von ihrem Onkel Carl geleiteten Aufsichtsrat wechselten, wurde mit Tonio Bödiker ein Vorstandsvorsitzender bestellt, der nicht der Familie Siemens angehörte und auch nicht aus dem Unternehmen kam. Als ehemaliger Präsident des Reichsversicherungsamts, der keine Kenntnisse in der Elektrotechnik besaß, stellte er keine Bedrohung für die dominante Stellung Wilhelms innerhalb des Unternehmens dar.117

Das 50-jährige Firmenjubiläum wurde wenig später, am 12. Oktober 1897, pompös gefeiert. Für die Belegschaft wurde ein „Arbeiterfest“ im Berliner Zoo veranstaltet. Der Aufsichtsratsvorsitzende Carl von Siemens, der zwei Jahre zuvor vom Zaren nobilitiert worden war, brachte vor den 12.000 Festgästen einen Toast auf den Kaiser aus. Als Festredner rühmte der Vorstandsvorsitzende Bödiker vor einer aufgestellten Büste des Unternehmensgründers dessen Erfolge. Am Tag darauf fand im Nobelhotel Kaiserhof ein Bankett mit 600 hochrangigen Gästen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft sowie zahlreichen Mitgliedern der weitverzweigten Familie Siemens statt. Die Teilnehmenden erhielten eine Medaille mit dem Porträt Werner von Siemens’.118

Als 25-jähriger Student, der eine Scheidung hinter sich hatte und bislang nur im Segelsport erfolgreich gewesen war, stand Carl Friedrich bei diesen Feiern am Rand, doch schon bald sollten für ihn bessere Zeiten anbrechen. Beim Tennis lernte er Augusta Maria Mercedes („Tutty“) Bötzow kennen, eine Tochter des Berliner Brauereibesitzers Julius Bötzow. Die 19-jährige Tutty war eine gute Reiterin und bewunderte die Segelkünste Carl Friedrichs. Rasch bahnte sich zwischen beiden eine feste Beziehung an, und nachdem Tutty ihre Verlobung mit einem Offizier gelöst hatte, stand einer Heirat nichts mehr im Weg.119 Wilhelm gewann bereits im Februar 1898 den Eindruck, dass sein junger Bruder erneut eine Ehe eingehen wollte.120

Augusta Maria Mercedes („Tutty“) Bötzow, undatiert

Inzwischen hatte auch Carl Friedrichs ehemalige Gattin Sophie von seinem neuen Liebesglück erfahren. Trotz der großzügigen Abfindung hatte sie immer noch Gefühle für ihn und war nun rasend eifersüchtig. Vor seiner Wohnung in der Königgrätzer Straße 2 (heute Stresemannstraße) machte sie ihm eine filmreife Szene. Was sich damals abspielte, beschrieb Wilhelm in einem Tagebucheintrag vom 6. Februar 1898:

„Seit einiger Zeit hält sich die Pusseckel [sic] wieder in Berlin (22 Hohenzollernstr.) auf und bedrängt Carl anscheinend aus Eifersucht, nachdem sie erfahren, dass er Frl. Bötzow die Kur macht. Gestern früh hat sie vor seiner Tür 4 Revolverschüsse abgegeben. Ein Schuss ging durch den Briefkasten an der Tür, hinter welcher Carl stand, und hätte ihn verletzen können. Carl verließ die Wohnung, und gelang es ihr [sic], hinein zu kommen, und einen Brief an Mohr mitzunehmen. In demselben sprach er sich sehr abfällig über die Pusseckel aus und machte einige unpassende Bemerkungen über Frau Bötzow. Die Zeitungen brachten eine milde Notiz ohne vollen Namen. Carl ist gestern nach London abgereist. Es scheint, dass Carly in die Stimmung kommen kann, Frl. Bötzow zu heiraten.“121

Wenige Monate später, am 14. Juni 1898, fand die Hochzeit statt. Die Trauung nahm Carl Friedrichs Schwager Karl Pietschker, der Ehemann seiner Schwester Käthe, in der Siemens-Villa vor. Die anschließenden Flitterwochen verbrachten die Frischvermählten bei den Segelregatten der Kieler Woche und deren Vorbild in England, der Cowes Week.122 Es war eine Liebesheirat zweier sportbegeisterter junger Menschen, aber auch eine standesgemäße Hochzeit reicher Unternehmerkinder und somit für beide Familien eine gute Partie. Tutty war mit den Gepflogenheiten der gesellschaftlichen Eliten vertraut. Ihrem Vater gehörte nicht nur die größte Privatbrauerei Berlins, er galt auch als größter privater Grundbesitzer der Stadt.123

Für Charlottenburger wie die Familie von Siemens war die Bötzow-Brauerei an der Prenzlauer Allee eine fremde Welt, doch im Nordosten Berlins gehörte die Familie Bötzow zur alteingesessenen Prominenz. Julius (II), der Sohn des Gutsbesitzers und Ratsherrn Julius (I), hatte die Brauerei gegründet und zum Großbetrieb ausgebaut. 1886 war er zum Hoflieferanten des Königs von Preußen ernannt worden, wenige Monate vor der Hochzeit seiner Tochter Tutty hatte er den Titel Kommerzienrat verliehen bekommen.124 Als eine in Berlin seit dem 18. Jahrhundert angesehene Familie hatten die Bötzows einen eigenen Stolz, der zu hohen Ansprüchen an Eingeheiratete führte. Jahrzehnte nach der Hochzeit von Tutty und Carl Friedrich nahm eine Kolumne in der Morgenpost darauf Bezug: „Wer in die Familie hineinheiraten wollte und bloß Doktor oder Bezirksamtmann oder Oberleutnant war, der wurde über die Achsel angesehen und höchstens als Prinzgemahl geduldet, der nichts zu sagen hatte.“125 Für Bötzow war Carl Friedrich wohl der ideale Schwiegersohn. Tuttys ältere Schwester Amata hatte ebenfalls standesgemäß geheiratet. Ihr Ehemann, der Branntweinfabrikant Joseph Gilka, stammte aus einer Familie, von der bereits ein anderer Zweig mit den Bötzows verwandt war.126

Bei Carl Friedrichs Schwestern lässt sich ein derartiges Heiratsschema nicht erkennen. Sie entschieden sich für Männer aus unterschiedlichen Kreisen des Bürgertums. Anna hatte 1887 den Papierfabrikanten Richard Zanders geheiratet. Als Wohnsitz ließ das Ehepaar in Bergisch-Gladbach das Haus Lerbach errichten, ein schlossartiges Herrenhaus mit rund 50 Räumen und einem englischen Landschaftspark.127 Drei Jahre vor Anna hatte sich ihre jüngere Schwester Käthe mit dem Pfarrer von Potsdam-Bornstedt, Karl Pietschker, verehelicht. Dass in der Charlottenburger Hautevolee über die Heirat einer Siemens-Tochter mit einem „Dorfpfarrer“ gelästert wurde, nahm sie in Kauf.128

Für Hertha kam wiederum nur ein Naturwissenschaftler als Ehemann in Betracht. Sie hatte sich in Italien bereits gut eingerichtet und ein stattliches Anwesen am Golf von Neapel, die Villa Pavoni, erworben. Doch ihr wissenschaftlicher Drang ließ ihr dort keine Ruhe. Um ihre Kenntnisse zu vertiefen, zog es sie an die Berliner Universität.129