Verfolgt, „arisiert“, wiedergutgemacht? - Johannes Bähr - E-Book

Verfolgt, „arisiert“, wiedergutgemacht? E-Book

Johannes Bähr

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Beschreibung

Wie aus dem Warenhauskonzern Hermann Tietz Hertie wurde

In den 1920er Jahren stand der Warenhauskonzern Hermann Tietz wie kaum ein anderer für eine moderne Kaufhauskultur. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wurde das Unternehmen den jüdischen Inhabern genommen. Aus der Hermann Tietz OHG wurde die Hertie GmbH unter der Leitung des ehemaligen Angestellten Georg Karg, der den Konzern später übernahm. Die Autoren rekonstruieren die Umstände dieser frühen „Arisierung“. Die Studie beleuchtet auch das Schicksal der Familie Tietz nach dem Verlust ihres Unternehmens und den Werdegang des Hertie-Konzerns bis zu den Auseinandersetzungen um Restitution und Entschädigung in den unmittelbaren Nachkriegsjahren. Gestützt auf vielfältige Quellen, darunter bislang nicht zugängliche Dokumente, entsteht so erstmals ein detailliertes Bild des „Arisierungsprozesses“ und seiner Folgen.

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Seitenzahl: 608

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Wie aus dem Warenhauskonzern Hermann Tietz Hertie wurde

In den 1920er Jahren stand der Warenhauskonzern Hermann Tietz wie kaum ein anderer für eine moderne Kaufhauskultur. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wurde das Unternehmen den jüdischen Inhabern genommen. Aus der Hermann Tietz OHG wurde die Hertie GmbH unter der Leitung des ehemaligen Angestellten Georg Karg, der den Konzern später übernahm. Die Autoren rekonstruieren die Umstände dieser frühen „Arisierung“. Die Studie beleuchtet auch das Schicksal der Familie Tietz nach dem Verlust ihres Unternehmens und den Werdegang des Hertie-Konzerns bis zu den Auseinandersetzungen um Restitution und Entschädigung in den unmittelbaren Nachkriegsjahren. Gestützt auf vielfältige Quellen, darunter bislang nicht zugängliche Dokumente, entsteht so erstmals ein detailliertes Bild des „Arisierungsprozesses“ und seiner Folgen.

Autoren

Ingo Köhler, geb. 1971, studierte Geschichte und Literaturwissenschaft in Bielefeld. Er promovierte 2003 zum Dr. phil. an der Ruhr-Universität Bochum und wurde 2012 an der Georg-August-Universität Göttingen habilitiert. Seit 2021 ist er Geschäftsführer des Hessischen Wirtschaftsarchivs in Darmstadt und lehrt als apl. Professor Wirtschafts- und Sozialgeschichte.

Johannes Bähr, geb. 1956, studierte Geschichte und Politikwissenschaft in Freiburg i. Br. und München. Er wurde 1986 zum Dr. phil. promoviert und habilitierte 1998 an der Freien Universität Berlin. Heute lehrt er als apl. Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

JOHANNES BÄHR INGO KÖHLER

Verfolgt, »arisiert«, wiedergutgemacht?

Wie aus dem Warenhauskonzern Hermann Tietz Hertie wurde

Siedler

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.Erstellt in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte e. V.www.unternehmensgeschichte.de

Copyright © 2023, Siedler Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Lektorat: Fabian Bergmann

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagabbildung: ullstein bild

Satz: Uhl + Massopust GmbH

ISBN 978-3-641-31188-9V001

www.siedler-verlag.de

Inhalt

Einleitung – Johannes Bähr/Ingo Köhler

1. »Der größte Warenhauskonzern Europas im Eigenbesitz«: Die Hermann Tietz OHG 1882 bis 1932 – Johannes Bähr

Der Aufstieg vom Weißwarengeschäft zum Warenhausimperium

Die Unternehmerfamilie nach dem Tod von Oscar Tietz

»Eine Welt für sich«: Der Hermann Tietz-Konzern

Der Anfang vom Ende? Die »Zahlungsschlappe« in der Weltwirtschaftskrise

2. Von Hermann Tietz zu Hertie: Die »Arisierung« 1933/34 – Johannes Bähr

»Warenhausfrage« und antisemitische Hetze

Die »Judenboykotte« nach der nationalsozialistischen Machtübernahme

Dem Zusammenbruch entgegen: Der Hermann Tietz-Konzern in der Warenhauskrise vom Frühjahr 1933

Der Weg zu Hertie: Die Umwandlungspläne der Banken und der politische Rahmen

Gründung von Hertie und beginnende »Arisierung« der Firma Hermann Tietz

Die »Arisierung« des Konzernvermögens im Auseinandersetzungsvertrag von 1934

Georg Karg: Profiteur mit Ambitionen

3. Von den Banken zu Karg – Johannes Bähr

Die nächste Krise

Wie Georg Karg den Hertie-Konzern übernahm

Karg, Neckermann und die Zentrallagergemeinschaft (1942–1944): Ein Exkurs

4. Emigriert und ausgeplündert – Johannes Bähr/Ingo Köhler

Die Anschlussunternehmen und die Legenden um eine »Abfindung«

Der verlustreiche Abschied von der Heimat

Die erste Etappe der Emigration und die Finanzeinbürgerung der Familie Tietz in Liechtenstein

Von Lager zu Lager: Die Emigration der Familie Zwillenberg

Beraubt und beschlagnahmt: Die Konfiskation des Familienbesitzes

Die kalte Verwertung von Wohnungsgütern und Sammlungen

5. Wiederaufbau und Sicherung – Ingo Köhler

Verlust und Neubeginn

Integration der Hansa AG und der AWAG-Wertheim Holding: Ein Exkurs

Aufstieg und erste Zeichen der Krise

Reorganisation als Stiftungsunternehmen 1953 bis 1974

6. Komplex(e) »Wiedergutmachung«– Ingo Köhler

Sondergesetze: Eine Skizze des Wiedergutmachungsrechts

Ansprüche und Einsprüche: Frühe Restitutionsverhandlungen

Der Vergleich mit Hertie 1949: Restitution per Pacht

Harmonien und Dissonanzen: Die Umsetzung des Vergleichs

Pflicht oder Almosen: Der Restitutionsfall Paul Held Nachf. 1953/54

Rückerstattung von Immobilien und Grundstücken

Bürokratische Entschädigungen

Fazit – Johannes Bähr/Ingo Köhler

Anhang

Danksagung

Anmerkungen

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsnachweis

Quellenverzeichnis

Literaturverzeichnis

Personenregister

Einleitung

Als die Familie Tietz/Zwillenberg zum Jahresende 1934 ihren Warenhauskonzern aus der Hand geben musste, war das die bislang größte der immer zahlreicher werdenden »Arisierungen«. Der von den Nationalsozialisten verfemte Name »Hermann Tietz«, einer der glanzvollsten des deutschen Einzelhandels, verschwand aus den Städten, Handelsregistern und später auch aus dem historischen Gedächtnis. Die abgegebenen Warenhäuser blieben, sie gehörten nun der Hertie Waren- und Kaufhaus GmbH, deren Name die Herkunft ihres Vermögens erkennen ließ. Doch danach wurde nicht mehr gefragt, auch nicht, als dies nach der Befreiung des Landes wieder möglich gewesen wäre. Mit der Übernahme durch den 1933 eingesetzten Geschäftsführer Georg Karg war Hertie zum Konzern einer anderen Familie geworden, und im westdeutschen »Wirtschaftswunder« der 1950er- und 1960er-Jahre stand dieser Name dann ebenso selbstverständlich für eine neue Konsumwelt wie Hermann Tietz in früheren Zeiten. Nachdem Hertie 1949 mit der Familie Tietz/Zwillenberg einen Vergleich abgeschlossen hatte, schienen Fragen nach früherem Unrecht vollends als nicht mehr statthaft.

Bei Hertie bekannte man sich zu der Tradition, die mit dem früheren Namen verbunden war. Von einer »Arisierung« war dabei aber nicht die Rede, und da deren Bedingungen unbekannt blieben, konnte sie von Hertie unwidersprochen in ein beschönigendes Narrativ gehüllt werden: Der Hermann Tietz-Konzern sei in der Weltwirtschaftskrise der frühen 1930er-Jahre zugrunde gegangen und deshalb in einer gänzlich unpolitisch motivierten Sanierung übernommen worden. Die Familie Tietz/Zwillenberg habe mit einer großzügigen Abfindung das Land verlassen und sei auch in dem Vergleich mit dem Hertie-Konzern außerordentlich günstig bedacht worden. Zwar ließen quellengestützte Studien spätestens seit den 1990er-Jahren keinen Zweifel daran, dass die Familie Tietz/Zwillenberg ihren Warenhauskonzern durch eine von Hertie betriebene »Arisierung« verloren hatte. Eine umfassende Aufarbeitung stand gleichwohl weiterhin aus, die Folgegeschichte der »Wiedergutmachung« blieb gar gänzlich im Dunkeln. Inzwischen sind seit dem »Arisierungsvertrag« fast 90 Jahre und seit dem Vergleich mehr als 70 Jahre vergangen.

Warum erfolgt die Aufarbeitung erst jetzt? Die Zeitspanne ist zu groß, um sie durch die kollektive Verdrängung brauner Vergangenheit in der Nachkriegsgesellschaft erklären zu können. Auch später, als die Rolle der Unternehmen in der NS-Zeit kritisch wahrgenommen und vielfach untersucht wurde, erfuhren die Kaufhausunternehmen wenig Beachtung. Inzwischen war bekannt, dass diese Branche wie kaum eine andere von »Arisierungen« betroffen gewesen war und die Karrieren fast aller Waren- und Versandhauskönige der Nachkriegszeit darauf gründeten. Umso erstaunlicher ist es, dass eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Schicksale der jüdischen Warenhäuser im Nationalsozialismus bis auf wenige Ausnahmen, wie die bereits in den 1990er-Jahren erschienenen Darstellungen über die Warenhauskonzerne Schocken und Wertheim, kaum erfolgt ist.[1]

Bei Hertie wird dazu beigetragen haben, dass der Konzern nicht mehr existierte, als das beharrliche Schweigen der Unternehmen zu ihrer Rolle im Nationalsozialismus etwa Mitte der 1990er-Jahre erstmals auf breiter gesellschaftlicher Basis kritisiert wurde. Nach der Übernahme durch Karstadt 1994 fehlte es an Struktur und Sensibilität für ein gemeinsames historisches Erinnern. Firmenjubiläen gaben keinen Anlass mehr zur Selbstreflexion, und auch kritische Nachfragen internationaler Geschäftspartner entfielen, die in vielen noch lebendigen Firmen für notwendige Denkanstöße sorgten. Gleichwohl standen mit der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung, der Karg’schen Familienstiftung und der Karg-Stiftung gleich mehrere Institutionen durchaus noch in der Tradition des Unternehmens Hertie. In der Alltagsarbeit dieser erst in der Bundesrepublik gegründeten Stiftungen rückte die Geschichte des Warenhauses aber nicht in das Blickfeld, auch weil die persönliche Bindung zum Unternehmen fehlte. Zwischenzeitlich gab es offenbar Überlegungen, über die Geschichte von Hertie forschen zu lassen und eine Biografie des Stiftungsgründers anzufertigen. Die Projekte blieben aber in der Konzeptphase stecken. Gerade zu Georg Karg fehlen persönliche Dokumente, Schriften oder Korrespondenzen, die ihn ausreichend historisch sichtbar machen könnten. Zur »Arisierung« der Firma Hermann Tietz boten bislang lediglich einige Unterkapitel in der 1997 veröffentlichten Studie von Simone Ladwig-Winters über Wertheim quellengestützte Ausführungen.[2]

Der Umstand, dass nun eine umfassende Studie zur NS-Geschichte von Hertie und der aufgelösten Hermann Tietz OHG erscheint, ist einem Umdenken geschuldet, das allerdings aktiv angestoßen werden musste. Der Impuls geht auf eine Gruppe von Studierenden und Alumni der Berliner Hertie School zurück, die sich 2018 in der Initiative Her.Tietz zusammenfanden. Sie forderten die Hertie-Stiftung als Trägerin der Bildungseinrichtung auf, nicht nur Demokratie zu lehren, sondern selbst zivilgesellschaftliche Verantwortung für die nationalsozialistische Vergangenheit zu übernehmen. Ihre kritischen Nachfragen nach der Herkunft des Namens und Vermögens von Hertie sowie nach dem Schicksal der jüdischen Inhaberfamilien erhielten in der deutschen Presselandschaft Rückenwind und veranlassten den Stiftungsvorstand schließlich, sich des Themas anzunehmen. Seither ist eine ernsthafte Öffnung der Hertie-Stiftung gegenüber den Lasten ihrer Vergangenheit erkennbar. Der Vorstand beauftragte 2020 die Frankfurter Gesellschaft für Unternehmensgeschichte mit der Suche nach unabhängigen Historikern für eine quellengestützte Analyse und Bewertung der Geschichte von Tietz und Hertie in der NS-Zeit. In der Folge gewährte die Stiftung den Autoren uneingeschränkten Zugang zu allen relevanten Unterlagen und völlig freie Hand bei der Auswertung und Formulierung ihrer Befunde. So liegt nun tatsächlich eine erste unabhängige Untersuchung der Unternehmensgeschichte des Warenhauskonzerns und seiner jüdischen und nicht jüdischen Inhaber für die Zeit des Nationalsozialismus vor.

Der Untersuchungszeitraum der Studie begrenzt sich gleichwohl nicht auf die Jahre 1933 bis 1945 und somit auf den Verlust des gewerblichen und privaten Vermögens der Familie Tietz im Rahmen von »Arisierung« und staatlicher Konfiskation. Die Perspektive weitet sich über die Epochenschwelle des Kriegsendes hinaus auf die Auseinandersetzungen um eine potenzielle »Wiedergutmachung« des geschehenen Unrechts in der Bundesrepublik. Es wird ein analytischer Bogen gespannt, um die Begegnungsgeschichte zwischen den Hertie-Verantwortlichen und der Familie Tietz im Spannungsfeld von Aneignung und Aufarbeitung, Diktatur und junger Demokratie nachzuverfolgen.

Die Studie selbst gliedert sich in sechs Teilkapitel, die sich entlang der Leitthemen gruppieren. Das erste Kapitel schildert die Anfänge der Hermann Tietz OHG und den nahezu ungebremsten Aufstieg des Unternehmens bis zur Weltwirtschaftskrise 1929. Es gilt zu klären, ob und inwieweit der Warenhauskonzern tatsächlich bereits vor der NS-Machterlangung in eine Liquiditätskrise geriet. War die Hermann Tietz OHG aufgrund eines zu raschen Expansionsdrangs tatsächlich zu einem Sanierungsfall geworden, wie 1933 und auch noch in der Nachkriegszeit kolportiert wurde?

Der zweite Abschnitt schließt direkt an diese Frage an, indem er die Folgen der antijüdischen Boykotte abschätzt und sodann im Detail die einzelnen Schritte der »Arisierung« des Konzerns in den Jahren 1933 und 1934 nachzeichnet. In den Mittelpunkt rückt, nicht nur den Kreis der Beteiligten zu rekonstruieren, sondern zu fragen, inwieweit die neue Hertie-Geschäftsführung mit Banken, Staats- und Parteibehörden zusammenarbeitete, um die Familie Tietz aus dem Unternehmen zu drängen. Welche Rolle spielte Georg Karg, der vom Einkaufsleiter zum Geschäftsführer avancierte? Ebenso unklar sind die finanziellen Details der Besitzübertragung, in der es galt, den Wert der zahlreichen Betriebs- und Immobiliengesellschaften des Konzerns zu beurteilen und sich über Forderungen und Verpflichtungen zwischen der OHG, der Familie und Hertie GmbH auseinanderzusetzen.

Nachfolgend wird in einem dritten Kapitel beleuchtet, wie es Georg Karg im Verlauf der 1930er-Jahre gelang, vollständig in den Besitz der Hertie GmbH zu gelangen. Was bewog ihn zu diesem Schritt? Woher stammte sein Kapital, um die Anteile der Banken auszulösen, und warum gaben die Banken den Warenhauskonzern letztlich in seine Hände ab?

Liegt der Fokus der Untersuchung bis hierher vor allem auf einer Analyse des Käuferverhaltens, wechselt die Perspektive in Kapitel vier auf das Schicksal der Familie Tietz nach der Abgabe ihres Unternehmens. Es wird gezeigt, wie die einzelnen Familienzweige versuchten, sich selbst und ihr Vermögen vor dem Zugriff des NS-Regimes zu schützen. Ihr Lebens- und Arbeitsfeld engte sich im Takt der sich radikalisierenden NS-Judenpolitik schließlich so weit ein, dass spätestens 1938 kaum eine reelle Alternative als die Emigration blieb. Die Studie thematisiert in diesem Kontext die rücksichtslose Konfiskation und Verwertung sämtlicher in Deutschland verbliebener Eigentumswerte, privater Immobilien und des persönlichen Hab und Guts der Familie Tietz durch den NS-Staat und seine zahlreichen Helfershelfer.

An die vier Großkapitel über den Konzern zur Zeit des Nationalsozialismus schließen sich zwei Abschnitte an, die den Wiederaufbau und die Reorganisation von Hertie in der unmittelbaren Nachkriegszeit in den Blick nehmen und die Reichweiten und Praktiken der privaten Rückerstattung und staatlichen Entschädigung problematisieren. Die Studie dokumentiert, dass es bereits 1949 recht rasch zu einem privaten Vergleich zwischen Georg Karg und der Familie Tietz kam, in dem sich die Parteien in nun veränderten Rollen als Restitutionspflichtige und Rückerstattungsberechtigte gegenüberstanden. Auch hier geht es der Untersuchung darum, die finanziellen Ausgleichsregelungen detailliert zu rekonstruieren. Wie schon bei der Analyse der »Arisierungsprozesse« liegt das besondere Augenmerk auf einer kritischen Beleuchtung der Motive, Interessen und Handlungsmuster der Beteiligten. So vermag die Studie aufzuzeigen, wie es den Parteien trotz ihrer hochgradig vergangenheitsbelasteten Beziehungen gelang, eine gemeinsame Basis für Verhandlungen über Wiedergutmachungsleistungen zu finden.

Es sind somit gleichermaßen ökonomische, politische und soziale Kategorien von Struktur und Handeln, die unseren methodischen Zugang zu dieser Fallstudie kennzeichnen und den klassischen Determinismus zwischen Strukturalismus und Intentionalismus in der NS-Forschung zu überwinden versuchen.[3] Sehr deutlich hat die mittlerweile breite wirtschaftshistorische Forschung herausgearbeitet, dass das NS-System zahlreiche Anreize und Ermöglichungsstrukturen für deutsche Unternehmer schuf, sich aktiv in den Prozess der »Arisierung« einzubringen oder mangels Geschäftsalternativen willig verwickeln zu lassen.[4] Der Fall Hertie gehört zweifelsohne zu den sehr frühen »Arisierungsfällen« des Nationalsozialismus. Er fällt in eine Zeit, in der die staatlichen Repressionsmaßnahmen gerade in der Warenhausbranche hochgradig präsent, die Vorgaben für den Besitztransfer aber nicht systematisch determiniert waren.[5] Noch gab es Spielraum für die private Aushandlung der Übernahmebedingungen. Umso bedeutender für die Ausgestaltung der »Arisierung« war, welches Verhalten der Erwerber gegenüber den jüdischen »Geschäftspartnern« an den Tag legte. Der Historiker Frank Bajohr hat in seinen wegweisenden Studien schon vor mehr als 20 Jahren eingefordert, Unterschiede in den gezeigten Verhaltensmustern der Erwerber in den Blick zu nehmen. Hiernach gilt es abzugleichen, inwieweit der in Politik und Gesellschaft schon früh sichtbare Verlust moralischer und zivilisatorischer Verhaltensstandards auch im Feld der Wirtschaft in einer Erosion tradierter kaufmännischer Umgangsformen mündete.[6]

Unsere Studie folgt diesem mikrohistorischen Ansatz, indem sie nicht nur die betriebswirtschaftlichen Techniken des »Arisierungstransfers« rekonstruiert, sondern zugleich die Motive und Handlungsformen der involvierten Personen herausarbeitet. Wo lässt sich also das Verhalten von Georg Karg in dem breiten Spektrum möglicher Beweggründe einreihen, das von ideologischen Antrieben über skrupellose finanzielle Bereicherung bis hin zu passiver Nutznießerschaft an der Zwangslage des Gegenübers reicht? Nutzte Karg lediglich den Steigbügel der Angriffe gegen die Familie Tietz, oder war er aktiver Antreiber des Prozesses? Ähnliche Fragen der Anreize und Intentionen lassen sich für die an der »Arisierung« beteiligten Banken formulieren. Allein anhand der Festlegung des Kaufpreises für ein durch die Wirtschaftskrise und den antijüdischen Boykott mutmaßlich tief getroffenes Unternehmen lässt sich das Spannungsfeld zwischen kaufmännischer Moralität und betriebswirtschaftlichem Kalkül festmachen. Die aus heutiger Sicht mehr als nachvollziehbare Frage nach der Fairness des Kaufpreises und den Profiten des »Ariseurs« bleibt historisch jedoch äußerst schwer zu beantworten. Der Korb an stichfesten Beweisen ist nur schwach mit Indizien gefüllt.[7] Die möglichst detailgetreue Rekonstruktion der Aushandlungsprozesse und der ihnen innewohnenden Kontroversen vermag aber zumindest den Handlungsrahmen und die Bewertungsgrundsätze zu verdeutlichen. Es gilt den Prozess der »Arisierung« somit genau unter die Lupe zu nehmen, um die Besonderheiten des Falles Hertie herauszuarbeiten, die Praktiken der Aneignung aufzudecken und die Intensität des Zusammenspiels mit antijüdischen Repressionsmaßnahmen zu beurteilen. Dies ist der höchste Grad historischer Transparenz, der erreicht werden kann, um nicht nur Entscheidungsprozesse zu analysieren, sondern die hinter ihnen stehenden Wahrnehmungen, Werte und Einstellungen des Handels unter einem diktatorischen Regime sichtbar zu machen.

Da kein geschlossener Archivbestand zu Hertie vorhanden ist, war es Aufgabe dieses Projekts, mit einer breit angelegten Recherche alle verfügbaren Quellen heranzuziehen. Dieses Programm konnte aufgrund der pandemiebedingten Archivzugangs- und Reisebeschränkungen nur mit einiger Verspätung durchgeführt werden. Neben den einschlägigen Beständen in öffentlichen Archiven, besonders dem Bundesarchiv Berlin, dem Landesarchiv Berlin und dem Staatsarchiv München, erwiesen sich Akten aus den Archiven der Commerzbank AG und der Stiftung Warburg als ergiebig. Eingesehen werden konnten auch der Bestand historischer Dokumente bei der Karg’schen Familienstiftung, Akten der Berliner Entschädigungsbehörde und die zur Emigration der Familie Tietz überlieferten Akten des Liechtensteinischen Landesarchivs Vaduz. Als besonders wertvoll erwiesen sich die bei der Tochter von Georg Tietz, Rösli (Roe) Jasen, und seinen Enkelkindern June und Henry Jasen überlieferten Dokumente, die mit dankenswerter Unterstützung der Familie im Leo Baeck Institute (LBI), New York, ausgewertet werden konnten. Charlotte Knobloch verdanken die Autoren ein erhellendes Zeitzeugeninterview zum Wiedergutmachungsverfahren, in dem die Kanzlei ihres Vaters Fritz Neuland die Familie Tietz/Zwillenberg gegen Hertie anwaltlich vertreten hat.

Dagegen konnte der bei der Zwillenberg-Stiftung (Bern) im Nachlass von Helga Zwillenberg überlieferte Nachlass Hugo Zwillenbergs nicht genutzt werden, da er bis zu der geplanten Übergabe an die Dependance des LBI im Jüdischen Museum Berlin gesperrt ist.

Die Geschichte eines Familienunternehmens ist immer auch die Geschichte einer Familie. Die »Arisierung« der Firma Hermann Tietz durch Hertie, der zwischen beiden Seiten vereinbarte Vergleich und die jeweiligen Folgen sind indessen die Geschichte zweier Unternehmerfamilien – auf der einen Seite die Familie Tietz/Zwillenberg/Jasen, auf der anderen die Familie Karg. Bei der Ersteren zieht sich die Geschichte durch drei Generationen: von Betty Tietz, die bereits die Gründung der Firma Hermann Tietz im Jahr 1882 durch ihren späteren Mann Oscar und ihren Ziehvater Hermann begleitet hatte, über die Generation der Inhaber Georg und Martin Tietz sowie Dr. Hugo Zwillenberg, die zwangsweise aus ihrem Unternehmen verdrängt wurden, emigrierten und sich 1949 mit Hertie verglichen, bis zur nächsten Generation um Rösli (Roe) Jasen, Hans Hermann (Herman) Tietz, Lutz Oscar und Helga Zwillenberg, die die Emigration in ihrer Jugend erfahren und sich später mit dem Hertie-Konzern über die restituierten Vermögenswerte auseinanderzusetzen hatten. Dagegen war aufseiten der Familie Karg nur Georg Karg in der beschriebenen Geschichte handelnd, zunächst als Geschäftsführer von Hertie, ab 1937 als Chef des Konzerns, den er faktisch bis zu seinem Tod im Jahr 1972 leitete.

Die zwangsweise Verdrängung der Familie Tietz aus ihrem Unternehmen steht wie kaum ein anderes Beispiel für die frühen »Arisierungen« der NS-Zeit, deren Bedeutung lange Zeit unterschätzt wurde. Sie kann gleichwohl nicht als Modell gelten.[8] In diesem Buch wird vielmehr deutlich, dass sich der Prozess der »arisierungsbedingten« Vermögensverluste der Familie Tietz über einen Zeitraum von über neun Jahren erstreckte und in wechselnder Form vom Verlust des Firmenvermögens über die fiskalische Ausraubung bis zur Konfiskation privater Sammlungen reichte. Damit erweitert diese Untersuchung den in neuerer Zeit verbesserten Kenntnisstand zur Vernichtung des so verdienstvollen jüdischen Warenhausunternehmertums.[9]

Es bleibt zu hoffen, dass dieses Buch dazu anregt, weiter über die Geschichte der Warenhäuser in Deutschland zu forschen und dem Vermächtnis ihrer in der NS-Zeit verfolgten Inhaber und deren Familien endlich einen festen Platz in der deutschen Wirtschaftsgeschichte und Erinnerungskultur einzuräumen.

1. »Der größte Warenhauskonzern Europas im Eigenbesitz«: Die Hermann Tietz OHG 1882 bis 1932

Der Aufstieg vom Weißwarengeschäft zum Warenhausimperium

Am 30. November 1926 konnten Georg Tietz, Martin Tietz und Hugo Zwillenberg, die geschäftsführenden Inhaber der Hermann Tietz OHG, ihren größten Erfolg verzeichnen. An diesem Tag gelang es ihnen, die Warenhauskette A. Jandorf & Co. zu übernehmen, zu der sechs große Berliner Kaufhäuser, darunter das mondäne Kaufhaus des Westens (KaDeWe), gehörten. Wenige Wochen zuvor war der M. Conitzer und Söhne-Konzern der Einkaufsgemeinschaft von Hermann Tietz beigetreten. Die Unternehmensgruppe, zu der auch zahlreiche Grundstücks-, Handels- und Fabrikationsgesellschaften gehörten, wurde in der Presse schon als »Der größte Warenhauskonzern Europas« (Vossische Zeitung) beschrieben.[1] Das war zwar etwas übertrieben, aber in der pulsierenden Warenhausmetropole Berlin lag die Hermann Tietz OHG nun an erster Stelle und in ganz Deutschland auf dem zweiten Rang.

Es war die Krönung einer Erfolgsgeschichte, die am 1. März 1882 begonnen hatte. Damals eröffnete Oscar Tietz (1858–1923) in Gera ein Garn-, Knopf-, Posamentier-, Weißwaren- und Wollwarengeschäft. Tietz, der zuvor im Handelsgeschäft seines älteren Bruders Leonhard in Stralsund gearbeitet und Möbelverkäufer in Berlin gewesen war, konnte die Gründung nicht aus eigenen Mitteln finanzieren. Sein Onkel Hermann Tietz (1837–1907) stellte ihm ein Startkapital von 1.000 Mark zur Verfügung, und Oscar bedankte sich, indem er das Geschäft nach ihm benannte.[2]

Abb. 1: Oscar Tietz, undatiert

Die Familie Tietz stammte aus Birnbaum (seit 1919 Międzychód), einer kleinen Stadt in der damaligen preußischen Provinz Posen, wo sich ihre Vorfahren in der Zeit Friedrichs des Großen angesiedelt hatten. Als Mitglieder einer liberal ausgerichteten jüdischen Gemeinde arbeiteten dort mehrere Generationen der Familie im Handel und im Fuhrgewerbe. Das Städtchen Birnbaum ist als »Wiege der Kaufhäuser« in die Wirtschaftsgeschichte eingegangen, da es vier Kaufhausgründerfamilien hervorbrachte und zwei weitere aus der Umgebung stammten.[3] Allein von einem Stamm der Familie Tietz wurden mehrere Warenhausketten gegründet. Zu diesen Pionieren zählten neben Oscar Tietz sein älterer Bruder Leonhard, dessen Unternehmen über 140 Jahre lang – zuletzt unter dem Namen Galeria Kaufhof GmbH – bestand, sein Onkel Julius sowie dessen Brüder Markus und Karl, die Gründer des Kaufhauses H & C Tietz.[4] Hermann Tietz und drei seiner Brüder verließen als erste Generation der Familie Birnbaum und lebten längere Zeit in den USA, Hermann unter anderem als Farmer in Tennessee. Nach ihrer Rückkehr während des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 gründeten die Brüder in Prenzlau ein Handelsgeschäft, in der nächsten Generation entschlossen sich Hermanns Neffen Leonhard und Oscar zu eigenen Gründungen.

Der beispiellose Aufstieg der Brüder im deutschen Einzelhandel gründete auf neuen Geschäftsmodellen. Oscar setzte auf »große Auswahl und billige Preisnotierung«,[5] was damals noch als eine untaugliche Strategie angesehen wurde. Billige Angebote galten als Ramschware, mit der kein Gewinn zu erzielen war. Tietz hatte dagegen erkannt, dass der Gewinn im Einkauf erwirtschaftet wurde, er bezog die Waren unter Umgehung des Großhandels direkt von den Herstellern und sicherte seinem Geschäft Liquidität, indem er nur gegen Barzahlung verkaufte. Für die Kunden hatte dies den Vorteil, günstiger einkaufen zu können und nicht, wie in den Fachgeschäften üblich, durch »Anschreibenlassen« an ein bestimmtes Geschäft gebunden zu sein.

Zwölf Jahre nach der Gründung der Firma Hermann Tietz war Oscar Tietz in der Lage, in München ein Warenhaus zu eröffnen. In dem umgebauten Bürohaus Imperial (später »PINI-Haus«) am Stachus bot Tietz hinter großen Schaufenstern auf fünf Stockwerken Weißwaren, Süßwaren, Lebensmittel, Haushaltsartikel, Porzellangeschirr, Möbelstoffe, Oberbekleidung und Spielwaren an. Er soll sich als Behelfslösung zur Errichtung dieses großflächigen Mehrspartengeschäfts entschlossen haben, weil es nach dem Erwerb der Immobilie durch ihn zu antisemitischer Hetze gekommen war und die Mieter aus dem als »Jud-Tietz-Palast« verschrienen Gebäude ausgezogen waren.[6] Was die neue Betriebsform Warenhaus von Kaufhäusern unterschied, wurde wenige Jahre später, bei Einführung einer Warenhaussteuer in Bayern (1899) und Preußen (1900), erstmals verbindlich festgelegt. Als Warenhaus galt nun ein Betrieb, der mit mehr als einer Warengruppe handelte und einen Jahresumsatz von mehr als 400.000 Mark erzielte.[7] Umfassender werden die Merkmale eines Warenhauses heute in der konsumhistorischen Forschung beschrieben:

»Während Kaufhäuser als Großbetriebe sich durch ein Schwerpunktsortiment auszeichneten, verfügten Warenhäuser über ein breiteres Warenangebot, welches von Lebensmitteln und Textilien bis hin zu Möbeln, Haushaltswaren und Luxusartikeln reichte. Zugleich verfügten sie über umfangreichere Möglichkeiten des Großeinkaufs, der Werbung, des Massenabsatzes, und konnten ihre Waren zu niedrigeren Preisen in z. T. repräsentativer und prachtvoller Architektur anbieten.«[8]

Die Warenhausgründer dieser Zeit orientierten sich an dem Vorbild des 1852 in Paris von Aristide Boucicaut eröffneten Le Bon Marché. Schon wenig später waren in Paris weitere grands magazins dieses Typs entstanden, in New York das Macy’s. In den 1880er-Jahren schmückten sich bereits die meisten europäischen Metropolen mit beeindruckenden Konsumpalästen, aber in Deutschland gab es noch kein Warenhaus. Dies änderte sich erst 1894 durch Oscar Tietz in München und Georg Wertheim in Berlin.

Abb. 2: Warenhaus Hermann Tietz Leipziger Straße, Berlin, um 1900

Um sich nicht untereinander Konkurrenz zu machen, hatte Oscar Tietz den Markt mit seinem nicht weniger erfolgreichen Bruder Leonhard aufgeteilt. Die Firma Leonhard Tietz errichtete Filialbetriebe im Rheinland und in Belgien. Zu ihrem Firmensitz wurde Köln, wo Leonhard 1895 sein erstes Warenhaus eröffnet hatte.[9] Oscar erweiterte die Firma Hermann Tietz um ein Warenhaus in Hamburg und etablierte sich im Herbst 1900 mit einem viel bestaunten »Glasfrontenpalast« in Berlin. Die sprunghaft wachsende Hauptstadt wurde nun zur Warenhausmetropole des Kaiserreichs und innerhalb eines Jahrzehnts auch zum Schaufenster des deutschen Einzelhandels. Berliner Traditionskaufhäuser wie M. Israel, Rudolph Hertzog und Herrmann Gerson wurden von den expandierenden Warenhausunternehmen Wertheim und Hermann Tietz überflügelt, die mit spektakulären Konsumtempeln untereinander konkurrierten. Wertheim hatte 1897 in der Leipziger Straße, der damaligen Einkaufsmagistrale des Berliner Stadtzentrums, mit der Errichtung eines Großwarenhauses im Weltstadtformat begonnen.[10] Oscar Tietz platzierte sein Berliner Flaggschiff-Warenhaus nicht weit davon in der Leipziger Straße, beide Unternehmen erweiterten ihre Prachtbauten in den folgenden Jahren, und beide vermittelten mit dem Globus als Firmensymbol das Versprechen, im Warenhaus die ganze Welt erleben zu können.

Die Warenhäuser machten sich die technischen Innovationen dieser Zeit zunutze, mit großflächigen Lichtreklamen und Vorhangfassaden wie der Fensterfront des Tietz-Warenhauses in der Leipziger Straße. Für den großen Erfolg dieser Betriebsform in der Belle Époque war aber ausschlaggebend, dass sich mit ihr neue Formen des Konsums entwickelten, in die der 1884 erschienene Roman Émile Zolas mit dem viel zitierten Titel Paradies der Damen erstmals einige Einblick vermittelte.[11] Zu Tietz und Wertheim musste man nicht gehen, um – wie im »Tante-Emma-Laden« – notwendige Besorgungen zu erledigen. Der Besuch der Warenhäuser konnte als Freizeiterlebnis genossen werden, zum Bestaunen neuer Produkte, kunstvoller Dekorationen und einer imposanten Architektur. Zu den besonderen Anreizen gehörten bald auch die »Weißen Wochen«, die Oscar Tietz nach französischem Vorbild einführte, um das Geschäft in der umsatzschwachen Woche Anfang Februar mit Sonderangeboten zu beleben.

Abb. 3: Werbung mit Eigenmarke »Hertie«, 1913

Unter den sich in Deutschland rasch ausbreitenden Warenhäusern standen die luxuriösen Konsumtempel zwar im Blickpunkt, doch sie waren nicht repräsentativ. Es gab diesen Typ praktisch nur in Berlin, Hamburg – wo Oscar Tietz 1912 am Jungfernstieg ein weiteres Flaggschiff eröffnete –, München und Köln. Die Großzahl der Warenhäuser war bescheidener angelegt und auf den Bedarf breiter Schichten bis in die Arbeiterschaft hinein ausgerichtet.[12] Die Firma Hermann Tietz eröffnete in Berlin Warenhäuser in dicht bevölkerten Stadtteilen, am Alexanderplatz und an der Frankfurter Allee und warb im Berliner Volksblatt des SPD-Organs Vorwärts. In der Provinz blieben die meisten Filialbetriebe Kaufhäuser und entwickelten sich nicht zu Warenhäusern. Der Warenhausgründer Adolf Jandorf spezialisierte sich hingegen auf »Volkswarenhäuser« in Berliner Arbeitervierteln, erkannte aber auch als Erster in der Branche das Marktpotenzial der rasch wachsenden Vorstädte im Westen der Stadt. 1907 eröffnete er am Wittenbergplatz, der damals noch zu Charlottenburg als selbstständiger Großstadt gehörte, das Premium-Warenhaus Kaufhaus des Westens (KaDeWe).[13]

Von Anfang an fehlte es in Deutschland nicht an heftigen Protesten gegen die Warenhäuser. Verbände der Kleinhändler und Mittelstandspolitiker aus allen bürgerlichen Parteien bekämpften sie als existenzielle Bedrohung nicht nur der bestehenden Marktordnung, sondern auch der Gesellschaft und des Staats, obwohl auf diese neue Betriebsform nur ein geringer Anteil des Einzelhandels entfiel. Da die Warenhäuser keine Lobby besaßen, konnten ihre Gegner einigen Einfluss auf die Gesetzgebung ausüben. In Bayern und in Preußen wurde um die Jahrhundertwende wie gesagt eine Warenhaussteuer erlassen.[14] Ein Ausschuss aus Warenhausunternehmern, dem Hermann und Leonhard Tietz angehörten, ergriff daraufhin die Initiative zur Einrichtung einer Interessenvertretung, des im April 1903 gegründeten, von Oscar Tietz geleiteten Verbands Deutscher Waren- und Kaufhäuser.[15] Die Warenhausunternehmen breiteten sich auch nach Einführung der Sondersteuer rasch aus, denn ihre Position wurde durch die Steuergesetze eher gestärkt, weil die Betriebsform nun offiziell anerkannt war. Auch in Deutschland waren Warenhäuser unverzichtbar geworden, zum einen für die Lieferanten und die Verbraucher, aber auch als Arbeitgeber und wegen ihrer Bedeutung für die Stadtentwicklung.

Die Unternehmerfamilie nach dem Tod von Oscar Tietz

Oscar Tietz heiratete 1886 seine Cousine Rebecca (Betty) geb. Graupe, die ihm schon seit der Gründung des Handlungsgeschäfts in Gera zur Seite gestanden hatte. Nachdem das Ehepaar zwei Söhne, Georg und Martin, und eine Tochter, Elise, bekommen hatte, stand für Oscar fest, dass seine Firma einmal als Familienunternehmen in der Hand seiner Nachfahren weitergeführt werden sollte. Auch als das Unternehmen zu einem Konzern heranwuchs, lehnte er die Umwandlung in eine Aktiengesellschaft strikt ab. Als die Deutsche Bank massiv darauf drängte und mit der Kündigung eines Kredits drohte, wechselte die Firma Hermann Tietz zu einer anderen Berliner Großbank, der Disconto-Gesellschaft.[16] Dass die Firma auch in den 1920er-Jahren an der Rechtsform einer Personenhandelsgesellschaft festhielt, war für ein Unternehmen dieser Größe ungewöhnlich und unter den führenden Warenhauskonzernen des Landes eine Besonderheit. Das von Leonhard Tietz gegründete Unternehmen wurde 1905 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, Wertheim vier Jahre später.

Oscars Söhne Georg und Martin traten nach einem Studium an der Berliner Handelshochschule in das väterliche Unternehmen ein. Georg wurde 1917 im Alter von 28 Jahren Teilhaber, nachdem er sich schon zuvor in Leitungsaufgaben hatte bewähren können. Oscar wollte die Nachfolge aber nicht nach dem Kronprinzenprinzip regeln. So nahm er nach der Heirat seiner Tochter Elise mit dem Juristen Dr. Hugo Zwillenberg in einem Gesellschaftsvertrag vom 22. Dezember 1919 seinen jüngeren Sohn Martin und seinen Schwiegersohn zu gleichen Bedingungen wie Georg als persönlich haftende Gesellschafter in die offene Handelsgesellschaft auf.[17] Elise kam dafür als Frau nach den damaligen Gepflogenheiten nicht in Betracht. Dass Zwillenberg dann auch in die Geschäftsführung aufgenommen wurde, war bei einem Schwiegersohn nicht unbedingt üblich, wenn schon zwei Söhne des Firmengründers für die Leitung des Unternehmens bereitstanden. Doch lag Oscar Tietz offenbar viel daran, den aus dem Justizdienst kommenden Schwiegersohn angemessen in die Führung der Firma einzubinden.

Nachdem Oscar Tietz am 17. Januar 1923 im Alter von 64 Jahren gestorben war, leiteten Georg Tietz, Martin Tietz und Hugo Zwillenberg gemeinsam den Konzern, während Betty Tietz und Elise Zwillenberg stille Gesellschafterinnen des Unternehmens waren. Georg schrieb in seiner postum veröffentlichten Geschichte der Familie Tietz und ihrer Warenhäuser, er habe sich mit seinem Bruder Martin gut ergänzt, man habe »liebevoll miteinander gearbeitet«. Martin habe sich besonders für die Buchhaltung und die Finanzabteilung interessiert, was Georg offenbar nicht lag.[18] Der Schwager Hugo Zwillenberg wird in Georgs Erinnerungen dagegen nicht einmal namentlich, nur als »junger Jurist« erwähnt.[19]

Dabei waren die beiden Brüder recht ungleich gestellt. Georg heiratete 1919 standesgemäß Edith Grünfeld, die aus einer angesehenen jüdischen Unternehmerfamilie stammte. Ihr Vater leitete in Berlin als Mitinhaber der Leinenhandlung und Leinenweberei F. V. Grünfeld ein großes Geschäft in der Leipziger Straße. Das Paar konnte die Familie Tietz mit einem Sohn namens Hans Hermann (1920–2007) und der nach Bettys Mutter benannten Tochter Rösli (geb. 1924, seit 1945 Roe Jasen) beglücken. In den folgenden Jahren ließ Georg im Prominentenviertel Grunewald in bester Lage, in der Koenigsallee 71, eine hochherrschaftliche Villa errichten. Seine Ausführungen in der von ihm verfassten Familienhistorie lassen keinen Zweifel daran, dass er sich als der vorrangige Nachfolger seines Vaters verstand, und so wurde er wohl auch in der Berliner Geschäftswelt gesehen.

Martin konnte unter seinem Vater nicht so lange in der Konzernleitung tätig sein wie sein Bruder. Er war während des Ersten Weltkrieges – anders als Georg – nicht im Unternehmen und sammelte anschließend erst einmal Auslandserfahrungen in New York. Nach dem Tod des Vaters wohnte er als Junggeselle in der elterlichen Villa in Wilmersdorf, Kaiserallee 184/185 (heute Bundesallee). Lange blieb er unverheiratet und auch nach der Hochzeit mit der Berlinerin Anni Böning kinderlos.

Dagegen konnten Elise und Hugo Zwillenberg nach der Eheschließung eine Familie gründen. Auf ihr erstes Kind, den Sohn Lutz Oscar (1925–2011), folgte fünf Jahre später die Tochter Helga Henriette Linde (1930–2013). Neben dem Wohnhaus der Familie in Berlin-Dahlem, Hohenzollerndamm 100/101, erwarb Zwillenberg das Landgut Dominium Linde (heute Märkisch Luch) im Westhavelland.

Die im Zuge der »Arisierung« angestellten Ermittlungen über die Verteilung des Vermögens der Familie Tietz/Zwillenberg ergaben, dass Oscars Witwe Betty über einen größeren und wertvolleren Beteiligungsbesitz verfügte als ihre Söhne und ihre Tochter. Der Reichtum der Familie gründete sich auf den Immobiliengesellschaften des Konzerns. Betty hielt bei der bedeutendsten dieser Grundstücksgesellschaften, der Deutsche Boden AG, 97,63 Prozent, bei der ebenfalls bedeutenden Brandenburgische Grundwert AG 50 Prozent der Anteile.[20] Insgesamt hielt sie 79 Prozent aller in Familienbesitz befindlichen Anteile an Grundstücks-, Handels- und Fabrikationsgesellschaften.[21] Ob ihr diese Vermögenswerte von Oscar zu seinen Lebzeiten übertragen worden waren oder ob es sich um ein Erbteil handelte, lässt sich nicht mehr feststellen. Ein Grund für diese Verteilung des Familienbesitzes könnte gewesen sein, dass Betty als stille Gesellschafterin nicht mit ihrem Privatvermögen für das Unternehmen haftete. Nach dem Tod ihres Mannes setzte sie nicht einen ihrer Söhne, sondern ihren Schwiegersohn Hugo Zwillenberg zu ihrem Bevollmächtigten ein.[22] Zwillenberg war nun nicht nur persönlich haftender Gesellschafter der Firma Hermann Tietz, sondern auch Bevollmächtigter für das größte Vermögen in der Familie.

Rebecca (Betty) Tietz geb. Graupe (1864–1947) war die Tochter einer in die USA ausgewanderten Schwester Hermann Tietz’. Sie kam in Washington, D. C. auf die Welt, aber schon nach wenigen Jahren zog ihr Onkel Hermann mit ihr nach Deutschland. Sie wuchs bei ihm als Pflegekind auf und war dadurch von Kindheit an mit ihrem Vetter Oscar Tietz verbunden. In Deutschland erhielt sie irrtümlicherweise den Mädchennamen Meyer, wogegen sie sich später aber nicht wehrte.[23] Nach Gründung der Textilhandlung in Gera führte sie gemeinsam mit Oscar und Hermann die Geschäfte. Durch den Einsatz ihrer Ersparnisse ermöglichte sie es, einen frühen Liquiditätsengpass zu überbrücken. 1886 heirateten Betty und Oscar. Dabei legte Betty offenbar die amerikanische Staatsbürgerschaft ab, die sie 1938 wieder annahm. Insgesamt war ihre Bedeutung für die Familie und das Unternehmen in vieler Hinsicht größer, als dies von außen wahrgenommen wurde.

Abb. 4: Georg Tietz, undatiert

Georg Tietz (1889–1953) kam als ältester Sohn Oscars und Bettys in Gera zur Welt und wuchs – mit der Familie der Entwicklung des Unternehmens folgend – zunächst in München, später in Berlin auf. In der Firma Tietz musste er sich zunächst als Verkäufer von Damenhüten bewähren. Nach dem Studium an der Berliner Handelshochschule wurde er mit der Errichtung eines Ex- und Importgeschäfts in Paris betraut. 1911 folgte eine »Lehrzeit« in den USA, in der er sich auch als Wertpapierhändler und Baumwollmakler betätigte.[24] Nach der Rückkehr erhielt er von seinem Vater zunehmend leitende Aufgaben übertragen und war daher während des Ersten Weltkrieges vom Militär freigestellt. 1917 wurde er Teilhaber der Hermann Tietz OHG, zwei Jahre später vermählte er sich mit Edith Grünfeld (1894–1984).

Abb. 5: Martin Tietz,undatiert

Martin Tietz (1895–1965) wurde in München geboren, ging dann nach dem Umzug der Familie in Berlin zur Schule, besuchte anschließend die École de commerce im schweizerischen Neuchâtel und absolvierte ein Studium als Kaufmann an der Handelshochschule Berlin. Nach einer ersten Anstellung bei der Firma Hermann Tietz in der Filiale Gera meldete er sich 1914 als Kriegsfreiwilliger. Wegen einer Erkrankung wurde er 1916 in das Waffen- und Munitionsbeschaffungsamt versetzt und dort Vorstand des Reichskleiderlagers. Nach dem Krieg arbeitete er als Leiter einer Handelsgesellschaft in New York, an der die Firma Tietz beteiligt war. 1919 wurde er als Teilhaber in das Unternehmen seines Vaters aufgenommen, kehrte aber erst zwei Jahre später aus den USA zurück. 1933 heiratete er Rosa Anna (Anni) geb. Böning gesch. Klösel (1906–1957), eine Christin, die bei der Heirat zum Judentum konvertierte.[25]

Abb. 6: Hugo Zwillenberg, undatiert

Elise Zwillenberg geb. Tietz (1896–1986) und Hugo Zwillenberg (1885–1966) gingen am 18. November 1919 die Ehe ein. Die in München geborene und in Berlin aufgewachsene Elise hatte vor dem Ersten Weltkrieg noch ein Pensionat in Paris besuchen können. Während des Krieges war sie dann als Helferin im Berliner Jüdischen Krankenhaus eingesetzt.[26] Hugo stammte aus Lyck in Ostpreußen, studierte Rechtswissenschaft in Erlangen, wurde dort 1912 promoviert, bestand im März 1914 das zweite Staatsexamen und wurde anschließend als Gerichtsassessor in den preußischen Justizdienst eingestellt. Da er während des gesamten Ersten Weltkrieges zum Militär einberufen war, blieb ihm eine Beförderung bei der Justiz versagt. Zwillenberg dürfte auch gewusst haben, dass er als Jude im Justizdienst kaum Karriere machen konnte. Als er nach dem Krieg Elise kennenlernte, ließ er sich beurlauben, um in der Firma Hermann Tietz arbeiten zu können. Ein halbes Jahr nach der Heirat wurde seinem Gesuch auf Entlassung aus dem Justizdienst stattgegeben.[27]

»Eine Welt für sich«: Der Hermann Tietz-Konzern

Die Hermann Tietz OHG hat nie genaue Angaben zur Entwicklung ihres Umsatzes und der Beschäftigtenzahl veröffentlicht. Als Personenhandelsgesellschaft musste sie auch ihre Bilanzen nicht offenlegen. Nur diejenigen Grundstücks-, Handels- und Fabrikationsgesellschaften des Konzerns, die als Aktiengesellschaften geführt wurden, waren dazu verpflichtet. Doch war nicht leicht herauszufinden, welche Gesellschaften zur Hermann Tietz-Gruppe gehörten. Das galt auch für die Banken, da die Firma Tietz keinen Aufsichtsrat hatte. Selbst die Dresdner Bank, einer der großen Gläubiger der Hermann Tietz OHG, konnte solche Informationen nur aus der Presse beziehen.[28] Völlig intransparent waren die Beteiligungsverhältnisse, da es die Familie nicht für angebracht hielt, bei den Konzerngesellschaften zwischen ihren privat gehaltenen Anteilen und denen der Firma strikt zu trennen. Da sich die Hermann Tietz OHG vollständig im Eigentum der Familie befand, hatte man auch keine Bedenken, privaten Besitz wie die Villa von Georg und Edith Tietz in der Grunewalder Koenigsallee 71 als Konzerngesellschaft in der Bilanz des Unternehmens zu aktivieren. Ähnlich wurde bei Beteiligungen von Betty Tietz verfahren, die als stille Gesellschafterin nicht für das Unternehmen haftete.[29]

Der zum 50-jährigen Firmenjubiläum 1932 veröffentlichten Chronik der Hermann Tietz OHG lässt sich entnehmen, dass der Umsatz im Vorjahr, also 1931, bei 300 Mio. Reichsmark (RM) lag, was einem Anteil von einem Sechstel am Umsatz aller deutscher Warenhäuser entspräche.[30] Eine rückwirkende Berechnung aus dem Jahr 1935 ergab ein anderes Bild. Der Umsatz hätte demnach 1929 bei 268 Mio. RM und 1931 noch bei 246 Mio. RM gelegen.[31] Die Belegschaft der Hermann Tietz OHG wird in der erwähnten Jubiläumsschrift von 1932 »eine Schar von annähernd 20.000 Angestellten« genannt, was als deutlich überhöht anzusehen ist.[32] In einem 1934 verfassten Kommissionsbericht wird die Beschäftigtenzahl der Firma Hermann Tietz im Jahr 1930 mit 16.458 angegeben.[33] Dies dürfte in etwa dem mit der Übernahme des Jandorf-Konzerns erreichten Stand entsprochen haben. Die Frankfurter Zeitung wusste im Dezember 1926 zu berichten, dass die Zahl der Angestellten der Firma Hermann Tietz auf 16–18.000 steigen würde, von denen 13–14.000 auf die Betriebe in Berlin entfielen. Der Flächenraum der Hermann Tietz-Warenhäuser wird in dieser Quelle mit 83.000 Quadratmetern beziffert, davon 53.000 in Berlin.[34]

Obwohl die Angaben recht vage sind, zeigen die überlieferten Vergleiche zwischen den führenden deutschen Warenhausunternehmen, dass die Hermann Tietz OHG größer war als die Leonhard Tietz AG, aber dem Umsatz und den Beschäftigtenzahlen nach hinter der Rudolph Karstadt AG lag.[35] 1917 hatte Hermann Tietz noch an erster Stelle gelegen, war dann aber durch die starke Expansion der Karstadt AG zurückgefallen.[36] Das Unternehmen warb nun mit dem Motto »Größter Warenhauskonzern Europas im Eigenbesitz«.[37] Dieser Rang war Hermann Tietz unstrittig, denn Karstadt befand sich nicht mehr in »Eigenbesitz«.[38]

Verglichen mit den beiden anderen großen Warenhauskonzernen, hielt man bei Hermann Tietz stärker am traditionellen Profil fest. In dem am stärksten wachsenden Segment des Einzelhandels, den Niedrigpreisläden mit einheitlichen Preisen (Einheitspreisgeschäfte), war die Hermann Tietz-Gruppe nicht mit einer eigenen Kette, sondern nur mit Einheitspreisabteilungen in den Warenhäusern vertreten. Die Inhaber hatten sich dafür angeblich aus Rücksicht auf die Beziehungen zur Leonhard Tietz AG und deren Einheitspreis-Handelsgesellschaft (Ehapa) entschieden.[39] Die Eigenfertigung war bei Hermann Tietz weniger ausgeprägt als bei Karstadt, man begnügte sich hier mit der klassischen Expansionsform der Warenhauskonzerne, der vertikalen Konzentration durch die Übernahme von Wettbewerbern.

Abb. 7: Organigramm des Hermann Tietz-Konzerns, 1932[40]

Die »Central-Verwaltung« des Hermann Tietz-Konzerns befand sich seit dem Umzug nach Berlin im Herbst 1900 in der Krausenstraße 46–49, in unmittelbarer Nähe zu dem Warenhausareal in der Leipziger Straße, von diesem nur durch den Dönhoffplatz (heute Marion-Gräfin-Dönhoff-Platz) getrennt. Dort hatten auch die meisten Grundstücks- und Handelsgesellschaften des Konzerns ihren Sitz, darunter manche, die nach anderen Regionen oder Standorten benannt worden waren.

Dem Berliner Handels-Register nach hatte die Hermann Tietz OHG 1928 drei Gesamtprokuristen, die unter den drei geschäftsführenden Inhabern jeweils eigene Bereiche leiteten: Nathan Müller, David Löwenberger und Michaelis Birnbaum. 1929 kamen Adolf Adler und Georg Karg hinzu.[41] Im Einkauf war Müller als Leiter des gesamten Zentraleinkaufs der Senior. Karg, der spätere »Herr von Hertie«, war Leiter des zentralen Textileinkaufs und erst bei der Jandorf-Übernahme zu Hermann Tietz gekommen.[42] Löwenberger, der Chef der Buchhaltung, nahm offensichtlich eine Sonderstellung ein. Anlässlich seines 40. Dienstjubiläums im Oktober 1929 wurde er in der Presse als »Freund und Vertrauter« der Firmeninhaber beschrieben. Er habe auch schon das volle Vertrauen von Oscar und Hermann Tietz besessen.[43] Löwenberger hatte im Alter von 24 Jahren als Kontorist bei der Firma Tietz in München angefangen. Zuvor war er Buchhalter und Statistiker in einer Konservenfabrik in San Francisco gewesen. Dort hatte er neue Verfahren der Vorberechnung kennengelernt, die er bei der Firma Hermann Tietz einführte.[44] Die Prokuristen verdienten glänzend, da sie für den Konzern unverzichtbar waren; so erhielten Müller und Löwenberger Gehälter von 40–50.000 RM/Monat.[45] Karg wiederum soll 1931 ein Angebot ausgeschlagen haben, bei Karstadt eine Vorstandsposition mit einem Jahresgehalt von 500.000 RM zu übernehmen.[46] Wahrscheinlich wird schon sein bisheriges Gehalt in dieser Größenordnung gelegen haben.

Die Zahl der Warenhäuser war bei der Hermann Tietz OHG durch die Übernahme von A. Jandorf und die vorangegangene Erwerbung eines Kaufhauses in der Berliner Chausseestraße von 11 auf 18 gestiegen, darunter in Berlin von drei auf zehn. In den folgenden Jahren wurden noch Kaufhäuser in Dresden und Magdeburg erworben, doch war der Konzern nun viel stärker als zuvor auf Berlin konzentriert.[47]

Tabelle 1: Waren- und Kaufhäuser der Hermann Tietz OHG, Stand 1932

Stadt

Standort

Gründung/Neubau

Über-nahme

Früherer Eigentümer

Berlin

Leipziger Straße 46–50a (Dönhoff-platz)

1900

Berlin

Alexanderplatz 3

1905

Berlin

Frankfurter Allee 5–7

1908

Berlin

Chaussee-straße 70/71

1926

Warenhaus Stein

Berlin

Kaufhaus des Westens, Tauentzien-straße 21

1926

A. Jandorf & Co.

Berlin

Andreasstraße 46 (Große Frankfurter Straße 113)

1926

A. Jandorf & Co.

Berlin

Belle-Alliance-Straße 1–3

1926

A. Jandorf & Co.

Berlin

Brunnenstraße 19–21

1926

A. Jandorf & Co.

Berlin

Kottbusser Damm 1/2

1926

A. Jandorf & Co.

Berlin

Wilmersdorfer Straße 118/119

1926

A. Jandorf & Co.

Gera

Sorge 23

1882/1912

Weimar

Marktstraße 2

1887/1905

Karlsruhe

Kaiserstraße 92

1888

München

Bahnhofplatz 7

1889/1905

Hamburg

Jungfernstieg 16–20

1896/1912

Plauen

Postplatz 5/6

1905

Julius Tietz

Stuttgart

Königstraße 27

1905

Dresden

Webergasse 39/Wallstraße 32

1928

Hermann Mühlberg

Marktstraße 2

1887/1905

Magdeburg

Breiter Weg 41

1931

Siegfried Cohn/ Raphael Wittkowski*

* nach der Übernahme zusammengelegt

Die wirtschaftliche Bedeutung des Konzerns gründete auch darauf, dass mit einer größeren Zahl sogenannter Anschlusshäuser im ganzen Reich eine Einkaufsgemeinschaft bestand. Zu diesen zählten die 22 Kaufhäuser der Gruppe M. Conitzer & Söhne, das bekannte Kaufhaus Römischer Kaiser in Erfurt und die Warenhäuser von H. & C. Tietz in Chemnitz und Bamberg.[48]

Anlässlich des 50-jährigen Firmenjubiläums 1932 wurde der Hermann Tietz-Konzern in der Presse als »eine Welt für sich« beschrieben.[49] Zu den großen Warenhäusern von Hermann Tietz zählten nicht nur Lebensmittelabteilungen, auf die Anfang der 1930er-Jahre zwischen sieben und zwölf Prozent des Umsatzes entfielen, sondern auch Friseur- und Schönheitssalons, Restaurants, Leihbibliotheken und eine ganze Lastwagenflotte.[50] Der Konzern war ein wichtiger Kunde für die Landwirtschaft, 1931 bezogen die Tietz’schen Warenhäuser 15.000 Rinder, 32.000 Kälber, 101.000 Schweine, 13.000 Hammel, 9 Mio. Stück Eier, 3,8 Mio. kg Käse, 16,3 Mio. kg Gemüse und 11,6 Mio. kg Obst.[51]

Abb. 8: Lebensmittelabteilung des KaDeWe, 1932

Neben den Warenhäusern gehörte zur besagten »Welt« des Hermann Tietz-Konzerns ein ganzes Netz von Grundstücks-, Handels- und Fabrikationsgesellschaften, das von außen kaum zu überblicken war. Das Kapital des Konzerns lag zum größten Teil in den Immobilien der Grundstücksgesellschaften. Auf sie entfielen nach einem im Frühjahr 1933 erstellten Status des Buchprüfers der Firma Hermann Tietz, Wilhelm Graetz, rund zwei Drittel der Aktiva des Konzerns.[52] Oscar Tietz hatte für die Immobilien vieler Warenhäuser eigene Grundstücksgesellschaften gegründet. So gehörten die Gebäude des Warenhauses Leipziger Straße, aber auch des benachbarten Komplexes der Konzernverwaltung in der Krausenstraße zur Brandenburgische Grundwert AG. Weitere Grundstücksgesellschaften waren für Geschäfts- und Wohnhäuser entstanden, die für den geplanten Bau von Warenhäusern erworben worden waren, der nicht oder noch nicht zustande kam. Dies galt für die bedeutendste »warenhausfremde« Immobiliengesellschaft der Firma Hermann Tietz, die Deutsche Boden AG, und die AG Ost für Textilhandel, die in Wirklichkeit eine Grundstücksgesellschaft war. Ursprünglich hatte der Hermann Tietz-Konzern den Bau großer Warenhäuser im Westen Berlins geplant, um dieses Terrain nicht länger dem Wettbewerber Jandorf zu überlassen, und dafür systematisch Immobilien in Toplagen an der Ecke Kurfürstendamm/Joachimsthaler Straße und am Kaiserdamm aufgekauft. Mit der Übernahme des Jandorf-Konzerns hatten sich diese Pläne erübrigt, da die Firma Hermann Tietz nun mit zwei Warenhäusern (KaDeWe, Wilmersdorfer Straße) im Berliner Westen gut aufgestellt war. Die Deutsche Boden AG hielt noch eine weitere wertvolle Immobilie: das große Hamburger Warenhaus am Jungfernstieg 16–20, dessen Gebäude nicht in eine eigene Grundstücksgesellschaft eingebracht worden war.

Tabelle 2: Grundstücks-, Handels- und Fabrikationsgesellschaften des Hermann Tietz-Konzerns* (Stand Ende 1933)[53]

Grundstücksgesellschaften

AG Ost für Textilhandel, Berlin

AG West für Textilhandel, Berlin

Badische Grundwert AG, Karlsruhe (F)

Brandenburgische Grundwert AG, Berlin (F)

Centrum Berlinische Bodenbesitz GmbH, Berlin (F)

Charlottenburger Grundstücks-Verkehrs-GmbH, Berlin

Deutsche Boden AG, Berlin (F)

Grundbesitz GmbH, München (F)

Grundstücks AG Beußelturm, Berlin

Grundstücksgesellschaft Koenigsallee 71, Berlin (F)

Grundstücksgesellschaft Nordost mbH, Berlin

Grundstücksgesellschaft Wittenbergplatz AG, Berlin

Grundwert AG Kaiserdamm, Berlin

Handels- und Grundbesitz GmbH, Berlin (F)

Handelsstätte Gera AG, Berlin (F)

Immobilien-Verkehrs-Gesellschaft mbH, Stuttgart (F)

Magdeburgische Grundwert AG (vor Nov. 1933: Bayern Textil AG)

Merkur Treuhand- und Grundstücksverwaltungs AG, Wuppertal-Elberfeld

Sächsische Grundwert AG, Berlin

Handelsgesellschaften

AG für rituellen Bedarf, Berlin (F)

Bekleidungs-Handels AG, Berlin

Bergische Textil GmbH, Berlin

Einfuhr- und Großhandels AG, Berlin

Kaufkredit GmbH, Berlin

Offenbacher Handels- und Industrie GmbH, Berlin

Sächsische Textil GmbH, Berlin (F)

Vogtländische Textil GmbH, Berlin

Fabrikationsgesellschaften

Berlin Essen Gubener Hutmanufaktur GmbH

Conrad Steinecke GmbH, Berlin (F)

Mechanische Feinweberei Adlershof GmbH, Berlin

Paschka & Ornstein GmbH (F)

Textilfabrikation GmbH (F)

* (F) mit maßgeblicher privater Beteiligung der Familie Tietz/Zwillenberg

Verglichen mit den Grundstücksgesellschaften, waren die Handels- und Fabrikationsgesellschaften des Hermann Tietz-Konzerns von nachgeordneter Bedeutung. Die Handelsgesellschaften waren durchweg auf den Textilhandel beschränkte Einkaufshäuser und selbst in diesem Bereich nicht die einzige Bezugsquelle der Warenhäuser. Eine Ausnahme bildete die 1926 gegründete Kaufkredit GmbH mit der die Firma Hermann Tietz dem damaligen Trend zur Teilzahlung folgte und über eine Züricher Gesellschaft solche Leistungen anbot. Schon nach wenigen Jahren musste dieses Geschäft wegen der Weltwirtschaftskrise eingestellt werden.[54] Eine Spezialität war die von der Familie Tietz gehaltene Aktiengesellschaft für rituellen Bedarf, ein Fachgeschäft für koscher zubereitete Lebensmittel in mehreren Berliner Warenhäusern, das unter Aufsicht der Kaschrut-Kommission des Rabbinats betrieben wurde.[55]

Korrespondierend zu den Handelsgesellschaften, waren die Fabrikationsgesellschaften durchweg in der Textilherstellung tätig. Die Paschka & Ornstein GmbH konnte als spezialisierter Fabrikant von Hüten einen Ruf erlangen, von dem die Warenhäuser profitierten. Die 1923 aus einer Fusion hervorgegangene Mechanische Feinweberei Adlershof hatte sich auf Textilveredelung spezialisiert. Für die Mitarbeitenden war neben dem Werksgelände eine von Georg Jacobowitz projektierte und ausgeführte Wohnanlage errichtet worden.

Die Grundstücks-, Handels- und Fabrikationsgesellschaften wurden nach dem von Oscar Tietz begründeten Modell von Inhabern und Prokuristen der Hermann Tietz OHG in Personaleinheit nebenbei geleitet, was in dieser Häufung kaum mit der nötigen Sorgfalt geleistet werden konnte. So waren Löwenberger und Adler auch Vorstandsmitglieder der Brandenburgische Grundwert AG, der Deutsche Boden AG und der KaDeWe GmbH, einer Organgesellschaft der Firma Tietz; zudem waren Löwenberger und Karg Geschäftsführer der Handelsstätte Gera AG und der Sächsische Textil GmbH sowie Vorstandsmitglieder der Bayern Textil AG.[56]

Von den von Oscar Tietz geschaffenen Einrichtungen, die auch für die eigene Welt des Hermann Tietz-Konzerns standen, seien hier nur die als mustergültig geltende Fachschule für Lehrmädchen und Verkäuferinnen, die Betriebskrankenkasse und die Oscar-und-Betty-Tietz-Stiftung zur Unterstützung von Mitarbeitenden erwähnt.

Der Anfang vom Ende? Die »Zahlungsschlappe« in der Weltwirtschaftskrise

Mit der kostspieligen Übernahme des Jandorf-Konzerns im Dezember 1926 hatte die Firma Hermann Tietz eine hohe Hypothek auf die Zukunft aufgenommen. Der Kaufpreis wurde nie mitgeteilt, in der Presse wurde er auf 30 bis 40 Mio. RM, mitunter auch auf über 50 Mio. RM geschätzt.[57] Bekannt wurde nur, dass die Zahlung des Kaufpreises über einen längeren Zeitraum vereinbart worden war und der Berliner Großbank Disconto-Gesellschaft eine wichtige Rolle bei der Finanzierung dieser Transaktion zukam, was die Bank in ihrem Geschäftsbericht bestätigte, ohne Zahlen zu nennen.[58] Auch das Amsterdamer Bankhaus Proehl & Gutmann – eine Kommandite der Dresdner Bank – und das Londoner Bankhaus J. Henry Schröder & Co. wurden als Kreditgeber genannt.[59] Nach den Kreditakten der Dresdner Bank hatte ein Konsortium unter Führung von Proehl & Gutmann der Firma Hermann Tietz im Januar 1927 einen Vorschuss von 2,38 Mio. US-Dollar (umgerechnet rund 10 Mio. RM) bewilligt, der durch eine Grundschuld auf die Brandenburgische Grundwert AG (Warenhaus Leipziger Straße) besichert war.[60] Belegt sind ferner Hypothekenkredite von Adolf Jandorf und Max Emden, des bis zum Verkauf am KaDeWe beteiligten Hamburger »Kaufhauskönigs«, über 4,05 bzw. 1,39 Mio. RM.[61] Insgesamt dürfte die Jandorf-Übernahme zu einem erheblichen Teil durch Hypotheken auf den bis dahin noch wenig belasteten Immobilienbesitz des Hermann Tietz-Konzerns finanziert worden sein.

Entsprechend stieg die Verschuldung. Nach Angaben der Dresdner Bank war der Hermann Tietz-Konzern in der Bilanz vom 31.12.1929 mit Bankschulden in Höhe von 42,1 Mio. RM und Hypotheken in Höhe von 44,6 Mio. RM belastet.[62] Durch diesen Schuldenstand am Vorabend der Weltwirtschaftskrise, die im Gefolge des Börsencrashs an der Wall Street vom Oktober 1929 entstand und Deutschland im Winter 1929/30 erreichte, war der Konzern für eine derartige Depression denkbar schlecht gerüstet.

Rückblickend erscheint es hochriskant und leichtfertig, eine so hohe Verschuldung einzugehen. Aus der damaligen Sicht gab es dafür freilich gute Gründe. Die großen Warenhauskonzerne lieferten sich zu dieser Zeit einen Verdrängungswettbewerb, in dem die Firma Hermann Tietz ohne Übernahmen auf der Strecke zu bleiben drohte. In den Jahren 1924 bis 1929 erwarb die Hermann Tietz OHG ohnehin nur sieben Waren- und Kaufhäuser, darunter die sechs der Jandorf-Gruppe. Die Karstadt AG übernahm in diesem Zeitraum 41 Häuser, darunter die im November 1926 erworbenen 19 Filialbetriebe der Kette Max Emdens mit dem renommierten Münchner Kaufhaus Oberpollinger.[63] Karstadt ging zudem daran, massiv nach Berlin zu expandieren, mit der Verlagerung der Hauptverwaltung aus Hamburg nach Berlin-Mitte und dem Bau eines gigantischen Warenhauses in Berlin-Neukölln. Darüber hinaus gründete die amerikanische Kaufhauskette F. W. Woolworth im November 1926 eine deutsche Tochtergesellschaft und errichtete ein Jahr später einen ersten Verkaufsladen in Berlin.[64] Auch schienen sich zunächst die großen Erwartungen zu bestätigen, die die Einzelhandelskonzerne in die Entwicklung des deutschen Marktes setzten. 1927 erwies sich als das konjunkturell günstigste Jahr der Weimarer Zeit.

Im Juni 1929 konnte Karstadt am Hermannplatz in Neukölln das größte und modernste Warenhaus Europas eröffnen, einen Gebäudekomplex von New Yorker Format mit Rolltreppen und U-Bahn-Anschluss. Im selben Jahr fusionierte der Konzern mit der Lindemann & Co. AG, die 14 Filialen einbrachte, darunter vier in Berlin und ein bekanntes Kaufhaus in Potsdam.[65] In Berlin-Mitte hatte Karstadt bereits 1928 in der Neuen Königstraße ein Areal mit 30 Wohnhäusern für den geplanten Bau der neuen Hauptverwaltung erworben.[66] Auch die Firma Hermann Tietz ging daran, ihre Position in Berlin weiter auszubauen. Das neue Flaggschiff KaDeWe wurde von fünf auf sieben Etagen aufgestockt, mit einer »Imbisshalle« im obersten Verkaufsstockwerk, und an der Hauptstraße in Berlin-Friedenau sollte – angeblich aus eigenen Mitteln finanziert – ein weiteres, achtstöckiges Großwarenhaus errichtet werden.[67]

Nach Beginn der Weltwirtschaftskrise ging die große Zeit der Warenhäuser zu Ende. Die Hermann Tietz OHG erlitt 1930 nach Angaben der Dresdner Bank einen Verlust in Höhe von 21 Mio. RM.[68] Nach einer rückwirkend erstellten Statistik konnte der Konzern in jenem Jahr den Umsatz allerdings noch etwas steigern, auf den bisherigen Höchststand von 272 Mio. RM, während bei Karstadt ein Rückgang von rund fünf Prozent zu verzeichnen war.[69] Dem entsprach, dass die Bank- und Hypothekenschulden der Firma Hermann Tietz im Laufe des Jahres zwar von 87,7 auf 101,6 Mio. RM anstiegen, bei Karstadt aber Ende 1930 fast doppelt so hoch lagen (191 Mio. RM).[70] Am besten schnitt unter den großen Warenhausketten die Leonhard Tietz AG ab, mit einem Gewinn von drei Mio. RM im Jahr 1930 und einer Belastung durch Bank- und Hypothekenschulden in Höhe von 82 Mio. RM (Januar 1931).[71]

Bei Hermann Tietz wurden nun aufwendige Projekte wie die Errichtung weiterer Warenhäuser in Berlin-Friedenau und Königsberg zurückgestellt. Lediglich ein neuer Filialbetrieb in Magdeburg kam hinzu.[72] Insgesamt ging der Umsatz der Warenhäuser 1931 um 14,7 Prozent zurück, das war weniger als der Rückgang der Industrieproduktion (25 Prozent), doch führte dieser Einbruch vielfach zu Liquiditätsproblemen.[73] Die Warenhäuser versuchten, dem durch gehäufte Sonderverkaufsaktionen zu begegnen, doch konnten sie auch dadurch die Lieferantenkredite für ihre Einkäufe nicht mehr mit Einnahmen aus dem Verkauf ablösen. Nach Angaben der Dresdner Bank deckten die Waren und die Kasse der Firma Hermann Tietz nur noch rund 50 Prozent der kurzfristigen Verpflichtungen.[74] Dabei litt die Liquidität der Firmen Hermann Tietz und Karstadt auch darunter, dass ein großer Teil der Überschüsse für zum Teil spekulative Immobilienkäufe in Berlin verwendet worden war. In der Weltwirtschaftskrise brach nun der Markt für Geschäfts- und Wohnhäuser zusammen, die Mieteneinnahmen gingen stark zurück.[75]

Abb. 9: Verkaufsveranstaltungen der Filiale Gera, 1931

Ab dem Frühjahr 1931 stand die Branche im Schatten der Karstadt-Krise, in die das größte deutsche Warenhausunternehmen durch die Verschuldung für die Expansion der vorangegangenen Jahre und eine fatale Kursgarantie für die bei der Fusion mit Lindemann abgegebenen Aktien geraten war. Karstadt musste mit außerordentlichen Abschreibungen in Höhe von 25 Mio. RM die Reserven aufbrauchen, einen Teil seiner Immobilien und Kapitalbeteiligungen verkaufen.[76] Anders als Karstadt war die Hermann Tietz OHG kein Sanierungsfall, doch geriet sie in eine immer kritischere Lage. Da der Konzern anders als die Aktiengesellschaften Karstadt und Leonhard Tietz keine Bilanz veröffentlichte, konnte die Presse nicht einmal mutmaßen, wie hoch die Verluste ausfielen.

Als im Winter 1931/32 die Zahl der registrierten Arbeitslosen in Deutschland auf über sechs Mio. anstieg, geriet die Firma Hermann Tietz in Finanznot. Da sie als OHG nicht zur Publikation der Bilanzen verpflichtet war und Bilanzunterlagen aus dieser Zeit nicht überliefert sind, stellt sich die Entwicklung im Krisenjahr 1932 nur in späteren Berichten und Aussagen dar. Diese Dokumente müssen als eine problematische Quelle gelten, weil sie entweder im Zusammenhang mit der »Arisierung« oder im Rahmen der Restitutionsverfahren nach dem Krieg verfasst wurden. Beauftragte und Anwälte der Familie Tietz/Zwillenberg waren damals bemüht, die kritische Lage des Konzerns vor 1933 nicht ausführlich zu beleuchten. Den Banken und dem Hertie-Management war wiederum daran gelegen, die angebliche Zahlungsunfähigkeit der Firma Hermann Tietz vor 1933 herauszustellen, um vor diesem Hintergrund die »Arisierung« als eine ausschließlich wirtschaftlich begründete Sanierung auszugeben.

Offensichtlich unterschätzte die Geschäftsleitung der Hermann Tietz OHG die Dramatik des Abschwungs im Jahr 1932, dem Tiefpunkt der Weltwirtschaftskrise in Deutschland. Schon bei der »Weißen Woche« Anfang Februar blieben die Einnahmen hinter den Erwartungen – und damit auch den Ausgaben für die bestellten Waren – zurück.[77] Beim 25-jährigen Jubiläum des KaDeWe am 21. März 1932 wurde nach einer offiziellen Mitteilung des Unternehmens »mit Rücksicht auf die schweren wirtschaftlichen Verhältnisse« von Feiern abgesehen.[78] Man begnügte sich mit einer von dem renommierten Kunstkritiker und Publizisten Max Osborn verfassten Firmenschrift.[79] Das im Mai folgende 50-jährige Jubiläum der Firma Hermann Tietz nahm die Geschäftsführung zum Anlass, die kaum noch abreißenden Sonderverkaufsaktionen mit einem groß angelegten Jubiläumsverkauf zu übertrumpfen. Mit hohen Erwartungen wurden dafür Einkäufe getätigt, für die es angesichts der großen Not im Land aber keine entsprechende Nachfrage gab. Ein Teil des Jubiläumsverkaufs konnte nur noch mit hohen Verlusten abgesetzt werden. Die Hermann Tietz OHG geriet daraufhin in Zahlungsschwierigkeiten. Die Deutsche Bank, die durch ihre Fusion mit der Disconto-Gesellschaft im Jahr 1929 zur Hausbank und zum größten Gläubiger der Firma geworden war, gewährte dennoch einen zusätzlichen Dispositionskredit. Als die Firma auch diesen überzog, soll die Bank nach späteren Angaben eines damaligen Direktors ihrer Berliner Stadtzentrale, Hermann Wieland, misstrauisch geworden sein. Auch unter den Lieferanten sei der Tietz-Konzern nun wegen seiner schlechten Zahlungsmoral »besprochen« worden.[80] Dies deckt sich mit Ausführungen in einer Sitzung bei Hertie vom Herbst 1933, in denen von einer »Zahlungsschlappe in 1932« die Rede war, die das Vertrauen der Lieferanten erschüttert habe.[81]

Abb. 10: »Weiße Woche« im KaDeWe, 1932

Das gesamte Einzelhandelsgeschäft hatte in Deutschland im Frühjahr 1932 einen neuen Tiefststand erreicht. Die Umsätze der Warenhäuser lagen im Mai knapp 27 Prozent unter dem Vorjahresmonat, in Berlin wurde das traditionsreiche Kaufhaus Herrmann Gerson insolvent, bei vielen Warenhäusern, auch bei Wertheim, wurden Verkaufsabteilungen stillgelegt.[82] Im Sommer erreichte das Karstadt-Drama ein neues Stadium: Die eingeleiteten Sanierungsmaßnahmen erwiesen sich als unzureichend, das Unternehmen benötigte einen Millionenkredit, da die Verluste nicht mehr aus Reserven abgedeckt werden konnten. Im Oktober 1931 hatte Karstadt bereits seine Tochtergesellschaft Epa an ein Bankenkonsortium verkauft, um einen Kredit von 15 Mio. RM zu erhalten. Nun konnte nur noch die Akzeptbank einspringen, ein Institut, das vom Reich und den Großbanken in der Bankenkrise von 1931 gegründet worden war, um zahlungsunfähige Banken mit Liquidität zu versorgen, und sich inzwischen auch bei der Stützung anderer Unternehmen betätigen durfte.[83] Dass die Akzeptbank Karstadt mit einem 25-Mio.-Kredit stützte, wurde als »Reichshilfe« für einen in Schieflage geratenen Warenhauskonzern verstanden und brachte die von der Krise hart betroffenen Kleinhändler weiter auf. Die Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels protestierte scharf gegen »diesen besonders bedenklichen Fall der Staatssubvention«.[84]

Nachdem die Deutsche Bank (damals Deutsche Bank und Disconto-Gesellschaft) im Herbst 1932 wegen der offensichtlichen Liquiditätsprobleme beim Hermann Tietz-Konzern vorsichtig geworden war, bat ihr Vorstandsmitglied Theodor Frank die Inhaber der Firma, über die Geschäftslage Auskunft zu erteilen, was nach den damaligen Gepflogenheiten als letzte Mahnung zu verstehen war.[85] Die Bank hatte mittlerweile festgestellt, dass das Warenhausunternehmen seine Finanznot in fragwürdiger Form zu verschleiern versuchte. Die Konten wurden notorisch überzogen, ständig wurden Zahlungen verschleppt und ungedeckte Schecks eingereicht.[86] Zum Teil war dies dem Chaos in dem von Löwenberger verantworteten Rechnungswesen zuzuschreiben, das ein Zeitgenosse mit »einem labyrinthischen Zaubergarten« verglich.[87] Später stellte sich heraus, dass die Buchhaltung der Central-Verwaltung in der Krausenstraße mitunter eine besondere Form der »doppelten Buchführung« betrieb. Fällige Rechnungen wurden in den Büchern als bezahlt ausgebucht, aber nicht mit Zahlungsanweisungen an die Kasse weitergereicht.[88] Solche Praktiken waren damals nicht selten. Erst nach spektakulären Wirtschaftsskandalen war im September 1931 die Pflichtprüfung für Aktiengesellschaften eingeführt worden. Offene Handelsgesellschaften wie die Firma Hermann Tietz mussten ihre Bücher weiterhin nicht offenlegen, und hier gab es auch keinen Aufsichtsrat, über den die Banken eine Kontrollfunktion hätten ausüben können. Die Gläubigerbanken waren darauf angewiesen, von der Firma Auskünfte einzuholen, und die fielen offenbar nicht sehr erhellend aus. Es kamen Zweifel an der Solidität der Geschäftsführung auf, nur Zwillenberg, der für die Banken der bevorzugte Ansprechpartner war, blieb davon ausgenommen.[89]

Die Intransparenz bei der Hermann Tietz OHG und die Lehren aus dem Karstadt-Desaster veranlassten die Deutsche Bank, von einem Worst-Case-Szenario auszugehen. Sie soll noch im Herbst 1932 einen Kreditstopp für den Hermann Tietz-Konzern verhängt haben. In einer nach dem Krieg verfassten Erklärung Wielands liest sich dies so: »Die Befriedigung neuer Kreditwünsche machten wir von der Bilanz per Ende 1932 abhängig und gaben Tietz anheim, der Firma angeblich von anderer Seite offerierte Kreditangebote anzunehmen.«[90] Nachdem das Weihnachtsgeschäft 1932 nicht die erhoffte Wende gebracht hatte, obwohl sich in der deutschen Wirtschaft ein Ende der Depression abzuzeichnen begann, wollten auch die Dresdner Bank und andere Gläubiger nicht länger abwarten.[91] Die Banken stimmten sich untereinander ab. Einer späteren Erklärung des Hertie-Geschäftsführers Trabart von der Tann zufolge wurde er im Februar 1933 auf Vorschlag des Aufsichtsratsvorsitzenden der Dresdner Bank, Fritz Andreae, »als Vertreter des Gläubigerkonsortiums beauftragt«.[92] Von einer »Arisierung« war zu diesem Zeitpunkt, an dem Hitler erst wenige Tage an der Macht war, wohl kaum die Rede. Die Banken werden von einem Szenario ausgegangen sein, wie es bei der Karstadt AG praktiziert worden war. Dort war der Vorstandsvorsitzende Hermann Schöndorff im Mai 1931 »entsprechend einer Anregung des Finanzausschusses« des Aufsichtsrats zurückgetreten und ein früheres Vorstandsmitglied der Commerzbank (damals Commerz- und Privat-Bank)zum Finanzvorstand berufen worden.[93]

Nach dem Krieg erklärte Karg, dass der Hermann Tietz-Konzern ausschließlich aus wirtschaftlichen Gründen in andere Hände übergegangen sei. In einer Stellungnahme aus dem März 1946 legte er dar, »dass es sich bei der Übernahme der früher der Familie Tietz gehörenden Kaufhäuser nicht um eine Arisierung handelte, sondern dass das Ausscheiden der Familie Tietz seinen Grund in den vor 1933 entstandenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten hatte«.[94] So konnte man es später auch einem viel zitierten Artikel des Wirtschaftsjournalisten Hans Otto Eglau über Karg entnehmen: