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Jazz, Glamour und Juwelen – Band 2 der schillernden Saga um die Familie Cartier
Paris, 1918: Die Welt atmet auf als der Krieg vorbei ist. Auch die Familie Cartier hofft, ihrem Unternehmen zu neuem Glanz zu verhelfen. Die Roaring Twenties und die aufstrebenden Hollywood-Stars bieten die perfekte Kulisse für die Juwelen aus dem Hause Cartier. Jeder von Rang und Namen möchte sich mit dem kostbaren Geschmeide schmücken. Für die aufstrebende Designerin Jeanne zählt jedoch nur eins: Sie ist endlich wieder mit Louis Cartier vereint. Doch nach allem, was die beiden gemeinsam durchlebt haben, droht ihr Glück nun zu zerbrechen …
Charmant und atmosphärisch – entdecken Sie mit Sophie Villard das Paris der wilden Zwanziger und erkunden Sie die Geschichte der bekanntesten Juweliersfamilie der Welt!
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Seitenzahl: 461
Veröffentlichungsjahr: 2025
Paris, 1918: Die Welt atmet auf, als der Krieg vorbei ist. Auch die Familie Cartier hofft, ihrem Unternehmen zu neuem Glanz zu verhelfen. Die Roaring Twenties und die aufstrebenden Hollywoodstars bieten die perfekte Kulisse für die Juwelen aus dem Hause Cartier. Jeder von Rang und Namen möchte sich mit dem kostbaren Geschmeide schmücken. Für die Jung-Designerin Jeanne zählt jedoch nur eins: Sie ist endlich wieder mit Louis Cartier vereint. Doch nach allem, was die beiden gemeinsam durchlebt haben, droht ihr Glück nun zu zerbrechen …
Charmant und atmosphärisch – entdecken Sie mit Sophie Villard das Paris der wilden Zwanziger und erkunden Sie die Geschichte der bekanntesten Juweliersfamilie der Welt!
Sophie Villard ist das Pseudonym einer erfolgreichen deutschen Autorin. Die gelernte Journalistin und Politologin lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Dresden. Ihr Roman über die berühmte Kunstsammlerin Peggy Guggenheim stand auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Nach »Madame Exupéry und die Sterne des Himmels« und »Mademoiselle Eiffel und der Turm der Liebe« widmet sie sich in ihrer neuen Saga nun dem aufregenden Leben der Familie Cartier.
www.penguin-verlag.de
Sophie Villard
Der Glanz von Gold
Roman
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Dies ist ein historischer Roman.
Er basiert auf der Unternehmensgeschichte des Hauses Cartier.
Zahlreiche tatsächliche Abläufe und handelnde Personen sind jedoch so verändert und ergänzt, dass Fakten und Fiktion eine untrennbare künstlerische Einheit bilden.
Eine Zusammenarbeit mit Cartier gab es nicht, insbesondere besteht keine wie auch immer geartete Lizenzbeziehung.
Die Verwendung des Firmennamens erfolgt also ausschließlich aus beschreibenden und nicht aus markenmäßig-kennzeichnenden Gründen.
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in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
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Redaktion: Susann Harring
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Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-30660-1V002
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»Never copy, only create! – Wir imitieren nicht, wir kreieren!«
Jacques Cartier
»Life is a lot like Jazz. It’s best when you improvise. – Das Leben ist dem Jazz sehr ähnlich. Es ist am besten, wenn man improvisiert.«
George Gershwin
JEANNE TOUSSAINT, Ozeandampfer vor der Küste von New York, März 1942
Jeanne konnte die Silhouette der Stadt inmitten der Nebelschwaden schon erkennen, konnte spüren, wie das Schiff die Geschwindigkeit reduzierte. Sie bemerkte, wie die anderen Passagiere langsam das Deck verließen, um die letzten Sachen einzupacken, bereit, ein neues Leben zu beginnen, sobald der Dampfer am Kai festmachte.
Sie sog die kalte Luft ein, roch das Salz, die feuchte Gischt, gemischt mit den Dampfschwaden der Maschinen. Sie hatte es tatsächlich geschafft! Sie war über den Ozean gereist, fort vom kriegsgebeutelten Europa, fort von den Notrationen, fort vom bitteren Elend der Flüchtlinge, die nicht wie sie das Glück gehabt hatten, eine Fahrkarte für dieses Schiff zu ergattern.
Sie schluckte, wenn sie an die Familien mit Kindern dachte, die verzweifelt hoffend in Marseille am Hafen gestanden hatten und nun weiterhin durch die engen Gassen der Stadt geisterten, ohne echte Chance, ihr Leben zu retten. Sie dachte an A., der sich in der Résistance engagierte und als Ingenieur für Flugzeugtechnik der französischen Luftwaffe schon so gute Dienste erwiesen hatte. Sie hätte an seiner Seite bleiben sollen, hätte diese Reise hierher nicht antreten sollen. Aber wie hätte sie das tun können? Wie hätte sie nicht hier herübereilen können bei den Nachrichten, die sie seit Kurzem von den New Yorker Cartiers, von Pierre und Elma, erreichten.
Nein, es war richtig gewesen zu fahren. Sie würde es sich nie verzeihen, wenn sie es nicht wenigstens versuchte.
Ein letzter Blick über die Reling zur nahenden Küste, dann richtete sie sich auf. Sie hatte Angst. Schreckliche Angst, was die nächsten Tage bringen würden. Sie wollte ihn so nicht sehen, sondern ganz so wie früher. Sofort standen ihr sein Lächeln, seine charmanten Gesten, seine Eile vor Augen, die er stets an den Tag gelegt hatte, egal, wo sie auch gemeinsam hingegangen waren. Und sie waren viel Wegstrecke zusammen gegangen. Ein ganzes Erwachsenenleben lang waren sie Gefährten gewesen. Und Geliebte. Und Tänzer, oh, was hatten sie Tango getanzt, nächtelang. Durch alle Zeiten hinweg: vor dem Ersten Weltkrieg durch das Ende der Belle Époque, nach dem Krieg durch die Goldenen Zwanziger in den Kaschemmen am Montmartre mit Picasso, Hemingway und Fitzgerald. Durch die Weltwirtschaftskrise und hinein in diesen nächsten, unsäglichen Krieg. Den Krieg, der nun drohte, La Maison endgültig den Garaus zu machen.
Ihr lief es kalt den Rücken hinunter, wenn sie an den Besuch dachte, der sie neulich, an einem durchaus freundlich und sonnig aussehenden Februarmorgen, ereilt hatte: Reichsmarschall Hermann Göring samt Gefolge hatte sich in der Rue de la Paix eingefunden, um sich Schmuck präsentieren zu lassen. Was hatten ihre Hände gezittert, als sie ihm die Tableaus anreichte. Aber sie hatte sich nicht unterkriegen lassen, wie in allen unmöglichen Situationen, in die das Leben sie gestürzt hatte. Denn waren sie nicht immer Kämpfer gewesen, sie und L.? Immer!
Seite an Seite. Aber nun würde er seinen letzten Kampf bald verlieren und sie auf dieser Welt alleinlassen.
Sie wandte sich ganz von der See ab, überquerte das Deck und erreichte kurz darauf mit wackligen Knien ihre Kabine. Mühsam schloss sie sie auf und zwang sich, die letzten Sachen aus dem Badezimmer in ihre Cartier-Vanity-Box zu packen, die sie einst selbst entworfen hatte.
Sie musste daran denken, wie sie mit den ersten Designs auf Interesse und Begeisterung gestoßen war, und ihr gelang trotz aller Anspannung ein Lächeln. In ihrer heutigen Position kam ihr das damalige Arbeiten an den einzelnen Entwürfen fast putzig vor; sie erinnerte sich beispielsweise an die Brosche mit dem Vogelschwarm aus Sankt Petersburg und an den Sieg mit dem Panther bei der Weltausstellung 1913. Lang, lang war es her.
Aber es machte ihr bewusst, wie wichtig Anfänge waren. Nur Anfänge konnten zu Routine und Routine konnte zu Wachstum und Erfolg führen. Das hatte sie erlebt. Nicht, dass es ihr einfach so passiert wäre, nein, sie hatte sich diesen Weg erkämpft. Und nun würde sie ihren Wegbegleiter, den Mann, der so lange Seite an Seite mit ihr gegangen war und immer an sie geglaubt hatte, ihren Seelenverwandten, verlieren.
Ihr traten Tränen in die Augen, obwohl sie sich doch vorgenommen hatte, sie nicht zuzulassen, sondern stark zu sein.
Stark wie la panthère.
Das Dröhnen des Schiffshorns, mit dem es seine Ankunft ankündigte, vibrierte durch das ganze Schiff. Sie mussten kurz vorm Einlaufen in den New Yorker Hafen sein. Sie erinnerte sich an ihre erste Überfahrt hier herüber mit Coco vor dreizehn Jahren. Damals war vom Krieg noch keine Rede gewesen, dafür umso mehr vom Glamour Hollywoods. Was hatten sie die Gesellschaft an der Westküste genossen, die Palmen, die Eskapaden, die Leichtigkeit des Seins. Die gemeinsame Zeit, nur die beiden Freundinnen in dieser Welt rund ums Zelluloid.
Coco hatte sie gewarnt, diese Reise jetzt anzutreten, hatte gemahnt, sie möge bei ihr in La Pausa in Südfrankreich bleiben und nicht für L. diese Strapazen und Gefahren auf sich nehmen. Schließlich sei sie mit ihren fünfundfünfzig Jahren auch nicht mehr die Jüngste und man könne sich dieser Tage nie sicher sein, wann die USA in den Krieg eintreten würden oder ob ein feindliches U-Boot nicht auch einen Flüchtlingsdampfer beschießen würde.
Jeanne ließ sich lang auf das Bett fallen und schloss die Augen. Ja, es waren Strapazen, ja, sie war beileibe nicht mehr zwanzig Jahre alt. Und ja, es war eine Reise ins Ungewisse. Natürlich wäre es schöner, wenn sie ihn einfach nur besuchen würde, wie all die Male zuvor. Wenn sie gemeinsam an der Côte d’Azur den Müßiggang pflegen könnten wie damals bei Alberto Santos in Saint-Tropez. Sie erinnerte sich an den fidelen, kreativen, zuweilen aufbrausenden L., der ihr verschmitzt entgegenlächeln und fragen würde: »Na, geliebte panthère, was hecken wir heute aus? Hast du einen neuen brillanten Entwurf?«
Sie drehte sich auf die Seite und konnte nicht verhindern, dass die Tränen nun doch aus ihren Augen flossen und ihr gesamtes Make-up zerstörten, das sie heute Morgen so mühsam aufgetragen hatte, um die Spuren der Zeit zu kaschieren. Sie ließ sie laufen. Man konnte für diesen Mann nicht genug Tränen weinen.
Auch wenn er sie so oft gekränkt, ja wenn er rücksichtslos gelebt und seine Träume verfolgt hatte. Seine Träume, in denen es vor lauter Diamanten nur so gefunkelt, vor lauter Gold nur so geglänzt hatte und in dem einige Frauenherzen gebrochen worden waren.
Es klopfte an der Kabinentür. »Madame, darf ich Ihr Gepäck holen?«, hörte sie die Stimme des jungen Stewards, der sie die ganzen Tage über zuvorkommend bedient hatte, wie man wichtige Gäste eben bediente. Dass sie jemals erster Klasse reisen würde, war lange Zeit überhaupt nicht denkbar gewesen, ging es ihr durch den Kopf.
»Selbstverständlich!«, rief sie, wischte sich über die Augen und stand auf, als der Mann schon die Kabine betrat.
»Verzeihung, Madame, ich wusste nicht …«, begann er erschrocken, als er ihr verweintes Gesicht sah.
»Schon gut, nehmen Sie nur die Koffer mit. Ich folge Ihnen gleich«, sagte Jeanne leise.
Es würde einer der schwersten Gänge ihres Lebens werden. Sie musste Abschied von L. nehmen. Und sie musste endgültig das Geheimnis ergründen, das sie schon so lange umtrieb.
Mais oui, sie musste diesen Weg gehen!
Für L. Für sie selbst.
Und für Cartier.
Compiègne, 11.11.1918. Heute Morgen um 6 Uhr ist der Waffenstillstandsvertrag in Kraft getreten, den Vertreter der Entente-Mächte und Deutschlands in den letzten Tagen in einem Eisenbahnwaggon nahe der kleinen Ortschaft Compiègne ausgehandelt haben. Der Vertrag regelt unter anderem den Rückzug der deutschen Truppen aus allen besetzten Gebieten und die Übergabe der Waffen. Kaiser Wilhelm II. befindet sich auf dem Weg ins niederländische Exil, nachdem die Unruhen der Novemberrevolution nun auch die deutsche Hauptstadt erfasst haben. Unsere Soldaten kehren zu ihren Familien zurück! Der Krieg ist nach vier langen, verlustreichen Jahren endlich vorbei!
LOUIS CARTIER, Paris, Brasserie Lipp, 11. November 1918
»Vive la France!« Sie stießen die Gläser aneinander und stimmten die Marseillaise an, Arm in Arm auf der kühlen Terrasse am Boulevard Saint-Germain. Es war ein klammer Novembertag, aber ihre Herzen pulsierten und ihre Gedanken flogen! Der Krieg war vorbei! Die Deutschen besiegt. Heute Morgen war der Waffenstillstandsvertrag unterzeichnet worden. Die ganze Stadt sang und feierte, und es gab niemanden in ihrer Runde, der keine Freudentränen in den Augen gehabt hätte.
Erfüllt von Dankbarkeit, ließ Louis den Blick schweifen. Sie waren alle hier – nicht unversehrt, aber sie atmeten, hatten das Grauen überlebt. Er betrachtete seinen jüngsten Bruder Jacques. Welch ein Glück, dass er diesen Giftgasanschlag überstanden hatte, auch wenn er seitdem ernste Lungenprobleme hatte. Pierre, sein zweiter Bruder, hatte eine Nierenschwäche entwickelt, und er selbst, Louis, spürte nur zu deutlich seine Verletzung am Bein. Aber: Sie waren am Leben! Sie feierten alle gemeinsam, hier auf dem Boulevard Saint-Germain im Herzen von Paris. Und dieser Flecken, wie auch ganz Frankreich und Europa, war von den Deutschen befreit! Befreit!
Er drückte Jeanne an sich, die neben ihm lauthals gesungen hatte und am Ende des Liedes in den allgemeinen Jubel einstimmte. Sie war ebenfalls noch hier, sie war an seiner Seite. Sie hatte La Maison durch den Krieg hindurch gut betreut und eingehütet. Aber man merkte ihr an, wie erleichtert sie war, dass die Verantwortung nun von ihren Schultern genommen wurde und wieder auf Louis und die Brüder überging. Jawohl, er war wieder in der Position, die ihm am meisten zusagte: Er führte Cartier Paris und fungierte als kreativer und strategischer Kopf der Firma. Jacques und Pierre würden ihre Posten als Leiter der Filialen in London und New York schnellstmöglich, in den nächsten Tagen schon, wieder aufnehmen.
Dennoch blieb dieses ungute Gefühl, das ihm tief in den Knochen saß. Der Krieg hatte Wunden hinterlassen. Die Erschütterung aller Gewissheiten, die es zuvor gegeben hatte, wirkte nach. Und Louis blieb nur zu hoffen, dass so etwas nie wieder geschehen würde. Nie wieder!
Jeanne schmiegte sich an ihn. »Wir werden wieder lachen. Wir werden wieder tanzen. Wir werden wieder lieben. Nicht wahr?«, fragte sie leise.
Als Antwort küsste er sie, und es war ihm ganz egal, dass er sofort missbilligende Blicke von Elma und Nelly auffing, den Ehefrauen seiner Brüder, die Jeanne offenbar immer noch nicht an seiner Seite akzeptieren konnten, obwohl sie ihre Loyalität und Klasse während des Krieges doch nun ausreichend bewiesen hatte. Elma und Nelly, die aus den reichsten amerikanischen Familien stammten, sahen in Jeanne offensichtlich noch immer nichts anderes als die Näherin vom Montmartre, die Kostüme für das Moulin Rouge ausbesserte und Hüte für ihre Freundin Coco Chanel herstellte. Mais non, das war sie nun wirklich schon lange nicht mehr. Spätestens seit sie kurz vor dem Krieg mit la panthère für Cartier den Design-Wettbewerb bei der Weltausstellung gewonnen hatte, spätestens da musste doch selbst diesen beiden amerikanischen Damen klar geworden sein, dass viel mehr in Jeanne steckte, als sie geglaubt hatten.
»Natürlich werden wir wieder glücklich sein«, flüsterte er ihr ins Ohr, atmete ihr Parfum ein und streichelte ihre Schulter. Sanft befreite er eine Haarsträhne, die sich dort verfangen hatte, von ihrem Tahiti-Perlenohrring. Sie würden wieder glücklich sein. Auch wenn es während des Krieges nicht nur die Bedrohung durch die Deutschen gegeben hatte, sondern auch noch ein ganz anderes Problem aufgetaucht war, ein sehr dringliches für sie beide und ihre Zukunft. Ausgerechnet bei der Beerdigung seines geliebten grand-père François waren sie darauf gestoßen – durch François’ letzten Brief. Sie hatten dieses heikle sujet beiseitegeschoben, hatten nicht weiter daran denken mögen. Denn in dem Moment hatten sie keine Möglichkeit gehabt, das Mysterium aufzuklären, obwohl es ihnen schwer auf der Seele gelegen hatte.
Aber nun war es an der Zeit, dieses Thema anzugehen.
Er seufzte und erkannte, als er ihr nun in die Augen schaute und bemerkte, wie sie gedankenverloren an ihrem Ohrring spielte, dass sie vermutlich an das Gleiche dachte.
»Wir müssen gemeinsam zu ihr fahren, zu grand-mère, nicht? Jetzt, da wir wieder reisen können?«, fragte Jeanne leise.
Er nickte. Sie mussten nach Belgien. Zu Jeannes Großmutter Mathilde. Sie mussten erfahren, was damals zwischen ihr und François geschehen war, was es mit diesen Tahiti-Perlenohrringen auf sich hatte, die Jeanne von ihr geschenkt bekommen hatte und die Louis’ Großvater so sehr in Unruhe versetzt hatten, dass er in seinem letzten Brief auf sie zu sprechen kam. Sie mussten erfahren, ob …
»Bruderherz, was hast du für Pläne für La Maison?«, wandte sich in diesem Moment Jacques an ihn.
Louis war erleichtert, von dem schweren Thema abgelenkt zu werden und seine Gedanken statt in die Vergangenheit nun in die Zukunft reisen lassen zu können. Die Zukunft. Etwas, worüber er in den vielen Monaten, die er in seinem Verwaltungsjob in der Armee verbracht und Akten bearbeitet hatte, oft nachgedacht hatte. Eines war ihm klar geworden: Sie mussten sich auf ganz neue Zeiten einstellen. Ganz neue.
Ein Schauer lief ihm den Rücken hinunter, wenn er daran dachte, was in Russland bei der Revolution passiert war und dass nun auch der westeuropäische Adel in Bedrängnis geraten war. Sie mussten sich definitiv etwas einfallen lassen, da dieser wichtigste Kundenstamm jetzt ganz anderes zu tun hatte, als bei Cartier besten Schmuck zu kaufen.
Aber erst mal galt es, nach außen hin solide und gewohnt elegant aufzutreten, wo sich doch alle nach Normalität sehnten.
»Zuerst werden wir das Sortiment auf Vorkriegsniveau etablieren und mehr hochpreisigen Schmuck in die Auslagen bringen«, antwortete er seinem Bruder Jacques, während ihm Pierre Champagner nachschenkte, von dem Louis sofort einen großen Schluck trank.
Jacques tat es ihm nach, bevor er rief: »Und diese patriotischen Anstecknadeln werden wir verschwinden lassen. Hoffentlich brauchen wir die niemals mehr!«
»Niemals!«, bekräftigte Pierre.
»Viele der alten russischen Adelsfamilien befinden sich doch jetzt hier in Paris. Zumindest die, die vor der Revolution fliehen konnten«, wandte Jacques ein.
»Allerdings konnten die wenigstens ihr Vermögen herüberretten. Und einige haben in den vergangenen Monaten schon bei uns angeklopft, um uns einen Teil ihrer Juwelen anzubieten«, mischte Jeanne sich ein. »Erst vor wenigen Tagen habe ich die Großfürstin Wladimir empfangen. Sie stand noch deutlich unter Schock und bot mir eine Perlenkette an.«
»Hast du sie gekauft?«, fragte Pierre.
»Aber natürlich. Schließlich ist die Großfürstin eine der ältesten Kundinnen und hat uns nicht zuletzt in Sankt Petersburg beim Winterbazar damals sehr geholfen. Ich zog Nicole hinzu, die die Perlen ein wenig besser einschätzen konnte als ich. Und alle drei gemeinsam haben wir uns auf einen vernünftigen Preis geeinigt.«
Eine Gruppe junger Leute zog eingehakt und singend mitten auf der Straße vorbei, eine Trikolore schwenkend. Die Brüder jubelten ihnen zu und sahen ihnen nach, bis sie um die nächste Hausecke bogen und ihr Gesang langsam verklang.
»Gut gemacht«, sagte Louis anschließend und bezog sich damit auf den Perlenkauf von der Großfürstin. »Wir müssen unsere alten Kunden weiterhin respektvoll bedienen. Aber wir brauchen auch neue Käuferkreise. Nur wer könnte das sein?«
»In Amerika wird sich wenig geändert haben«, sagte Pierre. »Dort haben wir die Industriellen, und sie werden immer mehr. Der Krieg hat drüben kaum Spuren hinterlassen, würde ich meinen. Mon Dieu«, unterbrach er sich, denn nun tauchte eine kleine Kapelle bestehend aus ein paar Blasinstrumenten und Trommeln auf und spielte alte Gassenhauer. Erneut stellten sie ihr Gespräch kurz ein und klatschten im Takt der Melodie mit, bis sie weitergezogen waren.
»He, ihr Langweiler, besonders du, Jacques, nun lasst uns doch endlich einmal hineingehen und mitschwofen!«, rief ihnen Nelly zu, die gemeinsam mit Elma die Tür zur Brasserie öffnete. Von drinnen erschallte Tanzmusik.
»Gleich, mein Schatz!«, rief Jacques zu seiner Ehefrau hinüber.
»Wir werden sehen, wie sich Amerika entwickelt«, setzte Louis noch schnell zum vorangegangenen Gespräch hinzu, bevor sie auseinandergingen. »Zunächst einmal starten wir hier drüben frisch in die neue Zeit und knüpfen an alte Bande an. Ich schlage vor, dass wir eine Anzeigenkampagne in allen großen Zeitschriften lancieren. Etwas Positives, Aufmunterndes. Etwas, das auf die Aufbruchsstimmung aufsetzt.«
Jacques nickte eifrig. »Das ist eine grandiose Idee. Lasst uns über einen Werbespruch nachdenken. Haben wir eine erste neue Kreation, die wir bewerben können?«
Elma gesellte sich wieder zu ihnen und schüttelte missbilligend den Kopf, als sie den letzten Satz ihres Schwagers hörte. »Männer, ihr solltet heute Abend feiern, da wir uns endlich einmal alle wiedersehen und davon ausgehen können, dass wir demnächst nicht vor Bomben und Panzern fliehen müssen. Und ihr habt nichts Besseres zu tun, als sofort wieder über das Geschäft zu palavern.«
»Wir SIND das Geschäft. Wir sind Cartier. Wir sind das beste Juwelierunternehmen der Welt«, rief ihr Mann Pierre übermütig. »Wir haben einen Ruf zu verlieren. Wie könnten wir nicht gleich wieder durchstarten wollen?«
Elma stupste ihn mit dem Ellenbogen in die Seite. »Nun komm endlich mal mit rein und tanz mit mir! Bevor ihr hier wieder die Welt aus den Angeln heben wollt.«
»Panzer sind übrigens ein ganz gutes Stichwort, Elma«, sagte Louis lächelnd zu seiner Schwägerin. »Ich habe einige Skizzen gemacht, während ich auf das Kriegsende wartete: die Idee zu einer ganz besonderen Uhr.«
»Aber Louis, die Santos wird sich doch noch gut verkaufen. Auch jetzt nach dem Krieg«, wandte Jacques ein.
»Möglich. Ich glaube jedoch, mit dieser neuen Uhr werden wir einen weiteren großen Coup landen. Ich nenne sie vorerst Tank, also Panzer-Uhr, weil sie von Panzerketten inspiriert ist.«
»Kommt ihr jetzt endlich?« Elma zog an Pierres Arm.
»Louis, wer will denn jetzt noch was von Panzern wissen?« Pierre versuchte sich dem Griff seiner Frau zu entziehen. »Davon haben wir doch nun alle genug.«
»Jetzt reicht es aber! Nelly wartet bereits drinnen auf uns. Und auch Sie wollen doch sicher endlich mal wieder tanzen, nach so langer Zeit, nicht wahr?«, wandte sich Elma an Jeanne, offenbar auf der Suche nach einer Verbündeten und schon viel weniger ablehnend als zuvor. »Helfen Sie mir mit diesen sturen Männern hier!«
Erfreut, derart einbezogen zu werden, lachte Jeanne und hakte sich bei Louis unter, um ihn in Richtung der Eingangstür zu ziehen. Er ließ es widerstrebend geschehen, rief aber über die Schulter zu seinen Brüdern zurück: »Vertraut mir, die Idee mit der neuen Uhr ist gut. Ich werde sie euch morgen präsentieren.«
»Morgen!« Pierre nickte und ließ sich nun ebenfalls von Elma mitziehen. »Aber jetzt lasst uns feiern! Lasst uns das Leben genießen und unsere schöne Heimatstadt auch. Und lasst uns feiern, dass wir mit Cartier in ein ganz neues Kapitel starten dürfen. Wir werden erfolgreich sein und allen Schwierigkeiten trotzen. Vive la France! Vive la Maison Cartier!«
»Wie viel Champagner hast du bloß schon getrunken, Pierre, Liebster?«, fragte Elma nun nach. »Mir scheint, er steigt dir etwas zu Kopf. Komm, wir wollen das Prickelwasser wegtanzen!« Damit lotste sie ihn endlich hinein in die Brasserie.
Jeanne folgte mit Louis und Jacques.
JEANNE, La Maison Cartier, Rue de la Paix, am nächsten Morgen
Ein wenig schwer war der Kopf noch, als Jeanne am nächsten Morgen die mondäne Rue de la Paix im Herzen von Paris entlangschritt, denn die gestrige Feier in der Brasserie Lipp war noch bis in die frühen Morgenstunden weitergegangen. Was hatten sie geschunkelt, gelacht, getanzt! Als ob sie in einer einzigen Nacht all die verlorenen Jahre aufholen könnten.
So sehr hatte sie den Tanz mit Louis genossen, seine Wärme, seine Liebkosungen, seine Lippen an ihrem Ohr, wenn er ihr zärtliche Worte und später auch einige Frivolitäten zugeflüstert hatte. Und so sehr hatte sie den Zauber dieser ersten Nacht gespürt, die sie zusammen in ihrer kleinen Wohnung am Montmartre verbracht hatten. Die kleine Wohnung, die sie immer noch bewohnte, obwohl sie sich inzwischen eine größere in einer besseren Gegend leisten konnte. Aber sie hing an diesem Viertel und Monalisa, ihre Katze, wohl auch, denn die Streifzüge durch die Pigalle schien sie sehr zu lieben. Noch immer gab es den Fischhändler ein paar Straßen weiter, der ihr gelegentlich eine Sprotte reichte. Noch immer grünten und blühten die Gemüsebeete von Madame Gerat, in denen sich manche Maus tummelte, und noch immer gab es die Kinder in der Nachbarschaft, die sie mit Streicheleinheiten verwöhnten. Und vielleicht wohnte in der Nachbarschaft auch der ein oder andere Straßenkater, der sie umgarnte.
Nein, noch war Jeanne nicht bereit, ihr kleines, nicht gerade feines Domizil auf der Pigalle zu verlassen. Auch wenn sie möglicherweise nicht mehr so gut in die Gegend passte wie noch in den Jahren vor dem Krieg.
Als sie unter der eleganten Markise nun endlich das Portal mit dem schwarzen Marmor erreichte und La Maison betrat, überkam sie ein wahres Glücksgefühl. Sie durchquerte mit beschwingten Schritten den Salon, bewunderte wie immer die Vertäfelungen, die Lunetten-Malereien über den Türen und den dicken indischen Teppichboden. Nachdem der Salon die vergangenen Jahre so verwaist gewesen war, freute sich Jeanne umso mehr, als sie feststellte, dass nicht nur Louis, der heute Morgen bereits früh bei ihr aufgebrochen war, die Waren einräumte, sondern auch sieben weitere Mitarbeiter anwesend waren, als sei es selbstverständlich.
Sie wusste, dass niemand informiert worden war, wieder zur Arbeit zu erscheinen; die Arbeitsverträge aus den Jahren vor dem Krieg waren wohl auch gar nicht mehr gültig, überlegte sie. Aber diejenigen, die unversehrt aus den Gefechten zurückgekehrt waren, hatten sich an diesem Tag offenbar hier eingefunden. Fein gemacht in Arbeitsanzügen, die die ganzen Jahre über in der Mitarbeitergarderobe auf sie gewartet hatten, und mit gewienerten Lackschuhen. Sogar die typischen blauen Einsteck-Kornblumen hatten sie irgendwo aufgetrieben und trugen sie stolz im Revers zum gezuckerten Haar.
Welch eine Freude! Jeanne ging herum, drückte jedem Mitarbeiter die Hand und hieß ihn herzlich willkommen. Denn selbstverständlich wussten die Männer, dass sie hier die Stellung gehalten hatte.
Louis war währenddessen an seiner Vitrine schon fast mit Dekorieren fertig. Nach einem letzten Blick auf die Auslage schob er die Vitrine zu und klatschte in die Hände, worauf sich alle Mitarbeiter ihm zuwandten. »Meine Herren, wir dürfen nun in eine neue Ära starten, und das tun wir mit Freude. Ich bin glücklich, Sie alle hier zu sehen.«
Die Männer murmelten und lächelten, und Monsieur Direr, der Älteste und Erfahrenste unter ihnen, klopfte seinen Kollegen auf die Schultern. Aber sie sahen sich auch ein wenig unsicher in der Runde um. Einer fehlte.
Louis nickte, als er die Blicke sah, und wurde ernst. »Leider ist unser Viktor nicht anwesend, Sie haben es bemerkt.« Er schaute auf den Boden, trotzdem wurde offensichtlich, dass er mit den Tränen kämpfen musste. »Seine Frau hat mich per Post informiert, dass er bereits vor gut einem Jahr in den Kämpfen gefallen ist. Es tut mir leid, Ihnen das mitteilen zu müssen.« Seine Stimme wurde immer leiser. »Lassen Sie uns eine Schweigeminute für unseren geschätzten Kollegen einlegen, der uns all die Jahre jeden Tag hier erfreut hat.«
Alle senkten die Köpfe. Nur das Ticken der vielen ausgestellten Uhren war zu hören, bis Louis nach einer Minute wieder die Stimme erhob: »Er wird immer in unseren Herzen wohnen, unser Viktor. Aber nun müssen wir nach vorne schauen.« Er nickte, wie um sich selbst zu bestärken. Manch ein Mitarbeiter wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel, als Louis schon weitersprach: »Selbstverständlich werden wir Ihnen allen im Laufe der Woche neue Verträge aushändigen. Lassen Sie uns jetzt aber zunächst in einen spannenden ersten Verkaufstag starten. Ich hoffe, dass wir bereits einige Kunden begrüßen dürfen, die vielleicht, so wie wir, eine frische Brise spüren und mutig in ein neues Leben starten wollen – mit einem wunderbaren Schmuckstück von Cartier für ihre Liebste, die sie nun nach so vielen Jahren wieder in die Arme schließen dürfen. Außerdem beginnt demnächst die Weihnachtssaison, und ein Ring oder ein Kettenanhänger von Cartier war noch nie falsch für diesen Anlass, nicht wahr?« Er nickte freudig und gab Jeanne vor allen Anwesenden einen Kuss auf die Wange. Sie schob ihn kopfschüttelnd, aber mit einem Lächeln von sich. Solche Situationen waren ihr immer noch unangenehm, auch wenn sie im Stillen darauf hoffte, dass Louis eines Tages, der vielleicht schon bald käme, sich ein Herz fassen würde und ihre Liaison legitimieren würde, da der Krieg nun vorbei war und das Leben neu begann.
»Auf, auf, meine Herren, lassen Sie uns verkaufen!«, rief Louis nun euphorisch in die Runde. »Wir haben sehr viel Restbestände im Angebot, aber lassen Sie sich versichern, auch während des Krieges haben wir im Kopf nicht geruht, sodass bald neue Kreationen auf den Markt kommen werden.«
Die Männer klatschten und wandten sich dann ganz geschäftsmäßig ihren traditionellen Aufgaben zu, während Louis Jeanne einhakte und mit ihr den Salon verließ, um die Rue, auf der wieder deutlich mehr Automobile fuhren, zu überqueren und sich auf dem gegenüberliegenden Trottoir durch die Passanten zu schlängeln, die zur Arbeit oder zu ihren Besorgungen eilten, ganz so, als sei die letzten Jahre nichts geschehen. Sie erreichten den Hauseingang mit der Nummer vier über der Tür und stiegen sogleich die Treppen hinauf in Richtung Atelier, zu Jeannes ehemaliger und nun wieder aktuellen Arbeitsstätte.
»Aber halt, lass uns vorher noch in der Werkstatt vorbeischauen«, sagte Louis, nahm Jeannes Hand und drückte sie, bevor er die Tür zur Werkstatt mit ihren langen Werkbänken aufstieß. Vermutlich fragte er sich genau wie sie, wie viele der Plätze leer bleiben würden, wie viele der Goldschmiede und Edelsteinschleifer es nicht geschafft hatten und im Schützengraben oder im Lazarett geblieben waren. Mit Erleichterung konnten sie aber sogleich feststellen, dass die Werkbänke heute Morgen bereits zu zwei Drittel besetzt waren. Obwohl Louis und Jeanne leise eintraten, wurden sie sogleich bemerkt, die Mitarbeiter stießen einander an, dann brandete gar Beifall auf. Die Freude über das Quäntchen Normalität, das sich heute Morgen einstellte, waren auch hier greifbar.
Louis ging von einem zum Nächsten und gab jedem die Hand, während Jeanne schon Nicole an ihrem Platz entdeckt hatte, die einzige weibliche Goldschmiedin des Hauses, mit der sie gemeinsam den Krieg durchgestanden und La Maison über Wasser gehalten hatte, während die Männer in der Ferne gekämpft hatten. Nicole, mit der sie damals vor dem Krieg diese verrückte Teilnahme am Design-Wettbewerb ausgetüftelt hatte, bei dem sie mit la panthère für Cartier sogar gewonnen hatten.
Natürlich wusste sie, dass Nicoles jüngster Sohn in den letzten Kriegsmonaten gefallen war. Sie umarmte die inzwischen gute Freundin also nur stumm und drückte sie, um ihr zu zeigen, dass sie mit ihr trauerte, dass sie sich aber umso mehr freute, sie heute wieder auf ihrem alten Platz zu sehen.
Nicole lächelte matt zu ihr hinauf. »Nun geht es wieder los, was? Als ob nichts passiert wäre.« Ihr stiegen Tränen in die Augen.
Jeanne legte ihr tröstend die Hand auf die Schulter. »Woran arbeitest du, Nicole?«, fragte sie, um sie abzulenken. »Gibt es bereits einen neuen Auftrag?«
Nicole schüttelte den Kopf. »An diesem Ring aus Gelbgold mit dem Smaragd habe ich gearbeitet, als der Krieg losging. Ich habe ihn im Kästchen unter meiner Werkbank aufbewahrt. Denn ich wusste im Inneren, dass ich ihn eines Tages genau hier weiterbearbeiten würde.«
»Und dieser Tag ist heute«, sagte Jeanne lächelnd, während Nicole schon die Feile nahm und an dem Goldring Hand anlegte.
»Dieser Tag ist heute«, bestätigte Nicole. »Ich werde das Stück jetzt fertigstellen. Danach hoffe ich auf frische Ideen von euch aus der Designabteilung. Schließlich bricht nun eine neue Ära an, und ich bin gespannt, wie wir von Cartier das ausdrücken werden.«
Wir von Cartier! Es war doch wirklich etwas Besonderes, hier arbeiten zu dürfen. Das empfand nicht nur Jeanne so und auch nicht nur Nicole. Wenn sie sich in der Werkstatt umschaute, wie eifrig und freudig die Männer die seit Kriegsbeginn liegen gebliebene Arbeit wieder aufnahmen, war sie sich sicher, dass alle das Gleiche fühlten und mit Zuversicht und Hoffnung auf die kommenden Zeiten schauten.
Nachdenklich verließ Jeanne die Werkstatt, gefolgt von Louis stieg sie hinauf ins Atelier.
Und wer stand dort bereits an seinem Zeichentisch, als ob er nie fort gewesen wäre? Akkurat in seinem Anzug mit Bügelfalte und vermutlich schon seit 5.30 Uhr bei der Arbeit, wie eh und je?
»Moreau!«, rief Louis. »Wie gut, Sie unversehrt zu sehen!«
Der alte Chefdesigner verzog keine Miene, als er hochblickte und Louis und Jeanne gemeinsam eintreten sah. »Guten Morgen, Monsieur Cartier«, grüßte er Louis und vermied es, mit Jeanne auch nur Augenkontakt aufzunehmen. Die alte Feindschaft schien nicht vergangen, dachte Jeanne und ballte innerlich die Fäuste.
»Mein lieber Moreau!« Louis eilte auf ihn zu und umarmte seinen langjährigen Mitarbeiter, was dieser mit hängenden Armen über sich ergehen ließ. Ein besonders nahbarer Typ war er eben noch nie gewesen, dachte Jeanne.
»Guten Morgen, Monsieur Moreau«, zwang sie sich zu sagen.
»Mademoiselle Toussaint«, murmelte er, gefolgt von einem kurzen Kopfnicken.
Sofort wandte er sich wieder an Louis. »Monsieur Cartier, ich habe eine Menge an Ideen gesammelt. Ich werde kaum hinterherkommen, sie zu skizzieren.«
Louis nickte. »Geht mir genauso. Und Mademoiselle Toussaint ebenfalls. Wir werden diese Woche über zeichnen und zeichnen und uns Ende der Woche zusammensetzen, um einen Plan zu entwickeln, was wir wann realisieren werden und wie wir die Ideen in Kollektionen fassen können.«
Es war so erleichternd, sofort zum Geschäft überzugehen, dachte Jeanne. Denn niemand, absolut niemand wollte über seine Erlebnisse während der letzten vier Jahre reden. Alle wollten weitermachen wie zuvor und in ihr Leben zurückkehren.
»Ich verabschiede mich jetzt und wünsche euch einen guten Arbeitstag«, sagte Louis und zog sich schon zurück. »Vertragt euch!« Gleich darauf hörten sie, wie er mit schnellen Schritten die Treppe hinunterlief.
»Haben Sie denn schon bei Ihrer Freundin Coco Chanel vorbeigeschaut?«, wandte sich Moreau nun doch an Jeanne. »Wie man hört, plant sie eine gewaltige Wiedereröffnungsfeier für ihren kleinen Hutsalon in der Rue Cambon.«
Jeanne ärgerte sich über seine Herablassung, aber er würde schon noch sehen, wie ihre Freundin Coco mit ihrer »kleinen« Boutique Erfolg haben würde. Deshalb antwortete sie ganz ruhig: »Natürlich. Sie steigt schon heute Abend. Tout Paris wird dort sein.«
Und Sie nicht, Moreau!
»Ich für meinen Teil ziehe es vor zu zeichnen«, sagte Moreau prompt. »Außerdem plane ich einen ganz besonderen Coup, der für das Haus Cartier hohe Wellen schlagen wird.« Er machte eine kurze Kunstpause. »Und der mich hausintern noch weiter von Ihnen, verehrte Mademoiselle Toussaint, absetzen wird.«
Elender Angeber!, dachte Jeanne und bemühte sich gar nicht erst, seine rätselhaften Andeutungen zu interpretieren, sondern begab sich an ihren Zeichentisch und legte ihre Stifte und das Papier zurecht. Was Cocos Party betraf, bezweifelte sie stark, dass die Freundin den mürrischen Chefdesigner überhaupt zu ihrer Party eingeladen hatte. Es war das gesellschaftliche Ereignis heute Abend, und natürlich würde sie hingehen. Sie wollte doch Coco und ihre anderen Freunde endlich wiedersehen. Umso schöner, dass es bei einem so freudigen Anlass war.
Ob Misia und Cocteau es auch schaffen würden? Von ihnen hatte sie lange nichts mehr gehört, sie wusste nur, dass sie sich während des Krieges stark in der Sanitätshilfe engagiert hatten. Ja, sie hoffte so sehr, auch diese beiden unversehrt und gewohnt frivol anzutreffen. Sie musste schmunzeln, wenn sie an Cocteaus frühere Auftritte und frechen Sprüche dachte.
Aber, oh! Plötzlich schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf: Was sollte sie eigentlich anziehen?
Und sofort musste sie lächeln. Denn wie schön war es, dass solch eine vermeintlich banale Frage, die die vergangenen vier Jahre nie in ihre Überlegungen vorgedrungen war, weil sie so nichtig gewesen war – dass diese Frage nun also wieder ihre Gedanken kreuzte und plötzlich enorm wichtig erschien.
JEANNE, Party bei Coco Chanel, am selben Abend
Durch einsetzenden Nieselregen eilte sie in dem engen schwarzen Satinkleid, den hochhackigen, vorn spitz zulaufenden Pumps und ihrem guten alten Panther-Mantel in die Rue Cambon und konnte es kaum erwarten, die Freundin in die Arme zu schließen. Schließlich hatten sie sich seit dem Streit damals in La Maison, als Coco von ihren Plänen berichtet hatte, mitten im Krieg eine Boutique in Biarritz zu eröffnen, nicht mehr gesehen. Aber sie hatten sich trotz alledem Briefe geschrieben, in denen sie ihre Meinungen zu diesem Thema weitestgehend ausgeklammert hatten und in denen deutlich geworden war, dass ein solcher Streit ihre Freundschaft nicht erschüttern konnte.
Jeanne hatte sich für Coco gefreut, als diese bekundete, dass die reichen Leute, die den Krieg im südlichen Frankreich in ihren Ferienhäusern aussaßen, tatsächlich noch Muße und Geld hatten, um bei Coco einkaufen zu gehen. Vielleicht hatte die Freundin sogar recht gehabt, dachte sie nun bei sich, dem Krieg in dieser Form die Stirn zu bieten: indem sie sich ihm nicht beugte, sondern so tat, als ob er nicht existierte und zumindest einer gewissen Gesellschaftsschicht Gelegenheit zum Eskapismus gab.
Jetzt jedenfalls bestand aller Grund, auch in Paris wieder neu durchzustarten. Und das tat Coco!
»Meine Liebe!«, rief sie, sobald sie Jeanne erblickte, und schritt ihr mit ausgebreiteten Armen über den schwarz-weißen Marmorfußboden entgegen, während der Klang der Absätze ihren Gang energisch unterstrich. Von Fuß bis Kopf folgte sie ihrem liebsten Farbkonzept: Sie war in ein weißes Seidengewand gehüllt, eine Abwandlung ihres damals vor dem Krieg so erfolgreichen Strandpyjamas, wie es Jeanne erschien. Das schwarze Haar war zu einer modischen Bob-Frisur gestylt, und nur ein breiter Armreifen in Gold sowie der dunkelrote Lippenstift setzten Kontraste.
»Willkommen! Endlich geht das Leben weiter, ich konnte es kaum erwarten!«, fuhr sie fort. »Eine solche Sache wie die letzten vier Jahre ruiniert die Laune, den Teint und das Geschäft!« Sie küsste die Freundin auf die Wangen. »Aber jetzt geht es wieder aufwärts, was?«, sagte sie, zwei Gläser Champagner vom Tablett des Kellners angelnd, der ihr wie ein Schatten gefolgt war. »Auf die neue Zeit!«
Sie stießen an, während Jeanne den Blick über das neu gestaltete Interieur der Boutique schweifen ließ, sofern es die vielen Gäste und die Kellner mit ihren Tabletts, auf denen nun auch feinste Kanapees zu erkennen waren und Jeannes Magen zu einem leisen Knurren anregten, es zuließen. In schwarzen Lackregalen und Schränkchen wurden die Waren präsentiert: nicht mehr nur Hüte wie vor dem Krieg, nein, Coco hatte einige Teile ihrer Strandkollektion mit in die Hauptstadt gebracht. Die Hosenanzüge mit dem weiten Bein, die Seidenpyjamas, die bretonischen Ringelhemden, das alles kannte Jeanne schon aus der Boutique in Deauville. Aber sie musste feststellen, dass sie auch hier bella figura machten, und war sich sicher, dass Coco mit diesem Angebot die neuen Zeiten gut treffen würde.
»Und was ist mit Biarritz?«, fragte Jeanne, während sie nach einem Schnittchen griff, das mit Thunfisch und Oliven sehr ansprechend aussah.
»Pass aber auf, dass du nicht auf die Ware kleckerst«, zischte Coco ihr doch tatsächlich zu. »Ich habe lange überlegt, ob ich überhaupt Häppchen anbieten soll. Aber man will sich ja nicht lumpen lassen.«
Jeanne lachte und biss herzhaft in das Kanapee. Was Coco sich immer für Gedanken machte!
»Was soll mit Biarritz sein?«, fuhr Coco nun fort. »Die Boutique läuft hervorragend, ich habe dort drei Verkäuferinnen eingestellt. Im Geschoss über dem Laden richte ich eine Nähwerkstatt mit bald fünfundzwanzig Näherinnen ein. Es war goldrichtig, diesen Standort zu wählen. Die Leute haben sich doch in ihren Sommerhäusern schrecklich gelangweilt, während sie nicht zurück nach Hause konnten. Und ehe du fragst: Auch in Deauville gehen die Geschäfte nun wieder los. Die Gäste wollen schließlich ins Casino und auf die Promenade, nicht wahr?«
»Absolut richtig!«, vernahm Jeanne eine dunkle Stimme mit russischem Akzent und drehte sich um. Der Ballettimpresario Dagilev war in einem langen Zobelmantel eingetreten, dicke Ringe an den Fingern und dazwischen eine Zigarre. »Schluss mit der Trübsal, Schluss mit dem Grauen. Wir brauchen Lebensfreude und Kultur!«
Coco begrüßte ihn stürmisch. »Wann können wir zu einer Premiere von dir kommen, mein Lieber? Ich berate dich gern wieder bei den Kostümen!«
Der beleibte Freund lachte. »So schnell wird es leider nicht gehen.« Er wurde schlagartig ernst. »Mir sind einige Tänzer von den Deutschen ermordet worden. Immerhin hat mein Nijinsky überlebt.« Er hatte Tränen in den Augen und wischte sich schnell darüber, denn trotz seiner schroffen Fassade wohnte in ihm bekanntermaßen ein weiches Herz. »Ich melde mich, wenn wir an eine neue Planung für die Ballets Russes gehen. Derweilen will ich mir aber deine Kreationen nicht entgehen lassen.« Er zog an seiner Zigarre und blies einen großen Rauchkreis in die Luft. »Kannst du mir nicht mal einen Stapel deiner Strandkleidung mitgeben? Ich mache sie unter meinen Landsleuten in Russland populär, wenn ich endlich wieder dort hinfahren kann. Wobei«, er wiegte den Kopf, »wenn ich mir das so anschaue, nicht böse sein, meine Liebe, aber ich fürchte, das ist für uns Russen etwas zu schlicht und zu bequem. Wo ist der Pomp? Wenn man schon so viel Geld für Kleidung ausgeben soll, dann muss man doch wenigstens sehen, dass es teuer war.«
»Mein Guter, du verstehst den französischen Geist eben nicht. Aber es macht nichts, ich verzeihe dir. Weißt du was, irgendwann werden deine Landsleute meine Kreationen kaufen, einfach weil mein Name draufsteht: CHANEL. Es wird der Inbegriff von französischem Chic sein. Und deshalb werden sie gern viel Geld dafür ausgeben.«
»Unter mangelndem Selbstbewusstsein leidest du also immer noch nicht«, sagte er lachend. »Aber das ist gut so. Und nun muss ich einmal schauen, was du, abgesehen von diesen Thunfisch-Schnitten, noch so aufgetafelt hast.«
Er verabschiedete sich zum Buffet, und Coco blickte sich im Raum um. »Wo bleiben denn Cocteau und Misia? Sie wollten längst hier sein.«
Auch Jeanne konnte sie nirgends zwischen den vielen Gästen entdecken, aber sie war sich ziemlich sicher, dass sie auftauchen würden, auch wenn es während des Krieges manch angespannte Diskussion zwischen den Freunden gegeben hatte.
»Kommt Louis denn eigentlich?«, erkundigte sich Coco und schaute der Freundin forschend in die Augen. »Und was meinst du, wird er sich nun, da die Kriegswirren ausgestanden sind, endlich mit Ring, kirchlichem Georgel und allem Pipapo zu dir bekennen?«
»Coco!« Musste sie immer so direkt sein? Das war nun wirklich keine Frage, die man auf einer Party stellte. Und als ihre beste Freundin musste sie doch ahnen, dass das Jeannes innigster Herzenswunsch war, und ein wenig sensibler damit umgehen, oder etwas nicht? »Nun lass uns erst einmal durchatmen und unser Leben wieder aufnehmen. Da kannst du nicht erwarten, dass er gleich als Erstes …«
»Falls er es nie tut, tröste dich. Auch ich bin bisher ohne Ehe gut durchs Leben gekommen. Und ich habe fast die Vermutung, dass das so bleiben wird«, sagte Coco und schwenkte damit glücklicherweise auf ihre eigene schwierige Liebesbeziehung um.
»Wird Boy dich jetzt nicht endlich fragen, da er nun geschieden ist?«, fragte Jeanne vorsichtig. Sie wollte Coco nicht verletzen, schließlich dauerte die Liebschaft mit dem englischen Polospieler und Lebemann schon viele Jahre, ohne dass Coco je seine offizielle Nummer eins gewesen war.
»Boy ist zwar von seiner Frau geschieden«, gab Coco prompt zurück. »Aber ob sie wirklich geschiedene Leute sind, das wage ich zu bezweifeln.«
»Wie meinst du das?«
»Quellen haben mir zugetragen, dass sie einander immer noch sehr zugewandt sind.« Coco schaute grimmig.
»Inwiefern?«
»Er wohnt weiterhin mit ihr zusammen. Und man sah sie erst vorgestern zu zweit in einem feinen Restaurant in Mayfair, innig und vertraut.«
»Oh.« Das war doch nicht die Möglichkeit!
Coco nickte. »Und deshalb rechne ich in nächster Zeit nicht mit einem Antrag. Außerdem würde ich einem solchen wohl kaum zustimmen. Ich will mich schließlich in meiner Freiheit nicht einschränken lassen, von keinem Dokument und von keinem Mann.«
Jeanne lachte. »Wenn du die Ehe da nicht ein wenig negativ bewertest. Aber ich verstehe und bin gespannt, wie ihr euch wieder versöhnt.«
»Oh, das Versöhnungswochenende ist schon geplant. Wir treffen uns in zwei Wochen in Deauville. Ich gehe davon aus, dass das eine ordentliche Versöhnungsfeier werden wird.« Sie lächelte verschmitzt. »Aber jetzt muss ich hier einmal die Runde machen und all meine Gäste begrüßen. Ach, schau, da kommen Misia und Cocteau endlich!« Sie winkte den beiden, die sich sogleich zu ihnen gesellten. Misia in einem langen Abendkleid aus grauer Seide, elegant wie immer. Und Cocteau mit seinen wilden schwarzen Haaren, die ihm zu Berge zu stehen schienen, und im Anzug, der an ihm wie ein Pyjama wirkte und sehr zerknittert war, dafür aber ein feines seidenes Einstecktuch aufwies.
»Na, ihr Krankenwagenfahrer. Kriegen wir denn unsere Geschäftswagen jetzt wieder zurück?«, fragte Coco gleich als Erstes statt einer ordentlichen Begrüßung.
Dass Misia und Cocteau während des Krieges herumgegangen waren und alle Lieferwagen der Gegend beschlagnahmt und zu Krankenwagen umgerüstet hatten, um an der Front verwundete Soldaten zu versorgen, nahm sie offensichtlich immer noch schwer mit.
»Deiner ist leider zerschossen worden, Coco, entschuldige«, sagte Misia und lächelte schräg. »Aber der von Cartier kommt in den nächsten Tagen. Ein wenig ramponiert, aber er hat uns gute Dienste erwiesen. Vielen Dank, Jeanne.« Sie umarmte die Freundin und bemerkte deren Ohrringe. »Aha, die guten Tahitiperlen trägst du immer noch so gern? Ich dachte, dein Geschmack hätte sich im Krieg vielleicht ein wenig gewandelt.«
»Warum sollte er?«, gab Jeanne zurück und kehrte schnell zum Thema Lieferwagen zurück. »Ihr fahrt ihn mir bis vor die Tür, ja? Wir haben wieder Bestellungen zu erwarten. Wir brauchen ihn dringend.«
»Und mein Wagen ist zerschossen?«, empörte sich Coco. »Ich nehme nicht an, dass ihr ihn mir ersetzen werdet?«
Cocteau grinste. »Als armer Künstler, der seit Jahren keine Möglichkeit mehr hatte, etwas zu verkaufen oder ein Theaterstück zu inszenieren, würde das mein Budget leider komplett sprengen. Was mich gleich zu der wichtigsten Frage des Abends bringt: Wo ist das Buffet?«
Coco gab ihm lachend einen Hieb in die Seite. »Also, war das doch die richtige Entscheidung mit den elenden Thunfisch-Häppchen«, sagte sie und hakte sich bei ihm ein, um ihn zum Buffet zu lotsen.
Misia zündete sich eine Zigarette in ihrer langen Elfenbeinspitze an und blies den Rauch in die Luft. »Endlich können wir wieder feiern, was, Jeanne? Endlich geht das Leben weiter.«
Jeanne wiegte den Kopf, sagte aber nichts. Sie wollte mit der Freundin nicht als Allererstes in eine schwierige Diskussion einsteigen, denn irgendwie fehlte ihr der Glaube daran, dass das Leben wirklich einfach so weitergehen würde wie zuvor. Zum Glück entdeckte sie in diesem Moment Louis, der das Geschäft betrat und die Partyszene inspizierte. Sie vergaß vorerst alle negativen Gedanken und freute sich auf diesen Abend an seiner Seite. Im Herzen von Paris. In Frieden.
Misia verabschiedete sich taktvoll in Richtung Buffet, als sie Louis auf Jeanne zusteuern sah. Aber kurz bevor Louis sie erreichte, schob sich eine andere Person zwischen sie. Ein Mann mit pomadisiertem schwarzem Haar, spitzem Bart und Augen wie Smaragde – Augen, die sie nur zu gut kannte! Auch wenn es schon etliche Jahre her war, dass sie sie gesehen hatte. Sie merkte, wie ihre Knie weich wurden.
»Bonsoir, Jeanne«, sagte er, und sofort ließ ihr der Klang seiner tiefen, samtigen Stimme einen Schauer über den Rücken kriechen. Bilder aus der Vergangenheit explodierten wie ein Feuerwerk in ihrem Kopf: Afrika, die Panther, die Safari, der Verlobungsring, die Wildhüter, der Brief seiner ach so feinen adligen Eltern mit der brüsken Ablehnung, immer wieder die Smaragdaugen, dann die Schmach, die Trauer, die Wut.
»Bernard, was willst du hier?«, zischte sie. »Ich bin mir sicher, dass Coco dich nicht eingeladen hat.« Wie erfolgreich hatte sie die ganze unsägliche Geschichte inzwischen verdrängt und vergessen! Was tauchte er nun hier auf?
»Ich brauche keine offizielle Einladung, denn ich habe eine geheime Mission: dich zurückerobern«, flüsterte Bernard ihr ins Ohr.
Sie wich zurück, gerade als Louis sie endlich erreichte.
»Guten Abend«, sagte er und schaute leicht irritiert von Jeanne zu Bernard. »Platze ich hier in etwas hinein?«
»Aber nein«, beeilte sich Jeanne zu versichern und zog Louis mit sich fort; Bernard blieb zurück. »Ein alter Bekannter aus meiner Anfangszeit in Paris.«
»Er wirkte ein wenig aufdringlich.« Louis sah ihr forschend in die Augen.
Sie wich seinem Blick aus. »Keine Sorge. Es ist alles in Ordnung.« Sie sah aus dem Augenwinkel, wie Bernard sich Richtung Ausgang bewegte. Hoffentlich hatte er an ihrer Reaktion gemerkt, dass seine »Mission« aussichtslos wäre.
»Das hoffe ich«, sagte Louis und führte Jeanne zum Buffet.
Als sie etwas später von ihrem Teller aufschaute und den Raum sondierte, war von Bernard nichts mehr zu sehen. Sie hörte Cocos forsche Stimme, als die Freundin sich mit ihren Gästen unterhielt, das fröhliche Geplauder rundherum, das Klirren der Gläser und ab und an ein Lachen.
Fast kam es ihr so vor, als ob sie sich die Begegnung nur eingebildet hätte.
JACQUES CARTIER, London, New Bond Street, Ende November 1918
Wie durch ein Wunder war das Geschäftshaus in Mayfair von den Bomben, die unablässig gefallen waren, unversehrt geblieben. Dankbar hatten sie den Betrieb nun wieder aufgenommen. Wie erfrischend war es, nach all dem Grauen etwas so Normales zu tun, wie Juwelen zu ordnen und auf den samtenen Tableaus anzuordnen, dachte Jacques und freute sich über seinen eigenen Wohlgeruch nach dem morgendlichen Duschbad und das steif gebügelte Hemd aus der Saville Row mit den Manschettenknöpfen, das deutlich bequemer war als die grobe französische Uniform, mit der er so lange in der Kavallerie gedient hatte.
Er musste husten, als er sich aus gebückter Haltung aufrichtete und sein Werk betrachtete: die Saphir-Ohrringe, die Kette mit dem Saphir-Anhänger in Tropfenform und der breite Ring mit einem ebensolchen Stein – das war ein schönes Ensemble, das sie bestimmt bald verkaufen würden. Wie oft hatte er auf dem Rücken seines Pferdes inmitten von Schlachtfeldern von den Schmuckstücken geträumt, um sich abzulenken. Er hatte in Gedanken rekapituliert, was in den Tresoren lag und wie man es für den Verkauf anordnen konnte. Es war seine Art des Patience-Legens geworden – ein perfektes Arrangement für ein Schaufenstertableau ersinnen –, dann hatte er den Stapel Schmuckstücke in Gedanken abräumen können.
Er hustete noch einmal, spürte, wie seine Lunge schmerzte. Er hatte Glück gehabt, das wusste er natürlich, andere Kameraden waren bei dem Giftgasanschlag ums Leben gekommen. Dass er überlebt hatte und sich in dem Schweizer Sanatorium so lange hatte auskurieren dürfen, verdankte er vielleicht auch einem goldenen Armband von Cartier, das sein Führungsoffizier vor vielen Jahren seiner Frau geschenkt hatte und das diese mit Vorliebe trug.
Trotzdem hatte das Giftgas ihn stark getroffen. Er wusste nicht, was in seiner Lunge vorging, und die Ärzte wussten es auch nicht so genau. Die Hauptsache war, dass sie ihn so weit wiederhergestellt hatten, dass er zu seiner Familie hatte zurückkehren können, zu Nelly, Dorothy und der kleinen Alice, die während des Krieges geboren worden war.
Und nun, an seinem ersten Arbeitstag, merkte Jacques, dass er bereit war, mit Schwung wieder ins Geschäft hineinzustarten. Mit weniger Schwung als vor dem Krieg, musste er feststellen, denn die körperlichen Kräfte waren noch nicht ganz wieder da. Aber es würde schon gehen. Und schließlich – der Laden musste laufen, nicht wahr?
Er bemerkte Miss Winter, die von hinten an ihn herangetreten war, und drehte sich um. Sie blickte ein wenig irritiert, wie ihm schien, auf sein nun leicht grau schimmerndes, dünner gewordenes Haar, das vor vier Jahren kastanienbraun und beinahe dick wie Pferdehaar gewesen war. Zudem hatte er es erst gestern schneiden lassen, sodass es nun recht kurz war.
Miss Winters rote Mähne hatte den Krieg überdauert, schließlich war sie noch jung, noch immer nicht einmal dreißig Jahre alt, überlegte Jacques. Aber auch sie wirkte reifer als zuvor, was sich äußerlich nicht zuletzt daran zeigte, dass sie aus ihren langen Locken einen modischen halblangen Bob gezaubert hatte. Jacques wusste nicht so recht, ob ihm das gefiel. Andererseits ging es ihn gar nichts an, war er doch nur ihr Chef – endlich wieder, denn während des Krieges hatte sie in einer Munitionsfabrik geschuftet.
»Möchten Sie einmal schauen kommen?«, sagte sie, und ihr Strahlen bewies ihm, wie sehr sie diese Aufgabe genossen hatte.
Natürlich ging er gern mit und betrachtete zufrieden, wie sie die Vitrine am Fenster in winterlicher, festlicher Weise geschmückt hatte, sodass die Juwelen, Uhren, Miniaturen und Diademe perfekt zur Geltung kamen. Sie hatte Mistelzweige und Granatäpfel dafür verwendet, und als er sie fragte, wo um alles in der Welt sie die Granatäpfel herhabe, erklärte sie lächelnd, sie habe ihre Quellen, bevor ihr Lächeln erlosch.
»Wissen Sie, was mich trotz der Freude über das Ende des Krieges irritiert, Monsieur? Es geht alles sofort weiter, als ob nichts gewesen wäre. Alles«, sagte sie finster. »Nicht nur Granatäpfel kann man wieder finden, sondern sogar die Ungleichbehandlung von uns Frauen setzt postwendend wieder ein. Obwohl wir doch die Wirtschaft am Laufen gehalten haben, als ihr Männer nicht da wart, nicht wahr?«
Jacques wiegte den Kopf. Er konnte ihr nicht widersprechen. Die Frauen hatten das öffentliche Leben aufrechterhalten, hatten die Busse gelenkt und die U-Bahnen gesteuert. Hatten in den Fabriken gearbeitet und Familienbetriebe weitergeführt, so wie Nelly das Geschäft hier in London und diese Jeanne, von der er immer noch nicht überzeugt war, La Maison in Paris.
»Und noch immer dürfen wir jungen, besitzlosen Frauen nicht wählen«, lamentierte Miss Winter. »Es deutet auch nichts darauf hin, dass irgendjemand sich dieses Themas einmal ernsthaft annehmen wollte. Und nun, wo die Männer wieder da sind, geht es für uns zurück an den Herd? Ist das so?«
»Ganz so negativ würde ich das nicht sehen, Miss Winter. Immerhin ist das Heim eine ruhigere Zone, in der …«
Miss Winter unterbrach ihn mit schneidender Stimme: »Mit der die Frauen sich jetzt wieder zufriedengeben sollen? Aber nein, Monsieur Cartier, das werden wir nicht! Wir werden wieder auf die Straße gehen müssen, um unser Recht einzufordern. Ich fürchte, es wird nicht mehr möglich sein, uns derart zurückzusetzen.«
Bon Dieu, dachte Jacques, sie war also immer noch so verbohrt wie vor dem Krieg. Gut, dass wenigstens seine Frau Nelly nicht darauf bestand, dass nun alles anders werden müsse. Sie wirkte glücklich damit, wieder im Landhaus in Sussex zu weilen, und hatte bisher in keiner Weise verlauten lassen, dass sie ihre Zeit hier im Laden vermisste.
»Jedenfalls ist Ihnen die Dekoration des Schaufensters ganz formidabel gelungen, Miss Winter, vielen Dank!« Damit wandte Jacques sich ab, um hinten im Büro weiterzumachen, wo sich der gute alte Mister Mosley liebenswürdigerweise schon eingefunden hatte, obwohl er seit diesem schrecklichen Überfall im Savoy Hotel erheblich eingeschränkt war. Aber er hatte auf Jacques’ Anfrage sofort reagiert und sich bereit erklärt, bei der Buchhaltung mitzuhelfen, solange Jacques beschäftigt wäre, die Kunden wieder in Kauflaune zu versetzen: »Wissen Sie, ehe ich in meiner Wohnung in Tottenham alleine herumsitze, komme ich doch lieber hierher. Es tut mir gut, ein wenig Gesellschaft zu haben und mich ein bisschen mit Zahlen zu beschäftigen. Das hält mich frisch.«
Jacques war froh über Mister Mosleys Einsatz und dachte wieder daran, welchen Wunsch er auf Jacques’ Drängen hin nach dem Unfall geäußert hatte: Er wollte einmal in seinem Leben zum Sommerfest der königlichen Familie im Garten des Buckingham Palasts eingeladen werden. Das war kein einfach zu erfüllender Wunsch, schließlich konnte man für dieses gesellschaftliche Ereignis nicht einfach Karten bestellen. Die Gäste wurden danach ausgesucht, was sie für die Gemeinschaft geleistet hatten. Kommenden Sommer wäre mit vielen Kriegsveteranen zu rechnen, dachte Jacques. Aber vielleicht, hoffentlich, fiele ihm ein Weg ein, damit auch Mister Mosley zu gegebener Zeit eine Einladung erhielte.
Er musste darüber nachdenken.
»Haben Sie denn schon etwas von Mister Kipling gehört?«, fragte Mosley in seine Gedanken hinein. »Geht es ihm besser?«
Tatsächlich hatte Jacques den Schriftsteller und alten Bekannten, mit dem er vor dem Krieg eine Indienreise zur Krönung des englischen Königs zum Kaiser von Indien unternommen hatte, erst gestern gesehen, als er einen kurzen Abstecher zum örtlichen Friseur unternommen hatte. Rudyard hatte auf dem Stuhl neben ihm Platz genommen, befand sich doch sein Anwesen »Batemans« in einem Nachbarort, nicht weit von Jacques’ und Nellys Landhaus entfernt. Während der gut halbstündigen Prozeduren, die zwei Friseure gleichzeitig an ihnen vornahmen, hatten sie Gelegenheit gehabt, sich ein wenig auszutauschen.
»Ja, er kommt verständlicherweise nicht über den Tod seines Jungen hinweg«, sagte Jacques, »und er wirkt zehn Jahre älter. Er erzählte mir, dass er sich neben der Schriftstellerei einer ernsten Aufgabe widmen möchte und sich in der Kriegsgräberpflege engagieren wird.«
Mosley nickte.
»Wenn man ihm nur etwas Gutes tun könnte«, überlegte Jacques laut und rollte gedankenverloren die Zeitung zusammen, die er heute auf der Herfahrt im Wagen nur kurz überflogen und dann auf dem Schreibtisch für später platziert hatte.
»Monsieur Cartier, in solch einer Lage gibt es keinen Trost«, erwiderte Mosley leise und veranlasste Jacques, ihm forschend in die Augen zu sehen. Auf einmal entdeckte er etwas, was er noch nie in dessen Blick gesehen hatte. Solange Mosley hier bei Cartier arbeitete, hatte er wenig Privates erzählt, war stets korrekt, höflich und humorvoll gewesen – aber, nun ja, auch distanziert, trotz aller Freundlichkeit. In diesem Moment konnte Jacques sehen, dass Mister Mosley ein Geheimnis mit sich herumtrug, das schwer wog. Er hatte immer angenommen, der alte Mosley sei ein glücklicher Eigenbrötler, ein Mann, der die Arbeit liebte, keine Familie hatte und gern zurückgezogen lebte.
Mister Mosley war auf seinem Schreibtischstuhl zusammengesunken und blickte auf die Hände in seinem Schoß. »Man erholt sich nie davon.«
Jacques setzte sich auf den Besuchersessel. »Mister Mosley, ich …«
Aber Mosley winkte ab. »Ich möchte davon nicht sprechen. Ich rate ihnen nur: Behandeln Sie Mister Kipling wie immer. Und lassen Sie ihm Zeit.«
Jacques nickte und blickte auf den gesenkten Kopf seines Mitarbeiters, ohne zu wissen, was er tun sollte.