Madame Exupéry und die Sterne des Himmels - Sophie Villard - E-Book
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Madame Exupéry und die Sterne des Himmels E-Book

Sophie Villard

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Beschreibung

Mit ihm lernten ihre Träume fliegen. Doch sie kamen den Sternen zu nah.

Paris 1930: Als die junge Malerin Consuelo auf einer Party Antoine de Saint-Exupéry kennenlernt, ist es Liebe auf den ersten Blick. Die temperamentvolle Mittelamerikanerin wird zur Muse des enigmatischen Piloten, der eigentlich viel lieber Schreiben und Zeichnen möchte. Aus seinen unsterblichen Gefühlen für sie entsteht »Der kleine Prinz«: Consuelo ist die über alles geliebte Rose, die der Prinz mit einer Glasglocke schützen möchte und an die er unentwegt denkt, auf welche fremden Planeten ihn seine Reisen auch führen. Das Buch macht Antoine in der ganzen Welt bekannt, doch das wahre Leben an seiner Seite ist alles andere als leicht. Consuelo kämpft mit seiner Untreue und dafür, als Künstlerin endlich aus dem Schatten ihres berühmten Mannes zu treten – bis Antoine 1944 zu einem schicksalhaften Aufklärungsflug über das Mittelmeer aufbricht …

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Seitenzahl: 506

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SOPHIE VILLARD ist das Pseudonym einer erfolgreichen deutschen Autorin. Die gelernte Journalistin und Politologin lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Dresden. Ihr Roman über die berühmte Kunstsammlerin Peggy Guggenheim stand auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. In ihrem neuen Buch widmet sie sich einer weiteren inspirierenden Frauenfigur, die es zu entdecken gilt: Antoine de Saint-Exupérys Ehefrau und Muse Consuelo, der wir die Geschichte des Kleinen Prinzen verdanken.

Außerdem von Sophie Villard lieferbar:

Peggy Guggenheim und der Traum vom Glück. Roman

Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.de und Facebook.

SOPHIE VILLARD

MADAME

EXUPERY

und die Sterne des

HIMMELS

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Roman enthält zahlreiche Zitate aus Antoine de Saint-Exupérys Der Kleine Prinz.

Diese stammen aus der Übersetzung von Grete und Josef Leitgeb, © 1950 und 2015 Karl Rauch Verlag, Düsseldorf.

Die Zitate (1) und (2) stammen aus Consuelo de Saint-Exupérys Memoiren Die Rose des kleinen Prinzen – Erinnerungen an eine unsterbliche Liebe, erschienen im Marion von Schröder Verlag.

Das Zitat (3) stammt aus: Alain Vircondelet und José Martinez Fructuoso, Antoine und Consuelo de Saint-Exupéry – eine legendäre Liebe, erschienen im Kunstmann Verlag.

Die Zitate (4) und (5) stammen aus Consuelo de Saint-Exupérys Sonntagsbriefe, erschienen im List Verlag.

Copyright © 2021 by Sophie Villard

Copyright © 2021 by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literaturagentur Hille und Schmidt

Cover: Favoritbüro

Covermotiv: © Elisabeth Ansley/Trevillion Images; © MM_photos/MeSamong/Dennis van de Water_Shutterstock

Redaktion: Susann Harring

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-26792-6V002

www.penguin-verlag.de

Für alle Erwachsenen, die noch Schafe in Kisten und Elefanten in Boas erkennen und Affenbrotbaumkeime ausreißen, wo sie sie entdecken.

Sophie Villard, 2021

»Meine kleine Frau, … ich werde Dich in schöne Länder führen, wo es noch ein bißchen Geheimnis gibt und der Abend frisch ist wie ein Bett und die Muskeln entspannt, und wo man die Sterne zähmt.«

Aus einem Liebesbrief von Antoine de Saint-Exupéry an Consuelo

Prolog

Geliebte Consuelo, meine Rose des Herzens dort im fernen New York,

ich schreibe Dir von meinem Feldbett aus, meinem einzigen Rückzugsort, seit ich von Dir fortgegangen bin, um der Rettung unseres geliebten Frankreich zu dienen. Die jungen Pilotenkameraden staunen weiterhin über meine Kartentricks und lauschen den Geschichten, die ich aus meinem Leben erzähle – von der Wüste, von den Vulkanen, von den Künstlercafés und von Dir. Ja, unsere Geschichte habe ich Ihnen ausführlich berichtet, mein Vögelchen, Deine und meine.

Ich bin nach meiner Genesung von dem dummen Treppensturz nun wieder für die Aufklärungsflüge eingeteilt. Morgen soll ich starten und die Küste vor Marseille fotografieren, die Küste meiner Familie. Die Küste unserer Liebe. Erinnerst Du Dich an unsere Zeit in El Mirador, als wir unter Pinien speisten und die Schiffe in der Bucht beobachteten? Für mich waren es die schönste Monate unserer Ehe, neben dem Sommer im Bevin House natürlich, im Haus des kleinen Prinzen, meinem möglicherweise letzten Paradies.

Du wunderst Dich sicher, warum ich so in der Vergangenheit schwelge. Nun, hier unter der gleißenden Sonne des Mittelmeers, zwischen den zwanzig Jahre jüngeren Kameraden, die sich die Zeit mit Liegestütze und Kniehebelauf vertreiben, bleibt einem nicht viel anderes, als sich in den Schatten des Lagers unter eine Zeltplane zurückzuziehen und zu träumen.

Meine liebe Rose, ich träume von Dir. Ich träume von uns. Was wir alles erlebt haben – in guten wie in schlechten Tagen. Ich bin Dir dankbar, meine Geliebte, dass Du es mit einem Träumer und Abenteurer wie mir so lange ausgehalten hast. Dreizehn Jahre, wer hätte das von uns gedacht?

Consuelo, wenn ich diesen Brief nun schließe, dann wisse, dass Du immer in meinem Herzen sein wirst. Du bist mein, und ich bin dein. Du warst und bist die Einzige. Die Einzige, die mein Herz bewegen konnte und mich zu Taten angespornt hat, die ich nicht für möglich hielt. Ich und mein Schweinehund, wir hätten es uns gemütlich gemacht, wenn Du nicht in mein Leben geplatzt wärst.

Mein Paradiesvögelchen, pass auf Dich auf. Ich werde bald zu Dir zurückkehren, sobald dieser furchtbare Krieg vorbei ist und Frankreich wieder unser Frankreich ist, befreit von den deutschen Barbaren. Dann werden wir endlich wieder am Boulevard Saint-Germain auf der Terrasse des Café de Flore sitzen und Pastis trinken, und dann werde ich Dir Millionen kleine Prinzen malen.

Aber meine Rose, falls mir dies nicht gelingt, wünsche ich mir eines von Dir: Bitte erzähle unsere Geschichte! So wie ich meinen jungen Kameraden von uns erzählt habe. Unsere Liebe soll den Menschen Ermutigung sein und zugleich auch Mahnung, wie schwer das Leben es uns manchmal macht. Sie soll zeigen, dass bei allen hochfliegenden Träumen und Plänen, bei allem Glamour und Ruhm, bei aller Wut und aller Zerstörung am Ende doch nur eines zählt: die Verbundenheit zweier Herzen in Liebe.

Ich liebe Dich, meine Rose. Bleibe behütet!

In ewig, Dein kleiner Prinz, Antoine

Alliierter Luftwaffenstützpunkt Borgo, Korsika, 30. Juli 1944

Im Haus des kleinen Prinzen, Eaton’s Neck, Long Island, Juli 1942

Der Condé-Bleistift mit der Kohlemine Nummer fünf huschte und kratzte über das Papier. Wie Consuelo dieses Geräusch liebte, que bonito, denn es bedeutete, dass Tonio endlich wieder mit Freude arbeitete! Sie trat an seinen Stuhl heran und ließ den Blick über die Palette von Bleistiften verschiedener Stärken auf der dunkelgrünen Lederunterlage des Schreibtisches vor ihm gleiten. Über das Notizbuch, den Kurbelanspitzer, den Wasserfarbmalkasten, die Pinsel bis zum Zeichenblock. Auf dem Teppich um den Papierkorb herum lagen zahlreiche zerknüllte Blätter – aber dort, auf dem obersten, frischen Skizzenblatt, an dem Tonio gerade zeichnete, lugte er doch schon hervor: dieser kleine Kerl, der stets ein wenig verloren in der Gegend herumstand. Der kleine Kerl mit dem blonden Strubbelhaar und der roten Schleife um den Hals: der kleine Prinz!

»Una taza de café!« Sie stellte das heiße, duftende Getränk, das sie unten in der Küche frisch für ihn gekocht hatte, neben die Remington-Schreibmaschine. Tonio lächelte dankend, griff sofort nach der Tasse und schlürfte gierig. »Das tut gut! Weißt du, ich komme ganz gut voran, aber irgendwie ist er noch nicht ganz richtig, unser Prinz. Er ist noch nicht flügge.« Den Kopf hin- und herwiegend, schaute er nachdenklich auf seine Zeichnung. »So wie er jetzt aussieht, kann ich ihn noch nicht auf seine Abenteuer schicken.«

Bevor Consuelo sich eine Meinung bilden konnte, ging die Tür einen Spaltbreit auf, und Hannibal streckte den Kopf mit dem faltigen Gesicht und der platten Schnauze ins Zimmer, setzte sein Hundelächeln auf und trabte mit seinen kurzen Beinchen freudig auf Tonio zu. Der stellte die Kaffeetasse mitten auf die letzte Zeichnung und beugte sich zu der Bulldogge hinunter, um sie zu kosen, dass die kleinen Ohren nur so flogen: »Na, Hanni, warst du schon draußen? Noch nicht? Dann wird es aber Zeit, was?« Hannibal sprang mit den Vorderfüßen auf seine Knie und versuchte, ihn abzulecken. Lachend ließ Tonio sich von der Sitzfläche auf den Teppich gleiten und balgte mit der Bulldogge, bis Consuelo rief: »Komm, Hanni, wir gehen Gassi an den Strand.«

Hanni hörte Gassi und flitzte durch die Tür hinaus, die Krallen kratzten über die Holztreppe. Wie schön das hier alles ist, dachte Consuelo und gab Tonio einen Kuss. Sie durften in Zeiten wie dieser das schneeweiße dreistöckige Holzhaus mitten auf der Landzunge Eaton’s Neck von Long Island bewohnen, an drei Seiten umgeben vom Meer, dessen Wellen sie gegen die Felsen schlagen hörten, wenn sie abends auf der Veranda saßen. Der schattige Garten mit seinen alten Bäumen und den üppigen Dahlien und den Rosenbüschen schien wie ein Märchenwald, der sie bewachte. Über seinen Wipfeln stand der Himmel, so blau und blank, als ob niemals mehr ein Wölkchen aufziehen würde.

Dabei waren sie durch schwere Gewitter geirrt, bis sie nun endlich hier angekommen waren. Und Consuelo wusste nur zu gut, dass der Wind bald wieder auffrischen würde, denn jenseits dieses kleinen Paradieses tobten die Stürme sehr wohl.

»Kommst du nach dem Spaziergang noch mal hoch? Vielleicht fällt uns gemeinsam eine Lösung ein, wie unsere kleine Hauptperson hier ganz und gar richtig wird.« Tonio drehte sich wieder zu seinem Schreibtisch um und spitzte den Bleistift an.

»Mit Vergnügen«, sagte Consuelo. Er hatte schließlich noch keines seiner Bücher selbst illustriert. Womöglich konnte ihm ihr künstlerischer Hintergrund helfen, und sie wollte ihm gerne zur Seite stehen, ihrem Abenteurer, ihrem Herrn der Lüfte, ihrem Ehemann seit – sie musste überlegen –, seit elf Jahren. Sie stieg die Stufen hinter Hanni hinunter. Was hatten sie nicht alles für Turbulenzen durchflogen in dieser Zeit – und genau deshalb war es nun jeden Morgen umso schöner, ihn am Schreibtisch sitzen zu sehen. Die Phase der wilden Abenteuer war doch wohl endlich vorbei, denn mit Anfang vierzig fühlten sie sich beide wahrhaftig nicht mehr jung und übermütig. Seit seinen diversen Flugzeugabstürzen plagten Tonio Rückenschmerzen, Gleichgewichtsstörungen und Ohrensausen. Und sie selber – nun ja, sie hielt sich mit Schwimmen und Gymnastik fidel, aber eine Brille hatte sie sich letztens doch anschaffen müssen. Selbstverständlich trug sie sie nur im äußersten Notfall. In ihrem Stammlokal, dem Café Arnold in Manhattan, brauchte sie sie für die Speisekarte zum Glück noch nicht. Sie wusste schließlich, was es dort gab.

Stammlokal. Sie stutzte bei diesem Gedanken. Nun war also ein Lokal am Columbus Circle direkt am Central Park ihr Stammlokal. Sie öffnete die Verandatür, und Hanni stürmte hinaus. Dabei war ihr Lieblingslokal doch das Les Deux Magots am Place Saint-Germain-des-Prés, mitten in Paris. Sie merkte, wie ihr Herz schneller schlug. Wann – ja, wann, wenn überhaupt jemals – würde sie wieder auf der Terrasse an einem der runden Marmortischchen sitzen, einen Milchkaffee trinken und den Flaneuren zuschauen können? Momentan flanierten dort nur deutsche Uniformen und dralle, deutsche Bürodamen, die die Besatzungsverwaltung am Laufen hielten und sich in der Mittagspause bei Chanel die N° 5 kauften, um wie die Pariserinnen zu duften. Oder bei einem der Modehäuser versuchten, in ein Kleid zu passen, als ob ihnen das jemals die Eleganz der Pariserinnen verleihen könnte.

Schnell verdrängte sie die traurigen Gedanken und pfiff nach Hannibal, der hinter einem Rosenbusch schnüffelte. »Komm, Hanni. Ab geht’s an den Strand. Na los!«

Man konnte weglaufen vor diesen Gedanken, vor der Realität, dem Grauen.

Aber weit kam man nicht. Nicht einmal hier, auf einem anderen Kontinent, in einem Traumhaus am Meer, in dem Tonio endlich wieder arbeiten konnte. An einem Buch, das ihn begeisterte. An einer Geschichte, die ihm am Herzen lag, in die er alles hineinlegen wollte, was ihm wichtig war. Ein Weihnachtsmärchen für Kinder hatten sich die amerikanischen Verleger gewünscht. Die Abgabefrist war deshalb ganz schön knapp. Schon Ende September wollten sie das Manuskript haben, damit das fertige Buch noch vor dem Fest in den Buchläden liegen konnte. Ein immenser Druck für Tonio, den er sich bislang Gott sei Dank kaum anmerken ließ.

Sie jedenfalls hatte sich vorgenommen, ihm den Aufenthalt hier in Bevin House, dem Haus des kleinen Prinzen, wie sie es schmunzelnd nannten, so angenehm wie möglich zu machen. Denn vielleicht konnte sie ihn dadurch ein klein wenig länger zurückhalten.

Zurückhalten von dem, was er unausweichlich tun würde. Er hatte bereits mehrmals davon gesprochen.

Hannibal drehte sich am Ende der Rasenfläche ausgelassen um die eigene Achse und versuchte sich in den Schwanz zu beißen vor lauter Freude, dass es nun hinunter an den Strand ging. Das beinahe lagunenartige Grün des flachen Meerwassers leuchtete Consuelo durch die Bäume schon entgegen. Sie zwang sich, nur noch auf den Weg zu achten, Schritt für Schritt auf den steinigen Pfad zu setzen, der die Böschung hinabführte.

Schritt für Schritt.

Welch verschlungene Wege das Leben doch für uns parat hält, dachte Consuelo und hörte Hanni schon am Strand freudig bellen. Heute schrieb Tonio im Auftrag amerikanischer Verleger Kinderbücher, doch damals, als sie sich kennenlernten, war davon noch lange nichts in Sicht gewesen. Damals, in Buenos Aires, als Tonio Streckenpilot bei der Luftpost war und über die Weiten Patagoniens hinwegflog – und sie, nun ja, sie eine Frau in der Blüte ihrer Jahre, der das Leben allerdings bereits einige Streiche gespielt hatte …

Wenn Du eine Blume liebst, die auf einem Stern wohnt, so ist es schön, bei Nacht den Himmel zu betrachten. Alle Sterne sind voll Blumen.

Kapitel 1

Oberdeck der Massilia, Küste vor Buenos Aires, September 1930

Consuelo trat an die Reling und reckte ihr Gesicht der Sonne entgegen. Vielleicht würde das südamerikanische Licht die Ringe unter ihren Augen ein wenig aufhellen, die immer noch von der Trauer zeugten. Der Fahrtwind blies ihr die Locken aus dem Gesicht. Sie atmete tief die Meeresluft ein und bemerkte, wie sich nun langsam der vertraute Duft der alten Heimat untermischte. Erdig, süß, schwül, fast meinte sie, die Kaffeebohnen der Plantagen wahrzunehmen, den Duft ihrer Kindheit in El Salvador.

Mit sehr gemischten Gefühlen betrachtete sie die immer näher kommende Silhouette von Buenos Aires, der Stadt, die sich das Paris von Südamerika nannte. Ihr Herz zog sich zusammen, wenn sie an ihre ferne, geliebte Wahlheimat, das echte Paris, dachte, den Platz auf der Welt, an dem sie am liebsten weilte. Sie vermisste schon jetzt das ruhige Band der Seine, die Quirligkeit der Boulevards, die Bohème-Atmosphäre der Caféterrassen und natürlich die Klänge der Chansons und der Nachrichten aus den Radios.

Mehr als zehn Jahre war es her, dass sie sich als junge Studentin aufgemacht hatte, um in Europa zu leben, in Spanien und später in Frankreich, wo sie in der Stadt ihrer Träume von Dichtern und Künstlern den Spitznamen »Vulkan von Paris« erhalten hatte. Welchen Spaß hatte sie dort als junge Frau gehabt, hatte getanzt, gelacht, gemalt – und schließlich geheiratet. Sie schluckte. Ach, wie vermisste sie die anregenden Abende und Nächte im Café Napolitano und in den Tanzbars mit ihrem Enrique und all den spanischen Freunden, zu denen Picasso, Miró und Dalí zählten. Im Napolitano hatten sie nach Enriques Tod sogar ein Porträt von ihm aufgehängt und ihm weiterhin jeden Abend zugeprostet. Dios mío, Enrique. Sie zog ihre schwarze Kostümjacke enger um sich. Warum nur hast du mich so früh verlassen? Lediglich elf Monate waren uns vergönnt. Sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen, und drehte sich schnell von der Reling weg. Bloß nicht weinerlich werden. Sie würde hier in Südamerika so schnell wie möglich ihre Angelegenheiten regeln und dann nach Paris zurückkehren. Sie bemerkte, wie der Kapitän den Schub drosselte. Aus den drei dicken Schornsteinen der Massilia kam nur noch wenig Rauch, dafür fuhr ihr das Signal des Horns durch den Körper.

Es verkündete ihre Ankunft in der Neuen Welt.

Über die Holzbohlen und eine Treppe erreichte sie den Gang der ersten Klasse und lief über den weichen Teppichboden in Richtung ihrer Kabine. Du musst dich zusammenreißen, ermahnte sie sich. Reiß dich zusammen! Du bist hier in Enriques Heimat gereist, um die Witwenrente zu klären, bei dieser Gelegenheit deine Familie in El Salvador zu besuchen und vernünftige Entscheidungen für deinen weiteren Lebensweg zu treffen. Dinge, die Millionen Frauen schon tun mussten.

Wenn auch nicht unbedingt mit Ende zwanzig.

Als sie ihren Kabinenschlüssel ins Schloss steckte, öffnete sich die Nachbartür, und Benjamin Crémieux trat heraus, mitsamt Gepäck, offenbar schon zum Aussteigen bereit.

»Consuelo, meine Liebe.« Er sah wohl sofort, dass sie aufgewühlt war, machte Anstalten, sie in den Arm zu nehmen, unterließ es dann aber doch. »Consuelo, damit Sie nicht nur schwierige Termine im schönen Buenos Aires vor sich haben, möchte ich Sie gerne einladen. Ich halte ab morgen meine Vorträge für die Alliance Française, und übermorgen Abend gibt es einen kleinen Empfang der Amigos del Arte, unter anderem mir zu Ehren.« Er richtete sich übertrieben auf und schaffte es sogar, sie um einen Kopf zu überragen, obwohl er ebenfalls sehr klein war.

»Wie schön für Sie, aber …«

»Sie dürfen nicht Nein sagen, Consuelo. Auf keinen Fall!«

Sie lächelte über seinen Eifer. »Warum denn nicht, mein lieber Benjamin, por qué? Weil Sie ein so vorbildlicher und unterhaltsamer Gesellschafter für mich waren auf dieser Überfahrt?« Irgendwie hatte sie ihn in diesen elf Tagen auf See ein wenig lieb gewonnen, diesen kauzigen, jungen Schriftsteller, Lektor und Literaturkritiker aus Paris. Gleich am ersten Tag der Reise hatte er betont, wie sehr er Enrique Gómez Carrillos Werk bewunderte, und sich sogleich erboten, dessen Witwe stets zu den Abendessen zu begleiten und neben ihr zu sitzen, sodass sie nicht alleine war und nicht von anderen Herren angesprochen wurde. An manchem Abend hatte er sie anschließend sogar überredet, noch auf einen Schlummertrunk mit in die Bar zu kommen, wo sie mit anderen Passagieren Konversation betrieben und dem Spiel des berühmten Konzertpianisten Viñes gelauscht hatten, der sich auf ebendiesem Schiff zur Tournee nach Südamerika begab. Abschließend hatte Benjamin sie stets formvollendet und zurückhaltend bis zu ihrer Kabinentür eskortiert und sich für die Nacht verabschiedet.

»Zum Beispiel!« Er lachte und zauste an seinem beinahe orthodoxen Vollbart, ein Zeichen dafür, dass er angestrengt nachdachte, wie Consuelo inzwischen herausgefunden hatte. Er rang um Argumente. »Und weil ich Ihnen dort einen der talentiertesten Nachwuchsschriftsteller unserer Zeit vorstellen möchte. Einen Franzosen, der für die Luftpost hier in Argentinien als Pilot arbeitet.«

Consuelo wandte sich endgültig ihrer Tür zu, öffnete sie und betrat die Kabine. »Mein lieber Benjamin. Wie Sie während der Überfahrt feststellen konnten, bin ich dieser Tage noch nicht besonders gut in Gesellschaft. Und an neuen Bekanntschaften bin ich schon gar nicht interessiert. Gracias.«

Er fasste sie am Arm, damit sie die Tür nicht schloss. »Aber Consuelo, Sie müssen kommen! Das sind Sie mir schuldig.« Die Augen hinter der Nickelbrille wirkten flehend.

»Ich bin Ihnen etwas schuldig?« Sie schüttelte den Kopf.

Er ließ ihren Arm los, aber seine Miene hellte sich auf, als ob ihm nun endlich der zwingende Grund eingefallen wäre. »Aber sicher, meine Liebe. Sehen Sie, um ehrlich zu sein, habe ich bereits an den Vorsitzenden der Amigos del Arte telegrafiert, dass ich die junge Witwe des ehrenwerten Schriftstellers und Konsuls Enrique Gómez Carrillo an Bord kennengelernt habe und dass ich sie zu dem Empfang mitbringen werde. Ihnen eilt ein legendärer Ruf voraus, wissen Sie. Die Zeitungen haben auch hierzulande groß über Carrillos Tod berichtet und dabei Fotos von Ihnen gezeigt. Ihre Schönheit wird sehr bewundert.«

»Ach, hören Sie auf, Benjamin!« Was wurde er jetzt noch zum alten Schmeichler auf den letzten paar Seemeilen.

»Doch, glauben Sie mir. Alle wollen Sie sehen. Wie stehe ich denn da, wenn Sie jetzt nicht erscheinen?«

Consuelo lachte und tätschelte ihm den Mantelarm. »Sie Armer, pobre chico!«

»Allerdings.« Er schaute auf den Teppichboden wie ein Schuljunge.

»Also gut. Schicken Sie mir einen Wagen in mein Hotel.«

»Sie werden es nicht bereuen!« Er warf ihr einen spielerischen Luftkuss zu und machte sich daran, sein Gepäck den Gang entlangzuschleppen.

Sie schaute ihm nach, bis er um die Ecke bog, dann zog sie sich in die Kabine zurück und packte die letzten Utensilien in ihre Koffer.

Kapitel 2

Buenos Aires, zwei Tage später

Der Wagen hatte sie pünktlich abgeholt und hielt nun auf dem breiten Boulevard vor dem Sandsteingebäude, welches das älteste Nobelhotel der Stadt beherbergte. Hier sollte der Empfang zu Ehren der französischen Delegation rund um Benjamin stattfinden. Dies war wirklich wie ein Stück Paris mitten in Argentinien, dachte Consuelo, als sie an dem Hotel hochschaute, dessen Haussmann-Fassade auch perfekt in die Kulisse der Champs-Élysées gepasst hätte. Überhaupt erschien ihr Buenos Aires mit seinen edlen Kaufhäusern, den teuren Autos und den im neusten Chic über die Trottoirs eilenden Damen und Herren mit ihren Hüten, Capes und Kostümen ganz wie Paris. Nur die riesigen Palmen, die in den Parks und auf den Plätzen als Begrünung dienten, verrieten, dass der Place de la Concorde fern war. Und die Tangoweisen, die aus den vorbeifahrenden Cabriolets und den offenen Fenstern der Wohnungen und Restaurants drangen.

Sicherlich konnte man hier ohne Probleme ein anregendes Bohème-Leben in den kleinen Cafés führen, überlegte Consuelo, ebenso in den zahlreichen Theatern, für die die Stadt so bekannt war, und natürlich in den Tango-Bars. Obwohl das als verrucht galt und man als Dame der Gesellschaft selbstverständlich nicht mittanzte, sondern höchstens zuschaute. Wie schade.

Aber heute Abend und in ihrer aktuellen Stimmung war ihr sowieso nicht nach Tanzen zumute. Gestern hatte sie ihre Termine in der Stadt wahrgenommen. Sogar Staatspräsident Don El Peludo hatte sie empfangen, um ihr zum Tod ihres Gatten zu kondolieren, die Regelungen der Hinterbliebenenrente höchstpersönlich in die Wege zu leiten und der um so vieles jüngeren Witwe, die nun ganz auf sich gestellt war, eine bestmögliche Versorgung zu sichern. Consuelo hatte wieder einmal gestaunt, wie populär Enrique hier drüben in Argentinien gewesen war – fast so etwas wie ein Nationalheld offenbar, obwohl er doch aus Guatemala stammte und erst spät die argentinische Staatsbürgerschaft angenommen hatte. Seine Bücher waren hier seit Jahrzehnten überaus beliebt, er galt als einer, der nach Europa ausgezogen war und es geschafft hatte.

Natürlich war schon sein Begräbnis in Paris äußerst ungewöhnlich gewesen, als Consuelo neben Enriques Freund, dem Dichter und Literaturnobelpreisträger Maurice Maeterlinck, von der Feierstunde in der Église de la Madeleine aus hinter der geschmückten Kutsche mit dem Sarg zum Friedhof Père-Lachaise gelaufen war – gefolgt von mehr als tausend Freunden, Wegbegleitern, Politikern und Kulturfunktionären aus ganz Europa, alle in Schwarz. Sie schüttelte den Kopf, wenn sie an diese Szene dachte, die sie wie im Schlaf durchwandert hatte, wie in einem absurden Traum. Enrique war doch ganz einfach ihr Enrique gewesen, sonst niemand. Dass sein Abschied solch ein Aufsehen erregt hatte, war ihr immer noch unbegreiflich.

Das Treffen mit dem argentinischen Staatspräsidenten gestern war insofern noch zusätzlich ein wenig eigenartig verlaufen, als mitten im Gespräch ein Attaché an ihn herangetreten war, der ihm eine Meldung zu der drohenden Studentenrevolution ins Ohr flüsterte, von der schon an Bord der Massilia gemunkelt worden war. Consuelo hatte alles verstehen können, weil der Präsident nicht mehr so gut hörte und der Attaché entsprechend laut geflüstert hatte. Die Revolution sei für nächsten Mittwoch geplant, hatte sie vernommen und sich gefragt, wie denn das so genau festzustellen sei. Sie hatte an ihrem Glas mit gutem argentinischem Rotwein genippt, während der Präsident mit dem Attaché tuschelte, und daran gedacht, dass sie übermorgen sowieso aufbrechen wollte, um ihre Familie in El Salvador zu besuchen, und die möglichen Unruhen sie somit nicht betreffen würden.

Sie zwang ihre Gedanken zurück zum heutigen Abend, als der Fahrer des Wagens den Fond öffnete und sie auf das breite Trottoir vor dem Hotel hinaustrat. Sie bedankte sich, die Limousine fuhr fort, und ihr erster Impuls war, einfach am Eingangsportal vorbeizulaufen und lieber einen ausgedehnten Abendspaziergang durch die beleuchtete Stadt zu unternehmen, als sich durch diesen Empfang zu quälen. Aus einer Nebenstraße klangen Fetzen von Salsa-Musik an ihr Ohr, die Luft war lau und erfüllt von den Gerüchen der Restaurants und Bodegas. Aber sie erinnerte sich, dass sie Benjamin mit ihrem Erscheinen einen Gefallen tat; nur für ihn würde sie diesen Abend mit Contenance und Anmut durchhalten.

Das Streichquartett in der holzgetäfelten Ecke mit der rot-goldenen Barocktapete und dem raumhohen Spiegel langweilte sie nun schon seit einer halben Stunde mit den guten alten Weisen toter europäischer Komponisten. Warum hatte man nicht wenigstens eine Tango-Combo aufspielen lassen? Consuelo hielt sich an ihrem Champagnerkelch fest und ließ die Erzählung ihres Gegenübers, eines französischen Wissenschaftlers, der hier weilte, um die in den letzten Jahren stark zugenommenen Verkehrsströme der argentinischen Hauptstadt zu analysieren, an sich vorbeirauschen. Benjamin hatte sie ganz am Anfang kurz begrüßt und war dann von der Menge verschluckt worden, war er doch einer der Ehrengäste und musste mit allen Honoratioren des Landes plauschen. Consuelo bemerkte wohl, wie einige Gäste auf sie schauten und über sie tuschelten – »Ach, das ist Carrillos Witwe? Die ist aber jung!« –, aber sie versuchte, es auszublenden. Ihr Glas war fast leer, sie würde noch einige Anstandsminuten warten, dann würde sie in ihr Hotel zurückfahren, um mit den paar Bekannten, die sie auf der Überfahrt kennen- und schätzen gelernt hatte, noch einen allerletzten Abschiedstrunk zu nehmen. Denn die zusammengewürfelte Dampfergesellschaft würde sich nun naturgemäß in alle Winde zerstreuen. Sie selbst musste sich nach den anstrengenden letzten Tagen in der Stadt mit all den Terminen und dem inzwischen so ungewohnten, energiegeladenen spanischen Stimmengewirr um sie herum ein wenig erholen und für die Weiterreise wappnen. Bei ihrer Familie musste sie zuversichtlich und stark erscheinen. Immerhin kehrte sie aus Europa zurück, und man würde sie in ihrem Heimatort wie eine Heldin empfangen wollen, nicht wie eine verlorene Tochter, die keine Ahnung hatte, wie sie ihr weiteres Leben gestalten sollte.

Sie trank ihren Champagner aus und schaute zu Benjamin hinüber, der weiterhin in Gespräche vertieft war. Zur Not würde sie eben gehen, ohne sich von ihm zu verabschieden.

Sie hatte dem Wissenschaftler soeben viel Erfolg mit seinen Studien gewünscht und gerade ihren Mantel an der Garderobe in Empfang genommen, als ein sehr großer Mann – er überragte sie um zwei Köpfe – mit üppigen Augenbrauen, zurückliegendem Haar, unrasierten Wangen und raumgreifenden Gesten in die Halle stürmte. Er trug einen leichten Anzug mit einem wehenden Schal um den Hals, aber keinen Mantel, und blieb abrupt stehen, als er Consuelo erblickte. »Ich wusste gar nicht, dass hier auch schöne Frauen anwesend sein würden!«, dröhnte er, dass jeder in der Halle es hören konnte.

Consuelo blieb einen Moment still stehen, erstaunt ob der Inbrunst und spontanen Ehrlichkeit, mit der er das gesagt hatte – und ob der unglaublichen Energie, die er verströmte. Aber dann besann sie sich, zog die Augenbrauen hoch und fuhr fort, ihren Mantel anzuziehen. Ungehobelte Menschen konnte sie nicht besonders gut leiden. Obwohl dieser hier mit seiner überbordenden Vitalität und der beinahe schon kindlichen Direktheit eine ganz ungewöhnlich geheimnisvolle Ausstrahlung besaß, das musste sie zugeben. »Sie werden entschuldigen, ich bin gerade im Aufbruch begriffen«, sagte sie etwas umständlich und versuchte, um ihn herumzugehen, hatte er sich ihr doch mitten in den Weg gestellt.

»Aber nein. Auf gar keinen Fall.« Er fasste nach ihrem Mantel, drehte sie elegant wieder heraus und warf den Mantel auf den Garderobentisch. »Sie dürfen mich nicht verlassen, bevor ich Sie kennengelernt habe. Das ist ganz und gar nicht anders möglich!« Er bot ihr den Arm. »Bitte erweisen Sie mir die Gunst, einen Drink mit Ihnen zu nehmen.« Seine Augen flehten um ein Ja.

Consuelo hakte sich nicht ein. »Wie käme ich dazu? Wo Sie sich noch nicht einmal vorgestellt haben.«

»Entschuldigen Sie vielmals.« Er machte eine Verbeugung. »Ich bin …«

»Das ist Antoine de Saint-Exupéry«, kam Benjamin ihm zuvor, der aus dem Saal in die Halle eilte, wohl um den Freund zu begrüßen. »Der Schriftsteller Schrägstrich Flieger, von dem ich Ihnen erzählt hatte.«

Saint-Exupéry lächelte. »Schriftsteller Schrägstrich Flieger bin ich also?« Er umarmte seinen Freund. »Wenn schon, dann würde ich eher sagen, Flieger Schrägstrich Schriftsteller. Aber sehr nette Einführung, mein Guter. In der Tat komme ich gerade von einem einwöchigen Flugeinsatz bis ans Ende von Patagonien. Kunterbunte Vögel habe ich da gesehen, und kleine Affen, so klein wie Ihre Hand.« Er nahm Consuelos Rechte. »So entzückend klein wie Ihre Puppenhand.« Er schaute ihr in die Augen. »Dürfte dieser schreibende Flieger Sie also nun zu einem Drink in der Sesselgruppe dort vorne entführen?« Er deutete auf die ledernen Clubsessel mit den Rauchtischen in der Ecke der Halle und lächelte sehr charmant.

»Ich war gerade im Begriff …«, setzte Consuelo noch einmal schwach an und entzog ihm schnell die Hand, in Gedanken noch bei den verwirrenden kleinen Affen und bunten Vögeln. Die aus dem Hauptsaal heranwehenden Klänge des unermüdlichen Streichquartetts kontrastierten äußerst eigenartig mit diesen Bildern.

Aber lange konnte sie über ihre Empfindungen nicht nachdenken, denn nun hatte sie gleich zwei gegen sich. Benjamin hakte sie unter und zog sie schon zu den Sesseln. »Sie sind im Begriff, mit uns beiden ein wenig zu plaudern.« Er beugte sich nah an ihr Ohr, sodass sein Freund nichts hören konnte. »Glauben Sie mir, Sie werden es nicht bereuen, meinen Freund Saint-Ex kennenzulernen. Es wird niemals langweilig mit ihm.«

Nun gut, ein paar Minuten konnte sie wohl noch bleiben. Dann würde sie das Treffen mit ihren Bekannten ein wenig verkürzen und ihren Schönheitsschlaf morgen früh ein wenig verlängern.

Sie ließ sich von Benjamin zu einem Clubsessel führen, nahm Platz und bekam von diesem Antoine umgehend einen Gin in die Hand gedrückt. »Nun müssen Sie mir aber erzählen, was Ihre Puppenhände unternehmen, wenn Sie nicht ein Glas Gin oder eine Zigarette halten.« Er gab ihr Feuer und steckte sich auch eine an. Benjamin saß schmunzelnd daneben.

»Sie führen einen Pinsel oder arbeiten mit Hammer und Meißel«, gab Consuelo zurück. Wer direkt fragte, bekam direkte Antworten. Puppenhand! Pah!

»Eine Künstlerin! Das habe ich sofort geahnt, als ich Sie sah! Würden Sie einmal etwas für mich malen? Vielleicht die Wolken, durch die ich täglich fliege, oder die Gipfel der Anden. Ich könnte Sie mitnehmen nach Patagonien, und Sie könnten die bunten Vögel verewigen. Oder auch die Seehunde in Feuerland. Es gibt dort nämlich sehr viele Seehunde, wissen Sie. Ich habe schon einmal einen im Frachtraum mitgebracht. Er ist jetzt allerdings im Zoo. Meine Badewanne war ihm zu klein.« Er rieb sich über die Wangen. »Ach, entschuldigen Sie bitte mein unrasiertes Auftreten.« Er sprang auf. »Geben Sie mir nur ein paar Minuten. Ich besuche schnell den Hotelfriseur.« Und schon war er den Gang hinuntergeeilt und verschwand im Salon.

»Was um Himmels willen … was ist das für ein Mann, Benjamin?« Consuelo saß stocksteif in ihrem Sessel. So einen Menschen hatte sie noch nie erlebt. »Ich weiß nicht, was ich …«

Benjamin lachte. »Sagen Sie nichts, tun Sie nichts, warten Sie einfach ab. Es lohnt sich. Bestimmt.« Er zwinkerte ihr zu, und schon kam Antoine frisch rasiert und nach Eau de Cologne duftend wieder in die Halle und kniete sich direkt vor Consuelos Sessel auf den Marmorboden, von den Anwesenden in der Halle erstaunt beäugt. »Ich möchte Ihnen die Sterne zeigen. Kommen Sie mit?«

»Aber …« Consuelo sah zu Benjamin hinüber, der nur lächelte.

»Ich möchte Ihnen die Sterne zeigen. Ich fliege Sie ganz nah heran.«

Du meine Güte, Dios mío! »Aber ich fliege nicht! Ich bin noch nie geflogen. Mir ist es schon zu rasant, wenn ich nur sehr schnell gehe.«

Saint-Exupéry lachte, nahm ihre Hände in seine und drehte die Innenflächen nach oben. »Ich kann in Ihren Handlinien lesen, wissen Sie? Ich bin gut darin.« Er schaute auf die Linien. »Und hier sehe ich ganz eindeutig, dass Sie jetzt gleich, noch heute Abend, mit mir in mein Flugzeug steigen werden und dem Mond ganz nahe kommen.«

Benjamin spürte wohl, wie sprachlos sie war, und kam ihr zu Hilfe. »Das geht leider nicht, Antoine. Sie ist gleich verabredet mit guten Bekannten von uns. Sie muss los.«

Consuelo nickte lahm und stellte ihren Gin auf dem Rauchtischchen ab.

Antoine kam federnd auf die Beine. »Aber das ist doch kein Problem. Wie viele Freunde sind es denn?«

»Es sind acht«, sagte Benjamin. »Und …«

»Und du kommst auch mit, mein Freund, nicht wahr? Neun Leute und wir zwei.« Antoine schaute Consuelo lächelnd an. »Wir passen alle komfortabel in mein Flugzeug.« Er haute Benjamin auf den Rücken. »Bitte, alter Freund!« Er sah ihn an wie ein Welpe.

Benjamin lachte und stand auf. »Also gut. Ich verabschiede mich nur noch von meinen Gastgebern.«

Antoine half Consuelo schon in den Mantel. »Welcher ist Ihr Lieblingsstern? Die Venus? Ich wette, es ist die Venus. Ich werde sie Ihnen alle zeigen, die Sterne. Das werde ich!« Er zündete sich eine neue Zigarette an. »In einer halben Stunde sind wir am Flugplatz – und dann beginnt Ihre Reise mit mir ins leuchtende Firmament.« Er lächelte sie an, und sie wusste nicht, ob ihr nur flau im Magen wurde, weil sie an den Aufstieg des Flugzeugs dachte.

Kapitel 3

Flugplatz Buenos Aires – dem Himmel so nah

Der Flughafen-Kleinbus, den Antoine schnell geordert hatte, hielt eine knappe Stunde später auf dem Flugplatz etwas außerhalb der Stadt. Die mächtigen, bauchigen silbernen Postmaschinen standen aufgereiht auf der Wiese. Consuelo konnte sie nicht so schnell durchzählen, aber es waren bestimmt an die zehn Stück.

»Wir haben natürlich großes Glück, dass ich mit meinen zarten neunundzwanzig Jahren schon der Direktor der Luftpostgesellschaft hier drüben bin«, sagte Antoine strahlend und wandte sich an einen Mechaniker, der in einem ölverschmierten Arbeitsanzug vorbeikam. »Welche ist startklar? Diese? In Ordnung, dann los!« Er nahm Consuelo fest an der Hand. »Sie bleiben nah bei mir. Alle anderen steigen bitte hinten ein«, wandte er sich an Benjamin und die weiteren acht Fluggäste. »Aber Sie, Consuelo, sind heute meine Co-Pilotin!« Er drückte ihre Hand.

Sie entzog sie ihm und sah ihre Begleiter im Bauch des silbernen Vogels verschwinden. Sollte sie dort wirklich einsteigen? Sollte sie ihr Leben in die Hände dieses großen, lauten Mannes geben, dieses französischen Adligen, den das Leben in die südamerikanischen Weiten, auf südamerikanische Luftwege verschlagen hatte? In die Hände dieses Mannes, der einer der eigenartigsten Menschen war, denen sie jemals begegnet war? Eigenartig – nein, das war gar nicht der richtige Ausdruck, überlegte sie, als sie die letzten Schritte über den Rasen bis zur Maschine lief. Nicht eigenartig – einzigartig. Natürlich war jeder Mensch einzigartig. Aber es gab eben doch soundso viele Büroangestellte, die gerne Tennis spielten oder ins Theater gingen. Soundso viele Fabrikarbeiter, denen ihr Gärtchen am Wochenende Freude bereitete. Soundso viele Unternehmer, die sich den neusten Wagen kauften und es liebten, darin chauffiert zu werden. Dieser Mann aber, das spürte sie, dieser hier war ein Wesen, wie es keines je gegeben hatte und jemals wieder geben würde. Er war ein Angestellter der Luftpostgesellschaft, der die Welt offensichtlich mit allen Poren aufsog. Der die Wolken, Meere, Berge, Wüsten und Urwälder liebte. Dem bunte Vögel wichtig waren, und kleine Affen. Der gerne mit lebensgroßen Spielzeugen durch die Luft flog.

»Allez hop!« Er griff um ihre Taille, hob sie mit Leichtigkeit in die Maschine und drängte sie nach vorn zu dem Co-Pilotensitz, rechts neben dem seinen. Sie nahm auf dem kalten Leder Platz und staunte über die vielen Instrumente und Anzeigen vor sich auf dem Armaturenbrett. Überall waren Knöpfe und Schalter, Chronometer und Tachometer und weiß der Kuckuck was sonst noch für -meter. Antoine neben ihr lächelte wohl über ihr beunruhigtes Gesicht, und als ob es ein Sonntagsausflug mit dem offenen Wagen wäre, drehte Antoine den Zündschlüssel und bediente den Steuerknüppel. Die Propeller sprangen lautstark an, und die Maschine holperte über den Rasen, bis sie die Rollbahn erreichte. Antoine lenkte sie in Position. Consuelo hörte ihre Freunde hinter dem Vorhang johlen und Scherze machen. Viel zu laut und zu übermütig, was ihr verriet, dass sie ebenso aufgeregt waren wie sie selbst.

»Bereit?« Antoine lächelte ihr zu, gab Gas, das Flugzeug beschleunigte stark, und er zog den Steuerknüppel nach hinten. Die Maschine röhrte ohrenbetäubend und hob ab, die Freunde hinter ihnen kreischten und lachten. Consuelos Magen hüpfte kurz, dann wurde sie in den Sitz gepresst. Sie flog! Sie flog tatsächlich! Sie überprüfte, ob ihr schlecht wurde. Aber nein, es war gut. Es war richtig gut. Es war geradezu unglaublich! Sie glitten durch die Luft und stiegen und stiegen. Die silbernen Flügel schienen den Vogel tatsächlich zu halten.

Vorsichtig traute sie sich, durch das Schiebefenster auf ihrer Seite nach unten zu schauen. Sie sah die von Scheinwerfern erhellte Wiese kleiner werden und verschwinden. Schon tauchte das Lichtermeer der großen Stadt unter ihnen auf. Daneben zog sich das dunkle Band des Río de la Plata entlang und mündete schließlich in den dunkelblauen, in der Dämmerung fast schwarzen Teppich des Atlantiks. Und das alles einfach so vor ihrem kleinen Fenster! Wie schön das war! Wie beeindruckend und schön! Aber wie zerbrechlich die Erde von hier oben aussah. Wie zerbrechlich und klein. So klein, als könnte man sie an einem Tag umschreiten und der Sonne auf der anderen Seite jederzeit Guten Morgen sagen.

Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück und schaute zu Antoine, der die ganze Zeit nur stumm lächelte. »Ich wusste, Sie würden es mögen«, sagte er und legte die Maschine in eine steile Linkskurve. »Das auch?« Er grinste.

Sie klammerte sich an ihren Sitz. »Lassen Sie das!«

»Aber wieso denn?« Er legte die Maschine in die entgegengesetzte Kurve.

»Fliegen Sie ordentlich!« Sie hieb ihm leicht auf die Hand am Steuerknüppel, aber natürlich nicht zu doll.

Sofort machte er sich einen Spaß daraus. »Was tun Sie da? Sie greifen den Piloten an! Wir werden abstürzen!«, schrie er und drückte den Steuerknüppel abrupt nach vorn, sodass das Flugzeug in den Sturzflug ging. Von hinten kreischten ihre Freunde. Antoine lachte und zog den Knüppel wieder zu sich heran.

Consuelo holte tief Luft und vergewisserte sich, dass ihr Magen der Attacke standgehalten hatte und nicht rebellieren würde. Von hinten hörten sie ängstliches Gemurmel. »Tun Sie das nie wieder!«, zischte sie.

»Ich werde es nicht wieder tun, unter einer Bedingung.« Antoine grinste.

»Und die wäre?« Consuelo sah ihn unsicher an. Die Motoren dröhnten, die Rotoren reflektierten das erste Mondlicht dieser Nacht.

»Dass Sie mir einen Kuss geben.« Antoine lehnte sich über den Steuerknüppel in ihre Richtung.

Sie wich zurück. »Schauen Sie nach vorne! Maldito, zum Donnerwetter, was denken Sie sich eigentlich? Ich bin eine junge Witwe, und falls Sie das nicht wissen: In meiner Kultur bedeutet ein Kuss sehr viel.«

Er lächelte, zog sich auf seinen Sitz zurück und flog eine so extreme Kurve, dass Consuelo mit ihrer Hüfte fast parallel zur Erde stand. »Sehen Sie dort unten, das helle Band?«, fragte Antoine. »Das dürfte die Prachtstraße der Stadt sein, die Avenida de Mayo, da die Plaza de Mayo mit der Casa Rosada, dem Regierungssitz, sehen Sie? Und dahinten der Hafen, hell erleuchtet.«

Sie krallte sich an den Armlehnen des Sitzes fest. »Hören Sie auf damit! Bringen Sie uns zurück, inmediatamente!«

Er legte die Maschine in die andere Kurve, genauso steil, von hinten kamen die ersten Geräusche, die andeuteten, dass einem Teil der Passagiere sehr schlecht geworden war. Sie zog den Vorhang zurück und sah, wie einige der Freunde Tüten vor ihren Mund hielten. Schnell zog sie den Vorhang wieder zu. »Sie sind ein Irrwisch, wissen Sie das? Sie haben uns hier in die Falle gelockt. Und das alles nur für einen Kuss von mir?«

Er lachte und ließ die Maschine wieder ganz ruhig und gleichmäßig dahingleiten. »Allerdings!« Er rückte wieder näher an sie heran. »Und?«

Sie verschränkte die Arme. »Vergessen Sie es! Sobre mi cadáver – nur über meine Leiche!«

»Wie Sie wünschen!« Sofort setzte er zum Sturzflug an. Die Freunde hinter dem Vorhang schrien, Consuelos Magen hopste bis an ihren Rachenraum heran.

»Ich finde, das Flussbett des Río de la Plata ist doch auch kein schlechter Ort zum Sterben. Irgendwann werden wir sowieso alle von dieser Erde gehen, deren Auswüchse an Zivilisation sie bereits jetzt einem bösartigen Termitenhaufen gleichen lassen. Mancher geht früher, mancher später, mancher stirbt im Bett, mancher eben im Flugzeug.«

Mit letzter Kraft krallte sich Consuelo an ihrem Sitz fest. »Ziehen Sie hoch! Ziehen Sie hoch, Dios mío!«

Er tat es. Sie glättete ihr Kleid. Ihr Magen hatte sich wieder an seinen angestammten Platz verzogen. »Sie wollten mir doch die Sterne zeigen und nicht mit Loopings angeben.«

»Da haben Sie recht.« Er nickte ernst, wendete, und das Flugzeug entfernte sich von der leuchtenden Stadt. Schon schwebten sie durch absolute Dunkelheit, Consuelo hatte keine Ahnung, wie hoch sie flogen, aber sie schienen zu steigen. Die Scheinwerfer vor ihnen fingen nichts ein außer ab und an einige Wolkenfetzen, das Flugzeug wackelte ein wenig, als ob es über Schlaglöcher fuhr wie ein Auto. »Keine Angst. Wir werden nun gemeinsam zu den Sternen aufsteigen, liebe Consuelo. Sehen Sie, gleich haben wir die Wolkenschicht durchdrungen.« Und tatsächlich. Als keine Wolkenfetzen mehr zu sehen waren und das Gewackel aufgehört hatte, breitete sich vor ihnen ein Sternenmeer aus, wie Consuelo es nur aus ihrer Kindheit kannte, wenn sie wegen der Hitze nachts nicht hatte schlafen können und mit ihren Schwestern einen Streifzug über die Kaffeeplantage unternommen hatte. Die Mutter hatte natürlich darüber geschimpft. Aber oft genug hatten die Schwestern in solch schwülen Nächten, wenn sie wieder heimkehrten und sich ins Haus schleichen wollten, die Mutter auf der Bank vor der Veranda vorgefunden, wie sie mit einem Mate-Tee in der Hand in den Himmel schaute und wahrscheinlich immer noch um ihren Mann trauerte, der sie so früh zur Witwe gemacht hatte. Fast so früh, wie ich nun Witwe bin, dachte Consuelo auf einmal. Nur dass ich keine drei Kinder habe, sondern die Möglichkeit, mein Leben noch einmal ganz neu zu gestalten.

»Das Kreuz des Südens.« Antoine zeigte nach vorne. »Wir fliegen direkt darauf zu. Beeindruckend, nicht?«

Sie lachte auf. »Sie als Europäer wollen mir erklären, dass das Kreuz des Südens etwas Faszinierendes hat?«

»Wie dumm von mir. Consuelo, Sie begeistern mich. Sie haben mich vom ersten Moment an mit Ihrer grazilen Eleganz eingefangen. Aber ich war mir gleich sicher, dass Sie nicht so ein Modepüppchen von der Stange sind, wie ich sie zu Dutzenden in Paris kennengelernt habe. Die wissen nämlich nicht mal, dass am Himmel überhaupt etwas blinkt. Bei denen blinken nur die Diamanten.« Seine Augen drangen tief in ihre.

»Schauen Sie geradeaus, um Himmels willen! Schauen Sie geradeaus!«

»Und was soll ich da sehen, Ihrer Meinung nach? Außer Sternen natürlich?«

Consuelo schwieg kurz. Dann sagte sie: »Eine Zukunft, wie Ihrer reichen Fantasie entsprungen.«

»Woher wollen Sie denn wissen, dass ich eine reiche Fantasie habe? Sie haben doch noch nicht viel von mir gehört.«

»Benjamin hat mir von Ihrem ersten Roman erzählt. Wer ein ganzes Buch schreibt, der hat doch wohl Fantasie.«

»Das mag sein. Aber ich möchte Sie warnen. Dieses Buch – Südkurier heißt es und handelt von meinen Abenteuern als Streckenpilot in Afrika – dieses Buch haben genau drei Leute gekauft: meine Mutter, meine Schwester und meine Cousine.«

Consuelo lachte. »Nicht schlecht für den Anfang.«

»Und ich fände es für den Anfang nicht schlecht, wenn Sie mir einen winzigen Kuss auf die frisch rasierte Wange gäben.« Er hielt sie ihr hin, ohne den Blick von den Scheinwerferschneisen vor der Flugzeugnase abzuwenden. »Denn das würde mich beglücken und mir die kleine Hoffnung schenken, dass Sie mich möglicherweise nicht ganz hässlich, ungehobelt und unverschämt finden und sich stattdessen vorstellen könnten, ein wenig Zeit auf dieser Erde mit mir zu verbringen.« Er hielt die Maschine gerade, und sie durchflogen ruhig und gleichmäßig die dunkle Nacht, nur beobachtet von den Tausenden Sternen, die verheißungsvoll funkelten.

Es schickte sich natürlich überhaupt nicht. Und sie hatte ihn gerade erst vor ein paar Stunden kennengelernt. Und er war ein Luftpostpilot, der tage- und nächtelang hauptsächlich über der Pampa flog. Und er war ein wenig, nun ja, einzigartig-eigenartig und hatte dieses Temperament, das ihrem eigenen südamerikanischen sehr nahekam.

Sie küsste ihn ganz vorsichtig auf die angenehm duftende Wange, deren Muskelspannung ihr verriet, dass er glücklich lächelte.

Kapitel 4

Buenos Aires, am folgenden Tag

Sie erwachte in einem Bett, das sie nicht kannte, und als sie sich aufsetzte, sah sie ihre Freunde Benjamin und Viñes, den Pianisten, der sie auf der Massilia so oft mit seinem virtuosen Spiel erfreut hatte und zu der Gruppe der Bekannten gehörte, die gestern im Frachtraum der Maschine mitgelitten hatten. Sie lagen auf dem Fußboden vor dem Bett unter Wolldecken und schliefen.

Consuelos Kopf brummte fürchterlich, und ein wenig war ihr auch noch schlecht. Qué pasa aquí? Sie erinnerte sich an den Flug und den vorsichtigen Kuss – und wie ihr danach plötzlich ganz schwummerig geworden war. Von der Aufregung über die unerhörte Situation, ihre unerhörte Tat, die zum Glück den Passagieren im hinteren Teil des Flugzeugs verborgen geblieben war. Oder hatte ihr Gleichgewichtssinn doch noch den Kampf gegen die Luftlöcher und Flugkurven verloren? Sie wusste es nicht.

Sie lehnte sich gegen das Kopfteil des fremden Bettes und überprüfte erst einmal, ob ihr sonst noch irgendetwas wehtat, ob vielleicht etwas auf einen Absturz hindeutete. Sie betrachtete ihre Unterarme, die unversehrt auf der Bettdecke lagen. Nein, alles schien in Ordnung zu sein. Nur wo zum Donnerwetter waren sie hier gelandet? Dieses Zimmer mit dem vollgestopften Bücherregal und dem Schreibtisch, der überquoll von Papier und auf dem sehr präsent eine nagelneue Remington-Schreibmaschine stand. Ein Flieger-Ledermantel hing an der Zimmertür, die sich nun öffnete. Antoine erschien mit einer dampfenden Tasse und hielt sie ihr lächelnd hin. »Brühe? Das würde Ihnen jetzt guttun!« Er reichte sie ihr und blieb in vernünftigem Abstand vom Bett stehen.

Sie nahm die heiße Tasse, deren Inhalt herrlich duftete. Sie bemerkte, dass ihre Hände noch ein wenig zitterig waren, und legte sie um das warme Porzellan. »Was ist passiert? Wo sind wir?«

»Keine Angst, ich hab euch nicht verschleppt. Ihr seid bei mir in der offiziellen Pilotenunterkunft der Aeroposta mitten in Buenos Aires im modernsten Hochhaus der Stadt.« Er deutete zum Fenster. »Später können Sie sich orientieren. Wir sind nicht weit weg von Ihrem Hotel. Ich wollte nur gestern Nacht kein Aufsehen erregen, indem ich Sie, ohnmächtig, und diese zwei ebenfalls Bewusstlosen in Ihre Zimmer trage.« Er grinste. »Der Flug hat euch alle mehr mitgenommen, als ich gedacht hätte.«

»Sie waren aber auch ein Scheusal mit diesen Kurven und Beinahe-Loopings.« Consuelo trank einen Schluck Brühe und seufzte wohlig, als die heiße Flüssigkeit ihren Magen erreichte. Sie bemerkte genau, dass Antoine seine Position nicht veränderte, sondern gebührenden Abstand hielt. Gut so.

»Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben, Consuelo, mein Vögelchen.« Antoine liebkoste sie mit seinem Blick, dass ihr ganz warm wurde. Oder kam das von der Brühe? »Ich möchte Sie immer beschützen und behüten. Ihnen soll nichts Böses passieren auf dieser Welt.« Er kniete sich vor das Bett. »Es ist bereits Mittag durch, und ich muss gleich zum Flugplatz, um mich auf den Nachtflug vorzubereiten, den ich heute absolvieren muss. Aber würden Sie mir morgen früh, wenn ich wieder da bin, die Ehre erweisen, mit mir zu frühstücken? In einem schönen Restaurant?« Er schaute auf Benjamin, der sich nun langsam regte. »Morgen, wenn es allen wieder richtig gut gehen wird? Meinetwegen auch in Gegenwart unseres guten Freundes hier?«

Benjamin stöhnte und richtete sich halb auf. »Meine Güte. Saint-Ex, du bist völlig von Sinnen. Was hast du mit uns gemacht?« Er rüttelte am Pianisten. »Viñes, mein Guter! Du kannst aufwachen. Wir haben es überlebt!«

Viñes öffnete die Augen und blieb liegen. »Nie wieder steige ich in so ein Ding. Nie wieder!«

»Zumindest nicht, wenn Saint-Ex es steuert.« Benjamin rieb sich den Nacken und steckte sich. »Krieg ich auch so eine Brühe?«

Antoine lachte und verschwand aus dem Zimmer.

»Wie soll ich denn heute Abend bloß mein Konzert geben?«, jammerte Viñes. »Ich trete in der Konzerthalle mit dem besten Orchester des Kontinents auf, aber meine Hände zittern noch wie verrückt. Ich fürchte, meine Beine werden mich nicht einmal bis zum Klavierhocker tragen. Und von dem Lärm der Flugzeugmotoren dröhnt mir noch immer der Kopf. Sie wollen mir wohl meine Karriere zerstören, Saint-Ex, was?«, sagte er nun an Antoine gewandt, der mit zwei Tassen in der Hand zurückgekehrt war. »Nichts lag mir ferner. Ich wollte mit diesem Flug einzig und allein diese besondere Dame für mich gewinnen, deren Augen hinter einem Schleier von schwarzen Wimpern bezaubern, deren Haut wie schönstes Mahagoni glänzt und deren Mund so geschwungen ist wie eine Welle des Mittelmeers.«

»Uff!« Benjamin verdrehte die Augen.

»Ist mir das gelungen?« Antoine sah Consuelo fast flehend an.

Consuelo stellte die Tasse auf den kleinen Nachttisch, schlug die Bettdecke zurück und kam so elegant wie möglich auf die Beine. Hui, die fühlten sich noch immer an wie aus Gummi, aber sie ließ sich nichts anmerken. »Herzlichen Dank für die Brühe und die Unterkunft, Monsieur de Saint-Exupéry. Benjamin, Viñes und ich müssen nun gehen.« Sie scheuchte die zwei Begleiter mit einer Handbewegung vom Boden auf. »Wir werden Sie morgen früh in der Brasserie Monaco zum Frühstück erwarten, nicht wahr, Benjamin?« Ihre Abreise war ja erst für den Nachmittag geplant. Also konnte sie diesen äußerst charmanten, einzigartig-eigenartigen Antoine doch noch ein wenig besser kennenlernen, por qué no? Mit Benjamins Begleitschutz natürlich. Sie hieb ihm in die Seite.

»Selbstverständlich, selbstverständlich.« Benjamin rieb sich den Kopf. »O Mann. Ob wir auf dem Weg zu Ihrem Hotel wohl bei einer Apotheke vorbeigehen könnten?«

Viñes indes baute sich vor Antoine auf. »Sollte ich heute Abend wegen Ihnen mein Konzert verhauen und meine Karriere an den Nagel hängen müssen, schicke ich Ihnen meinen Anwalt.« Er reichte ihm seine leere Tasse.

Antoine lachte. »Ich bin mir sicher, Sie werden das beflügeltste Konzert Ihres Lebens spielen.« Er nahm die Tassen in Empfang und wandte sich noch einmal an Consuelo. »Wenn ich heute Abend über die Weiten der Pampa und die Felsen von Patagonien fliege, schreibe ich Ihnen im Herzen den schönsten Liebesbrief.«

Consuelo wurde rot und drängte Benjamin zum Aufbruch.

»Vielleicht schreibe ich ihn auch in echt«, setzte Antoine hinterher und blickte zu seinem Schreibtisch und auf seine Pilotenuhr. »Das könnte ich noch schaffen.« Er nickte und schob sie zur Tür. »Auf Wiedersehen, meine Freunde. Erholen Sie sich gut. Hasta mañana!«

Damit schloss sich die Tür hinter ihnen. Sie standen im nüchternen Hausflur des modernen Hochhauses. Was war das nur für ein ungewöhnlicher Mann, dachte Consuelo noch, als Benjamin schon fragte: »Fahrstuhlfahren gefällig, irgendjemand?«

»Nein, bloß nicht!«, riefen Viñes und Consuelo im Chor. Und einvernehmlich stiegen sie die neun Stockwerke über die Treppe hinunter, den Handlauf des Geländers zur Sicherheit immer fest umfasst.

Kapitel 5

Buenos Aires, Hotel España, Zimmer von Consuelo, früh am nächsten Morgen

Consuelo war gerade aus der Dusche ihres marmornen Badezimmers getreten, als heftig an ihrer Zimmertür geklopft wurde. Was für ein ungehobelter Mensch störte um diese Uhrzeit und in dieser Art und Weise? Sie schlüpfte in den flauschigen Hotelbademantel, und auf dem Weg zur Tür hörte sie bereits: »Consuelo! Consuelo! Ich bin es, Antoine! Machen Sie auf! Sie sind in großer Gefahr! Die Revolution ist losgegangen!«

Was war losgegangen? Sie verknotete die Kordel und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. Ach, diese seltsame Revolution, von der bei Don Peludo und auf dem Schiff die Rede gewesen war. Die hatte sie ganz vergessen bei all der Aufregung rund um den Flug. Und waren sie nicht zu früh, diese Revolutionäre? Zu früh! Revolution also? Dios mío! Sie trat schnell ans Fenster, und tatsächlich! Dort unten auf der Straße rannten junge Männer mit Gewehren über den Schultern vorbei, die Schaufenster des gegenüberliegenden Juwelierladens waren bereits mit Holzbrettern verbarrikadiert. Wie fest hatte sie denn geschlafen, zum Himmeldonnerwetter noch mal, dass sie nichts davon mitbekommen hatte? Jetzt im Nachhinein fiel ihr auf, dass sie heute Morgen auch nicht das übliche Lachen und Werkeln der Zimmermädchen auf dem Flur gehört hatte.

Sie eilte zurück zur Tür, öffnete sie, und Antoine stürmte herein: »Das Personal hat sich verdrückt. Sie sind hier völlig ungeschützt.« Er musterte ihren Bademantel. »Schnell, ziehen Sie sich an. Wir müssen fort. Luxushotels wie dieses sind die bevorzugten Ziele der Studenten. Und Sie, meine Liebe, sind auch noch bekannt als Mitglied des Establishments. Es war sogar ein Foto in der Zeitung von Ihrem Treffen mit Don El Peludo, zum Kuckuck.«

Der Regierungschef! Er war doch nicht etwa … »Was ist mit ihm? Ist er …?«

»Sie kämpfen noch vor der Casa Rosada.« Er öffnete ihren Schrank und warf ihr ein Kleid zu. »Gehen Sie ins Badezimmer und ziehen Sie sich an. Hier drinnen sind wir eine Zielscheibe par excellence!«

An ein paar Stellen noch feucht, zog sie hastig Unterwäsche, Strümpfe und Kleid über, griff nach ihrer Handtasche, stopfte ihren Pass, Schmuck und Geld hinein und folgte Antoine wenig später durch die leeren Hotelflure.

»Wir verschwinden durch die Küche und schlagen uns über die Höfe zur Parallelstraße durch.« Er ergriff ihre Hand und zog sie weiter.

»Aber wohin wollen wir denn?« Ihre Absätze hallten im leeren Hof wider, bevor sie durch eine Toreinfahrt auf die Avenida de Mayo gelangten. Antoine bedeutete ihr, geschützt in der Toreinfahrt zu bleiben, während er die Lage auf dem breiten Boulevard in Augenschein nahm. »Jetzt!«, rief er, und dicht an der Hauswand rannten sie geduckt bis zum nächsten Hauseingang, in den Antoine sie hineindrängte.

»Wohin, Antoine? Wohin bringen Sie mich?«

»Na, in die Brasserie Monaco, natürlich. Wir wollen doch ordentlich frühstücken, nicht wahr?«

»Sie sind verrückt!« Consuelo lachte.

Ein Mann, der seinen Hut festhielt, rannte quer über die leeren Fahrbahnen bis zum gegenüberliegenden Hauseingang. Ein Schuss krachte, schlug aber nur eine Delle in den Asphalt einige Meter hinter dem Mann. Consuelo zuckte zusammen.

»Sie brauchen keine Angst zu haben«, sagte Antoine. »Diese Zivilisten können nicht zielen. Es dauert mehrere Monate, bis ein Mensch zum Töten ausgebildet ist.«

»Wie beruhigend.« Sie atmete schneller und spähte auf die Dächer. Dort oben konnte sie tatsächlich einen jungen Mann mit einem Gewehr hinter einem Schornstein erkennen. Sie dachte an Mexico-City, wo sie auf einer Reise einmal eine ganz ähnliche Erfahrung gemacht hatte, während der Mexikanischen Revolution damals, bei der es immer wieder zu Ausbrüchen von Gewalt gekommen war, als die zapatistischen Kräfte versuchten, eine neue Gesellschaftsordnung aufzubauen. Damals hatte es nur wenige Tote und einige Verletzte mit Streifschüssen gegeben. Vielleicht hatte Antoine also recht. Sie beruhigte sich ein wenig und sah, wie der Schütze auf dem Dach seinen Posten verließ, vielleicht unterwegs zu einem dringenderen Einsatzort.

Antoine kümmerte sich indes gar nicht mehr um das Geschehen auf der Straße oder auf den Dächern, sondern sah ihr tief in die Augen. »Ich habe den schönsten Tisch der Brasserie reserviert, der Wirt ist ein Freund von mir und ein alter Haudegen. Der lässt keinen Aufständischen sein Lokal verwüsten.« Er wandte sich ab und sondierte nun doch die Lage auf der Straße. »Und sie brauen dort den allerbesten Kaffee der Stadt – aus salvadorianischen Kaffeebohnen natürlich. Den wollen wir uns doch nicht entgehen lassen?« Er schaute ein letztes Mal rechts und links. »Los rüber!«, rief er dann, und sie rannten quer über den leeren Boulevard bis zu einem Hauseingang schräg gegenüber. »Sehen Sie, jetzt sind wir schon fast da. Und Benjamin wird es auch schaffen.« Er zog etwas aus seiner Anzugtasche. »Hier ist er übrigens, mein Brief an Sie.« Er überreichte ihr einen schweren Packen Papier. Das waren doch bestimmt dreißig Seiten! Sie nahm es entgegen und sah ihm fassungslos zu, wie er verlegen das Blatt einer Platane von seiner Brust wischte, das dort beim Überqueren der Straße hängen geblieben war. »Lesen Sie ihn bitte, wenn Sie alleine sind.« Er schaute rechts und links. »Los!« Und wieder rannte er zum nächsten Hauseingang, sie hinterher.

»Einmal um die Ecke, und dann sind wir da!« Vornübergebeugt stützte Antoine die Hände auf die Knie und atmete schwer. »Diese Rennerei. Bin ich nicht mehr gewöhnt. Ich sitze eindeutig zu viel in meinem Beruf.« Er hustete. »Falls Sie einmal meine Frau werden, würden Sie dann besser auf mich aufpassen, als ich es tue?«

Bevor sie sich von diesem Satz erholen und eine Antwort finden konnte, schrie er wieder: »Los!« Und sie rannten die letzten Meter bis zur Brasserie Monaco.

Kapitel 6

Sie zog den Brief sofort aus der Tasche, sobald sie am Abend alleine in ihrem Hotelzimmer war. Nicht in ihrem alten Zimmer im Luxushotel, sondern in einem deutlich kleineren und weniger komfortablen des Hauses, in dem auch Benjamin logierte. Die Hotelleitung hier war den sozialistischen Zielen der Revolution wohlgesinnt und hatte ihr Zuflucht gewährt, solange der Hafen und die Bahnhöfe als strategische Punkte belagert wurden, was ihre Abreise nach Hause, nach El Salvador, vorerst verhinderte. Das Hotel schien aber ein sicherer Ort zu sein. Benjamin hatte es für sie arrangiert, gleich nach dem völlig friedlichen und wirklich sehr vorzüglichen Frühstück in der Brasserie Monaco, bei dem sie nur ab und an einen Revolutionär mit Karabiner vor der Fensterscheibe hatten vorbeirennen sehen.

Den Frachtflughafen auf der Wiese weit außerhalb der Stadt hatten die Revolutionäre nicht ins Visier genommen. Antoine hatte sie somit nach dem Frühstück verlassen, um seine Schicht anzutreten und Post an den Südzipfel des Kontinents zu befördern.

Mit ihrer eigenen Post, dem Brief, den er ihr geschrieben hatte, ließ Consuelo sich nun in den schäbigen Ohrensessel am Fenster sinken, kaum dass sie den Mantel ausgezogen hatte. Beinahe vierzig Seiten zählte sie, eng beschrieben mit einer kleinen huschenden Handschrift. So eng, dass sie Mühe hatte, alles zu entziffern …

Sie vertiefte sich in die Lektüre.

Eine halbe Stunde später glitten ihr die Seiten aus der Hand und segelten auf den Teppich. Sie starrte an die stockfleckige Tapete. Dieser Brief – das war eine Entführung ins Reich der Sinne, der Träume, der Sterne. Es war ein Brief, wie sie ihn noch niemals gelesen hatte – und sie hatte weiß Gott schon den einen oder anderen Liebesbrief erhalten in ihrem Leben. Dieser war eher ein Essay über die Liebe als nur ein Brief. Und er zeugte überdeutlich von der Begabung seines Verfassers, seine Leser von der ersten Zeile an zu fesseln. Dieses war nicht der Brief eines Piloten im Streckendienst, sondern eines Sprachvirtuosen, der mit seiner Gabe Großes bewirken konnte. Es war der schönste Brief, den sie je gelesen hatte. Es war überhaupt das allerschönste Schriftstück, einschließlich ihrer bisherigen Lieblingswerke aus der Weltliteratur, das sie kannte.

Sie klaubte die Seiten vom Teppich auf und las noch einmal die ersten Worte: »Madame … Liebste, wenn Sie gestatten …«

Madame … Liebste, wenn Sie gestatten …, wiederholte sich der Satz in ihrem Kopf mit seiner Stimme, immer und immer wieder.

Madame … Liebste, wenn Sie gestatten …

Sie überflog, wie er sie einlud, ein Leben wie im Flug mit ihm zu teilen, ohne Gepäck und mit schlaflosen Nächten, in schwindelerregender Geschwindigkeit. Wie er bat, sie möge ihm dabei festen Boden unter den Füßen schenken und stets eine Tasse heißen Kaffees nebst einem Blumenstrauß für ihn bereithalten.

Sie wühlte sich durch die Seiten, um den allerletzten Satz noch einmal zu lesen, obwohl sie ihn längst auswendig kannte: »Ihr Verlobter … wenn Sie es wünschen.«

Ihr Verlobter!

Wenn Sie es wünschen. Wenn Sie es wünschen.

Schlaflose Nächte. Schwindelerregende Geschwindigkeit. Eine Tasse heißen Kaffees. Blumenstrauß. Kein Gepäck. Wie im Flug.

Sie sprang auf. Sie musste einen Spaziergang machen, um einen klaren Kopf zu bekommen und nachzudenken. Jetzt. Allein. Sofort. Sie brauchte frische Luft. Zum Glück konzentrierten sich die Kämpfe inzwischen nur noch auf ein paar Straßenzüge rund um den Regierungspalast, nachdem die Studenten die anderen strategischen Plätze schnell unter ihre Kontrolle gebracht hatten.

Als sie auf die schmale Straße vor dem Hotel mit den vielen Balkonen trat, auf denen die Leute bereits wieder entspannt beim Kaffee oder Dominospielen saßen, zog sie sich den Hut ein wenig tiefer in die Stirn und wandte sich nach links. Der Weg über die Boulevards und Straßen, die so sehr aussahen wie in Paris, ängstigte sie eher, als dass er sie erfreute. Denn dies war eben nicht die Avenue Henri-Martin mit ihrem so vertrauten rosafarbenen Kirschblütenmeer, und leider war weit und breit auch kein Jardin du Luxembourg in Sicht. Wenn sie hier hinter die schönen Kulissen schaute, dann war dort nichts, keine alten Freundschaften, keine Bekanntschaften, kein Atelier. Wenn Benjamin und Viñes in wenigen Tagen abgereist sein würden, zurück nach Hause, dann wäre sie ganz alleine. Nicht mal einen Kellner, der sie kannte und fröhlich begrüßte, gab es hier in dieser Stadt. Keinen Bäcker, der das Baguette schon für sie parat hatte, kein Geschäft für Künstlerbedarf, in dem man schon wusste, was sie wollte.

Wenn sie Antoines Antrag folgte, dann wäre sie hier einzig und allein Antoines Frau. Fliegerfrau, derzeit stationiert in Buenos Aires. Die meiste Zeit allein, weil er auf seinen Nachteinsätzen über den halben Kontinent flog.

Das mit dem Kaffee und dem Blumenstrauß, das konnte sie wohl hinbekommen. Aber würde ihr das reichen? Sie war doch nun wirklich nicht mehr neunzehn Jahre alt, wo man sich ins Abenteuer stürzte, ohne an die Folgen zu denken, keineswegs!

Außerdem hatte sie doch gerade erst eine Ehe hinter sich. Wollte sie da wirklich schon die nächste? Und was würde ihre Familie in El Salvador dazu sagen? Schließlich hatte sie sich dort angekündigt, um Erholung zu finden und Abstand von ihrem Leben in Europa zu gewinnen. Und um sich einmal ganz in Ruhe und in aller Freiheit zu überlegen, wie es weitergehen konnte.