Mademoiselle Eiffel und der Turm der Liebe - Sophie Villard - E-Book

Mademoiselle Eiffel und der Turm der Liebe E-Book

Sophie Villard

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Beschreibung

Üppig, gefühlvoll, mitreißend: Die inspirierende Geschichte der Tochter des Eiffelturm-Erbauers

Paris 1887: Gustave Eiffel will den höchsten Turm der Welt bauen. Außer ihm glaubt niemand, dass der wahnwitzige Stahlkoloss rechtzeitig zur Weltausstellung fertig wird – bis auf seine mutige Tochter Claire. Zu einer Zeit, als es für Frauen noch als unschicklich gilt, allein spazieren zu gehen, steht sie ihrem Vater als wichtigste Ratgeberin und als Privatsekretärin zur Seite. Doch nicht nur der Wettlauf gegen die Zeit macht den Eiffels zu schaffen: Die Pariser Künstlerszene, allen voran Guy de Maupassant und Alexandre Dumas, formiert sich gegen die angebliche Verschandelung der Stadt. Indes hat Claire auch private Sorgen: Die ständige Angst um ihren Ehemann Adolphe, der als junger Ingenieur für den gefährlichen Bau der Turmspitze verantwortlich ist, bringt ihre Beziehung an den Rand des Abgrunds. Als ein Arbeiter durch einen Sturz vom Gerüst zu Tode kommt und Claire den attraktiven Reporter Gordon Bennett kennenlernt, der ihr ein freies und sorgenloses Leben in Amerika ermöglichen will, muss sie sich entscheiden: Ist der Eiffelturm ihr Schicksal – oder liegt ihre Zukunft in der neuen Welt?

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Seitenzahl: 430

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SOPHIE VILLARD ist das Pseudonym einer erfolgreichen deutschen Autorin. Die gelernte Journalistin und Politologin lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Dresden. Ihr Roman über die berühmte Kunstsammlerin Peggy Guggenheim stand auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Nach Madame Exupéry und die Sterne des Himmels ist dies ihr neuer Roman über eine inspirierende Frau, die uns wenig bekannt ist und deren Lebensgeschichte es zu entdecken gilt.

Außerdem von Sophie Villard lieferbar:

Peggy Guggenheim und der Traum vom Glück. Roman

Madame Exupéry und die Sterne des Himmels. Roman

SOPHIE VILLARD

Mademoiselle

EIFFEL

und der Turm der

LIEBE

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Zitate hier und hier stammen aus: Uwe Schultz, Der Eiffelturm, Primus Verlag 2013.

Die Zitate hier und nachfolgend stammen aus: Philippe Coupérie-Eiffel, Eiffel über Eiffel, Edition Olms 2014.

Copyright © 2023 by Sophie Villard

Copyright © 2023 by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literaturagentur Hille und Schmidt.

Redaktion: Susann Harring

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagabbildung: Lee Avison/Arcangel Images/Magdalena Russocka/Trevillion Images

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-28715-3V001 

www.penguin-verlag.de

Dies ist ein historischer Roman. Er basiert auf der Entstehungsgeschichte des Eiffelturms. Zahlreiche tatsächliche Abläufe und handelnde Personen sind jedoch so verändert und ergänzt, dass Fakten und Fiktion eine untrennbare künstlerische Einheit bilden.

Für alle, die große Träume haben

Nichts auf der Welt ist so kraftvoll wie eine Idee,

deren Zeit gekommen ist.

Victor Hugo

Prolog

Paris, 6. Mai 1889, Tag der Eröffnung der Weltausstellung

Der Duft von tausend Kirschblüten erfüllte die Luft, und die Frühsommersonne wärmte Claires Gesicht, als sie im offenen Coupé über den Boulevard fuhren – hin zu der Feier, der sie nun so lange entgegengefiebert hatte. Die Hufe der zwei edlen Schimmel mit den geflochtenen Mähnen vor der Kutsche klapperten unermüdlich dem Ziel entgegen, das heute das begehrteste der Stadt war. Je näher sie ihm kamen, desto mehr Schmuck zierte die Straßen: An den Laternen flatterten Trikolore-Fahnen im leichten Wind, und hoch oben in der Luft überspannten Wimpelketten in Blau-Weiß-Rot die Straßen. Die fröhlichen Klänge einer Musikkapelle wehten von ferne heran.

Es hätte einer der schönsten Tage in Claires Leben sein sollen. Doch womöglich würde es stattdessen ihr schlimmster werden! Sie hätte schreien mögen vor Anspannung und knetete auf dem Schoß ihre Hände, bis die Knöchel ganz weiß wurden, während sie an den Caféterrassen mit den emsigen Kellnern und speisenden Gästen vorbeirollten. Flaneure mit Spazierstöcken und Damen mit ausladenden Hüten und für diesen Festtag prachtvollen Tournürenkleidern füllten die Trottoirs. Ein Clochard kauerte an der Straßenecke und hoffte wohl, dass ihm heute besonders großzügige Almosen zugesteckt würden.

Im Schaufenster eines Kaufhauses erhaschte Claire einen kurzen Blick auf das Spiegelbild ihrer Kutsche: der gute alte Jacques vorne auf dem Bock mit seinem Zylinder. Dahinter im Coupé der kleine Junge, der sein Stofftier im Arm hielt, und daneben die schlanke, aufrecht sitzende Frau in ihren Zwanzigern mit dem eleganten Hut, unter dem rotblonde, zu einem Dutt aufgesteckte Haare hervorlugten.

Wie selbstsicher und zuversichtlich diese junge Dame doch wirkte! Von den elenden Strapazen und Qualen der letzten Tage und Wochen war nichts zu erkennen. Gut, dass der Schein doch manchmal trog, dachte Claire. Gut so. Denn ganz gewiss konnte sie ihre Anspannung und ihre Angst jetzt nicht zeigen. Jetzt nicht!

Sie riss sich zusammen und hob das Kinn noch ein Stück weiter. Sechsundzwanzig Monate war es nun her, dass sie den Grundstein für den Turm gelegt hatten. Sechsundzwanzig Monate, in denen dieser Koloss aus Eisen sie ins Schwitzen, zum Staunen, zum Lachen gebracht hatte. Und zum Weinen. O ja, zum Weinen auch. Claire blinzelte und zwang sich, nicht an Francesca zu denken, sondern im Hier und Jetzt zu bleiben, bei diesem Riesen mit seinen dreihundertundzwölf Metern, dem höchsten Turm der Welt! Endlich stand er stolz mitten in der Stadt, überragte jedes andere Gebäude der Welt und diente am Champ de Mars als Tor zur Weltausstellung, um all die französischen und internationalen Besucher zu empfangen und zu begeistern.

Es war wirklich verrückt, dachte Claire, dass diese exakt achtzehntausendundachtunddreißig Einzelteile aus Eisen, die Vater und die Ingenieure und Architekten der Firma entworfen und vorfertigen lassen hatten – dass diese vielen Teile am Ende tatsächlich auf den Hundertstelmillimeter genau ineinandergepasst und so diese neue Attraktion der Stadt Paris ergeben hatten wie ein übergroßes Puzzle. Beinahe kam es ihr vor wie ein Wunder. Vor allem, wenn sie daran dachte, wie sie anfangs doch gegen so viele Widerstände …

»Darf ich heute bis ganz oben rauf, Mama?«, unterbrach Roberts helle Kinderstimme ihre Gedanken, und Claire wandte sich lächelnd ihrem Sohn zu, der im Sonntagsstaat, die Füße in den feinen Lackschuhen in der Luft baumelnd, neben ihr saß. Sogar einen kleinen Frack und einen Zylinder hatten sie für ihn anfertigen lassen.

Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Natürlich darfst du bis ganz nach oben, mein Schatz. Und Fibu auch«, sagte sie und kitzelte sein Stoffschaf an dem dicken Wollbauch. Robert strahlte, fing ihre Hand ab und drückte einen Kuss darauf, bevor er wieder aus der Kutsche schaute und laut die Kirschbäume zählte, unter deren üppigen Blütenzweigen sie hindurchglitten, vorbei an einem Kiosk, der die Titelseiten der Zeitungen präsentierte. Deren Schlagzeilen lauteten an diesem Tag alle gleich: »Weltausstellung mit Eiffelturm eröffnet heute!«

Natürlich durfte Robert ganz nach oben auf den Turm, dachte Claire. Wenn, ja wenn nur der letzte Fahrstuhl auch endlich liefe! Gustave und Adi waren heute früh schon im Morgengrauen aufgebrochen, um mit den Ingenieuren von der Aufzugfirma die letzten Handgriffe persönlich zu überwachen und den finalen Testlauf zu starten. Ihr wurde flau in der Magengegend, wie so oft in den letzten Tagen. Sie schob es auf die Tatsache, dass die Augen der ganzen Welt heute auf Paris, auf die Exposition Universelle Internationale, vor allem aber natürlich auf den Turm gerichtet waren. Auf ihren verrückten Eiffelturm! Was hatte er die Familie an Kraft und Nerven gekostet, bis endlich, endlich jeder Niet, jeder Stahlträger, jede Querverstrebung an ihrem Platz gewesen war! Und jedes Gramm Rostschutzfarbe. Erst gestern war der Malertrupp mit dem letzten Farbtopf Venezianisch-Rot abgerückt, nicht ohne vorher aus dreihundert Metern Höhe einen der Töpfe fallen zu lassen. Glücklicherweise hatte er niemanden getroffen. Lediglich der Anzug und die Schuhe eines Spaziergängers waren von den Spritzern ruiniert worden. Claire hatte die Kosten für die Reinigung bereits erstattet und dem guten Mann und seiner Gattin einen Präsentkorb zukommen lassen, der den Schreck hoffentlich verdaulicher machte.

Sie lehnte sich zurück, atmete tief durch und schloss für einen Moment die Augen, während die Pferde unermüdlich weitertrabten und Robert bei Baum Nummer 37 ankam. Sie musste versuchen, das flaue Gefühl zu verdrängen, sich zu entspannen und sich auf diese Feier zu freuen. Besonders auf das Feuerwerk und die Lichterschau, die für den Abend geplant waren. Es würde die größte und wichtigste Feier ihres Lebens werden – nach ihrer Hochzeit mit Adi natürlich. Sofort erfasste sie wieder diese Panik, diese Angst, die ihre Brust einschnürte und ihr die Luft nahm. Sie atmete tief durch. Sie musste es schaffen, Adi umzustimmen. Ihn von seinen vermaledeiten Plänen abzubringen. Sie musste es schaffen!

Sie setzte sich ein wenig aufrechter hin und bemerkte, dass sie schon wieder anfing, ihre Hände zu kneten. Hör auf damit, diese Aufregung ist lächerlich, ermahnte sie sich. Sie würde einfach mit ihm reden! Noch heute. Auf dem Turm. Zwischen all den schillernden Ehrengästen, Politikern, Schauspielern, Wissenschaftlern und Tüftlern. Ganz egal, ob Thomas Edison mit seinem Phonographen, Buffalo Bill mit Annie Oakley oder Gottlieb Daimler mit seiner eigenartigen Kutsche ohne Pferd warteten – sie würde ihren Mann in den kleinen, privaten Eiffel’schen Salon an der Spitze des Turms führen und mit ihm reden.

Danach blieb ihr nur zu hoffen, dass Adi die richtige, die einzig richtige Entscheidung treffen und seinen zerstörerischen Plan ad acta legen würde!

Und obwohl es doch schon so frühlingslau war, begann Claire in ihrem Festkleid zu frieren. Sie legte den Arm um Robert, der nun auf der Sitzfläche kniete und Fibu über den Kutschenrädern schweben ließ. Dein Papa gehört doch hierher, zu uns, dachte sie. Die Familie hatte in den letzten sechsundzwanzig Monaten schon genug mitgemacht. Nun war es Zeit, in ruhigere Bahnen einzubiegen. Es war Zeit, sich auf das zu besinnen, was wirklich zählte. Und das waren keine Höhenmeter, keine Stufenzahlen, keine Stahllegierungen und auch keine Bauskizzen.

Das Stoffschaf erschien plötzlich nah vor ihren Augen, Robert schob sich auf ihren Schoß. »Fibu will auf dem Turm in dem Restaurant mit mir unbedingt ganz viele von diesen salzigen Kartoffelstangen essen, Mama«, sagte Robert und nickte eifrig.

Sie besann sich kurz, lächelte und stupste ihm die Nase. »Diese neumodischen Pommes Frites aus Belgien? Da hat Fibu absolut recht. Das solltet ihr tun.« Robert rutschte zufrieden wieder von ihrem Schoß und wandte sich dem Boulevard zu. Er streckte sich und brach einen Kirschblütenzweig von einem tief hängenden Ast ab, um ihn seiner Mutter zu schenken.

Claire roch daran und steckte ihn ins Reversloch ihres Kleides. Sie würde diese rosafarbenen Blüten aufbewahren und später pressen, nahm sie sich vor. Diese Kirschblüten sollten ihr für immer eine Erinnerung an diesen denkwürdigen Tag sein. An den Tag der Eröffnung der Weltausstellung und ihres Turms. An diesen Tag, der ein Ende markierte, aber auch einen Aufbruch. An den Tag, an dem sie ihren Turm endlich loslassen – und ihre kleine Familie … hoffentlich retten konnten.

Und obwohl sie sich die Fahrt über so sehr zusammengenommen hatte, rollten nun doch die Tränen. Schnell wischte sie sie sich von den Wangen. »Mami freut sich nur so über deine Blüten, mein Liebling«, sagte sie zu Robert, der sie verwundert ansah, sich mit dieser Erklärung aber glücklicherweise zufriedengab. Mit Fibu kletterte er nach vorne zu Jacques. »Sind wir bald da?«, fragte er ihn mit heller Kinderstimme, die voller Vertrauen, Hoffnung und Glaube war. Vertrauen auf die Welt, auf die Familie.

Sie schluckte. Ja, sie waren bald da. Immer mehr Menschen strömten die Straßen Richtung Champ de Mars entlang. Alles lachte und scherzte, es herrschte lebendige Volksfeststimmung.

Sie waren fast da. Am Eiffelturm.

Am Ort der Entscheidung.

Teil 1 

Aus der Zeitung Le Temps, 13. Juni 1886:

Sieger der Ausschreibung steht fest:300-Meter-Eisenturm gewinnt!

Bei der Ausschreibung um die Attraktion der Weltausstellung in drei Jahren in Paris ist nun die Entscheidung gefallen. Die Kommission, bestehend aus Vertretern der Stadt, der Regierung und der Wirtschaft, hat sich für den Entwurf der Firma Eiffel entschieden. Unter der Leitung des umtriebigen Unternehmers Gustave Eiffel, der vorwiegend durch seine Brückenkonstruktionen in ganz Europa bekannt ist, hatten seine Ingenieure Koechlin und Nouguier den Siegerentwurf ersonnen: einen fachwerkartigen Stahlturm von mehr als 300 Metern Höhe. Der aufsehenerregende Turm soll das höchste Bauwerk der Welt werden.

Die Kommission begründet ihre kühne Wahl mit der – im Vergleich zu den Konkurrenzentwürfen aus Stein – optischen Leichtigkeit, Transparenz und Winddurchlässigkeit.

Kritiker des Bauwerks, zu denen sehr bekannte Schriftsteller, Künstler und Impresarien der Stadt gehören, hatten im Vorfeld die in ihren Augen fehlende Ästhetik und die Schroffheit des bisher nur für Industriebauten genutzten Materials bemängelt und nach Bekanntgabe des Siegers am gestrigen Tag zu Protesten aufgerufen. Ein solches Stahlmonstrum sei von überallher zu sehen und störe das Stadtbild somit grundlegend. Man werde den Bau unter keinen Umständen dulden, sondern sich zu wehren wissen, hieß es aus diesen Kreisen.

Die Weltausstellung wird am 6. Mai 1889 am Champ de Mars eröffnet werden. Sie findet in Paris anlässlich des 100. Jubiläums der Französischen Revolution statt.

Kapitel 1 

Vevey am Genfer See, Schweiz, Ferienhaus der Familie Eiffel, 12. August 1886 

»Nein, warte, warte! Lass die Augen zu«, hörte Claire die aufgeregte Stimme ihrer jüngeren Schwester Valentine, die sie fest am Arm hielt und mit langsamen Schritten in den Salon führte. Füßescharren auf dem Parkett und Flüstern verrieten ihr, dass die Familie sich aufstellte. Claire lächelte und ließ die Augen geschlossen, wie ihr geheißen. Mit tastenden Schritten bewegte sie sich vorwärts. Sie freute sich auf den Anblick, den sie gleich würde genießen können. Wie schön das doch jedes Jahr aufs Neue war, dieses Fest an ihrem Namenstag, am Tag der Clara von Assisi, zu dem die ganze Familie in der Villa Claire hier oben am Genfer See zusammenkam. Als Gustave diese Tradition vor ein paar Jahren eingeführt hatte, um seine große Dankbarkeit seiner ältesten Tochter gegenüber auszudrücken, hatte Claire sich zunächst gewehrt, weil ihr so viel Aufmerksamkeit unangenehm war. Aber nun genoss sie dieses Ritual, brachte es doch die ganze Familie zuverlässig und regelmäßig zusammen.

Wie jedes Mal spürte sie auch jetzt, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg und sie rot wurde, weil sie vor allen stehen musste. »Du bist wieder Signorina Tomato«, flüsterte Valentine ihr freundlicherweise ins Ohr. Aber sie wusste schon, nach dieser kleinen Zeremonie würde sich zum Glück niemand mehr auf sie konzentrieren, denn dann wurde gefeiert, gegessen, gelacht, kleinen Sketchen und musikalischen Einlagen der Kinder gelauscht und später am Abend getanzt.

Es rührte Claire jedes Jahr aufs Neue, wie viel Sorgfalt, Planung und Ideen Gustave und die gesamte Familie in diesen Festtag steckten. Und besonders Valentine, die ihr von den vier Geschwistern vom Temperament und vom Aussehen her am ähnlichsten war, war stets die Impulsgeberin und Organisatorin dieses Tages.

»Überraschung!«, schallte es ihr nun aus mehr als zwanzig Mündern entgegen. Claire öffnete die Augen und erblickte in einer langen Reihe stehend ihren Vater, ihren Mann Adi mit Baby Robert auf dem Arm, ihre Geschwister, dazu Cousinen, Tanten und Onkel, die wie üblich ein Lied anstimmten, das sie vorher extra einstudiert hatten. Diesmal war es Claires Lieblingschanson »Beau Soir« von Debussy. Sie legte einen Arm um Valentine, die an ihrer Seite blieb, und lauschte dem Lied mit dem romantischen Text, bis die Familie verstummte und alle klatschten.

Gustave räusperte sich, fuhr sich durch das wellige graue Haar und trat vor. Er nahm beide Hände Claires in seine.

»Meine liebe Claire, schon wieder ist ein Jahr vorbei – und was für eines. Meine geliebte Tochter ist selber Mutter geworden.« Er hatte Tränen in den wasserblauen Augen, als er von Claire hinüber zu Adi und Robert schaute, der friedlich auf dem Arm seines Vaters schlief. »Meine Claire hat eine eigene Familie gegründet mit einem wunderbaren Mann, den wir in unsere Herzen geschlossen haben.« Er nickte Adi zu. Der lächelte zurück. »Mit eurem kleinen Robert beginnt ihr einen neuen Abschnitt in unserer Familiengeschichte. Und ich muss sagen, dass mir das Herz aufgeht, wenn ich euch zusammen sehe.« Er gab Claire einen Kuss auf das Haar. »Auch wenn ich ein wenig traurig bin. Denn das bedeutet natürlich, dass ich, dein alter Herr, nicht mehr der Stern bin, um den du kreist.« Er lachte, aber es klang in der Tat ein wenig bedrückt. »Umso mehr möchte ich dir danken, meine Claire, für all das, was du seit dem Tod deiner Mutter für uns getan hast. Wärest du nicht mit deinen damals gerade einmal vierzehn Jahren so beherzt an Mutters Stelle getreten und hättest dich so liebevoll um deine Geschwister gekümmert – ich weiß nicht, wie ich das als alleinerziehender Vater hätte schaffen sollen.«

»Zumal du so viele Brücken zu bauen hattest!«, rief einer der Onkel, und alles lachte.

Gustave nickte. »Das ist richtig. Claire hat mir diese Arbeit ermöglicht, und nicht nur das. Sie hat stets meinen Ideen und Überlegungen gelauscht, meine hochtrabenden Pläne benickt, die für ein junges Mädchen mit all den Winkelgraden, Windberechnungen und Baumaterialprüfungen sicherlich manchmal ein wenig, nun ja, spröde gewesen sein mögen.«

»Aber nein, Papa«, sagte Claire und zwinkerte. »Das war fast so spannend wie die Abenteuerromane von Jules Verne, die ich so gerne gelesen habe.«

»Hört, hört!«, rief ein Cousin und erntete ausgelassenes Gelächter.

Gustave zog eine kleine, mit lilafarbenem Samt bezogene Schmuckschatulle aus seiner Westentasche hervor. »Für all das, und weil du einfach die liebste Person bist, die ich habe, möchte ich dir etwas Besonderes schenken.« Er übergab ihr die Schatulle und nickte ihr aufmunternd zu. »Schau hinein!«

Claire nahm das Kästchen und klappte es auf. Ein wunderschönes goldenes Medaillon, in Herzform und mit Diamanten besetzt, glänzte in seinem Samtbett.

»Mach es auf!«, sagte Gustave ungeduldig, woraufhin sie das Schmuckstück vorsichtig herausnahm und die Oberseite aufklappte. Innen fand sie als winzige, filigrane Emaillearbeit das Foto von Adi, Robert und ihr, das sie neulich bei einem Fotografen hatten machen lassen und das bereits gerahmt auf dem Kaminsims im Salon zu Hause in Paris stand. Sie fiel ihrem Vater um den Hals. »Danke, Papa! Ist das schön. So kann ich meine Liebsten immer bei mir tragen.«

Gustave nickte. »Und ich bin hoffentlich auch immer bei dir, selbst wenn ich nicht auf dem Bild bin.«

»Aber natürlich, Papa!« Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Du bist immer in meinem Herzen. Außerdem sehen wir uns doch jeden Tag.«

Gustave nickte. »Dafür bin ich ebenso dankbar, meine Claire, dass wir in Paris auch nach deiner Hochzeit weiterhin unter einem Dach wohnen. Danke auch dir, Adi!« Erneut bedachte er den Schwiegersohn mit einem freundlichen Nicken. »Ich freue mich sehr, dass ihr mir ein paar Räume im Palais überlasst. Was wäre ein alter Mann wie ich schließlich ohne Familienanschluss?«

Claire stupste ihn in seinen stattlichen Bauch, der wie immer in eine silbergraue Weste verpackt war. »Alter Mann? Aber Papa! Du bist noch nicht mal sechzig. Und du hast noch so viel vor!«

»Allerdings!«, riefen wieder ein paar der Verwandten dazwischen. »Allerdings!«

»Das ist richtig, meine Claire.« Gustave lachte befreit. »Aber wir wollen hier und heute nicht von der Arbeit reden. Jetzt wird gefeiert! Ans Büfett, meine Lieben, raus in den Garten. Die lange Tafel ist im Schatten der Obstbäume eingedeckt und bereit für gute Gespräche und eine schöne Familienzeit!«

Das ließen sich die Gäste nicht zweimal sagen, sondern strömten durch die Flügeltüren auf die Terrasse, die den Blick den Hang hinunter auf den See freigab. Einige Segelboote kreuzten über das Wasser, und ein Ausflugsdampfer stieß dicke Rauchwolken aus. Die Bergkulisse auf der anderen Seite des Wassers war von leichten Schleierwolken umhüllt.

Claire legte das Medaillon um und schlenderte mit Adi und Robert dem Rest der Familie hinterher. Die gute Bergluft ließ sie sofort durchatmen, und sie genoss das Geräusch, das entstand, wenn sie durch das hohe Gras streiften. Ein Geräusch, das sie in Paris nie hören konnte. Deshalb ließ Vater die Wiese hier in Vevey auch nur selten mähen, damit diese ursprüngliche Sommerhausatmosphäre erhalten bliebe und Bienen und Insekten ihre Freude hatten.

Weiter unten, nahe am Seeufer mit dem schmalen Sandstrand, rückte Adi Claire und sich selbst Liegestühle zurecht, und sie setzten sich mit Robert in den Schatten eines Apfelbaums. Claire legte sich ihren Sohn auf den Bauch und streichelte ihm den Rücken; sofort schlief er friedlich ein, während das Läuten der Dorfkirche zu ihnen herüberschallte. Adi zog Claires freie Hand zu sich hinüber und küsste sie. »Ich bin so stolz auf dich! Es ist ein solches Glück, mit dir verheiratet zu sein.«

Claire lehnte sich in dem Liegestuhl zurück, ohne den Blick von ihrem Mann abzuwenden. Was für ein schöner Mann, dachte sie und liebkoste mit ihrem Blick seine dunklen Haare, seine klugen, verschmitzten Augen und seinen anmutig geschwungenen Mund, dessen Küsse ihr zum Lebenselixier geworden waren.

Ein Schwarm Spatzen ließ sich zwitschernd auf dem Apfelbaum über ihren Köpfen nieder. Adi blinzelte und schloss die Augen. »Wie wäre es, wenn wir für immer hier auf diesen Liegestühlen sitzen bleiben würden und einfach das Leben genießen?«

Claire lachte und beobachtete den Flug einer Biene zu einer blauen Wiesenblume. »Das wird wohl leider nicht möglich sein bei dem, was ihr in der Firma in nächster Zeit vorhabt!«

»Du meinst dieses winzige Vorhaben, diesen klitzekleinen Turm?«, scherzte Adi und versuchte sich offenbar nicht anmerken zu lassen, dass sein erstes Projekt als Juniorchef in der Firma Eiffel ihn höchstwahrscheinlich ein wenig herausfordern würde.

Claire nickte und strich Roberts weiche Haare zur Seite, während dieser seinen Kopf noch enger an sie schmiegte und im Schlaf gluckste. Grundgütiger, was roch er gut! Sie konnte nicht genug davon kriegen und schnuffelte an seinem Haar. »Es werden intensive Wochen und Jahre werden.«

»Wenn der Turm denn überhaupt gebaut werden kann.« Adis Miene verfinsterte sich. »Momentan spricht doch einiges dagegen.«

Claire schloss die Augen. Eigentlich wollte sie sich an solch einem schönen Tag nicht mit Problemen und Herausforderungen beschäftigen. Sie waren hier, um die Familie zu feiern und den Sommer zu genießen. Und das sollten sie auch tun.

Solange es möglich war.

Sie hörten das Gras hinter sich rascheln, schnelle Schritte durchpflügten es. Schon erklang Vaters Stimme, die sehr großen Aufruhr verriet: »Es tut mir so leid, euch stören zu müssen. Aber gerade kam ein furchtbares Telegramm!«

Claire und Adi richteten sich in den Liegestühlen auf und schauten ihn erschrocken an. Robert erwachte mit einem lauten Greinen.

»Pascal hatte einen Herzanfall. Er ist …« Gustave stockte. »Er ist verstorben.« Tränen traten ihm in die Augen.

Sogleich übergab Claire Robert an Adi und stand auf, um Vater zu umarmen. Pascal! Wie schrecklich. Vaters langjähriger Sekretär war ein Urgestein der Firma. Mehr als zwanzig Jahre hatten sie Seite an Seite gearbeitet, Tag für Tag. Pascal war bei allen Projekten auf das Engste eingebunden gewesen und hatte auch die private Korrespondenz von Gustave geleitet. Er war ein kluger Ratgeber und stets zu Diensten gewesen, in eiligen Bauphasen manchmal sogar des Nachts. Dann hatte Vater Pascal rufen lassen, der mit seiner Frau in einer kleinen Mansardenwohnung nicht weit der Eiffels wohnte, und die beiden Männer hatten ein Memo erarbeitet oder einen wichtigen Brief verfasst.

Pascal – nicht mehr da? Das war doch nicht möglich! Sie spürte, wie Vater weinte, und streichelte seinen Rücken.

»Der liebe Pascal!« Vater schluchzte. »Es war natürlich klar, dass er nicht ewig an meiner Seite sein würde. Er war doch auch schon Mitte sechzig. Es war absehbar, dass er bald aufhören und in den Ruhestand gehen müsste. Aber so?«

Claire schob ihn zum Liegestuhl und ließ ihn sich setzen, während Adi mit Robert ins Haus verschwand. Sie stellte sich hinter ihren Vater, legte die Hände beruhigend auf seine Schultern.

Gemeinsam beobachteten sie, wie die Sonne immer tiefer sank und schließlich auf der anderen Seite des Sees hinter den Bergen unterging.

Claire konnte nicht schlafen in dieser Nacht. Ein riesiger silberner Vollmond hing am wolkenlosen Himmel und schickte sein Licht direkt auf ihr Bett. Es war zu warm und stickig im Zimmer, aber auch ohne diese Umstände wäre sie heute wohl nicht zur Ruhe gekommen. Sie vergewisserte sich, dass Adi und Robert schliefen, und schlich aus dem Zimmer. Wie oft hatte sie das schon getan, als Kind und später als Backfisch, hier im Sommerhaus in Vevey: raus in den Garten, frische Bergluft atmen, Sterne beobachten.

Im Nachtgewand öffnete sie die Verandatür und huschte um das Haus herum. Die Sterne konnten sich heute gegen den Mond gar nicht durchsetzen, so hell schien er. Sie lief weiter den Berg hinauf durch den schmalen Waldstreifen und hinter die Scheune zum Tennisplatz. Ein paar Bälle schlagen würde ihr jetzt bestimmt gegen diese Unruhe helfen. Sie nahm einen Schläger aus der Kiste am Spielfeldrand und stellte sich quer zur Scheune auf, um die Bälle an die Wand zu donnern. Mit voller Wucht.

Wie konnte das Leben so gemein sein und ihnen Pascal entreißen? Den lieben Pascal, die gute Seele der Firma? Es war ein großer Einschnitt in der Firmengeschichte. Und ein großer Einschnitt für die Familie.

Rums, sie ließ den Ball gegen die Wand knallen und spürte, wie gut die Anstrengung tat. Die Muskeln ihres rechten Armes spannten unter dem Rüschennachthemd. Bumm! Was sollten sie jetzt nur tun? Wie sollte Vater einen Mitarbeiter finden, der so perfekt war wie Pascal, einen so großzügigen, ja selbstlosen Freund?

»Claire!«, hörte sie auf einmal die Stimme ihrer Schwester. Valentine bog um die Ecke der Scheune, ebenfalls im Nachtgewand, die langen Haare noch zu einem Kranz gebunden. »Gib mir auch einen Schläger! Es ist nicht an Schlafen zu denken.« Bevor Claire reagieren konnte, griff Valentine schon in die Kiste und förderte einen zutage.

»Dann können wir ein Spiel wagen, was?«, fragte Claire, die sich nicht im Geringsten über das Auftauchen ihrer Schwester wunderte. Sie hatten schon so manche Sommernacht, wenn die Mückenplage zu groß gewesen war oder die Luft vor Hitze gestanden hatte, hier auf dem Tennisplatz verbracht.

»Aufschlag?«, fragte Valentine und wartete die Antwort gar nicht ab, sondern knallte schon den ersten Ball, der im Mondlicht wie ein übergroßes Glühwürmchen aussah, über das Netz.

Die nächsten Minuten spielten sie konzentriert und eisern, Schweiß lief ihnen vom Nacken unter das Nachthemd. Bis Valentine plötzlich den Ball auffing, zum Netz kam und verkündete: »Ich werde heiraten.«

Claire ließ den Schläger sinken und trat ebenfalls ans Netz vor. »Du wirst was?«

»Ich werde heiraten«, wiederholte Valentine, als wäre das ganz offensichtlich, doch Claire begriff immer noch nicht.

»Ich habe dir doch von Conte Piccioni erzählt«, begann Valentine ernst, während sie an den Maschen ihres Schlägers spielte.

Claire zog ihre Hand weg. »Nicht, der geht kaputt.«

Valentine verdrehte die Augen und unterließ es. »Immer korrekt bleiben und Haltung bewahren, richtig?« Sie wartete keine Antwort ab, sondern kehrte sofort zum ursprünglichen Thema zurück: »Hast du überhaupt verstanden, was ich gesagt habe?«

Conte Camille Piccioni. Claire nickte langsam. Dieser italienische Graf, der seit Kurzem in Paris weilte und über Adis Herrenclub in ihren Kreis gelangt war. Dieser elegante, sehr charmante Conte aus der Provinz Umbrien. Sie hatte nicht bemerkt, dass er sich besonders um Valentine bemüht hätte, als sie neulich einmal bei einem gemeinsamen Essen bei Freunden eingeladen waren. »Wie kommst du darauf, dass er Interesse am Heiraten hat?«, fragte sie vorsichtig und nahm der Schwester den Schläger ab, um die Gerätschaften wieder in der Kiste zu verstauen.

»Er ist kurz davor, mir einen Antrag zu machen, ich spüre das«, sagte Valentine überzeugt und nickte.

»Was macht dich da so sicher?« Claire wurde immer unruhiger. Hoffentlich benahm sich dieser junge Mann auch ordentlich ihrer kleinen Schwester gegenüber.

»Die Art, wie er mich anschaut und wie er neulich beim Konzert, wo du und Adi nicht dabei sein konntet, kurz meine Hand genommen hat.«

Um Himmels willen, hoffentlich hatte das niemand gesehen! »Aber Valentine, du weißt, du musst vorsichtig sein. Lass dich nicht in gefährliche Situationen drängen, hörst du?« Sie schaute die Schwester eindringlich an.

Der Mondschein zauberte einen weichen Schein auf deren lächelndes Gesicht. »Ich werde mit ihm auf sein italienisches Landgut gehen. Ich habe schon angefangen, Italienisch zu lernen: Buongiorno. Arrivederci. Grazie«, sprach sie die Worte schmachtend aus.

»Valentine, ich denke …«

Das verträumte Lächeln auf dem Gesicht ihrer Schwester erstarb mit einem Mal, sie fixierte Claire: »Du denkst wieder nur an die Gefahren, richtig? Du glaubst mir nicht. Aber ich sage dir: Es wird so kommen! Ich werde eine italienische Gräfin sein. Und dann habe auch ich mal etwas Gutes in die Familie hineingetragen. Dann wird Vater mich loben, nicht immer nur dich!«

»Aber …« Claire erschrak. »Aber das stimmt doch nicht, er hat uns doch alle lieb!«

»Aber dich besonders!« Valentine verzog das Gesicht. »Die tolle Claire, die große Schwester. Die Retterin der Familie, bla, bla, bla!«

»Aber Valentine, bitte …« Claire wollte sie am Arm festhalten und ihr sagen, dass das ein ganz falscher Eindruck war. Doch Valentine riss sich los und wandte sich zum Gehen. »Du wirst mir meine Partie mit dem Grafen nicht verderben, hörst du? Er ist so intelligent und so charmant und so bello.« Sie lächelte schon wieder mit diesem verklärten Gesichtsausdruck. »Buona notte!«, hauchte sie noch über die Schulter zurück und verschwand.

Claire blieb mitten auf dem Spielrasen neben dem Netz zurück. Dass Valentine eifersüchtig war, hatte sie nicht gewusst. Um Himmels willen. Ob es den anderen Geschwistern auch so ging? Sie nahm sich vor, bei Gelegenheit mit Vater zu reden und das Problem zu erörtern. Sie sah den Silbermond hinter ein paar Wolken verschwinden, und der Ruf des Käuzchens aus dem nahen Wald begleitete sie auf ihrem Weg zurück ins Bett.

Kapitel 2 

Villa Claire, Vevey am Genfer See, am nächsten Tag

»Ich habe nachgedacht«, sagte Gustave am nächsten Morgen beim Frühstück und stellte seinen Orangensaft ab, von dem er kaum getrunken hatte. Es war noch früh, denn Gustave wollte so schnell wie möglich nach Paris, um Pascals Familie zur Seite zu stehen.

Claire schaute von ihrem Rührei auf, das die Köchin Nanette mit frischem Schnittlauch aus dem Garten verfeinert hatte. Sie blickte zu Valentine auf der anderen Seite des Tisches hinüber, die nach dem Streit gestern Nacht noch nicht einmal Guten Morgen zu ihr gesagt hatte und sich auch jetzt demonstrativ ihrem Vater zuwandte.

»Ich brauche einen Nachfolger für Pascal, und zwar schnell«, sagte Gustave und schüttelte sogleich den Kopf zu seinen eigenen Worten. »Nein, nicht schnell, sondern sofort! Wir stecken mitten in den Vorbereitungen und Planungen für den Dreihundert-Meter-Turm. Es gibt unendlich viele Fragen und Probleme, die gelöst werden müssen. Außerdem haben wir die Einweihung der Freiheitsstatue in New York in zwei Monaten vor uns.« Er legte sein Besteck zusammen. An Essen war jetzt sowieso nicht mehr zu denken.

Claire nickte. Richtig, die Einweihung der Statue stand auch noch bevor, dieser kupfernen Lady mit der Fackel in der Hand und der Strahlenkrone auf dem Kopf, die gerade in diesen Tagen im Hafen von New York zusammengebaut wurde und im Oktober fertig sein sollte. Ein Geschenk Frankreichs an die Vereinigen Staaten, für das die Firma Eiffel das stählerne Untergerüst gebaut hatte.

Aber ganz unabhängig von diesen beiden großen Projekten brauchte Gustave ohne Frage unbedingt sofort einen Sekretär an seiner Seite, der ihm die täglich auf ihn einströmende Terminflut ordnete und die wichtigen Briefe von den unwichtigen trennte. Der ihm Informationen über Besucher und Firmenhintergründe gab, wenn er in geschäftliche Verhandlungen gehen musste. Der ihm auch gelegentlich einen Friseurtermin organisierte oder Blumen als Dankesgruß an Geschäftspartner oder Freunde schickte. »Hast du denn schon eine Idee, wer aus der Firma das übernehmen könnte?«, fragte sie und ging in Gedanken die engsten Mitarbeiter ihres Vaters durch. Eigentlich waren das alles Ingenieure und Architekten, die an ihrem jeweiligen Zeichentisch oder der Rechenmaschine unabkömmlich waren, gerade jetzt, da die Planung des Turms so viele Skizzen und Baupläne erforderte. Nein, ihr fiel niemand ein, der den Platz von Pascal einnehmen könnte. Zumal Pascal noch andere Qualitäten besessen hatte: Er war hundertprozentig loyal gewesen, verschwiegen und zurückhaltend, hatte sehr gut beobachten können und eine hervorragende Menschenkenntnis besessen. Nicht selten hatte er Vater vor dem ein oder anderen Geschäftsabschluss oder zu engen Kontakt gewarnt. Und meist hatte er recht behalten, und der potenzielle Geschäftspartner stellte sich später als Parvenü heraus. Außerdem war Pascal so umsichtig gewesen, Vater im richtigen Moment ein Mittagessen zu besorgen und aufzupassen, dass er seinen täglichen Spaziergang absolvierte, bei dem er nachdenken und entspannen konnte.

»Wer könnte das denn übernehmen?«, fragte nun auch Adi von der anderen Seite des Frühstückstisches.

»Ich habe intensiv darüber nachgedacht«, sagte Gustave. »Und mir ist nur eine Person eingefallen, die alle Kriterien erfüllt, die ich an diese Aufgabe knüpfe. Der ich hundertprozentig vertraue, die nicht in das aktuelle Planungsgeschäft eingebunden, trotzdem aber bereits sehr intensiv mit dem Turmprojekt vertraut ist.«

»Wer ist es, Vater?«, fragte nun auch Valentine.

Gustave räusperte sich. »Es ist – und ich möchte betonen, dass ich fest daran glaube, dass wir nur mit dieser Person in der Lage sein werden, die Herausforderungen, die uns mit dem Turm bevorstehen, ordentlich zu meistern – es ist eine Person, die wir alle kennen und lieben.«

»Gustave, nun spann uns bitte nicht so auf die Folter. Wir wollen doch wissen, mit wem wir demnächst so eng zusammenarbeiten werden«, sagte Adi. Denn selbstverständlich mussten auch die Architekten und die Ingenieure, zu denen er selbst gehörte, mit »dem neuen Pascal« kooperieren.

Mit einem Mal stand Gustave auf, und alle blickten ihn erstaunt an. Wollte er etwa schon den Tisch verlassen, ohne ihnen das Ergebnis seiner Überlegungen mitzuteilen?

Aber er blieb stehen, schaute feierlich in die Runde und sagte: »Die Person, die die Position von Pascal am besten übernehmen kann und sie sicherlich auch mit Freude übernehmen wird, ist: Claire!« Er lächelte sie an und reichte ihr die Hand über den Tisch. »Du hast alles, was es für diese Arbeit braucht, und du bist meine engste Vertraute. Ich bin fest davon überzeugt, dass du die Richtige für diese wichtige Phase unserer Firma bist. Schlägst du ein, Claire?«

Claire schaute ihren Vater nur entgeistert an, ohne seine Hand zu ergreifen. Hatte sie richtig gehört? Sie merkte, wie sie unter der Tischplatte anfing, ihre Hände zu kneten.

»Der Turm wird vielleicht das wichtigste Projekt in unserer Firmengeschichte sein. Er wird uns lange beschäftigen, wir werden ihn zur Ehre Frankreichs bauen. Als Zeichen für die französische Ingenieurskunst, den technischen Fortschritt und als hoffnungsvolles Symbol der Zukunft. Es wird eine harte Zeit werden mit viel Gegenwind.« Er schaute sie bittend an. »Ich brauche dich dafür an meiner Seite, Claire. Als meine Privatsekretärin.«

Schweigen lag über dem Frühstückstisch, kein Besteck klapperte, keine Tasse wurde auf die Untertasse gestellt. Nur die Vögel draußen im Garten vor der geöffneten Flügeltür sangen ihr Sommerlied. Claire schaute zu Valentine hinüber, aber die Schwester fixierte ihre Serviette auf dem Schoß und ließ sich auf keinen Blickkontakt ein.

Claire war immer noch nicht in der Lage, etwas zu erwidern. Sie sollte die Privatsekretärin ihres Vaters werden? Aber nein! Das konnte sie doch gar nicht! Sie hatte keinerlei Büroerfahrung, konnte gerade mal das bisschen Stenografie, das man ihr in der Schule beigebracht hatte. Außerdem bedeutete das Ganze doch lange Arbeitszeiten, von früh bis manchmal spät in die Nacht. Es bedeutete Dienstreisen in ferne Länder und schwierige Geschäftsgespräche mit Firmen aus aller Welt. Wie stellte sich Gustave das vor? Was sollte mit Robert geschehen? Schließlich wäre auch Adi als Ingenieur von früh bis spät mit dem Turm beschäftigt. Sie war doch gerade erst Mutter geworden und wollte sehen, wie ihr Kind heranwuchs, wollte es lachen hören, wollte sein Bäuchlein streicheln, wenn es Schmerzen hatte, wollte mit ihm durch die Parks von Paris spazieren fahren und erleben, wie es laufen lernte. Zudem hatte sie noch keine Frau getroffen, die in einer Firma arbeitete, anstatt sich um die Familie und die Hausangestellten zu kümmern. Das wäre doch ein ganz und gar ungewöhnlicher Schritt. Wie kam Vater nur darauf?

Sie blickte zu ihm hinüber, der bestärkend nickte, sich aber vorerst wieder hinsetzte, als er merkte, dass sie zögerte.

Nun gut, sie konnte verstehen, dass er ihr am meisten vertraute. Und vielleicht könnte es ihr sogar Freude bereiten, an diesem Riesenprojekt, das sie auch finanziell als Familie enorm belasten würde, mitzuarbeiten und es gegen alle Widerstände zum Erfolg zu führen.

Aber … Robert und Adi. Sie schaute zu Adi hinüber, der mit gerunzelter Stirn auf seine Serviette blickte und wohl auch gerade überschlug, was diese Forderung seines Schwiegervaters für sie als kleine Familie bedeutete.

Nein, es ging nicht! »Vater«, gab Claire sich einen Ruck, »ich danke dir für dein Angebot und das große Vertrauen. Es wird jedoch nicht möglich sein, weil Robert doch noch so klein ist und ich …«

Gustave lächelte. »Ich wusste, dass du das sagen würdest, meine liebe Claire. Ich kenne doch dein großes Mutterherz. Aber sei gewiss, auch dafür habe ich bereits eine Lösung parat. Die beste überhaupt.«

Nun schauten alle auf, auch Adis Miene war gespannt.

»Wir holen uns die liebe Manon zurück!«, rief Gustave und lachte vergnügt.

Manon, die alte Kinderfrau, die in Claires Kindheit im Eiffel’schen Haushalt gearbeitet hatte und sie und die Geschwister begleitet hatte, bis Claire zwölf Jahre alt gewesen war. Manon, die liebe Manon, die sie so geprägt hatte mit ihrer lustigen, zupackenden Art. Aber sie musste doch inzwischen um die sechzig Jahre alt sein, und hatte sie nicht …

»Wir holen Manon zurück!«, wiederholte Vater in ihre Gedanken hinein. »Ich bekam neulich einen Brief von ihr – einer der letzten Briefe, die Pascal beantwortet hat.« Er schluckte schwer. »Sie schrieb, dass ihr Mann, den sie so lange gepflegt hat, vor einem Jahr gestorben sei. Dass sie seitdem in einem Haushalt in der Nähe diene, aber Sehnsucht nach Paris und nach uns habe. Ob sie uns nicht einmal besuchen könne.«

»Und was hast du ihr geantwortet?«, fragte Claire.

»Ich habe geantwortet, dass sie jederzeit willkommen ist, uns zu besuchen.« Er lächelte. »Und nun werde ich eine konkrete Einladung hinterherschicken und sie gezielt bitten, wieder bei uns anzufangen. Ich bin mir fast sicher, dass sie das machen wird.«

Claire schwieg. Wenn Manon tatsächlich zurückkäme und Robert betreuen würde, während sie mit dem Turmprojekt beschäftigt wären – sie hätte ein gutes Gefühl dabei. Sie würde Robert in den besten Händen wissen, in der liebevollsten Atmosphäre, bei der geduldigsten Person.

Sie schaute zu Adi hinüber, der Manon nur aus Erzählungen kannte, und sah, dass seine Miene sich deutlich aufgehellt hatte. Er blickte ihr in die Augen und nickte unmerklich.Konnte sie es also wirklich tun? Nein, nein, nein, das war alles zu schnell! Sie musste ganz in Ruhe nachdenken, sich zurückziehen von diesem Tisch, an dem alle gespannt warteten, was sie erwidern würde. Dies war schließlich eine Entscheidung, die deutliche Auswirkungen auf ihre Familie, auf ihre Ehe, auf ihren Sohn haben würde.

»Entschuldigt mich bitte!« Sie stand auf und verließ den Frühstücksraum durch die große Flügeltür, ohne auf die Rufe zu achten, die ihr folgten. Die Sonne, der Duft des Gartens und das Summen der Natur empfingen sie, als sie über die Wiese zum See lief. Mitten ins noch leicht feuchte Gras setzte sie sich und betrachtete das Wasser, auf dem zu dieser Morgenstunde noch kein Schiffsverkehr herrschte. Sie ließ sich nach hinten fallen und schaute in den Himmel, an dem nur eine einzige kleine Wolke dahinzog. Liebste Maman, dachte sie, was soll ich nur tun? Was ist richtig? Du hast gesagt, ich soll immer für Vater und die Geschwister da sein. Das bin ich. Aber geht dieser Wunsch, in der Firma mitzuarbeiten und meine eigene kleine Familie ganz hintanzustellen, nun nicht zu weit? Soll ich Vater wirklich so weit folgen? Du, Maman, hast nie in der Firma mitgearbeitet, hast dich um uns Kinder und um den Haushalt gekümmert. Kann ich denn nun aufbrechen, um etwas so Neues, Ungewöhnliches zu wagen? Was wird es für uns bedeuten, für Adi, Robert und mich? Ach, Maman, wärst du nur hier, um mir einen Rat zu geben.

Sie wälzte sich auf die Seite und vergrub ihr Gesicht in der Armbeuge. Sie musste eine Entscheidung treffen. Es war verlockend, am Turmprojekt mitzuarbeiten, das schon. Vater wollte es so. Und Maman hatte gesagt, sie solle immer für Vater da sein.

Also, dann … dann sollte es wohl sein!

Sie sprang auf, denn jetzt wollte sie keine Zeit verlieren, den anderen ihre Entscheidung mitzuteilen, damit sie nicht in Versuchung geriet, wieder den ängstlichen, zaghaften Weg zu wählen und abzusagen. Man musste im Leben mutig sein und Dinge wagen, auch das hatte Maman ihr und den Geschwistern immer vermittelt.

Schnellen Schrittes lief sie zurück ins Haus und direkt hinein in den Frühstücksraum.

»Wenn Manon tatsächlich zurückkommt«, rief sie außer Atem in die Runde, »dann könnte ich mir diese Aufgabe wohl vorstellen.« Sofort hörte man vereinzeltes Tischklopfen.

Gustave klatschte in die Hände. »Ich wusste, dass du es machst! Und es ist genau die richtige Entscheidung. Für uns als Familie, die wir mit unserem Privatvermögen für diesen Turm haften werden. Es geht somit, wie ihr alle wisst, auch um unser Palais in Paris und um dieses schöne Ferienrefugium hier am Genfer See.«

Es wurde sehr still um den Frühstückstisch. Nie mehr hier zusammenkommen, den Sommer genießen und Familienfeste feiern? Das war natürlich keine Option!

Und Gustave ließ noch nicht locker mit seinen Schreckgespenstern. »Wenn es nicht klappt mit dem Turm, dann müssen wir Insolvenz anmelden, sie werden uns aus Paris verjagen, und wir können in meine Heimat rund um Dijon zurückgehen und in der Provinz versauern.« Er meinte es ganz ernst, so wie er nickte, ohne eine Miene zu verziehen. »Meine liebe Claire, es ist also die absolut richtige Entscheidung für unsere Familie, für die Firma – und für Frankreich. Denn unsere Landsleute werden bald bemerken, was sie mit diesem Turm aus der Werkstatt Eiffel bekommen: ein nationales Wahrzeichen!«

Jetzt übertrieb er womöglich ein wenig, dachte Claire, es war schließlich nur eine Attraktion für die Weltausstellung. Aber wie dem auch sei: Ja, sie wollte diese wichtige Aufgabe annehmen. Für die Familie. Sie schaute noch einmal zu Valentine hinüber, die nun ihre Serviette auf den Teller legte, aufstand und den Raum verließ. Claire widerstand der Versuchung, ihr zu folgen. Gut, dann war Valentine eben dagegen, dass sie Vaters Privatsekretärin wurde. Aber es ging hier schließlich nicht darum, wer Vater am nächsten war, sondern um eine Unternehmung, die über das Schicksal der Familie bestimmte.

Während der Frühstücksraum sich nach und nach leerte, blieb Claire nachdenklich auf ihrem Stuhl zurück und begann, über die Kollegen im Büro nachzudenken. Wie würden all die langjährigen Mitarbeiter – die Ingenieure, Architekten, technischen Zeichner und Lehrlinge – reagieren, wenn dort plötzlich eine Frau auftauchte? Noch dazu die Tochter des Chefs? Sie waren doch Pascal gewöhnt. Und sie waren es gewöhnt, unter sich zu bleiben.

Unter Männern.

Uff. Vielleicht war sie doch zu schnell mit ihrer Entscheidung gewesen, dachte sie. Aber sie stand auf und zwang sich, vorerst nicht mehr über die neue Aufgabe nachzugrübeln. Noch waren Ferien, noch lagen ein paar wunderbare Tage in Vevey am See vor ihnen.

Und die wollte sie mit Adi und Robert genießen. Trotz aller Aufregung über alles, was kommen würde.

Kapitel 3 

Paris, 5. September 1886 

Der erste Tag im Büro kam schneller heran als gedacht. Robert hatte sehr schlecht geschlafen in der vergangenen Nacht. Claire war mehrmals zu ihm ins Kinderzimmer gehuscht und hatte ihn herumgetragen und getröstet. Ziemlich müde war sie deshalb, als sie sich ihre graue, schlichte Bluse zuknöpfte, die sie extra für den ersten Tag gewählt hatte, um seriös zu wirken. Als Arbeitsrock erschien ihr der ebenfalls graue ohne jede Rüsche daherkommende als am geeignetsten. Aber wenigstens eine Brosche konnte sie sich erlauben, dachte sie und wählte die mit der Kornblume aus Saphir. Die Kette mit dem Medaillon von Gustave trug sie unter der Bluse am Herzen. Es beruhigte sie, es an sich zu wissen.

»Wir müssen los!«, rief Adi von unten aus der Halle, und sie lief schnell hinüber zu Robert und Manon ins Kinderzimmer, um sich zu verabschieden. Ihr kleiner Mann streckte sich nach ihr aus und weinte. Sie küsste ihn und musste ihn notgedrungen zurücklassen.

So schwer hatte sie sich das nicht vorgestellt, dachte sie, als sie mit Adi und Gustave in die Kutsche einstieg, den duftenden Kaffee aus dem Salon noch in der Nase, für den sie heute gar keine Zeit gehabt hatte bei der ganzen Aufregung. Zum Glück hatte die gute Nanette ihr noch eine Papiertüte mit einem frisch gebackenen, noch warmen Croissant in die Hand gedrückt, das sie sich vielleicht später im Büro gönnen konnte. Im Gegenzug hatte sich Claire noch einmal versichert, dass Nanette auch wisse, was für das Abendessen einzukaufen und zu kochen sei. Etwas, das sie sonst im Laufe des Vormittags in Ruhe besprachen.

Es ging ins Büro! Wie aufregend das klang, dachte sie, als sie in der Kutsche durch die Boulevards glitten, Gustave und Adi auf der Sitzbank gegenüber in die Zeitungen vertieft. Aufgeregt zupfte sie an ihrer Frisur herum und war sich nicht sicher, ob diese ausreichend gelungen war in der Kürze der Zeit.

Nach ein paar Minuten Fahrt hielten sie schon vor dem ehemaligen Fabrikgebäude, in dem die moderne Dependance der Firma Eiffel untergebracht war. Zu dritt betraten sie das Großraumbüro mit der breiten Fensterfront, in dem die Ingenieure und Architekten bereits eifrig an ihren hohen Tischen mit den schräg aufgestellten Tischplatten rechneten und zeichneten. Mit Lineal, Zirkel und Bleistiften fabrizierten sie unzählige Linien, Kreise, Zahlen. Sie maßen ab, sie überlegten, sie kritzelten. Als sie allerdings der drei Ankömmlinge gewahr wurden, hielten sie inne und blickten ihnen entgegen.

»Meine Herren«, rief Gustave. »Guten Morgen! Hier gleich einmal eine Ansage für alle: Ab heute übernimmt meine Tochter Claire den Posten als meine Privatsekretärin.« Er pausierte kurz, dann fuhr er fort: »Wir alle vermissen Pascal, das ist klar. Aber mit meiner Tochter habe ich eine gute Nachfolgerin gefunden. Sie kennt sich mit der Idee des Turms, der uns demnächst so sehr beschäftigen wird, bereits gut aus. Doch die Hauptsache ist: Sie kennt sich mit mir und meinen Macken gut aus.« Er lachte. »Bitte wenden Sie sich also in allen Fragen künftig zunächst an sie.« Er zeigte auf einen komplett leeren Schreibtisch am Ende des Großraums, kurz vor der Tür zu seinem verglasten Chefzimmer. »Sie wird hier sitzen, wie einst Pascal, und sie ist ab heute Ihre Ansprechpartnerin für alle Belange, meine Herren! Gutes Schaffen weiterhin!« Damit beendete er seine kurze Rede und verschwand in sein Büro.

Die Männer wandten sich wieder ihrer Arbeit zu, ohne erkennen zu lassen, dass sie Claire überhaupt registriert hatten. Adi nahm sie am Arm und begleitete sie zu ihrem neuen Arbeitsplatz. Er zog ihr den Stuhl hervor. »Bitte, mein Liebling, nimm Platz«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Viel Erfolg! Ich bin sehr stolz auf dich!« Damit verzog er sich zu seinem Zeichentisch inmitten der anderen Ingenieure, zwinkerte ihr noch einmal zu und vertiefte sich in seine Arbeit.

Mit klopfendem Herzen setzte sie sich an den Schreibtisch und fuhr über die leere Tischplatte. Womit sollte sie denn arbeiten? Sie zog die Schublade auf und fand immerhin ein paar lose Blätter Papier und einen Bleistift. Diese Utensilien legte sie auf dem Tisch zurecht und wartete.

Und wartete. Es musste doch einmal einer der Herren eine Frage haben, einen Wunsch, einen Rechercheauftrag? Niemand kam. Und Gustave? Sie wandte sich zu Vater in seinem Büro, der aber hinter der Glasscheibe an seinem Schreibtisch saß und weiter Zeitung las.

Hmm. Sie blickte auf die Uhr. Es war noch nicht einmal halb zehn Uhr. Was sollte sie denn bitte schön bis nachmittags um fünf hier machen?

Sie lugte durch die große Fensterfront und sah Jacques draußen warten. Gut, dann würde sie eben ein paar Besorgungen machen, um sich hier ein wenig häuslich einzurichten. Sie nahm ihre Tasche und stolzierte hinaus. Ziemlich sicher folgte ihr jeder Blick – ebenso eine Stunde später, als sie mit einem ausufernden Blumenbouquet, bestehend aus Rosen, Nelken, Narzissen und Gräsern, zurückkam. Sie arrangierte es in einer bauchigen Vase und stellte es auf ihren Schreibtisch. Nun war ihr schon etwas wohler.

Außerdem platzierte sie einen hübschen Schreibblock mit Ledermappe und einen goldenen Füllfederhalter vor sich, dazu eine dieser neumodischen elektrischen Lampen mit Glühbirne. Wozu gab es hier in der ehemaligen Fabrikhalle schließlich einen Stromanschluss. Das ganze Equipment war ein wenig teuer gewesen, weil sie es beim neuen, exklusiven Kaufhaus Grands Magasins du Printemps gleich hinter der Opéra Garnier besorgt hatte. Aber das war es ihr wert.

Schließlich musste sie sich hier wohlfühlen und sollte gut arbeiten. Zufrieden schaute sie in die Runde, als ihr Werk vollendet war. Hübsch sah es aus. Ansprechend. Zupackend. Aufgeräumt.

Aber die Männer an ihren Arbeitstischen taten weiterhin sehr vertieft und schienen ihre Anwesenheit gar nicht zu bemerken, geschweige denn ihre Dienste zu benötigen.

Um Punkt fünf verabschiedete sie sich von Vater und Adi, die noch bleiben wollten, und ließ sich von Jacques nach Hause kutschieren.

Kapitel 4 

Palais der Familie Eiffel, Rue de Presbourg, Paris, wenig später

Sie fand Manon und Robert beim frühen Abendbrot im Esszimmer vor. Robert aß Erbsenbrei und war schon sehr grün im Gesicht. Manon erzählte, dass sie am Vormittag einen großen Spaziergang gemacht hätten und Robert zum ersten Mal »Katze« gesagt hatte, als er eine die Straße hatte überqueren sehen. Sein erstes Wort nach »Mama« und »Papa«! Fast musste Claire weinen beim Gedanken daran, dass sie nicht dabei gewesen war. Sie herzte ihn und fütterte ihn zu Ende, während Manon oben bereits das Bettchen und die Waschschüssel vorbereitete.

Und das alles sollte sie die nächsten Jahre verpassen, wenn sie als Vaters Privatsekretärin am Turmbau beteiligt wäre?

»Madame, sind Sie dann bereit für das große Backen?«, fragte Nanette, die eingetreten war, um das Geschirr abzuräumen. »Wir haben ja wieder eine ganze Menge vor uns.«

Das stimmte wohl. Denn Claire hatte nicht eingesehen, dass sie die Teilnahme am Wohltätigkeitsbasar von Adis Herrenclub absagen sollte, nur weil sie jetzt berufstätig war. Wie jedes Jahr würde sie selbst gebackene Madeleines beisteuern, die in feinen Pappschachteln verkauft wurden. Der Erlös käme den Kindern im Waisenhaus an der Rue Ordener zugute. Es war eine schöne Tradition, die Adis Club da pflegte, und selbstverständlich unterstützten die Gattinnen dieses Tun nach Kräften. Auch dieses Jahr würde Claire keine Ausnahme bilden. Schließlich waren ihre Madeleines, die sie nach dem alten Familienrezept ihrer Mutter herstellte, sehr beliebt. »Ich komme in die Küche, sobald Robert im Bett ist.«

Sie brachte ihn nach oben und zog ihn zur Nacht um. Dann sang sie ein Gutenachtlied und betete an seinem Bett, während Manon sich zurückhielt und die Anziehsachen für morgen zurechtlegte.

»Gute Nacht!«, sagte Claire schließlich zu beiden, Roberts Augen fielen schon zu.

Unten in der Küche hatte Nanette bereits alle Zutaten auf dem großen Holzarbeitstisch aufgebaut: Eier, Mehl, Zucker, Milch und als Geheimzutat eine Prise Zimt, die Claire immer in den Teig mischte und die ihre Madeleines so besonders schmecken ließ. Nur Nanette und Claire kannten dieses Geheimnis – aber der Rest der Familie rätselte bei großen Feiern jedes Mal, was den Zauber ausmachte.

Nanette reichte ihr eine Schürze. »Dann wollen wir mal, was?«

Claire nickte, und sobald sie die Schürze umhatte, tauchte sie ein in die wohlige Wärme, die der offene Ofen verströmte, in die Wohlgerüche und das beruhigende Geräusch des Wasserkessels, der blubberte und gleich pfeifen würde, weil Nanette ihnen einen Tee zubereitete, den sie während der Arbeit trinken würden.

Claire nahm sich die große Rührschüssel und begann, die ersten Zutaten hineinzustreuen. Nanette goss sich eine Tasse Tee ein und ließ Claire machen. Sie wusste, dass das Backen für ihre Dienstherrin Entspannung bedeutete. »Wie war Ihr erster Arbeitstag?«, fragte sie in ihren Tee hinein.

Claire schlug die Eier nacheinander auf und ließ ihren Inhalt in die Schüssel gleiten. »Nun ja, sagen wir mal, es war nicht besonders.«

»Nicht besonders was?« Nanette blickte sie über ihren Tassenrand hinweg fragend an.

Claire überlegte. »Nicht besonders ansprechend, will ich es einmal nennen.« Und als Nanettes Blick weiterhin auf ihr ruhte: »Es war langweilig.«

Nanette lachte. »Das habe ich mir gleich gedacht, Madame. Ich hätte Ihnen ja auch geraten, lieber hier bei uns zu bleiben. Hier haben Sie genug zu tun mit dem ganzen Organisieren und dem kleinen Robert und so. Da brauchen Sie doch keinen Turm nicht mitzubauen. So was hat Ihre Mutter schließlich auch nicht …« Sie unterbrach sich, vermutlich, weil sie ahnte, sie würde Claires Gefühle verletzen, wenn sie weitersprach.

Claire knetete schweigend die Zutaten in der Schüssel zusammen. Den Teig zwischen den Fingern zu spüren tat gut. Langsam und sorgfältig walkte sie ihn. »Reichen Sie mir mal bitte den Zimt?«, bat sie Nanette, was die Köchin auch sofort tat. Vorsichtig verteilte Claire das so herrlich duftende Gewürz im Teig, so wie ihre Mutter es auch immer getan hatte.

Nanette schob schon die Madeleine-Backbleche heran und stand mit einer kleinen Kelle parat, um die Masse in die Kuhlen zu verteilen. In schneller Folge verschwanden vier Bleche im Ofen. Claire rührte neuen Teig an.

Bald duftete die ganze Küche und wärmte ihre Seele. Als alle Madeleines schließlich goldbraun dalagen und abkühlten, verkosteten Claire und Nanette jeweils eines: »Famos wie immer!«, sagte die alte Köchin anerkennend. »Das haben Sie wieder sehr gut hinbekommen.« Sie lächelte.

»Verpacken Sie sie dann bitte in diese schönen pastellfarbenen Kistchen mit dem Seidenpapier und der Schleife?«, fragte Claire.