Cartier. Der Traum von Diamanten - Sophie Villard - E-Book
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Cartier. Der Traum von Diamanten E-Book

Sophie Villard

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Beschreibung

Liebe, Intrigen und der gefragteste Schmuck der Welt – der Auftakt der zweibändigen Saga über das schillernde Leben der Juweliersfamilie Cartier

Paris, 1910: Nach der geplatzten Verlobung mit einem französischen Adligen versucht sich Jeanne Toussaint als Näherin im zwielichtigen Montmartre über Wasser zu halten. Bis sie in einem Nachtclub den Juwelier Louis Cartier trifft, der gemeinsam mit seinen Brüdern Geschäfte in Paris, London und New York betreibt, in denen jeder, der etwas von sich hält, ein und aus geht. Louis erkennt sofort Jeannes untrügliches Gespür für Stil und ihr Talent. Aber nicht nur das: Er kann nicht leugnen, dass es sich mehr und mehr zu der charmanten und lebhaften jungen Frau hingezogen fühlt. Doch die dunklen Wolken, die sich über Europa zusammenbrauen, bringen mehr und mehr das Geschäft der Familie Cartier in Gefahr.

Raffiniert und atmosphärisch – tauchen Sie mit Sophie Villard ab ins prächtige Paris und begeben Sie sich auf die Spuren einer schillernden Familiensaga.

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Seitenzahl: 574

Veröffentlichungsjahr: 2024

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SOPHIE VILLARD

CARTIER

Der Traum von Diamanten

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Dies ist ein historischer Roman.

Er basiert auf der Unternehmensgeschichte des Hauses Cartier.

Zahlreiche tatsächliche Abläufe und handelnde Personen sind jedoch so verändert und ergänzt, dass Fakten und Fiktion eine untrennbare künstlerische Einheit bilden.

Eine Zusammenarbeit mit Cartier gab es nicht, insbesondere besteht keine wie auch immer geartete Lizenzbeziehung.

Die Verwendung des Firmennamens erfolgt also ausschließlich aus beschreibenden und nicht aus markenmäßig kennzeichnenden Gründen.

Copyright © 2024 by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Susann Harring

Umschlaggestaltung: Favoritbuero, München

Umschlagabbildungen: Bildkomposition aus Motiven von shutterstock, © Magdalena Russocka/Trevillion Images

Diamant-Vignette: Designed by Freepik

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-30659-5V003

www.penguin-verlag.de

»Cartier – Juwelier der Könige, König der Juweliere.«

König Eduard VII. von England

»Ein schwarzer Schatten ließ sich in den Kreis fallen. Es war Bagheera, der schwarze Panther, tintenschwarz am ganzen Leibe, aber mit jener Leopardenzeichnung, die das Fell in einem bestimmten Licht wie die gemusterte Brokatseide aufschimmern läßt.«

aus: Rudyard Kipling, Das Dschungelbuch

Prolog

Paris, La Maison Cartier, 13 Rue de la Paix, November 1914 

Jeanne atmete tief ein und aus, ein und aus, aber dieser Druck, dieses Gefühl, dass etwas Unheilvolles im Anmarsch war, etwas, das ihr vollends den Boden unter den Füßen fortziehen würde und das sie nicht beherrschen konnte – es wollte nicht weichen. Sie hielt sich mit einer Hand an dem runden Empfangstischchen in der Mitte des Eingangssalons fest, auf dem wie immer das große Blumenbouquet stand, das sie unbeirrt wöchentlich geliefert bekamen, als sei alles beim Alten. Mit geschlossenen Augen atmete sie noch einmal und noch einmal, ganz so, wie Coco es ihr geraten hatte. In ihrer Rocktasche umklammerte sie ihren Talisman, den winzigen schwarzen Panther aus Glas, den grand-mère ihr einst für ihren Setzkasten geschenkt hatte und den sie seit Verlassen des Elternhauses als Glücksbringer bei sich trug. In jüngster Zeit allerdings schien er zu versagen.

Angstvoll lauschte sie, ob ein Alarm käme. Aber alles blieb still, zu still, seit die Hälfte der Pariser Bevölkerung nicht mehr hier war, so wie auch Louis, Pierre und Jacques. Paris war innerhalb weniger Wochen eine Stadt der Frauen geworden.

Jeanne schaute sich im Grand Salon um. Die Eichenholzvitrinen waren abgestaubt, der indische Seidenteppich sah aus wie neu. Der Kronleuchter zeigte sich in seiner ganzen glitzernden Pracht. Aus den Lunettenmalereien über den abgehenden Türen blickten ihr staubfrei und neugierig die Figuren und Gesichter der Antike entgegen, die sie schon immer als etwas kitschig empfunden hatte. Sogar die Kassettendecke, die das Gefühl von Geborgenheit erzeugte, glänzte wie nie zuvor, weil Jeanne auf der höchsten Leiter, die sie hatte finden können, das Holz mit Öl behandelt hatte. Sie hatte sich mit diesen Arbeiten beschäftigt, um nicht verrückt zu werden.

Was sollte sie auch anderes tun? Kundinnen kamen nur selten, ganz zu schweigen von Kunden, die ein Schmuckstück für ihre Liebste erwerben wollten. Füllfederhalter, Feuerzeuge und gelegentlich eine dieser nicht besonders geschmackvollen, aber moralunterstützenden patriotischen Anstecknadeln, die sie seit Kurzem produzierten, waren die bestverkauften Artikel derzeit. Niemand hatte Geld, keiner hatte einen Anlass, zu feiern und bei dieser Gelegenheit Schmuck und Juwelen zu verschenken. Tief einatmen, ausatmen. Einatmen und ausatmen. Jeanne musste an sich halten, um nicht in Tränen auszubrechen.

Sie ließ den Panther in der Tasche los, streckte den Rücken, schritt über den dicken Teppich zur Eingangstür und öffnete sie. Kalte, trockene Luft drängte ins Geschäft. Luft, die wach machte, die erfrischte. Die so tat, als sei alles in Ordnung, als sei es ein ganz normaler Novembertag. Dass, während sie hier den Laden bewachte, anderswo Bomben fielen und Männer erschossen wurden, war auf der Rue de la Paix trotz allem nicht ersichtlich. Frauen eilten auf den Trottoirs dahin, ihrer Arbeitsstelle oder dem Einkaufsladen zu. Die Geschäfte waren mehrheitlich noch geöffnet, wenn auch nicht eben gut gefüllt. An die angekündigten Essensmarken und Rationierungen wollte Jeanne lieber nicht denken. Nein, sie würde die Stellung hier halten. Hier, in der Maison Cartier, an der Rue de la Paix, im Herzen von Paris. Es war zwar ziemlich abwegig, ja grotesk, dass sie – ausgerechnet sie – hier nun beinahe alleine den Laden führte. Aber so war das Leben: Es nahm zuweilen absonderliche Wege.

»Bonjour, Jeanne«, wurde sie von einer Frau begrüßt, die heraneilte. Richtig, heute war der eine Tag in der Woche, an dem die Werkstatt noch besetzt war, um besagte Anstecknadeln, Kugelschreiber und weitere Kleinstartikel zu produzieren. Und weil Nicole die einzige Frau in der Werkstatt gewesen war und somit aktuell die einzige Goldschmiedin, hatte sie diese Arbeiten übernommen.

»Bonjour, Nicole, tritt ein.« Jeanne begrüßte sie mit einer Umarmung und machte ihr dann Platz, um einzutreten. Sie hütete sich, nach der Situation in der Familie zu fragen, denn sie wusste, dass ihre Söhne im Heer dienten.

»Ich mache mich gleich an die Arbeit«, sagte Nicole und vermied ebenso, sich nach dem Befinden der männlichen Cartiers zu erkundigen. Sie verschwand durch den Perlensalon in die Hinterräume der Maison. Jeanne schaute ihr nach und hoffte, dass in diesem Perlensalon und auch im Juwelenzimmer nebenan, im Weißen Salon und im Grünen Salon bald wieder freudige Verkaufsgespräche stattfinden konnten, dass Champagner gereicht und rote Schatullen gepackt wurden. Sie hoffte so sehr, dass es so werden würde wie früher. Wie vor diesem vermaledeiten Krieg, der Europa nach dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Ehefrau in Sarajevo erfasst hatte.

Jeanne traten jedes Mal Tränen in die Augen, wenn sie daran dachte, wie sie sich von Louis verabschiedet hatte. »Weine nicht, ma petite panthère«, hatte er gesagt und ihr über das Haar gestreichelt. »Weine nicht. Wir werden die Deutschen besiegen, ganz schnell, und dann werden wir beide …« Er hatte sich selbst unterbrochen, als sein Bruder Pierre in Uniform an sie herangetreten war, um zu fragen, ob Louis bereit sei für die Abfahrt. Der jüngste Cartier-Bruder Jacques war bereits auf dem Weg zu seinem Kavallerieregiment. Pierre und Louis hingegen würden zunächst nach Bordeaux reisen, um dort in der Verwaltung zu helfen, denn die Regierung hatte sich aus Paris zurückgezogen, um die Kommandozentrale fünfhundert Kilometer weiter südlich aufzuschlagen.

»Dann werden wir beide – was?«, hatte Jeanne schnell nachgefragt. Wie hatte Pierre sie nur in diesem wichtigen Moment unterbrechen können? Wollte Louis etwa sagen, dass sie …. Sie hatte es kaum zu denken gewagt, geschweige denn auszusprechen. Er meinte doch wohl nicht, dass sie dann heiraten würden? Sie erinnerte sich, wie ihr das Herz bis zum Hals geschlagen und wie sie verharrt hatte, um seine Reaktion und seine Antwort bloß nicht zu verpassen.

Aber er hatte nur an Pierre gerichtet geantwortet, er sei bereit, den Deutschen in den Hintern zu treten, hatte ihr noch einen Kuss auf die Wange gegeben und war in den bereitstehenden Militärwagen gestiegen. Immerhin waren die Brüder bisher nicht an vorderster Front eingesetzt worden, sondern nur im Büro in Bordeaux. Trotzdem war es ungewiss, wann Jeanne Louis wiedersehen würde.

Genauso ungewiss war, was er mit seinem letzten Satz hatte sagen wollen. Wenn es nur das wäre, was sie hoffte! Würde er die Frage wiederholen, wenn sie sich wiedersähen, endlich wiedersähen? Sie sehnte so sehr den Tag herbei, an dem er wieder hier in Paris bei ihr sein könnte!

In diesem Moment setzte einmal mehr die ohrenbetäubende Sirene ein. Jeannes Herz begann zu rasen, das drückende Gefühl in ihrem Nacken verstärkte sich. Schnell verschloss sie die Ladentür zur Straße, rief Nicole, die zum Glück noch nicht in die Werkstatt hinübergegangen war, und die beiden Frauen stiegen die Treppen hinab in den Keller, nicht ohne dass Nicole ein schnelles Gebet für die schöne Stadt Paris, den unnachahmlichen Cartier-Schmuck, der in den Tresoren über ihnen lagerte, und die Sicherheit ihrer selbst und Jeannes vor sich hin murmelte.

1910 – 1911 

Kapitel 1 

LOUIS CARTIER, Paris, Rue de la Paix, Anfang März 1910 

Louis Cartier schlug den Mantelkragen hoch und rieb sich die kalten Hände. Es war noch ziemlich frisch heute Morgen, aber der Patron der Brasserie hatte die Bistrostühle und die runden Marmortischchen bereits so verführerisch draußen auf dem Trottoir aufgebaut, dass er sich einfach hatte setzen müssen. Die zaghafte Frühlingssonne gab ihr Bestes, um sein Gesicht zu wärmen, warum also sollte er hier nicht schnell einen Kaffee zu sich nehmen und vielleicht ein kleines Croissant, bevor er das Juweliergeschäft aufschloss? Seit der Trennung und dem Auszug von Caroline und Anne-Marie war die Wohnung so furchtbar leer und still, dass er es kaum ertragen konnte, sich dort aufzuhalten, geschweige denn, allein eine Mahlzeit einzunehmen.

Er bemühte sich, die trüben Gedanken zu verdrängen, und grüßte seine Kollegen und Nachbarn, die an ihm vorbeieilten, um ihre Geschäfte pünktlich zu eröffnen: »Bonjour«, rief er dem Parfumeur Guerlain zu, der seinen neuesten Duft ganz en vogue doch tatsächlich nach ihrer florierenden Luxuseinkaufsmeile »Rue de la Paix« benannt hatte. Kurz darauf folgten die Korsettmacherin Gringoire, der Schuhmacher Viault und der Hemdenmacher Chavet. »Bonne chance heute! Gute Verkäufe!«, schallte es zu ihm zurück.

Wie war es doch vergnüglich, Teil der dynamischen Unternehmergilde in dieser Prachtstraße sein zu dürfen, dachte er wieder einmal.

Kaum hatte er die für die Gäste bereitliegende Zeitung aufgenommen, da klopfte der silberne Entenkopf-Knauf eines Spazierstocks auf seine Tischplatte. Er gehörte César Ritz, der ihm einige schweizerische Urlauber ankündigte, die er von seinem Hotel am Place Vendôme später bei ihm vorbeischicken wollte. Louis bedankte sich, und während er anschließend auf seinen Kaffee und das luftige Gebäck wartete, las er endlich die Zeitung. Ein Bericht über das zurückgehende Seine-Hochwasser fesselte ihn sofort. Seit Januar hatte das Wasser die Stadt in Atem gehalten, hatte Keller und Geschäfte entlang des Flusses überflutet. Sogar Seuchen waren ausgebrochen. Die Abgeordneten der Stadtverwaltung hatten ihre Büros im Rathaus mit Booten aufsuchen müssen. Zum Glück war La Maison Cartier hier in der Rue de la Paix weitestgehend verschont geblieben, ebenso wie die Familie gesund geblieben war, dachte Louis.

Mittlerweile ging es in den Nachrichten schon um die letzten Aufräumarbeiten. Alles schien auf ruhigere Zeiten zuzusteuern. Auf Zeiten, in denen man wieder gute Geschäfte machen konnte.

Er legte die Zeitung fort und schloss für einen Moment die Augen, um die Wärme der Sonne zu genießen. Das helle Orange vor seinen Augenlidern machte ihn beinahe jauchzen, und er bemerkte, wie er gar anfing zu summen, dieses brandneue Chanson, das neulich im Maxim’s gespielt worden war und das ihn sofort zu einer Tanzeinlage gezwungen hatte.

Als der Kellner mit dem Kaffee und dem Croissant kam, wechselte Louis ein paar heitere Worte mit ihm und vernahm, dass auch die Gastronomie wieder auf bessere Zeiten hoffte. Und auf ein erfolgreiches Jahr.

Wieder allein, tunkte er das Croissant in die Kaffeeschale ein und genoss sein petit déjeuner, während er die Passanten beobachtete, die an der Café-Terrasse vorbeiflanierten, unter ihnen nun keine Geschäftsleute mehr, sondern Angestellte und auch erste Kundschaft, die hoffentlich ein hübsches Vermögen hier in der Straße lassen würde. Der Verkehr nahm stetig zu. Immer mehr Automobile und Kutschen zogen vorbei, schließlich ging es auf neun Uhr zu. Auch er musste nun schleunigst aufbrechen, um La Maison zu öffnen.

Er trank den letzten Schluck Kaffee im Stehen, ließ ein paar Münzen auf dem Tisch zurück und überquerte die Straße hin zur Nummer 13. Der prächtige schwarze Marmor der Fassade glänzte ihm entgegen, die schneeweißen Markisen mit dem geschwungenen Schriftzug Cartier waren makellos wie immer. Louis wuchs vor Stolz ein paar Millimeter, als er die Tür aufschloss und dabei die goldene Plakette betrachtete, die die Fassade seit Kurzem zierte: »Cartier – offizieller Hoflieferant der englischen Krone«.

Er betrat den Empfangssalon mit seinen edlen Eichenholzvitrinen und der Kassettendecke mit dem zentralen Kronleuchter und spürte den dicken indischen Teppichboden unter seinen Füßen, der ihn jeden Tag aufs Neue begeisterte. Jetzt lag der Raum noch verlassen und ruhig da. Aber in weniger als einer halben Stunde würden die ersten Kunden und Kundinnen eintreten, und die Verkäufer in ihren feinen Anzügen mit den Fliegen und der täglich frischen Einsteckkornblume würden parat stehen, um sie in den Grünen, den Weißen, den Englischen oder den Juwelen-Salon zu führen und ihnen die funkelndsten Diamantencolliers und Smaragdringe, die edelsten Perlen und die raffiniertesten Goldgeschmeide zu präsentieren.

Mit gehörigem Zeitdruck im Nacken eilte Louis vom Empfangssalon nach links durch den Perlensalon – das so wichtige Reich ihrer Ersten Perlenknüpferin Madame Visage, die ihnen immer noch sechzig Prozent des Umsatzes bescherte – ins Hinterzimmer, um den Tresor aufzuschließen.

»Guten Morgen, Monsieur Cartier«, hörte er da auch schon die Stimme seines ältesten Mitarbeiters Viktor, der durch die Dienstbotenhintertür vom Hof her eingetreten war, stets pünktlich, stets verlässlich. »Heute erwarten wir hohen Besuch, nicht wahr?«, fuhr Viktor fort, während er seinen Mantel ablegte, denn er vergaß nie einen Termin.

»Und deshalb muss alles noch perfekter als sonst sein«, sagte Louis und spürte, dass er langsam nervös wurde. Wenn bei dieser Präsentation etwas schiefginge! Daran durfte er gar nicht denken. Durch das Hochwasser hatten sie in den vergangenen zwei Monaten erhebliche Einbußen hinzunehmen, denn selbst die reichsten Kunden hatten sich zunächst um trockene Keller bemühen müssen. Diese Verluste mussten sie nun ausgleichen.

»Wir werden uns die größte Mühe geben«, sagte Viktor.

»Ich bitte darum. Und selbstverständlich werde ich bei dem Verkaufsgespräch dabei sein.«

»Natürlich, Monsieur Cartier.«

Sie nahmen die Schachteln, Schatullen und Schubfächer und trugen sie zu den Vitrinen in die Salons. Schweigend drapierten sie die edlen Stücke auf den samtenen Auslagen, auf den gläsernen Hälsen und Händen, bis jedes Collier am richtigen Platz lag und jeder Ring in der Schaufenstervitrine glänzte. Zum Abschluss ging Louis noch einmal herum und rückte alles zurecht. Wie er die satten Farben der Steine liebte, das Granatapfelrot der Rubine, das Tiefseeblau der Saphire, das Moosgrün der Smaragde. Und erst diese Halsbänder im Girlandenstil, die colliers de chien, mit ihrer raffinierten Platinfassung und den zahlreichen Diamanten, aufgereiht wie auf einem französischen Balkongeländer und funkelnd wie ein ganzer Sternenhimmel! Welch ein Glück, dass er so talentierte Mitarbeiter wie seinen Chefdesigner Moreau hatte, auf dessen Kappe diese Kreation ging. Louis trat einen Schritt zurück und konnte nicht anders, als zu lächeln, als er die prächtige Auslage im Gesamten sah. Und er war nicht der Einzige! Auf der anderen Seite des Schaufensters blieben die ersten Passanten stehen, um die Stücke ebenfalls zu bewundern.

»Nun kann sie kommen«, sagte Louis zufrieden.

»Nun kann sie kommen«, wiederholte Viktor bestätigend und zog seine Fliege gerade, genau in dem Moment, als draußen eine Limousine vorfuhr.

»Großfürstin Wladimir, welch eine Freude!« Louis riss die Tür auf, breitete die Arme aus, ging gemessenen Schrittes auf die korpulente Dame im Nerzmantel zu, die soeben aus dem Fond des Wagens kletterte, gestützt von ihrem Chauffeur, und bot ihr den Arm.

Viktor hielt die Tür auf und verbeugte sich tief, als sie eintraten.

»Vielen Dank, die Herren!« Die Großfürstin nickte huldvoll. »Ich habe mich gleich früh auf den Weg gemacht, schließlich liebäugle ich mit diesem Einkauf schon seit Wochen. Aber das verfluchte Hochwasser hatte einen so sehr ans Haus gefesselt, welch ein Unglück für die Stadt! Die armen Leute in diesen elenden Quartieren, die es so hart erwischt hat mit dieser schrecklichen Cholera. Nun ja, aber jetzt müssen wir nach vorne schauen, nicht wahr?! Nicht zuletzt steht der Frühlingsball der Gräfin Salina vor der Tür. Ich muss meine Garderobe fertigstellen, dazu gehört natürlich Ihr außerordentlicher Schmuck, werter Monsieur Cartier, wie könnte es anders sein.«

»Natürlich, liebe Großfürstin, folgen Sie mir doch bitte in den Grünen Salon.« Louis ging voran durch den runden Empfangsraum, vorbei an dem Blumenbouquet aus gelben Calla-Lilien und weißem Rittersporn, und öffnete eine der Türen im Hintergrund. Einmal mehr klopfte er sich für seine Idee mit den separaten Verkaufsräumen innerlich auf die Schulter, konnte er so doch mehrere Geschäfte voller Diskretion gleichzeitig abschließen. Er servierte der Großfürstin ein Glas Champagner, während sie auf der seidenen Chaiselongue Platz nahm und sichtlich gespannt darauf wartete, was er ihr präsentieren würde.

Louis und Viktor hatten das Tableau bereits vorbereitet und drei Stücke ausgewählt: ein unvermeidliches Collier de Chien, ein Diamantenhalsband im Girlandenstil, das nun mal das Markenzeichen von Cartier war. Insgeheim hoffte Louis allerdings, dass sie sich nicht dafür entscheiden würde, denn diese Art Schmuck sah an schlanken, jungen Hälsen deutlich besser aus. Des Weiteren ein buntes Collier mit einer Vielzahl von Smaragden, Rubinen und Saphiren in verschiedensten Größen in einer edlen Goldfassung. Das war sein Favorit für die Großfürstin, denn diese aufregende Kombination entsprach ganz ihrer Persönlichkeit, fand er. Als Drittes hatte er eine Orient-Perlenkette vorbereitet, die ihm persönlich wegen ihrer Eleganz und dem ausgeprägten Lüsterglanz in zartem Rosé am besten gefiel, die der Dame jedoch vermutlich zu schlicht wäre.

Und richtig. »Nein!«, rief sie, kaum hatte Louis die drei Schmuckstücke vor ihr ausgelegt. »Was soll ich denn mit diesen langweiligen Perlen. Weg damit! Ich brauche etwas Fröhliches! Zeigen Sie mal!« Sie nahm das Diamantenhalsband in die Hand und ließ es durch ihre Finger gleiten. »Wundervoll, wie es funkelt«, schnurrte sie. »Oh, es fasst sich schon so geschmeidig an! Wie bekommen Sie das nur hin? Ich liebe es!« Sie öffnete den Verschluss. »Ob Sie es mir einmal umlegen?«

»Selbstverständlich.« Louis bemühte sich, es nicht in einer der dicken Halsfalten verschwinden zu lassen. Ach herrje, es verkrümelte sich fast. Er reichte Großfürstin Wladimir einen Spiegel, woraufhin sie sich eingehend betrachtete und kurz darauf den Kopf schüttelte. »Ich gehe ja nicht zu meinem Debütantinnenball. Und auch nicht zu meiner Kommunion. Geben Sie das bunte Ding dort her!« Sie zeigte auf das grün, rot und blau leuchtende Goldcollier.

»Eine wunderbare Wahl.« Louis legte es ihr um. Es stand ihr wirklich am besten und brachte ihre Augen zum Leuchten.

Die Großfürstin nickte. »Das ist es! Das entspricht mir und meinem Gemüt am meisten. Woher Sie so etwas nur immer wissen, Monsieur Cartier! Sie treffen stets die perfekte Vorauswahl.«

»Das ist mein Beruf – und meine Leidenschaft. Cartier möchte jede Kundin glücklich machen. Und mit diesem Kunstwerk haben Sie die reinsten Steine, die unsere Händler in Indien im vergangenen Jahr geliefert haben, vereint in einem einzigartigen Stück Goldschmiedekunst, die ihresgleichen …«

»Jajaja, ganz wunderbar!«, unterbrach die Großfürstin seine Schwärmerei und zog die Kette nun selbst aus, um sie zurück auf das Tableau zu legen. »Das soll es also diesmal sein. Würden Sie es nett verpacken und mir ins Palais liefern lassen?«

»Aber selbstverständlich, Großfürstin.«

»Und ist Ihnen die übliche Ratenzahlung in drei Schritten recht?«

»Selbstverständlich, Großfürstin.« Dass immer die reichsten Kunden sich am meisten Zeit ließen mit der Bezahlung! Aber er hatte aufgehört, sich darüber zu ärgern.

»Formidable, mein lieber Monsieur Cartier. Es ist mir stets eine Freude, bei Ihnen einzukaufen.«

»Und uns ist es eine Freude, Ihnen mit unserem Schmuck eine Freude bereiten zu dürfen.«

»Immer wieder gerne!« Sie lächelte und ergriff seinen Arm. »Und wissen Sie was, Cartier? Ich beobachte Sie ja nun schon einige Zeit und schätze Ihre Kunst. Einmal pro Jahr veranstalte ich in meiner Heimatstadt Sankt Petersburg einen Schmuckbasar. Ein Teil des Erlöses kommt guten Zwecken zugute, Waisenkindern und so, Sie wissen schon. Es ist eine perfekte Gelegenheit, sich meinen Landsleuten einmal vor Ort zu präsentieren, Monsieur Cartier, meinen Sie nicht? Hätten Sie vielleicht Interesse, bei einem nächsten Termin mit einem kleinen Stand anwesend zu sein und Ihre exquisite Arbeit anzubieten?«

Oh, das kam überraschend. Eine Messe in Russland, ausgerichtet von einer Romanow, also quasi am Zarenhof? Da brauchte er nicht lange nachzudenken. »Welch großartige Idee, Großfürstin Wladimir. Da sage ich auf der Stelle zu!« Er dachte an die russische Konkurrenz, die leider nicht zu verachten war und alles andere als begeistert wäre, wenn Cartier aus Paris mit seiner Ware auftauchte. Aber schließlich hatten die Russen hier in Paris auch schon ein eigenes Feld besetzt und bedienten ihre zahlreichen Landsleute. Nein, diese Chance, nun im Gegenzug einmal dort aufzutreten, sollten sie sich auf gar keinen Fall entgehen lassen!

»Hervorragend. Mein Sekretär setzt sich mit Ihrem Büro in Verbindung, und ich lasse Ihnen alles zukommen. Falls wir uns bis dahin nicht mehr sehen – bis in Sankt Petersburg, Monsieur Cartier!« Damit wandte sie sich zum Gehen, und Louis kam gar nicht mehr dazu, sich mit einer Verbeugung zu verabschieden, denn schon stieg sie draußen in ihren Wagen und wurde zurück in ihr Stadtpalais am Boulevard Saint-Germain chauffiert, das hier in Paris eine gefragte Anlaufstelle für alle Angelegenheiten der Heiratspolitik und der Gesellschaft zwischen Ost- und Westeuropa war.

Wie großartig, eine Einladung nach Sankt Petersburg! Das roch nach vielen Rubeln und vielleicht auch nach langfristigen Expansionsmöglichkeiten. Wie würden seine Brüder begeistert sein, wenn er ihnen davon schrieb!

Er wollte gerade in sein Büro gehen, um die entsprechenden Briefe aufzusetzen, als die Ladentür erneut geöffnet wurde und ein Schrei erklang: »Papa!« Anne-Marie kam mit wehenden Zöpfen und fliegendem Rock auf ihn zugerannt und sprang in seine Arme, damit er sie herumwirbelte, wobei er darauf achtete, dass ihre kleinen Füßchen in den Lackschuhen nicht die Glasvitrinen trafen.

»Oh, wie schön, dass du mich besuchst, mein kleiner Schatz!« Er küsste sie links und rechts auf die Wangen und stellte sie vor sich ab, wobei er selbst in die Hocke ging, um Aug in Aug mit ihr sprechen zu können. »Aber du bist so früh dran. Ist denn gar keine Schule heute?«

»Madame Malone ist krank geworden. Geneviève und ich gehen nun gleich zum Ballett, Mademoiselle Dubois wird mir eine Privatstunde geben. Und weil wir hier vorbeikommen, wollte ich dir nur eben ein Küsschen geben. Denn frühmorgens und abends kann ich ja nun keines mehr von dir bekommen«, sprudelte sie hervor und platzierte anschließend einen lauten Kuss auf seiner Stirn.

»Vielen Dank, mein Schatz. Das war eine tolle Idee.« Er lächelte sie an, aber es brach ihm fast das Herz, und er musste schwer schlucken. Fehlte nicht viel, dass ihm Tränen in die Augen steigen wollten. Schnell richtete er sich wieder zu seiner ganzen Größe auf und hoffte, dass Anne-Marie nichts bemerkte.

»Sei nicht traurig, Papi«, sagte sie jedoch prompt. »Ich hab dich lieb. Und Mami hab ich auch lieb.«

Das verschlimmerte seinen Zustand eher, sodass er Anne-Marie schnell auf den Arm nahm und sie zur Tür trug, wo das Kindermädchen Geneviève schon wartete, den Ballettbeutel in der Hand.

»Viel Spaß beim Ballett, mein kleiner Schatz«, sagte er und räusperte sich, weil seine Stimme nicht recht kräftig klang. »Und komm mich morgen wieder besuchen, ja?« Auch wenn Caroline erbost wäre, würde sie davon erfahren. Er konnte nur hoffen, dass Geneviève dichthielt.

»Werde ich machen, Papi. Arbeite schön und verkauf viele glitzernde Ringe!« Sie winkte ihm, schon im Weggehen begriffen, zu, und bald waren sie und Geneviève am Ende des Trottoirs angekommen und bogen um die Ecke.

Warum hatte seine Ehe nur so schiefgehen müssen? Warum? Er erinnerte sich an die anfängliche Verliebtheit, die romantischen Spaziergänge Hand in Hand in den Gärten von Versailles. Die ersten Bälle, die ersten Rendezvous in feinen Restaurants. Wie hatten sich ihre Gefühle füreinander nur so ändern können? An welchen Stellen hatten sie nicht genug achtgegeben, hatten die Liebe ihrer Wege ziehen lassen?

In seinem Büro angekommen, verbarrikadierte Louis sich, musste sich zwingen, die Briefe an Pierre und Jacques zu schreiben, in denen er ihnen die Reise nach Sankt Petersburg schmackhaft machte. Natürlich wollte er gern selbst dort hinfahren, auch wenn das bedeutete, dass man den Laden an der Rue de la Paix für gut eine Woche in der Obhut von Angestellten lassen musste. Das taten sie als Familie eigentlich nicht gern, obwohl die langjährigen Mitarbeiter natürlich bestens vertraut mit allen Abläufen waren.

Nun gut, für eine Woche mochte es schon gehen. Er schrieb den letzten Brief fertig und merkte plötzlich, wie ausgelaugt er war. Anne-Maries Besuch hatte ihm zugesetzt. Sogar das Glücksgefühl nach dem Verkauf des sündhaft teuren Geschmeides an die Großfürstin war verflogen. Plötzlich kam ihm alles trist vor. Alles langweilig. Alles so routiniert und wenig inspiriert. Sie brauchten dringend frischen Wind bei Cartier, etwas Neues, nicht immer die gleichen Colliers de chien, die gleichen wuchtigen Goldketten, die gleichen Perlen. Gab es denn keine neuen Ideen? Er sollte sich dringend einmal mit seinem Chefdesigner Moreau in Klausur begeben.

Er nahm sich ein paar ungeöffnete Briefe vom Poststapel, den er so hasste, weil er niemals zu schrumpfen schien und ihn tagtäglich eben genau von dieser kreativen Arbeit mit seinen Designern abhielt. Er blätterte sie rasch durch und zog den einen heraus, der nicht wie eine Rechnung aussah. Und richtig: Als er ihn öffnete, entpuppte er sich als Einladung zu einer Ballett-Premiere: »Die Ballets Russes laden Sie herzlich ein zur Premiere der Scheherazade im Théâtre du Châtelet.« Dazu der Termin und die Uhrzeit.

»Quelle chance, welch ein Glück!«, entfuhr es ihm. Denn von dem legendären Ballettensemble unter der Leitung des Impresarios Sergei Dagilev mit den Spitzentänzern Vaslav Nijinsky und Anna Pawlowa hatte er schon so viel gehört. Selbst die Kostüme und die Bühnenbilder galten als außerordentlich üppig und in ihren naturalistisch dargestellten Details manch einem Zuschauer im Publikum gar als schockierend. Es hieß, es seien zuweilen Damen in Ohnmacht gefallen. Dies konnte also nur ein äußerst inspirierender Abend werden, vielleicht sogar wegweisend für eine zukünftige Kollektion! Es war zwar noch ein paar Wochen hin, aber dort sollte er mit Moreau auf jeden Fall auftauchen.

Beflügelt von der Aussicht auf dieses einzigartige Erlebnis, brachte er es nun doch fertig, sich an den Rest des Poststapels zu machen. Aber je länger er arbeitete, desto dringender wurde sein Verlangen, Büro und Geschäft zu verlassen, um ins Maxim’s zu gehen wie fast jeden Abend. Die Einladung zu den Ballets Russes hatten bestimmt viele bekommen, das war natürlich ein großes Thema, das es zu besprechen galt. Wie so vieles andere. Dieses Lokal war beinahe so etwas wie sein zweites Büro geworden. Was hatte er dort schon für Informationen bekommen und Geschäfte eingefädelt! Außerdem waren das Essen und die Musikkapelle nicht zu verachten. Das Etablissement entwickelte sich immer mehr zur angesagten localité für alle aufstrebenden jungen Menschen in der Stadt. Und davon drängten immer mehr nach Paris. Männliche wie neuerdings auch weibliche: Tänzerinnen aus den Cabarets, Büroangestellte, Verkäuferinnen aus den feinen Kaufhäusern wie dem neuen Lafayette und dem Printemps, aber auch reiche Erbinnen und Erben, der Adel aus ganz Europa, Erfinder, Schauspielerinnen, Künstler, Musikerinnen. Nicht zu vergessen viele interessante Zugereiste aus Amerika oder gar aus Japan, die neue Impulse, fremdartige Klänge und exotische Mode mitbrachten.

Er lächelte und hörte schon die Trompete und das Schlagzeug spielen, roch die Austern und den Zigarrenrauch, sah die Körper sich im Takt wiegen. Spürte die Wärme der Suppe in seinem Magen, den Rausch des Champagners in seinen Adern.

Ach, er konnte es nicht erwarten, heute Abend wieder ins vie nocturne, in das Nachtleben von Paris, einzutauchen. Zumal sein Freund, der weltberühmte Flugpionier, Ingenieur und Tausendsassa Alberto Santos-Dumont, ihn um eine äußerst dringende Unterredung gebeten hatte. Worum es nur ginge? Einen neuen Rekordflugversuch?

Kapitel 2 

PIERRE CARTIER, New York, Fifth Avenue, gleicher Tag

Wenn es eines gab, was Pierre hasste, dann waren es Fingerabdrücke am Schaufenster. Aber selbstverständlich ließen sie sich nicht vermeiden, auch wenn er mehrmals täglich persönlich mit einem Putztuch hinaustrat, um sie zu entfernen. So auch jetzt, als er sich auf den Weg zum Lunch ins eheliche Stadthaus ein paar Straßenblöcke weiter oben auf der Upper East Side machte. Er schaute sich um, ob auch niemand guckte, spuckte auf sein Poliertuch und wischte die Fettfinger weg. Bei einer solchen Auslage zeigten die Passanten ständig auf das eine oder andere Stück, das war ja klar. Und er war natürlich stolz auf den wertvollen Schmuck, aber insgeheim gefielen ihm die filigranen Cartier-Tischuhren mit den aufwendig gestalteten Emaillezifferblättern, Elfenbeinzeigern und Porzellanaufbauten, die sich so dekorativ auf Kaminsimsen oder Schreibtischen machten, am allerbesten. Ihre so einzigartige französische Handwerkskunst hier an dieser prominenten Adresse der amerikanischen Kundschaft präsentieren zu können, war ihm eine echte Freude. Wie gut, dass es ihm gelungen war, dieses ehrwürdige Gebäude an der Prachtstraße, der Fifth Avenue, zu ergattern. Nun musste er zugeben, eigentlich war es Elma gelungen, seiner Frau, die in dieser Minute zu Hause mit dem Mittagessen auf ihn wartete. Ihre Kontakte als Tochter des Eisenbahnpioniers Rumsey reichten weit in die feine New Yorker Gesellschaft hinein und hatten sie mit der Stahlmagnatenfamilie Plant zusammengebracht. Mrs. Plant hatte sich unsterblich in ein zweireihiges, langes, schlichtweg perfektes Perlencollier verliebt. So sehr, dass Mr. Plant besagte Perlenkette kurzerhand gegen das Geschäftsgebäude an der Fifth Avenue eingetauscht hatte. Ein ebenbürtiger Deal im Wert von über einer Million Dollar, der Pierre gerade recht gekommen war. Denn Immobilien an dieser Adresse waren selten auf dem Markt. Und es war auch nicht gerade so, dass Cartier solche Beträge cash and carry zur Verfügung hatte.

Er steckte das Poliertuch in die Hosentasche und lief los, die Fifth Avenue hinunter Richtung Central Park. Die Automobile fuhren beinahe Stoßstange an Stoßstange, und immer wieder erklang wildes Hupen, doch er ließ sich von dem Lärm und dem Gestank von verbranntem Gasoline und gelegentlich noch anfallenden Pferdeäpfeln der Kutschengespanne nicht stören. Die Sonne schien vom strahlend blauen Himmel, wie so oft in den kälteren Jahreszeiten. Das war eine der schönen Eigenheiten dieser Stadt, in die sie vor Kurzem mit dem ersten Cartier-Geschäft auf amerikanischem Boden expandiert hatten. Ob es sich lohnen würde, musste sich erst noch zeigen. Aber dass sie hier sein mussten, auf der Flaniermeile der Automobilindustriellen wie den Fords, der Ölbarone wie den Rockefellers, direkt vor der Haustür der Vanderbilts, Carnegies und Astors, das stand natürlich außer Frage.

»Excuse me, excuse me«, hörte er die Leute um sich herum auf dem Bürgersteig murmeln, während sie ihn überholten. Ständig legten die Amerikaner dieses verrückte Tempo vor. Es war fast, als wollten sie einen sportlichen Wettkampf gewinnen.

Beim Stichwort Wettkampf merkte er, wie sein Blut in Wallung geriet vor Ärger. Da hatten doch diese umliegenden Juweliere nun begonnen, ihre französischen Designs abzukupfern, sobald sie in der Auslage landeten. In Windeseile produzierten sie sie nach! Das war ungehörig, das machte man nicht! Aber diese amerikanischen Juweliere taten es trotzdem, und zwar in null Komma nichts. Reichte es der Familie Tiffany denn nicht, dass sie mit ihrem berühmten gelben Tiffany-Diamanten so entsetzlich angeben konnten? Dieser 128,51 Karat schwere Stein mit seinen 90 Facetten, der ständig in verschiedenen Dekorationen im Schaufenster nur ein paar Hundert Meter die Fifth Avenue hinunter glänzte und funkelte und die Schaulustigen anzog, war wirklich ein großes, schweres Ärgernis! Sie mussten sich dringend eine Gegenstrategie ausdenken, befand Pierre und beschleunigte seinen Schritt.

Mit einem Mal bemerkte er einen Mann neben sich, der sich direkt an seine Seite zu heften schien und fast den halben Block von der 58th bis zur 59th Street im exakt gleichen Tempo voranschritt. Er trug einen Hut, einen Mantel und ein Aktenköfferchen wie ein Handelsvertreter. Oder war er etwa von der Steuerbehörde? Sie hatten doch wohl immer alle Waren und Materialien, die aus Frankreich herüberkamen, ordnungsgemäß deklariert?

»Monsieur Cartier?«, sprach der Mann ihn schließlich an.

»Oui«, gab Pierre etwas unwirsch zurück. Was war das aber auch für eine ungehobelte Art, ihn auf der Straße zu verfolgen?

»Entschuldigen Sie bitte, Monsieur Cartier. Ich hatte Sie um eine halbe Minute im Geschäft verpasst, und Ihre Mitarbeiter waren so freundlich, mir zu sagen, dass Sie gen Central Park unterwegs seien. Mein Anliegen ist sehr dringend.«

»Was wünschen Sie?« Pierre verschärfte seine Gangart noch. Dieser Fremde mit eigenartigem Akzent – Amerikaner war er offenbar nicht, Franzose aber auch nicht – sollte ruhig rennen, wenn er ihn schon in der Mittagspause störte. Er freute sich bereits auf die angekündigte Pastete, die zu Hause serviert werden würde, mit Champagner, selbstredend.

»Machen Sie schnell, ich muss zum Essen.«

Der Mann grinste ein wenig unverschämt, wie Pierre fand. »Einem Franzosen beim Essen in die Quere zu kommen, ist wohl kein guter Einstieg in ein wichtiges Gespräch. Aber ich wage es trotzdem.«

Bodenlos! »Nun machen Sie es nicht so spannend.«

»Dieses Thema verlangt außerordentliche Diskretion, Monsieur. Ich schlage vor, wir biegen dort am Plaza Hotel in den Park ein und suchen uns eine Bank ein wenig abseits des Hauptweges, damit uns keiner belauschen kann.«

Pierre wurde nun doch neugierig. »Wenn Sie meinen. Kommen Sie.«

Sie verließen die quirlige Avenue und schwenkten in einen Parkweg ein. Nach ein paar Metern wich der Lärm der Automobile, Kutschen und Menschen, und es umfing sie wohltuende Ruhe. Nur die Tauben und das Rauschen des Windes in den Blättern über ihren Köpfen waren zu hören. Nachdem sie eine Bank besetzt hatten, schaute Pierre den Mann zum ersten Mal richtig an. Er war ein wenig älter als er selbst, vielleicht Mitte dreißig, trug keinen Bart, dafür hatte er dicke Augenbrauen über beinahe stechend blauen Augen. »Was führt Sie zu mir?«

Der Mann verneigte sich, so gut es sitzend auf der Bank ging. »Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle. Mein Name ist Theo van Winkel, ich stamme ursprünglich aus Holland, Antwerpen. Diamantenhandel.«

»Van Winkel? Ja, natürlich, ist mir ein Begriff. In Paris haben wir einige schöne Stücke von Ihnen verarbeitet. Ausgezeichnete Qualität. Südafrikanische Minen, nicht wahr? Sie verkaufen sich hervorragend.«

Van Winkel nickte, aber er lächelte nicht, sondern wirkte aufgeregt. »Was ich Ihnen heute anbieten möchte, ist aber etwas ganz anderes. Andere Kategorie. Anderer Stern, wenn Sie so wollen.«

Pierre beobachtete ein Liebespaar, das eng eingehakt an ihnen vorbeischlenderte. »Schießen Sie los.«

»Wir sind in den Besitz des Hope-Diamanten gelangt.«

Mehr sagte er nicht. Aber es genügte, damit Pierre sich kerzengerade aufrichtete und tief einatmete. Der Hope-Diamant! War denn das möglich? Dieser Stein war, zumindest solange Pierre lebte, nicht auf dem Markt gewesen und nur selten auf besonderen Empfängen von den Damen der britischen Familie Hope präsentiert und vom Rest der Welt bewundert worden.

»Er ist der schönste, der reinste, der interessanteste Diamant, den ich je zu Gesicht bekommen habe!«, platzte van Winkel mit leuchtenden Augen heraus.

»Das brauchen Sie mir nicht zu erklären!« Auch wenn er ihn noch nicht mit eigenen Augen gesehen hatte, Pierre konnte es sich vorstellen. Solch einen perfekt geschliffenen Diamanten in dieser Farbreinheit von tiefstem Blau und dieser enormen Größe – beinahe wie ein Taubenei! 45,52 Karat hatte er, falls Pierre sich recht erinnerte. Wenn da nur nicht dieser große, große Haken wäre!

Van Winkel schien seine Gedanken zu erahnen. »Ja, der Fluch, natürlich. Aber Monsieur Cartier, dieser Stein ist ein Stein, nichts weiter. Diese unselige Geschichte ist doch Aberglaube. Der Diamant ist perfekt, makellos. Sie werden niemals mehr einen solchen Stein angeboten bekommen. Und nie die Chance haben, solch ein Stück in den Händen zu halten.«

»Aber der Fluch ist …«

»Das ist Humbug. Mit Verlaub. Der Stein wurde keiner indischen Gottheit entrissen und ist deshalb auch nicht verflucht. Nein, ein französischer Kaufmann hat ihn im 17. Jahrhundert im Flussbett des Kooleron in der indischen Provinz Andhra Pradesh schlicht und ergreifend gefunden. Und ja, Leute werden nun mal krank und sterben, auch wenn sie nicht im Besitz dieses Steines sind.«

»Aber diese Ballung von Unglück für die vormaligen Besitzer …«

»Also, Marie-Antoinette und ihr Mann wurden sicher nicht wegen des blauen Diamanten ermordet. Und Ludwig XV. ist an einer Erkältung im Alter gestorben und nicht an den bösen Pocken, wie so oft kolportiert. Und die Hope-Familie ist nun einmal eine sehr umtriebige, das war sie schon immer. Wer viel reist, begibt sich schließlich auch in viele Gefahren. Zufall, alles Zufall.«

Pierre schwieg. »Wie lange ist der Stein jetzt in Ihrem Besitz?«

»Mein Cousin in Antwerpen hat ihn vor vier Tagen erworben.« Van Winkel grinste. »Er lebt noch, und ich auch, wie Sie sehen.«

»Warum wurde der Diamant denn so plötzlich angeboten?«

Van Winkel wartete mit seiner Antwort, bis ein junger Mann, der mit seinem Yorkshire Terrier an der Leine eine Zigarette rauchend vorbeischlenderte und es nicht eilig zu haben schien, wieder außer Hörweite war. »Weil Mister Hope der dritten Generation dringend Geld für einen Gerichtsprozess benötigt.«

Mhm. Das klang plausibel. »Und Sie haben den Stein einwandfrei als denjenigen identifiziert.«

»In der Tat. Wir haben das Zertifikat, und wir haben selbst Analysen durchführen dürfen. Außerdem haben wir Mister Hope persönlich dazu befragt. Es ist der Hope.«

»Es ist der Hope«, murmelte Pierre. Vor seinem inneren Auge drehte sich der blaue Diamant mit dem perfekten Kissenschliff, er schimmerte und funkelte. Einer der teuersten Steine der Welt!

Pierre stand auf, seine Beine brauchten jetzt Bewegung. Was für eine Gelegenheit! Das passierte nur ein einziges Mal im Leben! Der Hope-Diamant! Was sollte er tun? Ihn kaufen und riskieren, dass an dem Fluch vielleicht doch etwas dran war? Oder dass man ihn am Ende nicht veräußern konnte, weil die Leute an diesen Fluch glaubten, Aberglaube hin oder her? Er musste sich mit seinen Brüdern beraten! Sollten sie es wagen? Und natürlich: Würden sie ihn sich überhaupt leisten können?

»Mister van Winkel, ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen und für das Angebot. Ich werde es mit meinen Brüdern besprechen. Wie kann ich Sie erreichen?«

Van Winkel reichte ihm eine Karte. »Kontaktieren Sie mich jederzeit. Wenn Sie uns in Antwerpen besuchen kommen, kann ich Ihnen das gute Stück auch zeigen. Sie werden Verständnis haben, dass ich damit nicht auf gut Glück durch die Weltgeschichte reise.«

»Bien sûr.«

Van Winkel erhob sich und lüftete seinen Hut als Abschiedsgruß.

Pierre blieb nachdenklich zurück und beobachtete zwei Tauben, die ein Stück Brezel verspeisten, das ein Parkbesucher hatte fallen lassen.

Der Hope! War denn das zu fassen!

Er eilte los.

»Bist du noch bei Sinnen?« Elma wurde ganz rot im Gesicht, als er ihr beim Lunch die Neuigkeit eröffnete, und streichelte nervös über ihren gewölbten Bauch.

Voller Liebe schaute Pierre seine Frau an. Auch wenn sie sich so aufregte, war sie in seinen Augen eine Schönheit.

»Auf keinen Fall! Auf gar keinen Fall kaufst du diesen schrecklichen Diamanten!« Sie schüttelte energisch den Kopf, sodass ihre offenen Locken, die sie heute noch nicht in eine dieser strengen Hochsteckfrisuren gebannt hatte, wild schaukelten.

»Aber Elma. Er ist die Perfektion schlechthin. Solch ein Stück werden wir nie wieder angeboten bekommen!«

»Na und? Brauchen wir auch nicht. Es läuft doch gut mit dem, was wir haben.«

»Aber wir stechen nicht heraus. Die New Yorker Kunden gehen lieber zu Tiffany oder diesem anderen Halsabschneider ein Stück die Fifth Avenue abwärts.«

»Das werden wir ihnen schon austreiben. Hab doch ein wenig Geduld! Deine Strategie, die Portiers der guten Hotels, die Schokoladenhändler und Patisserien und auch die Edel-Floristen mit unseren Visitenkarten zu versorgen und um Informationen über anstehende Familienfeste in der High Society zu bitten, hat doch schon einiges gebracht. Wir werden langsam bekannt in der Stadt.«

»Aber wenn wir den Hope hätten! Wenn wir ihn bei uns ausstellen und sogar zum Kauf anbieten könnten – das wäre eine echte Sensation. Wir hätten mit einem Mal einen legendären Status, stünden in der Zeitung, könnten uns vor Besuchern nicht retten.«

»Solange dieser Status und diese Bekanntheit uns ins Verderben führen, nein danke, Pierre.« Sie schob ihre Trüffelpastete von sich.

»Warum glauben denn alle an das Märchen mit dem Fluch? Das sind doch alles dumme Zufälle gewesen. Der Stein ist nur ein Stein. Allerdings einer der schönsten der Welt.«

Elma schüttelte den Kopf. »Ich möchte nichts mit diesem Stein zu tun haben. Bitte denk doch an unser ungeborenes Kind!«

An ein friedliches Mahl war jetzt nicht mehr zu denken.

Pierre erhob sich. »Jetzt ist es aber gut, Elma. Ich denke sehr oft an unser Kind und freue mich, weil ich weiß, dass es in einem Monat gesund zur Welt kommen wird. Ganz egal, was für Entscheidungen ich in der Firma treffe.« Er warf seine Leinenserviette auf den Teller und verließ den Salon, vom Dienstmädchen verwundert beäugt.

Wo kam nur dieser dumme Aberglaube her? Er musste Louis und Jacques schreiben, nein, am besten gleich telegrafieren! Und er glaubte zu wissen, was die Brüder entscheiden würden. Sie waren bestimmt ganz seiner Meinung: kaufen.

Kapitel 3 

JACQUES CARTIER, New Bond Street, London, am gleichen Tag

Schon wieder dieser Nieselregen. Er konnte sich einfach nicht daran gewöhnen. Dieses englische Mischmaschwetter in dieser grauen Stadt! Wäre er doch endlich auf Handelsreise! Am Persischen Golf in der gleißenden Sonne, auf den wackligen Booten der Perlentaucher, in Ceylon im Schlamm und Lärm der Saphirminen, in Südafrika inmitten der Diamantenfelder. Er malte sich aus, wie er mit den Arbeitern vor Ort und mit den Händlern die rohen, noch matten, unbearbeiteten Steine, die gerade erst dem Erdreich entrissen worden waren, begutachtete. Sehnte sich danach, in seinem Skizzenbuch die Berge, Täler, Flüsse, Wolken, Pflanzen, die Gesichter verschiedenster Menschen festzuhalten. Er roch die Gewürze, den Staub, die Garküchen, wenn er mit der Rikscha durch die Souks gefahren werden würde. Er sah sich auf einer Urwaldexpedition, wo kleine Äffchen über seinem Tropenhelm durch die Zweige schwingen und Schlangen an einem Ast hängen würden. Er sah …

Stopp, befahl er sich. Er fantasierte schon wieder!

»Das Leben funktioniert nicht à la carte«, hörte er die Stimmen seiner Brüder im Kopf. Nein, wie wahr, es gab allzu oft nur trocken Brot. Oder business as usual, wie der Engländer so schön sagte. Und seine Aufgabe im Familiengefüge war es nun einmal, das Geschäft hier in der New Bond Street im feinen Mayfair ordentlich und erfolgreich zu führen. Kleine Äffchen oder gar Schlangen kamen hier nicht vor. Außer natürlich gelegentlich in Form eines Schlangenrings mit Diamantenaugen.

Jacques starrte seufzend auf die Straße hinaus: Männer in korrekten Kaschmirmänteln und steifen Hüten, Damen in langen Kleidern und feinen Umhängen, weit und breit kein Sari, kein Thawb, kein Boubou.

»Monsieur Cartier, haben Sie eine Minute?«, hörte er eine weibliche Stimme hinter sich.

Er hatte auch vier Minuten, wenn es sein musste. Heute war ein langsamer Tag. Nur ein silbernes Feuerzeug mit persönlicher Gravur war an diesem Vormittag abgeholt und eine Rubinkette zur Umarbeitung abgegeben worden.

»Natürlich, Miss Winter«, gab er zurück, ohne sich umzudrehen, denn es konnte nur die junge Miss Winter sein, die ihn ansprach. Sie war die einzige weibliche Angestellte bei Cartier London.

»Monsieur Cartier, ich wollte Sie ganz ergeben um Erlaubnis bitten, heute eine Stunde früher gehen zu dürfen … also jetzt.«

Nun drehte er sich doch zu ihr um, und die Frische ihrer Erscheinung mit diesen unternehmungslustigen grünen Augen und dem rötlichen Haar, das nur bedingt in der Hochsteckfrisur halten wollte, riss ihn aus seiner Tristesse. Endlich mal jemand, der offenbar größere Leidenschaften hegte, als tagaus, tagein seiner Arbeit nachzukommen. Auch wenn in diesem Fall er selbst derjenige war, der die Arbeit verteilte, stimmte ihn das irgendwie zuversichtlich, was selbstverständlich nichts daran änderte, dass es unmöglich war, früher zu gehen. Wo kämen sie denn hin, wenn das alle so machen würden?

»Haben Sie einen unaufschiebbaren Arztbesuch?«, fragte er, um ihr eine Brücke zu bauen, und bemühte sich, streng zu schauen, damit sie ja nicht dachte, er nähme diese Bitte auf die leichte Schulter.

Sie ging prompt auf sein Angebot ein, obwohl er sah, dass es sie ein wenig überraschte, denn sie blinzelte plötzlich auffällig häufig. »In der Tat, Monsieur. Unaufschiebbar, dieser Arzttermin.«

»Verstehe. Na, dann ist es ausnahmsweise möglich. Wenn Sie die Stunde in der kommenden Woche einmal dranhängen und das Silber putzen. Das wäre nötig.«

»Das Silber. Selbstverständlich.«

Sie lächelte, und er sah genau, dass sie in Gedanken schon bei ihrem »Arzttermin« war. Worum es sich dabei wohl handelte? Eine Verabredung? Sehr hübsch war sie, diese Miss Winter, schlank und hochgeschossen und mit diesem beinah schon porzellanartigen Teint beschenkt. Ihre Arbeit als Putzhilfe und Servierkraft erledigte sie sehr gut und zuverlässig und war auch bei den Kunden äußerst beliebt. Bisher hatte sie noch allen Herren ein Lächeln ins Gesicht zaubern können. Gut, den Damen nicht immer, sie schauten mitunter ein wenig eifersüchtig drein. Aber letztendlich – die Männer kauften den Großteil des Schmucks. Und wenn die Anwesenheit von Miss Winter sie inspirierte, dann konnte es nur von Vorteil für Cartier sein, nicht wahr?

»Also, ich gehe dann«, sagte Miss Winter und verschwand schon hinter den Samtvorhang, um ihren Mantel, Hut und die Handschuhe zu holen. Kurz darauf kam sie in voller Montur wieder an ihm vorbei, darum bemüht, eine Rolle Papier, die so groß war wie ihr Oberkörper, hinter sich zu verstecken, was nicht gelang, weil sie so schmal war. Er sagte nichts dazu, verabschiedete sie und schaute ihr hinterher, wie sie auf der New Bond Street in einen nicht sehr eleganten Dauerlauf verfiel. Offenbar war sie spät dran. Nur wofür? Mhm, er würde Mister Mosley dazu befragen, den ältesten Londoner Mitarbeiter. Er wusste alles, was die Angestellten betraf.

Das Klingeln der Ladenglocke lenkte Jacques von diesem Vorhaben ab, dennoch brauchte er einen Moment, um sich auf den Mann zu konzentrieren, der eintrat. Anhand von dessen Uniform erkannte Jacques, dass es ein Diener aus dem Palast war.

»Good afternoon, Monsieur Cartier.« Er kam direkt auf ihn zu. »Ich komme im Auftrag Ihrer Majestät, Königin Alexandra.«

Oha! Jacques streckte sich augenblicklich und vergaß Miss Winter. »Guten Tag. Was können wir für Sie tun?«

»Königin Alexandra gedenkt morgen ein paar Einkäufe zu tätigen, und ihr Weg soll sie unter anderem zu Ihnen führen.«

Wie wunderbar!

»Selbstverständlich, wann planen Königliche Hoheit einzutreffen?« Oh, sie mussten augenblicklich den Laden wienern, die besten Stücke strategisch platzieren, feinen Champagner und vielleicht auch Kaviar besorgen, falls die Königin eine Erfrischung wünschte. Und ausgerechnet jetzt war Miss Winter fort! Sie hätte alles besorgen und vorbereiten können.

»Wir werden gegen zehn Uhr hier sein.« Der Diener blickte ernst und stand steif da, nur seine Augen bewegten sich.

Jacques musste umgehend die Presse benachrichtigen. Nein, das wäre zu viel. Nur einen Fotografen, der sich auf der anderen Straßenseite platzieren konnte und heimlich … Nein, vielleicht sollte man die Königin einfach bitten, ein paar Fotos machen zu dürfen, hier im Laden, während sie einkaufte? Herrje, er musste Louis in Paris telegrafieren und um Rat bitten. Wie sollte er in solch einem Fall verfahren? Bisher hatte man sie immer in den Palast bestellt, wenn Schmuck gewünscht worden war.

»Hervorragend! Wir sind sehr geehrt und tief beglückt, dass Ihre Majestät uns besuchen möchte. Hat sie bereits bestimmte Wünsche geäußert?«

»Sie möchte ein Ensemble aus Kette, Armband und Ring erwerben. Es soll nicht zu aufwendig sein, aber von französischer Eleganz. Diese hofft sie bei Ihnen zu bekommen.«

»Ohne Frage.«

Hier gab es dieses Ensemble! Nicht drüben beim Konkurrenten Fabergé, der sich doch vor Kurzem erdreistet hatte, ausgerechnet hier in der New Bond Street ein Geschäft zu eröffnen. Wie gut, dass die Königin offensichtlich formidablen Geschmack besaß.

»Schön, dann bis morgen früh, Monsieur Cartier. Ich kann mich doch auf Ihre Verschwiegenheit verlassen? Die Königin möchte nicht durch eine Menschenmenge schreiten müssen, bevor sie den Laden betritt. Es soll ein privater Besuch sein.«

»Verstanden.« Dann wurde das mit dem Fotografen wohl nichts. »Wir werden alles so arrangieren, wie die Königin es wünscht.«

»Auf Wiedersehen, Monsieur Cartier!« Der Diener zog sich zurück, setzte draußen seine Melone wieder auf und schritt die Straße hinunter, deutlich langsamer als das Gros der Menge. Eile war schließlich wenig royal. Offenbar galt das sogar für die Dienerschaft.

Er hingegen musste sich nun aber beeilen! Und wie! Der Laden musste auf Hochglanz gebracht werden! Er selbst musste die Vorauswahl der Schmucksets vornehmen und ließ schon den Bestand vor seinem inneren Auge vorbeiziehen. Leider hatten sie hier in London gar nicht so viel vorrätig. Und bis morgen konnte er keine Stücke aus Paris heranholen. Herrje! Jacques machte sich auf ins Hinterzimmer, um den Inhalt des Tresors zu begutachten, und traf dort am Schreibtisch Mister Mosley an, der in die Buchhaltung vertieft war. Er hatte von dem Besuch des Dieners nichts mitbekommen.

»Das ist sehr freundlich, dass Sie Miss Winter haben ziehen lassen.« Mosley lächelte Jacques an. »Ich glaube, sie ist wieder in ihrer Mission unterwegs.«

»Welche Mission denn?« Jacques merkte auf. Das war ja höchst interessant.

»Sie wird zu der großen Kundgebung gehen, die für heute angekündigt ist.« Mister Mosley legte seinen Bleistift fort und streckte sich.

Jacques runzelte die Stirn.

»Die Frauen demonstrieren doch wieder. Für mehr Rechte.« Mosley stand auf und machte eine Kniebeuge. Dann noch eine. »Monsieur Cartier, entschuldigen Sie bitte, aber wenn ich hier so lange sitze und kein Kunde kommt, den ich bedienen kann, dann schlafen mir die Beine ein.«

Ha, mir schlafen nicht nur die Beine ein, dachte Jacques, aber dann war er wieder ganz bei Mister Mosleys kurioser Information über Miss Winter. »Sie meinen diese Suffragetten? Miss Winter ist dabei?«

Mister Mosley nickte. »Ich denke, ja. Haben Sie ihr Plakat gesehen?«

»Hat sie das etwa hier im Hinterzimmer fabriziert? Während der Arbeitszeit?«

Mister Mosley lachte. »Nein, Mister Cartier. Wie Sie wissen, ist Miss Winter eine absolut verlässliche Mitarbeiterin. Sie hatte es bereits dabei, als sie heute Morgen ankam. Und seien Sie sicher: Sie wird die nächsten Tage hier im Geschäft hart arbeiten, um die Zeit wiedergutzumachen, die sie durch diese Demonstration heute verliert. Da bin ich mir sicher.«

»Sollte sie auch. Denn gerade morgen haben wir einen sehr wichtigen Termin!«

Mister Mosley schaute ihn fragend an, und Jacques erklärte ihm, welche besondere Kundin sie morgen bedienen durften. Sofort stellte Mister Mosley seine Kniebeugen ein und klatschte in die Hände. »Dann ans Werk! Wie ich mich freue. Dass mir das auf meine alten Tage noch passiert!«

»Machen Sie sich doch bitte im Verkaufsraum zu schaffen, alles muss en place sein, Sie wissen schon. Ich beginne mit der Vorauswahl des Schmucks. Aber vielleicht können Sie nachher dazukommen. Ihr englischer Geschmack und vor allem Ihre Erfahrung würden mir sehr helfen.«

Mister Mosley nickte eifrig. »Rufen Sie mich nur, sobald Sie so weit sind.« Schon eilte er durch den Vorhang davon in den Verkaufsbereich und ließ Jacques nachdenklich zurück. Dass Miss Winter auf diese Demonstrationen gehen sollte, konnte er kaum glauben. Hatten diese hysterischen Frauen nicht neulich sogar eine Straßenbarrikade errichtet und angezündet?

Es fiel ihm schwer, sich auf die schönen Stücke im Tresor zu konzentrieren. Stücke, die einer Königin gebührten. Er ordnete ein Diamantencollier und ein mit tropfenförmig gearbeiteten Topasen besetztes Goldhalsband auf dem Samttableau an, aber er merkte, wie seine Gedanken wieder zu Miss Winter abschweiften.

Was, wenn sie wirklich eine Suffragette war und wenn sie womöglich den Besuch der Königin nutzen würde, um ihr Anliegen zur Sprache zu bringen?

Nein, das würde sie nicht wagen! Sie würde als Angestellte von Cartier auftreten, Champagner servieren, vielleicht eines der Tableaus mit einem Set anreichen und ansonsten einfach hübsch aussehen.

Das war ihre Aufgabe. Und die würde sie erfüllen. Nicht wahr?

Kapitel 4 

JEANNE TOUSSAINT, Paris, Wohnung am Montmartre, am selben Märztag

Jeanne konnte nicht aufhören zu weinen. Immer wenn sie sich gerade etwas beruhigt hatte, erschien die Hochzeitsanzeige vor ihrem geistigen Auge, diese vermaledeite Hochzeitsanzeige: »Baron Bernard de Morell und Baronin Charlotte de Rougons geben ihre Vermählung bekannt. Paris, Église Saint-Michel, 20. März 1910.«

Jeanne schluchzte so laut auf, dass Monalisa auf das Bett sprang und schnurrend herankam. Tröstend schmiegte sie sich an Jeanne, ihr Miauen schien zu sagen: »Sei nicht traurig, er ist es nicht wert!«

Jeanne streichelte über das weiche schwarze Fell ihrer Katze. Die grünen Augen blickten klug und einfühlsam, zumindest kam es ihr so vor. Ach, Monalisa, dachte sie und nahm die Katze in den Arm, was diese sich heute gefallen ließ, war sie doch sonst meist nicht so anschmiegsam, sondern eher stolz, unabhängig – und ziemlich oft in den Gemüsegärten von Montmartre verschwunden. Diese begannen gleich vor dem Fenster neben Jeannes Wohnhaus und zogen sich sanft den Hügel hinauf bis zu der Mühle. An den Obstbäumen auf der großen Wiese davor flatterte die Wäsche der Nachbarn auf der Leine. Die Kinder tollten im Staub und auf dem Rasen herum. Eigentlich war es ein fröhlicher Tag, dachte sie.

Außer für sie. Schon begannen die Tränen wieder zu fließen. Hätte sie nur die Zeitung nicht gekauft! Sie war vorhin bloß kurz hinaus auf die Gasse gegangen, um während der Arbeit an diesem komplizierten Kostüm mit dem vielen violetten Federschmuck für die Tänzerinnen des Moulin Rouge frische Luft zu schnappen und ein Baguette zu kaufen. Als sie an einem Kiosk vorbeigekommen war, hatte die Schlagzeile »Komet Halley auf direktem Kollisionskurs« sie alarmiert, deshalb hatte sie die Zeitung überhaupt erst mitgenommen. Beim Lesen des Artikels hatte sie festgestellt, dass man nichts tun konnte als abwarten, ob der Komet in ein paar Tagen wirklich auf der Erde einschlagen würde. Oder ob die Erde durch seinen Meteoritenschweif fliegen musste. Beides waren keine guten Aussichten, deshalb war es vielleicht auch ganz egal, dass Bernard nun diese Baronin Rougons geheiratet hatte, wie sie dank der Anzeige auf Seite fünf hatte feststellen müssen.

Sie schluchzte, und ihr Blick fiel auf die Fotos an der Wand über ihrem Bett. Auf das Foto, das sie und Bernard auf dem Bazar in Marrakesch zeigte, umgeben von Gewürzsäcken neben einem Händler und seinem Esel, im Hintergrund die gedrungenen Gebäude der Medina. Und dann auf das Foto, das sie vor dem Zelt in der kenianischen Savanne zeigte, als sie auf Safari gegangen waren. Wie sie beide glücklich in die Kamera lächelten mit den Strohhüten und der khakifarbenen Kleidung. Sie sah noch den Fotografen, den Bernard für den Ausflug in die Wildnis gebucht hatte, damit die schönen Erinnerungen an ihre »vorgezogene Hochzeitsreise« nie verblassten, unter seinem schwarzen Tuch verschwinden, spürte wieder die Hitze, die unbarmherzige Sonne, den roten, warmen Sand unter den Füßen, wähnte die Antilopen vor sich, die Elefanten und die Zebras. Hörte die Rufe der Tiere aus der Ferne und die Stille der Savanne um sich herum.

Und sie erinnerte sich an diese einzigartige Begegnung eines Abends, als der Sternenhimmel langsam erglomm und sie nach dem Diner vor dem Zelt gesessen hatten. Da war er gekommen: ein schwarzer Panther! Ein Pantherweibchen, wie der Wildhüter erklärt hatte, eigentlich ein Leopard, dessen Fell durch eine Mutation schwarz war. Es gab nur ein paar Dutzend dieser Tiere auf der Welt, und sie hatten eines gesehen! Der Panther hatte keine Angst gezeigt, hatte zu ihrem Zelt herübergeschaut, geschnuppert, als ob er überlegte, ob er sich zu ihnen gesellen sollte. Dann war er davongeschritten, ins Buschwerk und in die Nacht, die ihn verschlang. Wie hatte Jeanne sich gefreut, dieses stolze Tier, das sie seit ihrer Kindheit so sehr bewunderte, seit grand-mère ihr »Das Dschungelbuch« vorgelesen hatte, einmal in freier Wildbahn leibhaftig zu sehen! Die ganze Reise, der Panther – es war wie ein wahr gewordener Traum gewesen!

Ein Traum, dem allzu schnell ein böses Erwachen gefolgt war.

Immerhin waren sie verlobt gewesen, immerhin hatte Jeanne den Ring mit dem erbsengroßen Diamanten im doppelten Rosenschliff in seiner hübschen Krappenfassung an ihrem Finger getragen, ihn bewundert und sich immer und immer wieder an den Moment erinnert, als Bernard ihn ihr überreicht hatte, damals auf diesem romantischen Spaziergang an der Seine, daheim in Paris. Sie hatte ihm alles geglaubt – hatte alles glauben wollen. Sie hatte geglaubt, dass er sie liebte, dass die Hochzeit bereits in Planung war. Sie hatte sich darauf gefreut, nach der Safarireise in Kenia endlich seine Eltern und seine Schwester kennenzulernen, die als französische Diplomaten fernab der Heimat in Nairobi lebten.

Jeanne schlug mit der geballten Faust auf die Bettdecke, sodass Monalisa erschrak und einen Satz vom Bett machte.

»Entschuldige, meine Liebe!«, rief Jeanne. »Entschuldige!«

Sie begann wieder zu weinen. Es war aber auch zu verletzend gewesen, als sie hatten feststellen müssen, dass seine Eltern sich weigerten, sie überhaupt zu empfangen. Ihre Herkunft entspreche keinesfalls dem, was sie sich für ihren Sohn vorgestellt hatten, ließen sie ausrichten. Und wie sie sich erdreisten könne, überhaupt anzureisen. Eine junge Frau vom Land, deren Eltern Hausierer und Wäscherin gewesen waren und die sich selbst als Näherin für neumodische Hutsalons und verruchte Cabarets auf der Pigalle durchschlug? Es war doch wohl nicht ganz ernst gemeint von ihrem Sohn, wie?

Im Nachhinein war Jeanne klar, dass Bernard diese ganze romantische Afrikareise nur in der Absicht initiiert hatte, seine Eltern zu überrumpeln. Er hatte deren Ablehnung von Anfang an befürchtet und keine andere Möglichkeit gesehen. Nur ließen sich Diplomaten aus besten Kreisen wohl nicht überrumpeln. Und es war ihnen auch ganz egal, ob die Gefühlswelt ihres Sohnes durcheinandergeriet. Herkunft war Herkunft, und Stand war Stand. Und man heiratete gefälligst nicht unter Stand. So einfach war das!

Als sie grand-mère von der Reaktion der Familie de Morell geschrieben hatte, der Brief von Tränenspuren gewellt, hatte sie eine lange, einfühlsame Botschaft zurückbekommen. Es hatte beinahe so geklungen, als ob die Großmutter sich ganz genau in die Gefühle ihrer Enkelin einfühlen konnte. Die letzten Sätze des Briefes fielen Jeanne wieder ein: »Meine Liebe, das Leben ist manchmal ungerecht. Aber es kommt darauf an, wie wir mit dieser Ungerechtigkeit umgehen. Lassen wir uns niederdrücken und kleinmachen? Oder stehen wir wieder auf und kämpfen?«

Sie hatte ja wieder aufstehen wollen! Sie hatte sich gerade wieder zusammengerissen und Bernard vergessen wollen. Seit ein paar Tagen ging es ihr doch schon ganz gut. Und jetzt diese dumme Anzeige! Diese vermaledeite Hochzeitsanzeige! Sie schluchzte auf.

Von ihrem Kummer überwältigt, rollte sie sich auf dem Bett zusammen und drehte sich zur Wand. Zum Glück hatte es in der Zeitung keine Fotografie vom glücklichen Paar gegeben. Sie wollte gar nicht wissen, wie diese Baronesse aussah. Allerdings wünschte sie ihr sehr eng zusammenstehende Augen, schiefe Zähne und ein Schwundkinn.

»Ahhh!« Sie biss in das Kopfkissen und warf es mit Schwung auf die Dielen in Richtung Bollerofen. Dann blieb sie regungslos liegen, alle viere von sich gestreckt – bis es an der Wohnungstür klopfte.

Sie versuchte es zu ignorieren. Sicher war es nur Madame Gerat aus dem Parterre, die ihr die ersten Gurken der Saison oder den ersten Kopfsalat bringen wollte. Madame Gerat schien ihr gegenüber so etwas wie mütterliche Gefühle entwickelt zu haben. Jedenfalls machte sie sich offenbar Sorgen um diese alleinstehende junge Frau mit der schwarzen Katze. Aber das Letzte, was Jeanne jetzt wollte, waren Gurken oder besorgte Nachfragen.

Sie reagierte nicht, doch das Klopfen ließ nicht nach. Im Gegenteil, nun hörte sie auch noch, wie ihr Name gerufen wurde: »Jeanne! Ich weiß, dass du da bist. Wo solltest du auch sonst sein. Außerdem hat Madame Gerat mir gesagt, dass sie dich toben und weinen gehört hat.« Das war Cocos Stimme. »Mach auf und lass mich rein!«

Jeanne blieb liegen. Monalisa allerdings schlich zur Wohnungstür, kratzte daran und miaute laut.

»Monalisa! Ich höre dich, sag Jeanne, sie soll aufmachen!« Coco bummerte weiter an die Tür.

Die ganze Nachbarschaft würde noch aufmerksam werden, Himmel. Na gut. Jeanne setzte sich langsam auf und wischte die Tränen fort, so gut es ging. Sie probierte vorsichtig, ob ihre Beine sie trugen, als sie sich auf die Füße stellte. Sie zitterten zwar, aber sie schaffte es die wenigen Meter an dem halb fertigen Kostüm mit den Federn auf ihrem Arbeitstisch am Fenster vorbei bis zur Tür und öffnete. Sofort war Coco im Zimmer und umarmte sie: »Ein Glück, du hast aufgemacht und bist wohlauf.«

Jeanne schnaubte verächtlich.

»Na gut, wohlauf ist etwas anderes, aber jedenfalls bist du nicht tot.« Coco streichelte ihr über die Wange. »Auch wenn du dich vielleicht so fühlst.« Sie blickte sich nach der Wasserkaraffe um und goss Jeanne ein Glas ein. »Komm, trink erst mal was und beruhige dich.«

Jeanne nahm das Glas mit zitternder Hand entgegen. Das kalte Nass rann ihr die Kehle hinunter und tat gut. Sie verlangte mehr, und sogleich füllte Coco das Glas aufs Neue.

»Ich habe sie auch gesehen, diese Anzeige. Bin sofort hergekommen. Was für ein Schuft!« Sie nahm Jeanne in den Arm, ganz fest, und streichelte ihren Rücken. »Was für ein Schuft!«

So standen sie eine ganze Weile. Monalisa hatte die offene Tür bei Cocos Ankunft genutzt, um sich zu einem Streifzug durch die Pigalle aufzumachen.

»Und nun, meine Liebe, wasch dir das Gesicht und zieh was Schickes an.« Sie nickte in Richtung Kleiderschrank.

Jeanne schüttelte den Kopf.

»Oh, doch, und dann gehen wir ins Maxim’s.