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David Mitchell

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Beschreibung

Ein japanischer Sektierer verübt einen Giftgasanschlag auf die U-Bahn. Doch was verbindet ihn mit dem Jazzfan in einem Tokioter Plattenladen? Eine Frau auf einem heiligen Berg in China spricht mit einem Baum, ohne zu ahnen, wie sich gewisse illegale Börsengeschäfte in Hongkong auf ihr Leben auswirken werden. Ein mongolischer Gangster, ein Kunstfälscher in St. Petersburg, ein Nuklearwissenschaftler in Irland, ein New Yorker Late-Night-DJ und ein mysteriöser Ghostwriter - alle tragen zu dieser Geschichte bei. Eine literarische Matrix: geniale Weltsicht voll kluger Ideen und skurrilem Humor. «Ein phantastisches Buch, voller Irrwitz und Situationskomik!» (NDR) «Dieses Buch ist eines der besten, die ich je gelesen habe.» (Antonia S. Byatt)

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Seitenzahl: 706

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David Mitchell

Chaos

Ein Roman in neun Teilen

Aus dem Englischen von Volker Oldenburg

Für John

… Und ich, der ich behaupte, so viel mehr zu wissen – ist es nicht möglich, dass auch mir die wahre Triebkraft des Ganzen entgangen ist?

Manche sagen, es gebe kein Wissen für uns und wir seien den Göttern nichts anderes als Mücken, wie die Knaben sie haschen und töten an einem Sommertag; und manche wieder sagen, kein Sperling verliere ein Federchen, das ihm nicht hinweggestreift von der Hand Gottes.

ThorntonWilder,Die Brücke von San Luis Rey

Wer bläst mir da in den Nacken?

Ich fuhr herum. Die Glastür mit den abgetönten Scheiben schloss sich mit einem Zischen. Das leere Foyer war hell erleuchtet. Künstliche Farne wiegten sanft ihre Blätter. Nichts rührte sich auf dem hitzeflirrenden Parkplatz. Weiter hinten eine Palmenreihe vor dem weiten Himmel.

«Ja, bitte?»

Ich fuhr wieder herum. Die wartende Rezeptionistin reichte mir ihren Stift mit einem Lächeln, so knitterfrei wie ihre Uniform. Ich sah die Poren unter ihrer Schminke und hörte die Stille unter der Musikberieselung und darunter das Drängen.

«Kobayashi. Ich hatte vom Flughafen aus angerufen und ein Zimmer reserviert.» Nadelstiche in den Handflächen. Kleine Dornen.

«Ach richtig, Herr Kobayashi …» Was spielte es für eine Rolle, ob sie mir glaubte? Die Unreinen steigen andauernd unter falschem Namen in Hotels ab. Um mit Fremden zu kopulieren. «Darf ich Sie bitten, Ihren Namen und Ihre Adresse einzutragen … und den Beruf?»

Ich zeigte ihr meine bandagierte Hand. «Leider müssen Sie wohl das Formular für mich ausfüllen.»

«Natürlich … Ach je, wie ist denn das passiert?»

«Ich habe sie mir in einer Tür geklemmt.»

Sie verzog teilnahmsvoll das Gesicht und drehte das Formular zu sich. «Welchen Beruf üben Sie aus, Herr Kobayashi?»

«Ich bin Softwareentwickler. Ich arbeite frei für verschiedene Unternehmen.»

Sie runzelte die Stirn. Ich passte nicht in ihr Formular. «Ach so, also keine Firma. Dann …»

«Tragen wir doch das Unternehmen ein, für das ich momentan tätig bin.»

Kein Problem. Die technische Abteilung der Gemeinschaft wird die nötigen Beweise liefern.

«Schön, Herr Kobayashi … Herzlich willkommen im Okinawa Garden Hotel.»

«Vielen Dank.»

«Sind Sie geschäftlich in Okinawa oder als Tourist, Herr Kobayashi?»

Lag ein Zweifel in ihrem Lächeln? Argwohn in ihrem Blick?

«Teils geschäftlich, teils als Tourist.» Ich setzte meine Alphakontrollstimme ein.

«Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt. Hier sind Ihre Schlüssel. Zimmer 307. Wenn wir Ihnen irgendwie behilflich sein können, wir stehen Ihnen jederzeit zur Verfügung.»

Du? Mir helfen? «Ich danke Ihnen.»

Unrein. Unrein. Die Bewohner Okinawas sind nie reinblütige Japaner gewesen. Sie haben andere, schwächere Vorfahren. Als ich mich umdrehte und zum Fahrstuhl ging, verriet mir meine außersinnliche Wahrnehmung, dass sie in sich hineingrinste. Das Grinsen wäre ihr vergangen, wenn sie gewusst hätte, mit welch großem Geist sie es zu tun hatte. Ihre Zeit wird kommen, genau wie die der anderen.

Keine Menschenseele regte sich in dem riesigen Hotel. Die stummen Korridore erstreckten sich in die mittägliche Ferne wie leere Katakomben.

Es war stickig in meinem Zimmer. Im Heiligtum sind Klimaanlagen verboten, weil sie die Alphawellen beeinträchtigen. Aus Solidarität mit meinen Brüdern und Schwestern stellte ich die Lüftung nicht an und öffnete die Fenster. Die Vorhänge ließ ich zugezogen. Man weiß nie, wer sein Teleobjektiv auf einen richtet.

Ich spähte durch einen Spalt hinaus und sah mitten in die pralle Sonne. Naha ist eine hässliche, vulgäre Stadt. Ohne den aquamarinblauen Pazifikstreifen im Hintergrund könnte sie ein x-beliebiges Tentakel Tokios sein. Der übliche rotweiße Fernsehsender überträgt die Befehle der Regierung ins Unterbewusstsein. Die üblichen Warenhäuser ragen auf wie fensterlose Tempel und machen die Unreinen mit glänzendem Schein gefügig. Dieselben Wohnbezirke, dieselben Fabriken, die ihre Gifte in die Luft und ins Trinkwasser pumpen. Kühlschränke liegen zwischen unnützem Ramsch auf den Müllkippen. Was sind ihre Städte doch für aufgepfropfte Schandflecke! Ich sehe vor mir, wie die Neue Welt diesen gärenden Saustall wie ein mächtiger Besen auskehrt und das Land zu seiner jungfräulichen Unschuld zurückführt. Danach wird die Gemeinschaft eine Welt erschaffen, die wir Überlebenden verdienen und für immer in Ehren halten werden.

Ich reinigte mich und musterte mein Gesicht im Badezimmerspiegel. Du bist einer dieser Überlebenden, Quasar. Scharfe Gesichtszüge heben mein Samurai-Erbe hervor. Wulstige Augenbrauen. Adlernase. Quasar, der Bote. Seine Luzidität gab mir meinen Namen mit prophetischer Weitsicht. Es war meine Aufgabe, allein am Rand des Universums der Gläubigen zu stehen und in der Finsternis zu pulsieren. Ich bin ein Vorreiter. Ein Herold.

Der Sauglüfter im Bad brummte monoton. Irgendwo dahinter hörte ich ein kleines Mädchen weinen. So viel Trauer in dieser verkehrten Welt. Ich fing an, mich zu rasieren. Ich wurde früh wach und wusste zunächst nicht, wo ich mich befand. Mein Traum war in einzelne Puzzleteile zerfallen. Herr Ikeda, mein Klassenlehrer in der Oberstufe, war darin vorgekommen und zwei oder drei der schlimmsten Rabauken. Auch mein biologischer Vater war aufgetaucht. Ich dachte an den Tag zurück, an dem die Rabauken die ganze Klasse überredet hatten, so zu tun, als sei ich tot. Bis zum Nachmittag hatte es sich in der ganzen Schule herumgesprochen. Alle taten, als könnten sie mich nicht sehen. Wenn ich etwas sagte, taten sie, als könnten sie mich nicht hören. Schließlich drang die Angelegenheit zu Herrn Ikeda durch. Und wozu sah sich der von der Gesellschaft ernannte Vormund junger Seelen veranlasst? Der Dreckskerl hielt in der letzten Schulstunde einen Trauergottesdienst für mich ab. Er entzündete sogar Räucherstäbchen und führte den Gesang an.

Bevor Seine Luzidität mein Leben erleuchtete, war ich schutzlos. Ich weinte und schrie, damit sie aufhörten, doch sie übersahen mich. Ich war tot.

Beim Aufwachen merkte ich, dass ich von einer Erektion gepeinigt wurde. Zu viele störende Gammawellen. Ich meditierte unter dem Bild Seiner Luzidität, bis sie abgeklungen war.

Wenn die Unreinen so wild auf Beerdigungen sind, sollen sie sie haben, und zwar im Überfluss, in den Weißen Nächten, bevor Seine Luzidität sich erhebt und Sein Königreich einfordert. Beerdigungen ohne Trauergäste.

Ich ging die Kokusai Dori hinunter, die Hauptstraße der Stadt. Unterwegs machte ich wiederholt kehrt oder lief im Zickzack, um eventuelle Verfolger abzuschütteln. Leider ist mein Alphapotenzial noch zu schwach, um mich unsichtbar zu machen, und so muss ich meine Verfolger auf herkömmliche Weise loswerden. Sowie ich sicher war, dass mir niemand folgte, verschwand ich in einer Spielhalle und telefonierte von dort. Öffentliche Telefone sind äußerst selten verwanzt.

«Bruder, hier spricht Quasar. Bitte verbinde mich mit dem Verteidigungsminister.»

«Natürlich, Bruder. Der Minister erwartet deinen Anruf. Wenn du erlaubst, möchte ich dir zum Erfolg unserer letzten Mission gratulieren.»

Eine Weile wurde ich in die Warteschleife gelegt. Der Verteidigungsminister ist ein Günstling Seiner Luzidität. Er hat auf der Kaiserlichen Universität studiert. Bevor er den Ruf des Meisters hörte, war er Richter. Er ist eine geborene Führungspersönlichkeit. «Ah, Quasar. Ausgezeichnet. Bist du bei guter Gesundheit?»

«Zu Diensten Seiner Luzidität, Minister. Ich erfreue mich immer guter Gesundheit. Ich habe meine Allergien besiegt und leide seit neun Monaten nicht mehr unter …»

«Wir freuen uns für dich. Seine Luzidität ist von der Kraft deines Glaubens beeindruckt. Überaus beeindruckt. Er befindet sich an Seinem Ruheort und meditiert über deine Seele. Nur über deine Seele, damit sie gefestigt und bereichert werde.»

«Minister! Bitte übermittele Ihm meinen tiefsten Dank.»

«Mit Freuden. Du hast es verdient. Wir befinden uns im Krieg gegen die unreinen Massen. In diesem Krieg bleiben mutige Taten weder unbemerkt noch unbelohnt. Aber du wirst dich sicher fragen, wie lange die Trennung von deiner Familie noch dauern wird. Das Kabinett hält sieben Tage für ausreichend.»

«Ich verstehe, Minister.» Ich verbeugte mich tief.

«Hast du die Berichte im Fernsehen gesehen?»

«Ich meide die Lügen der Unreinen, Minister. Denn welcheSchlange würde willentlich der Stimme des Schlangenbeschwörers Gehör schenken? Auch wenn ich vom Heiligtum getrennt bin, sind die Anweisungen Seiner Luzidität meinem Herzen fest eingeschrieben. Ich vermute, wir haben das Hornissennest aufgescheucht.»

«Allerdings. Die Unreinen sprechen mit schäumendem Mund von Terrorismus. Diese armen Bestien verdienen beinahe unser Mitleid – beinahe. Wie Seine Luzidität vorausgesagt hat, erkennen sie nicht, dass sie von ihren eigenen Sünden heimgesucht werden. Du darfst stolz sein, Quasar, dass du zu einem Engel der Gerechtigkeit erwählt wurdest! Die neununddreißigste heilige Offenbarung verkündet: Stolz auf ein selbst erbrachtes Opfer ist keine Sünde, sondern ein Zeichen der Selbstachtung. Verhalte dich trotzdem unauffällig. Misch dich unters Volk. Sieh dir etwas Interessantes an. Dein Spesenkonto ist hoffentlich ausreichend gedeckt?»

«Der Schatzmeister war überaus großzügig, und meine Bedürfnisse sind schlicht.»

«Ausgezeichnet. Melde dich in sieben Tagen wieder. Die Gemeinschaft freut sich darauf, ihren geliebten Bruder zu Hause willkommen zu heißen.»

Zur mittäglichen Reinigung und Meditation ging ich zurück ins Hotel. Ich aß ein paar Cracker, Seetanggebäck und Cashewnüsse und holte mir aus dem Automaten vor meinem Zimmer grünen Tee. Als ich das Hotel nach der Mittagspause wieder verließ, gab mir die unreine Rezeptionistin einen Stadtplan, und ich wählte eine Sehenswürdigkeit aus.

Das japanische Marinehauptquartier liegt inmitten eines verwilderten Parks auf einem Hügel, von dem man die Nordseite Nahas überblickt. Im Krieg lag es so gut versteckt, dass die Amerikaner erst drei Wochen nach der Einnahme Okinawas darauf stießen. Die Amerikaner sind kein besonders intelligentes Volk. Ihnen fehlt der Blick für die Tatsachen. Vor zehn Jahren besaß ihre Botschaft die Unverfrorenheit, Seiner Luzidität die Aufenthaltsgenehmigung zu verweigern. Heute gelangt Seine Luzidität mittels Subraum-Transformationstechnik natürlich hin, wo es Ihm beliebt. Er hat das Weiße Haus mehrmals ungehindert besucht.

Ich kaufte mir eine Eintrittskarte und ging die Treppe hinunter. Das kühle Halbdunkel umfing mich. Irgendwo tropfte es aus einer Leitung. Die amerikanischen Invasoren sollten noch eine weitere Überraschung erleben. Die viertausendköpfige Besatzung hatte sich für einen ehrenvollen Tod entschieden und sich zwanzig Tage zuvor geschlossen das Leben genommen.

Ehre. Was versteht die hohle Götzenwelt der Unreinen von Ehre? Während ich durch die Tunnel ging, strich ich mit den Fingerspitzen über die Wände. Ich berührte die Narben, die von den Granatenexplosionen und den Spitzhacken stammten, mit denen die Soldaten sich ihre Festung gegraben hatten, und verspürte eine starke Verbundenheit mit ihnen. Dieselbe Verbundenheit, die ich auch im Heiligtum empfand. Mein verbesserter Alphaquotient erlaubte mir, das Echo ihrer Seelen aufzunehmen. Ich schlenderte durch die Tunnel, bis ich das Zeitgefühl verlor.

Als ich dieses Denkmal des Edelmuts verließ, fuhr ein Bus mit Touristen vor. Es genügte ein Blick auf die Kameras, die Chipstüten und die dummen Gesichter und verkrüppelten Gehirne der Kansais, die einen kleineren Alphaquotienten haben als eine Stubenfliege, und schon wünschte ich mir, ich hätte noch eine Ampulle der Reinigungsflüssigkeit, die ich die Treppe hinunterwerfen könnte, bevor ich sie einschloss. Sie würden dieselbe Reinigung erfahren wie zweiundsiebzig Stunden zuvor die vom Geld Verblendeten in Tokio. So hätten die Seelen der jungen Soldaten ihre Ruhe gefunden, die vor Jahrzehnten für ihre Überzeugungen gestorben waren, wozu auch ich vor zweiundsiebzig Stunden bereit gewesen wäre. Sie waren von Marionettenregierungen betrogen worden, die uns nach dem Krieg unser Land geraubt hatten. So wie wir alle von einer Gesellschaft betrogen wurden, die zum Absatzmarkt für Disney und McDonald’s verkommen ist. All diese Opfer, und wofür? Um für die Vereinigten Staaten einen unsinkbaren Flugzeugträger zu bauen.

Aber ich hatte keine Ampullen mehr, und so musste ich diese unreinen Kretins ertragen, die die Welt mit ihrem Geplapper, ihren Fäkalien und ihrer Brut besudeln. Sie raubten mir buchstäblich die Luft zum Atmen.

Unter den Palmen ging ich den Berg hinunter.

In der linken Handfläche gibt es einen Alpharezeptorenpunkt. Als Seine Luzidität mir die erste Privataudienz gewährte, öffnete Er meine Hand und drückte mit dem Zeigefinger sanft dagegen. Ich spürte ein eigenartiges Kribbeln, das einem wohligen elektrischen Schlag gleichkam. Später sollte ich feststellen, das sich meine Konzentrationsfähigkeit um das Vierfache gesteigert hatte.

Es regnete an diesem überaus kostbaren Tag vor dreieinhalb Jahren. Vom Fuji rückten Wolken heran, und der Ostwind blies über das hügelige Ackerland, welches das Heiligtum umgibt. Ich hatte mich zwölf Wochen zuvor zum Begrüßungsprogramm der Gemeinschaft gemeldet und regelte an diesem Morgen Geschäftliches mit einem der Staatssekretäre des Schatzamtes. Ich unterzeichnete die Papiere, die mich aus dem Gefängnis des Materialismus entließen. Jetzt gehörten mein Haus mitsamt der Einrichtung, meine Ersparnisse, die Rentenfonds sowie meine Mitgliedschaft im Golfclub und mein Auto der Gemeinschaft. Ich fühlte mich so frei, wie ich es nie zuvor für möglich gehalten hatte. Wie nicht anders zu erwarten, zeigte meine Familie – meine unreine, biologische Familie – keinerlei Verständnis. Mein Leben lang hatte sie sämtliche Erfolge und Misserfolge millimetergenau gemessen, und jetzt zerbrach ich ihr Lineal einfach über dem Knie. Meine Mutter teilte mir in ihrem letzten Brief mit, dass mein Vater mich aus seinem Testament gestrichen habe. Aber wie Seine Luzidität in der einundsiebzigsten heiligen Offenbarung schreibt: Die Wut der Verdammten ist so machtlos wie eine Ratte, die einen heiligen Berg annagt.

Sie hatten mich ohnehin nie geliebt. Gäbe es das Fernsehen nicht, sie wüssten nicht mal, dass die Welt existiert.

Seine Luzidität kam in Begleitung des Sicherheitsministers die Treppe herunter. Das Licht wurde weiß, als Er sich dem Büro näherte. Zuerst sah ich nur die Sandalen an seinen Füßen und das lila Gewand, doch dann erblickte ich Seine geliebte Gestalt in voller Größe. Er lächelte mir zu, denn Er hatte bereits telepathisch Kenntnis davon, wer ich war und was ich getan hatte. «Ich bin der Guru.» Als ich niederkniete, erlaubte Er mir, Seinen heiligen Rubinring zu küssen. Ich spürte Seine Alphaemanationen, wie eine Kompassnadel den Nordpol spürt.

«Meister», antwortete ich. «Ich bin heimgekehrt.»

Seine Luzidität sprach rein und schön, und Seine Worte strömten geradewegs aus Seinen Augen. «Du hast dich aus dem Irrenhaus der Unreinen befreit, kleiner Bruder. Du hast deine leibliche Familie hinter dir gelassen und dich deiner neuen, spirituellen Familie angeschlossen. Von nun an hast du zehntausend Brüder und Schwestern. Wenn das Ende der Welt gekommen ist, wird die Familie auf Millionen angewachsen sein. Sie wird unaufhaltsam weiterwachsen und unter allen Völkern ihre Wurzeln schlagen. Fremde Länder sind uns fruchtbarer Boden. Unsere Familie wird weiterwachsen, bis die Welt da draußen in uns ist. Das ist keine Prophezeiung. Es ist die unausweichliche Zukunft. Wie fühlst du dich, du jüngstes Kind unseres Staates ohne Grenzen und ohne Leid?»

«Ich bin glücklich, Eure Luzidität. Unsagbar glücklich, von der Quelle der Wahrheit trinken zu dürfen, noch bevor ich dreißig bin.»

«Mein kleiner Bruder, wir wissen beide, dass kein glücklicher Zufall dich zu uns führte. Die Liebe hat dich zu uns geführt.» Dann küsste Er mich, und ich küsste den Mund des ewigen Lebens. «Wer weiß», sagte mein Meister, «wenn du deine Alphaverstärkung so schnell fortsetzt, wie mir der Erziehungsminister berichtet, wirst du eines Tages vielleicht mit einer ganz besonderen Mission betraut …» Mein Herz tat einen Sprung. Sie hatten über mich gesprochen! Erst Novize, und sie hatten schon über mich gesprochen!

In den Cafés, den Geschäften, Büros und Schulen, auf der riesigen Leinwand im Einkaufszentrum und in jedem bewohnten Kaninchenverschlag sahen die Menschen die neuesten Berichte über die Reinigung. Das Zimmermädchen, das zum Saubermachen kam, wollte gar nicht wieder davon aufhören. Ich ließ sie plappern. Sie fragte mich nach meiner Meinung. Ich erklärte ihr, ich sei bloß ein Softwareentwickler aus Nagoya und verstehe nichts von solchen Dingen. Mein Desinteresse ließ sie nicht gelten: Empörung ist jetzt ein Muss. Um keinen Argwohn zu wecken, werde ich ein bisschen schauspielern müssen. Das Zimmermädchen erwähnte die Gemeinschaft. Es hat den Anschein, als zeigten die widerwärtigen Medien unseres Landes unseren Warnungen zum Trotz mit ihren leprösen Fingern auf uns.

Am Nachmittag verließ ich das Hotel, um Shampoo und Seife nachzukaufen. Die Rezeptionistin saß mit dem Rücken zum Foyer und starrte gebannt auf die Mattscheibe. Das Fernsehen verbreitet unreine Lügen und schädigt die Alphahirnrinde. Ich fand jedoch, dass ein paar Minuten nicht schaden könnten, und leistete ihr Gesellschaft. Einundzwanzig Gereinigte und mehrere Hundert Teilgereinigte. Eine unmissverständliche Warnung an den Staat der Unreinen.

«Unglaublich, dass so etwas in Japan passiert», sagte die Rezeptionistin. «In Amerika, schon, aber hier?»

Eine Gruppe von «Experten» diskutierte über die «Gräueltat». Darunter waren ein neunzehnjähriger Popstar und ein Soziologieprofessor von der Universität Tokio. Warum hören Japaner ausschließlich auf Popstars und Professoren? Es wurde immer wieder dasselbe Filmmaterial gezeigt. Die Unreinen rannten würgend und mit vorgehaltenen Taschentüchern aus der Metrostation und rieben sich panisch die Augen. Seine Luzidität schreibt in der zweiunddreißigsten Offenbarung: Wenn dein Auge dich beleidigt, reiße es aus. Es wurden Bilder von Gereinigten gezeigt, die immer noch dort lagen, wo sie befreit worden waren. Ihre leiblichen Familien weinten aus Unwissenheit. Ein Schwenk zum Premierminister. Dieser dämlichste aller Narren schwor, er werde nicht eher ruhen, bis «diejenigen, die für diese unmenschliche Tat verantwortlich sind, vor Gericht stehen».

Sind diese Heuchler so verblendet? Erkennen sie denn nicht, dass die wahre Gräueltat im systematischen Mord der modernen Welt an der Ganzheit des Menschen und seiner Seele besteht? Die Tat der Gemeinschaft war lediglich eine Reaktion auf die wahre Unmenschlichkeit unserer Zeit. Das erste Gefecht eines lang andauernden Krieges, zu dessen Siegern uns die Evolution auserkoren hat.

Warum erkennen die Menschen nicht die Vergeblichkeit ihres Tuns? Ein gewöhnlicher Politiker, eine korrupte, kriminelle, heimtückische Kakerlake, die den Sumpf, in dem sie schwimmt, nicht im Geringsten überblicken kann. Wie können diese unreinen niederen Geschöpfe darauf hoffen, Seine Luzidität je zu irgendetwas zu nötigen? Ihn, einen Bodhisattva, der sich nach Belieben unsichtbar machen kann, einen fliegenden Yogi, ein göttliches Wesen, das unter Wasser atmen kann. Sie wollen Ihn und Seine Diener vor Gericht stellen? Wir sind die schwebenden Engel der Gerechtigkeit! Natürlich ist mein Alphaquotient noch zu niedrig, als dass ich mich mittels Telepathie oder Telekinese schützen könnte, aber ich bin viele hundert Kilometer vom Schauplatz der Reinigung entfernt. Sie werden nie auf die Idee kommen, hier nach mir zu suchen.

Schnell trat ich aus dem kühlen Foyer.

Ich verhielt mich die ganze Woche über unauffällig. Damit mein Schattendasein keine Aufmerksamkeit erregte, erfand ich jedoch Geschäftsbesprechungen und ging werktags um Punkt acht Uhr dreißig mit einem knappen «Guten Morgen» an der Rezeptionistin vorbei. Die Zeit verging schleppend. Naha ist eine Kleinstadt wie jede andere. Die Amerikaner, die in den Militärbasen stationiert sind und die Inseln wie die Pest heimsuchen, stolzieren über die Hauptstraßen. Viele von ihnen führen eine unserer Frauen am Arm, Japanerinnen, die nichts als einen winzigen Fetzen Stoff tragen. Die einheimischen Männer äffen die Ausländer nach. Ich ging durch die Warenhäuser und beobachtete, wie die Besitzgier unaufhörlich angestachelt wurde und befriedigt werden musste. Wenn mir die Füße wehtaten, setzte ich mich in eines der schattigen Cafés, deren Regale sich unter der Last hirnverblödender Zeitschriften bogen. Ich belauschte Geschäftsleute, die mit Waren handelten, die ihnen nicht gehörten. Ich ging weiter spazieren. Abgestumpfte Arbeitnehmer glotzten leer in die ratternden Pachinkoautomaten, genau wie ich es getan hatte, bevor Seine Luzidität mein inneres Auge öffnete. Touristen vom Festland zogen durch die Souvenirläden und kauften hübsch verpackten Tand. Ausländische Straßenhändler verkauften wie üblich ohne Lizenz Armbanduhren und billigen Schmuck. Ich ging durch die Spielhallen, in denen sich die vergifteten Kinder nach der Schule sammeln und auf Monitore stieren, wo böse Cyborgs, Phantome und Zombies einander bekriegen. Die Geschäfte waren dieselben wie überall … Burger King, Benetton, Nike … Wahrscheinlich werden sich die Einkaufsstraßen auf der ganzen Welt immer ähnlicher. Ich ging durch kleine Seitenstraßen, in denen Hausfrauen, die sechzigmal dasselbe Jahr durchleben, ihre Futons auslüfteten. Ich sah einen Töpfer mit pockennarbigem Gesicht, der sich über seine Scheibe beugte. Ein Sterbender, der hustete, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen, stand auf einem Treppenabsatz und reparierte einem Kind das Dreirad. Eine zahnlose Frau stellte an einem Familienschrein frische Blumen in eine Vase. Eines Nachmittags ging ich zum alten Ryukyu-Palast. Im Palasthof waren Getränkeautomaten aufgestellt, und ein Laden namens «Der heilige Schwertkämpfer» verkaufte ausschließlich Schlüsselanhänger und Filme. Auf den alten Schutzwällen liefen scharenweise Oberstufenschüler aus Tokio. Die Jungen hatten lange Haare, gezupfte Augenbrauen und Ohrringe und sahen aus wie Mädchen. Die Mädchen telefonierten mit ihren Handys und lachten wie Klammeraffen. Wenn du sie hasst, Quasar, musst du die ganze Welt hassen.

Also gut, Quasar. Dann hassen wir eben die ganze Welt.

Der einzig friedliche Ort in Naha war der Hafen. Ich sah den Booten zu, den Einheimischen, den Touristen und den riesigen Frachtschiffen. Ich habe das Meer immer gemocht. Mein biologischer Onkel ging früher oft mit mir an den Hafen von Yokohama. Wir nahmen einen Taschenatlas mit und suchten darin die Heimathäfen und Länder der Schiffe, die vor Anker lagen.

Doch das war in einem anderen Leben. Bevor mein wahrer Vater mich heimrief.

Als ich eines Mittags nach der Reinigung aus der Alphatrance kam, sah ich einen Radschatten, der sich in eine Spinne verwandelte. Ich wollte sie gerade die Toilette hinunterspülen, als sie zu meinem Erstaunen eine Alphabotschaft aussandte! Natürlich sprach Seine Luzidität durch sie. Der Guru hat einen verschmitzten Humor.

«Mut, Quasar, mein Auserwählter. Mut und Kraft. Dies ist dein Schicksal.»

Ich kniete mich vor die Spinne. «Ich wusste, Du würdest mich nicht vergessen, Herr», antwortete ich und ließ sie über meinen Körper laufen. Dann setzte ich sie in ein kleines Schraubglas. Ich nahm mir vor, Fliegenpapier zu kaufen, damit ich meinen kleinen Bruder füttern konnte. Wir sind beide Boten Seiner Luzidität.

Die Spekulationen über die «Endzeitsekte» reißen nicht ab. Wie sehr mir das auf die Nerven geht! Die Gemeinschaft steht für das Leben, nicht für den Untergang. Die Gemeinschaft ist keine Sekte. Sekten versklaven. Die Gemeinschaft befreit. Sektenführer sind Hochstapler mit gespaltener Zunge, die hinter den Kulissen einen Harem voller Huren und einen Rolls-Royce-Fuhrpark haben. Ich hatte die Ehre, einen Blick in das nächste Umfeld des Gurus zu werfen – und sah dort nicht ein einziges Mädchen! Der Meister verfängt sich nicht im klebrigen Netz der Wollust. Die Ehefrau Seiner Luzidität wurde einzig dazu auserwählt, seine Kinder zu gebären. Die jüngeren Söhne der Kabinettsmitglieder und die Lieblingsschüler dürfen sich um die bescheidenen häuslichen Bedürfnisse des Gurus kümmern. Diese Glücklichen tragen nur Lendentücher, damit sie sofort die Zazen-Alphastellung einnehmen können, wenn der Meister ihnen die Gnade Seines Segens erweist. Außerdem gibt es im ganzen Heiligtum nur drei Cadillacs – Seine Luzidität weiß sehr wohl, wann es den Dämon Materialismus, der die Unreinen heimsucht, auszutreiben gilt und wann diese Heimsuchung als Trojanisches Pferd zu benutzen ist, mit dem der Sumpf der Außenwelt durchdrungen wird.

Um jeglichen Verdacht von der Gemeinschaft abzulenken, gewährte Seine Luzidität einigen Journalisten Zutritt zum Heiligtum, wo sie die Brüder und Schwestern bei der Alphaanreicherung filmen durften. Unsere Chemielabore wurden ebenfalls inspiziert. Der Wissenschaftsminister erläuterte den Reportern, dass wir Düngemittel herstellten. Da wir Vegetarier seien, scherzte er, müsse die Gemeinschaft eine Menge Gurken anbauen! Meine Brüder und Schwestern erschienen auf dem Bildschirm und schickten ihrem Bruder Quasar telepathische Botschaften, die mir Mut zusprechen sollten. Ich lachte laut auf. Die unreinen Hyänen wollten die Gemeinschaft in den Fernsehnachrichten belasten und merkten überhaupt nicht, dass sie lediglich dazu benutzt wurden, Botschaften an mich weiterzuleiten. Auch der Sicherheitsminister ließ sich interviewen. Geschickt entkräftete er alle Anschuldigungen an die Gemeinschaft, in die Reinigung verwickelt gewesen zu sein. Man kann die Dämonen nur überlisten, wenn man so gerissen ist wie der Herr der Hölle, lehrt Seine Luzidität in der dreizehnten heiligen Offenbarung.

Beunruhigender waren die Fernsehinterviews mit den blinden Unreinen. Den Abtrünnigen. Menschen, die in die liebende Gemeinschaft aufgenommen werden, sie jedoch zurückweisen und sich wieder mit der Dreckswelt draußen arrangieren. Solange diese Maden die Gemeinschaft nicht verleumden, lässt Seine Luzidität sie in Seiner unendlichen Güte am Leben, sofern man dieses Vegetieren überhaupt «Leben» nennen kann. Setzen sie sich über dieses Gebot hinweg und säen in der Presse Lügen über das Heiligtum, muss der Sicherheitsminister die Genehmigung erteilen, sie samt ihren Familien zu reinigen.

Das Fernsehen hatte die Gesichter der blinden Unreinen unkenntlich gemacht, aber es gibt keine Bildbearbeitungstechnik, die einen Menschen mit meinem Alphaquotienten hinters Licht führen kann. Eine von ihnen war Mayumi Aoi, die gemeinsam mit mir das Begrüßungsprogramm absolviert hatte. Sie hatte Seiner Luzidität ihr Lippenbekenntnis abgelegt, aber nach acht Wochen mussten wir eines Morgens feststellen, dass sie verschwunden war. Wir alle verdächtigten sie, ein Polizeispitzel zu sein. Als ich die Lügen hörte, die sie über das Leben im Heiligtum verbreitete, stellte ich den Apparat aus und nahm mir vor, nie wieder fernzusehen.

Eine Woche nach dem ersten Anruf meldete ich mich wieder im Heiligtum. Die Stimme am anderen Ende war mir nicht vertraut.

«Guten Morgen. Hier spricht Quasar.»

«Ah, Quasar. Der Informationsminister ist heute Morgen beschäftigt. Ich bin sein Staatssekretär. Wir haben deinen Anruf erwartet. Hast du gesehen, wie die Hysterie wächst?»

«Allerdings, Staatssekretär.»

«Man könnte meinen, dein Reinigungseinsatz sei fast zu erfolgreich gewesen. Auf Anweisung Seiner Luzidität soll ich dir auftragen, dich noch einige Wochen versteckt zu halten.»

«Ich folge Seiner Luzidität in allen Belangen.»

«Außerdem bist du angewiesen worden, dich an einen abgelegeneren Ort zurückzuziehen. Reine Vorsichtsmaßnahme. Unsere Brüder bei der Unreinen-Polizei haben uns mitgeteilt, dass dein Steckbrief in Umlauf ist. Wir müssen mit List und Tücke vorgehen. Offiziell leugnen wir die Beteiligung an deinem Gasanschlag. So gewinnen wir Zeit, die Gemeinschaft durch neue Brüder und Schwestern zu stärken. Dieselbe Taktik hat sich bei dem Reinigungsexperiment letztes Jahr in der Präfektur von Nagano bewährt. Diese Mistkäfer lassen sich sehr leicht täuschen!»

«Allerdings, Staatssekretär.»

«Sollte man dich verhaften, wirst du die volle Verantwortung für den Anschlag übernehmen und behaupten, du habest allein und aus freien Stücken gehandelt, nachdem man dich wegen Unzurechnungsfähigkeit aus der Gemeinschaft ausgeschlossen hatte. Danach wird Seine Luzidität dich über Teleportation aus der Haft befreien.»

«Natürlich. Ich folge Seiner Luzidität in allen Belangen.»

«Du bist ein großer Gewinn für die Gemeinschaft, Quasar. Hast du noch Fragen?»

«Ich wüsste gern, ob Phase zwei der großen Reinigung bereits begonnen hat, Staatssekretär. Sind unsere Yogiflieger zum Parlament entsandt worden, damit sie die Aufnahme der Lehren Seiner Luzidität in die Lehrpläne einfordern? Wenn wir zu lange damit warten, könnten die Unreinen …»

«Quasar, du vergisst dich! Seit wann ist es deine Aufgabe, der Gemeinschaft Ratschläge in der Außenpolitik zu erteilen?»

«Ich sehe meinen Fehler ein, Staatssekretär, und bitte um Vergebung.»

«Das ist bereits geschehen, geschätzter Sohn Seiner Luzidität! Du fühlst dich gewiss einsam ohne deine Familie?»

«Ja, Staatssekretär. Aber ich habe die Alphabotschaften erhalten, die meine Brüder und Schwestern mir über die Fernsehnachrichten sandten. Und Seine Luzidität spendet mir während meines Exils in meinen Meditationen Trost.»

«Ausgezeichnet. Zwei Wochen sollten genügen, Quasar. Wenn deine finanziellen Mittel zur Neige gehen, meldest du dich mit dem üblichen Code beim Geheimdienst der Gemeinschaft. Ansonsten verhältst du dich still.»

«Eine Sache noch, Staatssekretär. Die Abtrünnige Mayumi Aoi …»

«Der Informationsminister hat es bereits bemerkt. Die Kloake der blinden Unreinen soll für immer verschlossen sein. Der Sicherheitsminister wird eingreifen, sobald die augenblickliche Überwachung nachlässt. Vielleicht waren wir in der Vergangenheit zu nachsichtig. Jetzt befinden wir uns im Krieg.»

In der brütenden Nachmittagshitze ging ich zum Hafen und holte mir verschiedene Schiffsfahrpläne aus einem Ständer. Ich klappte meinen Plan auf. Faltpläne habe ich immer lieber gemocht als Bücher. Sie widersprechen nicht. Einen Faltplan darf man nie wegwerfen. Die Inseln lagen verlockend wie kaiserliche Smaragde im himmelblauen Meer. Ich entschied mich für die Insel Kumejima. Eine halbe Tagesreise Richtung Westen, doch nicht so klein, dass Besucher besonders auffallen. Die einzige Bootsverbindung war morgens um Viertel vor sieben. Ich kaufte mir eine Fahrkarte für den nächsten Tag.

Den Rest des Tages verbrachte ich am Kai. Ich sagte alle heiligen Offenbarungen Seiner Luzidität auf, ohne die verlorenen Seelen zu beachten, die an mir vorbeizogen.

Die purpurrote Sonne ging flimmernd unter, bevor ich die Dämmerung überhaupt bemerkt hatte. Ich ging zurück ins Hotel und erzählte der Rezeptionistin, dass meine Geschäfte abgeschlossen seien und ich am Morgen sehr zeitig nach Osaka aufbrechen werde.

Die U-Bahn in Tokio war voll gepfercht wie ein Viehwaggon. Voll gepfercht mit Organen, eingewickelt in Fleisch und Kleidung. Stille und Schweiß. Ich hatte ein bisschen Angst, irgendein Dummkopf könnte die Ampullen vorzeitig zerdrücken. Der Wissenschaftsminister hatte mir genau erklärt, wie ich mit dem Päckchen zu verfahren hatte. Ich musste das Siegel abreißen, alle drei Knöpfe gleichzeitig drücken und hatte dann eine Minute Zeit, um zu verschwinden. Danach würden die Magnetbolzen die Ampullen zertrümmern, und die große Reinigung der Welt setzte ein.

Ich legte das Päckchen in die Ablage und wartete bis zum vereinbarten Zeitpunkt. Ich konzentrierte mich auf die Alphatelepathie und sandte Zuspruch an meine Kollegen, die sich in verschiedenen U-Bahn-Zügen in ganz Tokio aufhielten.

Ich musterte die Menschen um mich herum. Die Unreinen, denen die Ehre zuteil wurde, als Erste gereinigt zu werden. Tumb. Jämmerlich. Müde. Im Geist verfault. Maultiere, die sich in einem unendlichen Trott aus Lügen, Schmerz und Dummheit bewegten. Ich stand direkt neben einem Baby mit Wollmütze, das am Rücken seiner Mutter festgezurrt war. Es sabberte im Schlaf und roch moorig wie alle kleinen Kinder. Ein Mädchen, schloss ich aus der rosa Minnie-Maus auf der Mütze. Freudlose Rentner, deren Zukunft Senilität, Rollstuhl und Vereinsamung in geschmackvoll eingerichteten «Heimen» verhieß. Junge Angestellte, angeblich in der Blüte ihres Lebens, abgerichtet auf Gier und den Einsatz ihrer Ellenbogen.

Ich hatte über Leben und Tod dieser primitiven Wesen zu entscheiden! Was würden sie sagen? Wie würden sie versuchen, mich davon abzubringen? Wie würden sie ihr Amphibiendasein rechtfertigen? Womit würden sie anfangen? Wie kann sich eine Kaulquappe an ein Götterwesen wenden?

Der Waggon schaukelte, es gab einen Ruck, und das Licht blendete für einen Augenblick ab.

Nicht gut genug.

Ich dachte an die Worte, die Seine Luzidität an diesem Morgen gesprochen hatte. «Ich habe den Kometen gesehen, weit hinter der entferntesten Umlaufbahn des profanen Geistes. Die Neue Welt ist nahe. Das Ende des Ungeziefers ist nahe. Mit ein bisschen Nachhilfe erlösen wir sie von ihrem Elend. Söhne, ihr seid die auserwählten Werkzeuge Gottes.»

In jenen letzten Augenblicken, als der Zug in den Bahnhof einfuhr, bestärkte mich der Meister mit einer Vision der Zukunft. Binnen drei kurzen Jahren wird Seine Luzidität in Jerusalem Einzug halten. Im gleichen Jahr wird sich Mekka beugen, und der Papst und der Dalai Lama werden um Bekehrung ersuchen. Die Präsidenten Russlands und der USA werden die Schutzherrschaft Seiner Luzidität erbitten.

Im Juli desselben Jahres werden Sternwarten auf der ganzen Welt den Kometen sichten. Er wird Neptun knapp verfehlen, auf seinem Weg zur Erde den Mond verdunkeln und selbst am Mittagshimmel grell über den Flugplätzen, Bergketten und Großstädten der Welt lodern. Die Unreinen werden nach draußen strömen, um die neue Attraktion zu begrüßen. Und das wird ihr Verderben sein! Der Komet wird die Erde mit Mikrowellen überfluten, und nur jene Menschen mit hohem Alphaquotienten werden in der Lage sein, sich zu schützen. Die Unreinen werden im Todeskampf würgen, sich die Augen auskratzen und den Gestank ihres eigenen Fleisches riechen, das ihnen auf den Knochen brät. Die Überlebenden beginnen mit der Erschaffung des Paradieses. Seine Luzidität offenbart sich als Gottheit. Ein Schmetterling schlüpft aus dem Kokon seines Leibes.

Ich fasse in die perforierte Sporttasche und reiße das Siegel ab. Ich muss die Schalter drücken und drei Sekunden lang unten halten, um den Zeitzünder zu aktivieren. Eins. Zwei. Drei. Die Neue Welt ist nahe. Die Uhr der Geschichte tickt. Ich ziehe den Reißverschluss zu, lasse die Tasche fallen und stoße sie mit dem Absatz unter einen Sitz. Der Waggon ist so voll, dass keiner der Zombies etwas bemerkt.

Der Wille Seiner Luzidität geschehe.

Der Zug fährt in den Bahnhof ein, und …

Ich hörte Geräusche unter dem Schachtdeckel, aber ich wagte nicht, ihnen zu lauschen.

Wenn diese Geräusche jemals Wörter bilden – nicht jetzt, noch nicht. Niemals. Was hätte das für Folgen?

Ich mischte mich unter die Menge, die zu den Rolltreppen strömte, und verschwand.

Hinter mir beschleunigte der Zug und verschwand in der verrauchten Dunkelheit.

Meine Handflächen schwitzten und kribbelten. Eine Möwe stolzierte über den Fenstersims und spähte hinein. Sie hatte ein grausames Gesicht.

«Und wie heißen Sie?» Die alte Dame, die die Pension führte, grinste so breit wie ein Tempelgott. Was gab es da zu grinsen? Wollte sie mich nervös machen? In ihrem Mund waren mehr schwarze Lücken als fleckige Zähne.

«Ich heiße Tokunaga. Buntaro Tokunaga.»

«Tokunaga … ein hübscher Name. Das klingt irgendwie fürstlich.»

«Darüber habe ich noch nie nachgedacht.»

«Und was machen Sie beruflich, Herr Tokunaga?»

Fragen über Fragen. Hören die Unreinen denn nie damit auf?

«Ich bin ein gewöhnlicher Angestellter. Ich arbeite für kein bekanntes Unternehmen. Ich bin Abteilungsleiter einer kleinen Computerfirma am Rand von Tokio.»

«Tokio? Tatsächlich? Ich war noch nie auf dem Festland. Wir haben hier viele Urlauber aus Tokio. Allerdings nicht jetzt, außerhalb der Saison. Sie sehen ja selbst, die Pension ist fast leer. Ich fahre nur einmal im Jahr auf die Hauptinsel, um meine Enkelkinder zu besuchen. Ich habe vierzehn Enkel, müssen Sie wissen. Wenn ich Hauptinsel sage, meine ich natürlich Okinawa und nicht Japan. Es würde mir nicht im Traum einfallen, dorthin zu fahren.»

«So, so.»

«Tokio soll ja riesengroß sein. Sogar noch größer als Naha. Abteilungsleiter? Ach, wie imposant. Ihre Eltern sind bestimmt sehr stolz auf Sie. Ich muss Sie bitten, diese verflixten Formulare auszufüllen. Wenn es nach mir ginge, würde ich Sie nicht damit behelligen, aber meine Tochter besteht darauf. Es hat mit der Lizenz und den Steuern zu tun. Eine rechte Plage ist das. Aber was hilft’s. Wie lange möchten Sie bei uns auf Kumejima bleiben, Herr Tokunaga?»

«Ich habe vor, ein paar Wochen zu bleiben.»

«Ach so? Meine Güte, ich hoffe, Sie finden genug Zerstreuung. Die Insel ist nicht sehr groß. Sie können angeln, surfen, schnorcheln oder tauchen … aber ansonsten ist es hier sehr still. Sehr beschaulich. Anders als in Tokio, stelle ich mir vor. Wird Ihre Frau Sie denn gar nicht vermissen?»

«Nein.» Es wurde Zeit, sie zum Schweigen zu bringen. «Um ehrlich zu sein, ich habe aus dringenden familiären Gründen Urlaub genommen. Meine Frau ist letzten Monat gestorben. Krebs.»

Das Gesicht der alten Vettel fiel in sich zusammen. Sie schlug die Hand vor den Mund. Ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern. «Ach herrje. Tatsächlich? Ach herrje. Und ich lege noch den Finger in die Wunde. Meine Tochter würde sich furchtbar für mich schämen. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll …» Sie schnaufte reumütig, was doppelt lästig war, da ihr Atem nach Garnelen stank.

«Seien Sie unbesorgt. Der Tod hat sie endlich von ihren Leiden erlöst. Es war grausam, aber dennoch eine Erlösung. Bitte, es braucht Ihnen nicht peinlich zu sein. Aber ich bin ein bisschen müde. Würden Sie mir mein Zimmer zeigen?»

«Ja, selbstverständlich … Hier sind Ihre Hausschuhe, und ich zeige Ihnen nur schnell das Badezimmer … Das ist das Esszimmer. Hier entlang, Sie armer, armer Mann … Ach herrje, was Sie alles durchmachen mussten … Aber Sie sind auf die richtige Insel gekommen. Kumejima ist ein wunderbar heilsamer Ort. Das fand ich ja schon immer …» Nach der abendlichen Reinigung war ich so erschöpft, dass nicht einmal eine Alphakonzentration half. Ich verfluchte meine Schwäche, legte mich ins Bett und versank in abgrundtiefem Schlaf.

Der Abgrund war ein Schacht. Ein verlassener U-Bahn-Schacht mit Schienen und Anschlussleitungen. Es war meine Aufgabe, Streife zu gehen und den Schacht gegen das Böse zu verteidigen, das in der Tiefe hauste. Ein Vorgesetzter kam auf mich zu. «Was tun Sie hier?», fragte er.

«Ich befolge meine Anweisungen.»

«Und die lauten?»

«In diesem Schacht zu patrouillieren.»

Er pfiff durch die Zähne. «Im Heiligtum herrscht wie immer heillose Verwirrung. Es gibt hier unten eine neue Bedrohung. Das Böse kann Sie nur verschlingen, wenn es über Sie Bescheid weiß. Solange Sie Ihre Anonymität wahren, wird Ihnen nichts passieren. Also, Wachtmeister. Nennen Sie mir Ihren Namen.»

«Quasar.»

«Und der Name aus Ihrem früheren Leben? Ihr richtiger Name?»

«Tanaka. Keisuke Tanaka.»

«Was ist Ihr Alphaquotient, Keisuke Tanaka?»

«16. 9.»

«Ihr Geburtsort?»

Auf einmal wird mir klar, dass ich in die Falle getappt bin! Das Böse ist mein Vorgesetzter, der mich mit seinen Fragen löchert, damit er mich verschlingen kann. Ich darf mir nicht anmerken lassen, dass ich ihn durchschaut habe, sonst bin ich verloren. Während ich noch rotiere, nähert sich uns eine fremde Gestalt. Sie trägt einen Bratschenkasten und einen Blumenstrauß, und ich kenne sie irgendwie. Aus der Zeit, als ich noch unrein war. Das Böse, das sich als mein Vorgesetzter getarnt hat, dreht sich zu ihr um und versucht es mit derselben List. «Haben Sie denn noch nicht vom Bösen gehört? Wer hat Ihnen die Erlaubnis erteilt, sich hier aufzuhalten? Nennen Sie mir sofort Ihren Namen, Ihre Adresse und Ihren Beruf!»

Ich will sie retten. In Ermangelung eines Plans fasse ich sie am Arm, und wir sausen in Windeseile davon.

«Warum fliehen wir?»

Eine Ausländerin auf einem Hügel schaut zu, wie ein Holzpfahl in die Erde getrieben wird.

«Entschuldigen Sie! Es war keine Zeit für Erklärungen! Der Polizist war kein richtiger Polizist. Das war eine Tarnung. Er ist das Böse, das in diesen Schächten haust!»

«Sie irren sich!»

«Ach ja? Und woher wollen ausgerechnet Sie das wissen?»

Unsere Finger verschränkten sich, während wir weiterlaufen. Ich schaue zur Seite und sehe ihr zum ersten Mal ins Gesicht. Sie lächelt und wartet darauf, dass ich diesen grausigen Witz begreife. Ich habe das wahre Antlitz des Bösen erblickt.

Am nächsten Morgen brach ich in aller Frühe zu einem Spaziergang um die Insel auf. Das Meer war von einem milchigen Türkis. Der weiße Sand war heiß und gab unter meinen Füßen nach. Ich sah Vögel, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, und lachsrosa Schmetterlinge. Ein Liebespaar ging mit einem Husky am Strand spazieren. Der Junge flüsterte dem Mädchen ins Ohr, und sie lachte immerzu. Der Hund wollte Stöckchen spielen, aber in seiner Dummheit begriff er nicht, dass er den Stock erst einem der beiden überlassen musste. Als sie an mir vorbeigingen, fiel mir auf, dass sie keine Eheringe trugen. Mittags kaufte ich mir in einem kleinen schäbigen Laden Reisbällchen und eine Dose kalten Tee. Ich setzte mich zum Essen auf einen Grabstein und überlegte, wann ich mich zum letzten Mal zu Hause gefühlt hatte. Außerhalb des Heiligtums, meine ich. Ich kam an einem uralten Kampferbaum und an einem Feld vorbei, auf dem ein angeleinter Ziegenbock stand. Aus den Radios der Landarbeiter drang blecherne Popmusik, die bis auf die Straße dröhnte. Die Arbeiter vergingen vor Hitze unter den breiten Strohhüten. Auf den Parkplätzen standen verrostete Autos, aus deren Kühlern Unkraut wuchs. Auf einer einsamen Landzunge stand ein Leuchtturm. Ich ging hin. Er war verschlossen.

Ein Zuckerrohrbauer hielt neben mir am Straßenrand und bot mir an, mich ein Stück mitzunehmen. Mir taten die Füße weh, und ich stieg ein. Der Mann sprach einen so breiten Dialekt, dass ich ihn kaum verstand. Er redete über das Wetter, und ich gab zustimmende Laute von mir. Dann fing er an, über mich zu sprechen. Er wusste, in welcher Pension ich abgestiegen war und wie lange ich bleiben wollte. Er kannte meinen falschen Namen und meinen Beruf und sprach mir sogar sein Beileid zum Tod meiner Frau aus. Jedes Mal, wenn er das Wort «Computer» in den Mund nahm, setzte er es in Anführungszeichen.

Als ich in die Pension zurückkehrte, war die Gerüchteküche am Brodeln. Der Fernseher auf dem Tresen flackerte stumm. Auf dem kleinen Tisch standen fünf Tassen mit dampfendem grünen Tee. Um den Tisch herum saßen auf niedrigen Stühlen ein Mann, den ich für einen Fischer hielt, eine Frau in Latzhose, die dasaß wie ein Mann, eine dünne, schmallippige Frau und ein Mann mit einer riesigen wabbeligen Warze über der Augenbraue, die aussah wie eine Weintraube.

Die alte Wirtin hielt unübersehbar Hof. «Ich erinnere mich noch an die Bilder im Fernsehen. All die armen, armen Menschen, die aus der U-Bahn taumelten und sich Taschentücher vor den Mund hielten … furchtbar! Willkommen zurück, Herr Tokunaga. Waren Sie in Tokio, als der Anschlag passierte?»

«Nein. Ich hatte geschäftlich in Yokohama zu tun.»

Ich durchleuchtete ihre Gedanken, prüfte, ob sie Verdacht schöpften. Ich hatte nichts zu befürchten.

Der Fischer steckte sich eine Zigarette an. «Wie war es am Tag danach?»

«Die meisten Menschen waren sicher fassungslos.»

Die Latzhosenträgerin nickte und verschränkte die Arme. «Zumindest sieht es für diese Irren aus wie der Anfang vom Ende.»

«Wie meinen Sie das?», fragte ich mit fester Stimme.

Der Fischer machte ein verdutztes Gesicht. «Haben Sie es denn nicht gehört? Die Polizei hat eine Razzia durchgeführt. Das wurde auch höchste Zeit. Die Konten der Gemeinschaft wurden eingefroren. Ihr so genannter Verteidigungsminister steht wegen Mordes an ehemaligen Sektenmitgliedern vor Gericht, und fünf Anhänger sind in Zusammenhang mit dem Gasanschlag verhaftet worden. Zwei von ihnen haben sich in der Untersuchungszelle erhängt. Ihre Abschiedsbriefe lieferten ausreichend Hinweise für weitere Verhaftungen. Möchten Sie einen Blick in meine Zeitung werfen?»

Ich schreckte vor dem zerfledderten Lügenblatt zurück. «Nein danke. Und was ist mit dem Guru?» Die Zweige mögen beim Waldbrand verbrennen, doch aus dem reinen Herzen werden neue Triebe wachsen.

«Mit wem?» Der Warzige rieb sich die gummiartige Nase. Am liebsten hätte ich mich auf seine Kehle gesetzt und das widerwärtige Ding mit einer scharfen Schere abgeschnitten.

«Dem Führer der Gemeinschaft.»

«Ach, diese Made! Der Feigling hält sich versteckt!» In der Stimme des Warzigen lag so viel Hass, dass er beinahe daran erstickte! Zu welch pervertiertem Zoo ist die Welt verkommen, in dem Engel verachtet werden. «Der Kerl ist ein wahrer Teufel. Ein Höllensatan.»

«Das Böse in Menschengestalt! Bitte sehr, Herr Tokunaga.» Die alte Frau goss mir grünen Tee ein. Ich hatte das dringende Bedürfnis, mich in mein Zimmer zurückzuziehen und nachzudenken, aber zuerst musste ich mehr Neuigkeiten erfahren. «Er schröpft die armen Dummköpfe, die ihm folgen, spielt sich als ihr Vater auf, lässt sie die Drecksarbeit erledigen, lebt seine schamlosen Phantasien aus und macht sich dann aus dem Staub.»

Ihre Unwissenheit raubt mir den Atem! Wenn ich dieses Ungeziefer doch nur aufklären könnte!

«Mir ist unbegreiflich, wie so was geschehen kann», sagte die Latzhosenträgerin. «Er war ja schließlich nicht allein, nicht wahr? Viele seiner Anhänger waren intelligente Leute aus guten Familien, von guten Universitäten. Polizisten, Wissenschaftler, Lehrer und Rechtsanwälte. Alles angesehene Bürger. Wie konnten sie sich auf diesen Alphaquatsch einlassen und freiwillig zu Mördern werden? Gibt es denn so viel Schlechtigkeit auf der Welt?»

«Gehirnwäsche», sagte der Warzige und zeigte auf jeden von uns. «Gehirnwäsche.»

Die Dünne inspizierte den Drachen, der sich um ihre Tasse schlängelte. «Sie haben sich nicht ausdrücklich entschieden, zu Mördern zu werden. Sie haben sich nur entschieden, ihr inneres Ich abzutreten.» Ich mochte sie nicht. Ihre Stimme schien nicht aus ihr, sondern aus dem Zimmer nebenan zu kommen.

«Ich kann Ihnen nicht ganz folgen», sagte die Latzhosenträgerin.

«Die Gesellschaft», sagte die Dünne, und an der Art, wie sie dieses Wort aussprach, erkannte ich, dass sie Lehrerin war, «die Gesellschaft fordert äußeren Verzicht. Wir treten bestimmte Freiheiten ab und erhalten dafür die Zivilisation. Die Zivilisation bewahrt uns davor, durch Hunger, Banditen oder Cholera zu sterben. Es ist ein reeller Vertrag, den unser Bildungswesen am Tag unserer Geburt für uns abschließt. Jedoch besitzt jeder von uns auch ein inneres Ich, das entscheidet, inwieweit wir uns an diese Abmachung halten wollen. Für unser inneres Ich sind wir selbst verantwortlich. Ich fürchte, dass viele der jungen Männer und Frauen der Gemeinschaft die Verantwortung an ihren Guru abgetreten haben, der damit nach Gutdünken verfahren konnte. Und das», sagte sie und schnipste gegen die Zeitung, «ist das Ergebnis.»

«Mir scheint, Sie besitzen sehr fest gefügte Ansichten», bemerkte ich.

Die Dünne sah mir scharf in die Augen. Ich hielt ihrem Blick stand. Unsere Schwestern im Heiligtum wird Demut gelehrt.

«Aber warum?» Der Fischer zündete seine Pfeife an und blies dabei die Backen auf. «Warum haben ihm seine Anhänger ihren Willen überlassen?»

Die Dünne sah mich an, während sie weitersprach. «Das müssen Sie die schon selbst fragen. Das kann viele Gründe haben. Manche Menschen berauschen sich an Selbsterniedrigung und Unterwerfung. Andere sind verängstigt oder einsam. Manche sehnen sich nach der Kameradschaft der Verfolgten. Andere wiederum möchten ein großer Fisch im kleinen Teich sein. Dann gibt es welche, die sich nach Magie sehnen. Oder sie wollen sich an ihren Eltern oder ihren Lehrern rächen, die ihnen versprochen hatten, mit Erfolg sei alles zu holen. Diese Menschen brauchen glanzvollere Mythen, die niemals dadurch befleckt werden, dass sie wahr werden. Die Aufgabe des eigenen Willens ist ein geringer Preis für die Gläubigen. In der Neuen Welt brauchen sie keinen Willen.»

Ich konnte mir das nicht länger anhören. «Vielleicht interpretieren Sie da zu viel hinein. Vielleicht taten sie es allein aus Liebe zu Ihm.» Ich trank den Tee in einem Zug aus. Er war bitter, und ich verbrannte mir die Zunge. «Könnte ich bitte meinen Schlüssel haben?»

Die Alte reichte ihn mir träge. «Bestimmt sind Sie nach dem langen Spaziergang erschöpft. Die Frau meines Neffen hat Sie beim Leuchtturm gesehen!»

Die Geheimnisse einer Insel bleiben nur den Festländern verborgen, niemals jedoch den Insulanern.

Ich lag auf dem Bett und weinte.

Meine Brüder und Schwestern begingen Selbstmord! Wer aus der Reinigungsmission war an dieser letzten Hürde gestrauchelt und warum? Wir waren Helden! In wenigen Monaten würde die unreine Welt untergehen! Sie waren dem Paradies so nahe gewesen! Außerdem überraschte es mich, dass der Verteidigungsminister seine eigene Verhaftung zugelassen hatte. Sein Alphaquotient war hoch genug; Er war doch in der Lage, Moleküle zu verdrängen und durch Wände zu gehen.

Die Spinne war in ihrem Glas gestorben. Warum? Warum, warum, warum?

Nach der abendlichen Reinigung ging ich im Fischerdorf spazieren. Kreischende Kinder spielten ein Spiel, das ich nicht begriff. An den Straßenecken drückten sich Teenager herum, die die angesagtesten Klamotten trugen – zweifellos abgeguckt von ihren Altersgenossen in Tokio, die sie aus ihren Zeitschriften kannten. Mütter standen tratschend vor dem Supermarkt. Ich wollte ihnen zubrüllen: Die Welt wird bald untergehen, und ihr alle werdet in den Weißen Nächten braten! Aus einer Bar dröhnte einheimische Musik, ein einziges Geklimper und Gedudel … Ich folgte der Straße bis zum Ende und erreichte die Berge, das Meer und die Nacht.

Ich ging über den Kiesstrand. Plastikbojen. Eine Meerkokosnuss, geformt wie eine Frauenlende. Müll, der mit dem Treibholz angespült wurde. Getränkedosen, Flaschen, Gummihandschuhe, Putzmittelbehälter. Unter einem Boot, dessen Farbe abblätterte und das nie wieder auf dem Wasser treiben würde, drangen Grunzlaute und Geschrei hervor. Ein Schatten in der Ferne entzündete ein Feuer.

Seine Luzidität sprach zu mir durch die tosenden Wellen und den schmatzenden Kies. Wozu telefonieren, wenn man die Telepathie beherrscht? Der Meister sagte, Sein getreuer Reiniger Quasar müsse die wichtigste Rolle übernehmen. Die Zeit der Verfolgung sei nun angebrochen, genau, wie Er es in der hundertdreiundvierzigsten heiligen Offenbarung prophezeite. Er erklärte mir, in den Weißen Nächten würde ich den Gläubigen ein Hirte sein. Und wenn der Komet die Neue Welt eingeleitet habe, würde ich als die rechte Hand Seiner Luzidität in Seinem Namen Recht sprechen und Klugheit walten lassen. Ich antwortete dem Meister, dass ich bereit sei, für Ihn zu sterben. Dass ich Ihn liebte wie ein Sohn den Vater und Ihn beschützen würde wie ein Vater den Sohn. Seine Luzidität, mehrere hundert Kilometer entfernt, lächelte. Der Komet wird Weihnachten ankommen. Die Neue Welt ist nicht mehr weit. Die Gemeinschaft der Menschlichkeit wird sich auf einer Insel zusammenfinden, die reiner ist als diese, und die Überlebenden werden mich «Vater Quasar» nennen. Es wird keine Tyrannei mehr geben und keine Schikane. Die Ungläubigen, die nichtswürdig und selbstsüchtig sind, werden im Fett ihrer eigenen Dummheit schmoren. Wir werden Papayas, Cashewnüsse und Mangos essen und lernen, wie man traditionelles Werkzeug und schöne Töpferwaren fertigt. Seine Luzidität wird unsere Geschlechtspartner nach unseren Alphaquotienten auswählen und uns lehren, unsere Alphatechniken zu verbessern. Wir werden Astralreisen unternehmen und andere Sterne besuchen.

Ich kniete nieder und dankte meinem Herrn für Seine Unterstützung. Der Mond ging über der offenen Bucht auf, und ein Stern nach dem anderen erschien am Himmel.

Das Baby mit der Wollmütze, das am Rücken seiner Mutter festgezurrt war, schlug die Augen auf. Es waren meine Augen. Eine körperlose Stimme sang endlos den gleichen Refrain. Das Gesicht der Kleinen spiegelte sich in meinen Augen. Sie wusste, was ich vorhatte. Und sie bat mich, es nicht zu tun. Aber wenn der Komet kommt, muss sie ohnehin sterben, Quasar! Du wirst ihr Leiden im Land der Unreinen nur verkürzen! Sicher werden die Unschuldigen in der Gemeinschaft der Neuen Welt wiedergeboren! Reinige dich und festige deinen Glauben, gründlich und schnell.

Die Leuchtziffern des Radioweckers zeigten halb zwei. Durch die Wände hämmerte schlechtes Karaoke. Ich war hellwach. Die verschwitzte Bettwäsche klebte an mir wie eine Zwangsjacke. Die Kopfschmerzen bohrten sich wie Daumen in meine Schläfen. Störende Gammawellen brachten meinen Darm in Aufruhr: Ich taumelte zur Toilette. Meine Scheiße sah aus wie schlieriges schwarzes Rohöl. Ich musste ständig an die dünne Lehrerin denken und überlegte, wie ich sie in ihre Schranken hätte weisen können. Mein Blick wanderte über die verschlungenen Muster auf dem abgetretenen Linoleum. Ich duschte so heiß, wie Haut es aushalten kann.

Zum ersten Mal seit meiner feierlichen Initiation in die Gemeinschaft kaufte ich mir aus dem Automaten im verlassenen Foyer Zigaretten. Ich steckte mir eine an und ging zurück auf mein Zimmer. Ich würde noch eine ganze Zeit wach bleiben.

Meine Handflächen sind fleckig geworden. Ich reinige mich acht- bis neunmal am Tag, aber etwas stimmt nicht mit meiner Haut. Ich habe mir angewöhnt, jeden Morgen den Fernseher einzuschalten. Es wurden rechtliche Schritte eingeleitet, um die Gemeinschaft aufzulösen und die Mitgliedschaft unter Strafe zu stellen. Mein Name wurde genannt und ein Foto gezeigt, das sie im Archiv der Gemeinschaft aufgestöbert haben. Zum Glück trug ich eine Alphamaschine auf meinem kahl rasierten Schädel, sodass keine sonderliche Ähnlichkeit besteht. Ich bin der letzte Reiniger von Tokio, der noch nicht gefasst wurde. Ich habe gesehen, wie meine leiblichen Eltern unter Blitzlichtgewitter ins Auto meiner leiblichen Schwester stiegen und von einer Reportermeute gehetzt wurden. Seine Luzidität wurde verhaftet und wegen Verschwörung zu Genozid, Betrug, Entführung und illegalem Besitz von tödlichem Nervengas angeklagt. In den Nachrichten wird immer wieder gezeigt, wie die Agenten der Unreinen Seine Luzidität in ein Auto verfrachten und am Pöbel vorbeifahren, der johlend Sein Blut fordert. Der Bericht ist mit düsterer Musik unterlegt, damit die Stumpfsinnigen begreifen, dass Er ein Verbrecher ist, der wie Darth Vader zu verachten und zu fürchten ist. Die übrigen Kabinettsmitglieder sind ebenfalls verhaftet worden. Sie fallen übereinander her und denunzieren einander in der Hoffnung, das sichere Todesurteil möge in lebenslänglich umgewandelt werden. Mich hat der Bildungsminister denunziert. Seine Luzidität wurde von seiner eigenen Frau verraten, die behauptete, nichts von der Herstellung des Gases gewusst zu haben. Gerade sie, die so erpicht auf die Reinigung gewesen war! Ein Nachrichtensender schickte seine Handlanger nach Los Angeles, damit sie das Eliteinternat in Beverly Hills filmten, das die Söhne Seiner Luzidität besuchen.

Ich rief vom Hafen aus im Heiligtum an.

«Nennen Sie Ihren Namen, Ihren Beruf und Ihren aktuellen Aufenthaltsort», verlangte eine kalte Stimme. Ein Bulle. Selbst mit dem Alphaquotienten einer Fruchtfliege würde man ihn aus einem Kilometer Entfernung erkennen. Ich legte auf.

Es sieht schlecht aus. Ich kann nicht zurück aufs Festland. Da mein Pass sich in Besitz des Außenministeriums der Gemeinschaft befindet, kann ich weder meine russischen noch meine koreanischen Brüder und Schwestern um Hilfe ersuchen. Mein Geld geht zur Neige. Natürlich besitze ich keine eigenen Mittel: Nach der Initiation wurde jeder Yen auf die Konten der Gemeinschaft transferiert. Meine leibliche Familie hat mich enterbt und würde mich verpfeifen, genau wie die Freunde, die ich in meinem Leben in Verblendung hatte. Aber ich gräme mich nicht. Wenn die Weißen Nächte kommen, werden sie ernten, was sie gesät haben. Die Gemeinschaft ist meine wahre Familie.

Es gab noch eine letzte Anlaufstelle: den Geheimdienst der Gemeinschaft. Da die Medien keine Verhaftungen erwähnt hatten, waren die Agenten vielleicht noch rechtzeitig untergetaucht. Ich wählte die Geheimnummer und nannte den Code: «Die Hunde müssen gefüttert werden.»

Ich wartete schweigend, wie man es mich beim Reinigungstraining im Heiligtum gelehrt hatte. Der Geheimdienstmitarbeiter am anderen Ende wartete so lange, bis er meinen Anruf zurückverfolgt hatte, und legte auf. Die Hilfe war bereits unterwegs. Sie werden jemanden über Levitation entsenden, der mir eine Brieftasche voll nagelneuer Zehntausend-Yen-Scheine bringt. Er wird meine Alphasignatur abtasten und mich finden, während ich allein über die Insel streife oder in einem Palmenhain schlafe. Er wird da sein, wenn ich aufwache, und vielleicht wird er strahlen wie Buddha oder Gabriel.

Kumejima ist ein elendes, inzestuöses Gefängnis. Kaum vorstellbar, dass dieser Felsklotz während des Ryukyu-Reiches Zentrum des Handels mit China war. Damals waren die Schiffe beladen mit Gewürzen, Korallen, Elfenbein und Seide, Schwertern, Kokosnüssen, Hanf und Sklaven. Sicher erhoben sich die Rufe der Männer über das geschäftige Treiben im Hafen, und auf dem Marktplatz knieten alte Frauen neben ihren Waagen und Bergen von Früchten und getrocknetem Fisch. Mädchen mit keuschen Brüsten standen in der Dämmerung an den Fenstern, lehnten sich über die Blumenkästen und murmelten Verheißungsvolles …

Das alles ist längst Vergangenheit. Längst. Okinawa verkam zum armseligen Lehnbesitz und wurde zum Zankapfel seiner Herren, die weit hinter dem gekrümmten Horizont leben. Auch wenn es niemand zugibt, die Inseln liegen im Sterben. Die jungen Leute ziehen aufs Festland. Ohne Subventionen und Preisbindungen würde die Landwirtschaft zusammenbrechen. Wenn die Pazifisten vom Festland die amerikanischen Vergewaltiger von den Inseln vertreiben, wird die gesamte Wirtschaft ins Wanken geraten und schließlich zum Erliegen kommen. Die Schleppnetze der Fischfabriken haben das Meer leer gefischt. Die Bahngleise führen ins Niemandsland. Von angefangenen Bauprojekten sind nur Betonsilos und Kiesberge geblieben, zwischen denen dorniges Unkraut wuchert. Diese Insel wäre reif für die Mission Seiner Luzidität! Ich brenne darauf, die Menschen zu erwecken und ihnen von den Weißen Nächten und der Neuen Welt zu berichten, aber ich wage nicht, die Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Meine Unauffälligkeit ist meine letzte Waffe. Wenn sie verbraucht ist, schützt mich nur noch das Alphapotenzial eines Novizen.

Gestern sprach mich der schnurrbärtige Inselpolizist an. Wir begegneten uns vor einem Geschäft für Taucherbedarf, als er sich gerade bückte und den Schnürsenkel zuband.

«Wie bekommt Ihnen der Urlaub, Herr Tokunaga?»

«Ich habe mich sehr gut erholt, Wachtmeister. Vielen Dank.»

«Das mit Ihrer Frau tut mir Leid. Es muss ein furchtbarer Schock für Sie gewesen sein.»

«Sehr freundlich von Ihnen.» Ich versuchte, mein Alphapotenzial auf ihn zu richten und ihn zum Gehen zu bewegen.

«Sie reisen morgen ab, Herr Tokunaga? Frau Mori von der Pension sagte mir, Sie würden ein paar Wochen bleiben.»

«Ich spiele tatsächlich mit dem Gedanken, noch einige Tage anzuhängen.»

«Tatsächlich? Wird Ihre Firma Sie denn gar nicht vermissen?»

«Ich arbeite gerade an einem neuen Computersystem. Das kann ich ebenso gut hier tun wie in Tokio. Die friedliche Stille der Insel wirkt sogar besonders inspirierend.»

Der Polizist nickte nachdenklich. «Da fällt mir ein … Die Schüler der Mittelstufe haben kürzlich eine Computer-AG gegründet. Meine Schwägerin ist die Schulleiterein. Frau Oe. Ich glaube, Sie haben sie bereits bei Frau Mori kennen gelernt. Ich habe mich gefragt … Frau Oe ist viel zu höflich, es würde ihr nicht im Traum einfallen, Ihnen Ihre kostbare Zeit zu stehlen, aber …»

Ich wartete.

«Es wäre für die Schule eine große Ehre, wenn Sie es einrichten könnten, den Schülern einmal zu berichten, wie es in einer richtigen Computerfirma zugeht …»

Ich ahnte eine Falle. Aber es war weniger gefährlich, später eine Ausrede zu erfinden, als von vornherein abzulehnen. «Gern.»

«Das ist sehr freundlich von Ihnen. Ich werde es zur Sprache bringen, wenn ich meinen Schwager das nächste Mal sehe …»

Am Strand begegnete ich dem Husky. Seine Luzidität sprach zu mir durch sein Gebell.

«Was hast du erwartet, Quasar? Hast du etwa geglaubt, es wäre leicht, das Zeitalter des homo luziditus einzuläuten?»

«Nein, Herr. Aber wann werden die Yogiflieger zum Weißen Haus und ins Europäische Parlament entsandt, um Deine Freilassung zu erwirken?»

«Du musst Eier essen, mein getreuer Anhänger.»

«Eier, Herr?»

«Eier sind das Symbol der Wiedergeburt, Quasar. Wassereis von Orange Rocket musst du auch lutschen.»

«Wofür stehen die, Guru?»

«Für gar nichts. Sie enthalten bloß eine Menge Vitamin C.»

«Es soll geschehen, Herr. Aber die fliegenden Yogis, Vater …»

Meine Frage wurde mit Hundegebell und einem verdutzten Blick des Liebespaares erwidert, das plötzlich hinter einem Turm rostiger Ölfässer auftauchte. Wir sahen einander irritiert an. Der Hund hob das Bein und pinkelte an einen Traktorreifen. Das Meer bekundete tosend seine Gleichgültigkeit.

Das kleine Mädchen mit der Wollmütze hatte mich gemocht. Wie war das möglich? Bestimmt war es nur ein Gesichtsreflex. Sie gluckste und lächelte mir zu. Die Mutter sah nach, wen ihre Tochter anlächelte, und lächelte ebenfalls. In ihren Augen lag Wärme. Ich lächelte nicht zurück, sondern sah weg. Ich wünschte mir, ich hätte ihr Lächeln erwidert. Ich wünschte mir, sie hätten mich gar nicht erst angelächelt. Hätten sie dann überlebt? Oder hätte das Gas sie trotzdem erwischt? Wenn sie sich nicht vom Fleck gerührt hatten, war das Gas aus dem Päckchen direkt in ihre Nasen, Augen und Lungen geströmt …

Mutter. Vater.

Aber wir übten lediglich Selbstverteidigung! Am Tag meiner Berufung ins Informationsministerium kam es zu einem Vorfall. Der unreine leibliche Onkel einer unserer Schwestern war vor Gericht gezogen, um sie daran zu hindern, das Bauernhaus und das Land ihrer Familie zu verkaufen. Der Mann war Immobilienanwalt. Der Geheimdienst lud den Fleischesbruder zum Verhör. Seine Luzidität erkannte sofort, dass er ein Spion der Unreinen war. Offenbar schmiedete er ein Mordkomplott. Lächerlich! Jeder im Heiligtum wusste, dass vor dreißig Jahren, während einer Reise nach Tibet, ein reines Bewusstsein namens Arupadhatu in den Körper Seiner Luzidität übergegangen war und Ihm offenbart hatte, wie der Geist sich seiner leiblichen Fesseln entledigt. Damals hatte Seine Luzidität den Aufstieg zum Heiligen Berg begonnen. Wenn dem Körper Seiner Luzidität ein Leid widerführe, bräuchte er nur die alte Hülle abzustreifen und könnte so leicht in einen neuen Körper wandern, wie ich das Hotel und die Insel wechsele. Er könnte sogar in seinen Mörder wandern.

Auf alle Fälle wurde dem Anwalt ein Wahrheitsserum gespritzt, und er gestand. Sein Auftrag lautete, die Reiskocher des Refektoriums mit einem geruchlosen Gift zu verseuchen. Die Frau Seiner Luzidität soll das Verhör höchstpersönlich geführt haben.

Sehen Sie! Wir übten nur Selbstverteidigung.

Meine Fingernägel lösen sich ab.

Am Nachmittag spazierte ich zum Leuchtturm. Ich saß auf einem Felsen und sah den Wellen und den Vögeln zu. Ein Taifun bewegte sich auf die chinesische Küste zu, zog um Taiwan herum und braute sich vor Okinawa zusammen. Im Westen türmten sich Wolken auf, und Winde entfesselten sich. Man sprach über mich, und Entscheidungen wurden gefällt. Was war schief gelaufen? In ein paar Monaten hätte mein Alphaquotient 25 betragen, und ich wäre zu den zweihundert Besten der Welt aufgestiegen – das hatte der Meister mir persönlich versichert. Ich hatte ein paar Wimpern Seiner Luzidität verspeist. Nachdem ich Bekehrungswillige für das Begrüßungsprogramm gewonnen hatte, erhielt ich zur Belohnung ein Reagenzglas mit dem Sperma des Gurus, das ich trank. Es stärkte meine Gammaabwehrkräfte. Ich wurde aus der Toilettenputzkolonne herausgenommen und zum Reiniger ernannt. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich jemand.

Das Wellblechdach eines verlassenen Schuppens klapperte im Wind.

Nichts ist schief gelaufen. Gar nichts, Quasar. Es war dein Glaube, der dir die Aufmerksamkeit Seiner Luzidität einbrachte, und dein Glaube wird dich auch durch die Zeit der Verfolgung und die schrecklichen Tage von den Weißen Nächten bis zum Beginn der Neuen Welt geleiten. Ab jetzt wirst du von deinem Glauben zehren.

Alles auf dieser gottverlassenen Insel bricht zusammen. Ich wäre besser in Naha geblieben. Ich hätte mich in einem Schneegebiet oder auf dem zugefrorenen Hokkaido verstecken sollen oder in einer Metropole, wo ich nicht aufgefallen wäre. Ich fragte mich, was aus Herrn Ikeda geworden war. Was geschieht mit den Menschen, die über den Rand unserer Welt kippen?

Taifunwetter.

Ich lasse die Vorhänge zugezogen. Unser Verteidigungsminister hatte erfahren, dass die Regierung der Unreinen eine Mikrokamera entwickelt hatte, die sie zu Spionagediensten abgerichteten Möwen in den Schädel implantierte. Ganz zu schweigen von den amerikanischen Geheimsatelliten, die um die Erde kreisen und nach der Gemeinschaft fahnden, alles auf Geheiß der Politiker und der Juden, die vor langer Zeit die Freimaurer gründeten und Chinesen dafür bezahlten, dass sie den Brunnen der Geschichte vergifteten.

Ich saß mit dem Rücken zum Leuchtturm auf der einsamen Landzunge. Die nahenden Scheinwerfer trafen mich. Ich sah mich nach einem Versteck um. Es gab keins. Eine Möwe beobachtete mich. Sie hatte ein grausames Gesicht. Ein blauweißes Auto hielt neben mir. Jetzt war es zu spät, sich zu verstecken. Die Tür ging auf, und das Wageninnere wurde von einem schwachen Schein erhellt.

Sie haben mich gefunden! Für immer in einer Zelle …

So seltsam es ist, plötzlich bin ich erleichtert, dass es vorbei ist. Jetzt muss ich wenigstens nicht mehr davonlaufen.

Eine Hand räumte den Beifahrersitz frei. Der Fahrer lehnte sich zur Seite. «Herr Tokunaga, nicht wahr?»

Ich nickte finster und ging auf meinen Häscher zu.