Der dreizehnte Monat - David Mitchell - E-Book
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David Mitchell

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Beschreibung

1982: Es ist ein regennasser Januar in Black Swan Green, einem Dorf in der toten Mitte Englands. Jason Taylor – heimlicher Stammler und zögernder Poet – befürchtet ein Jahr der schlimmsten Langeweile. Doch er hat weder mit einem Haufen Schulschwänzer gerechnet, die ihm das Leben schwermachen, noch mit köchelndem Familienzwist, der exotischen (belgischen) Immigrantin, dem Falklandkrieg oder gar mit jenen rätselhaften Geschöpfen, die man Mädchen nennt. David Mitchells ebenso bezaubernder wie turbulenter Roman kartographiert dreizehn Monate im schwarzen Loch zwischen Kindheit und Erwachsenwerden, das Ganze im Abendrot eines heruntergekommenen Ex-Weltreiches. «Einer der wichtigsten jungen britischen Autoren.» (Frankfurter Allgemeine Zeitung) «David Mitchell ist atemberaubend gut, einer der besten Erzähler seiner Generation.» (Neue Zürcher Zeitung)

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Seitenzahl: 594

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David Mitchell

Der dreizehnte Monat

Roman

Aus dem Englischen von Volker Oldenburg

Der dreizehnte Monat

Januar

MEIN BÜRO bleibt absolut tabu für euch. So lautet Dads Regel. Aber das Telefon hatte schon fünfundzwanzigmal geklingelt. Normale Leute geben nach dem zehnten oder elften Mal auf, außer es geht um Leben und Tod. Oder? Dad hat einen Anrufbeantworter wie James Garner in Detektiv Rockford, mit so großen Spulen. Aber in letzter Zeit lässt er ihn nicht mehr laufen. Jetzt waren es dreißigmal. Julia hörte nichts, weil aus ihrem Dachzimmer tierisch laut «Don’t you want me?» von Human League dröhnte. Vierzigmal. Mum hörte nichts, weil sie das Wohnzimmer saugte und weil die Waschmaschine auf vollen Touren schleuderte. Fünfzig! Das war einfach nicht normal. Was, wenn Dads Auto auf der M5 von einem Sattelschlepper plattgewalzt worden war und die Polizei nur die Büronummer hatte, weil alle anderen Papiere verbrannt waren? Vielleicht verpassten wir die letzte Chance, unseren verkohlten Vater wenigstens noch auf der Sterbestation zu sehen.

Also ging ich rein und dachte an Blaubarts Frau, die sein Zimmer betrat, obwohl er es ihr verboten hatte. (Natürlich wartete Blaubart nur darauf.) In Dads Büro riecht es nach Geldscheinen, nach Papier, aber auch metallisch. Die Jalousien waren unten, darum kam es mir wie Abend vor, nicht wie zehn Uhr morgens. An der Wand hängt eine finstere Uhr, genauso ein Modell wie die finsteren Uhren in der Schule. Ein Foto gibt es auch, Dad beim Händeschütteln mit Craig Salt, als Dad zum regionalen Verkaufsleiter bei Greenland befördert wurde. Auf dem Stahlschreibtisch steht Dads IBM-Computer. Tausende kostet so einer. Das Telefon sieht aus wie das rote Telefon, und es hat keine Wählscheibe wie andere Apparate, sondern Tasten.

Egal, jedenfalls holte ich tief Luft, nahm den Hörer ab und nannte unsere Nummer. Wenigstens die kann ich sagen, ohne zu stottern. Meistens.

Aber es meldete sich niemand.

«Hallo?», sagte ich. «Hallo?»

Am anderen Ende sog jemand Luft ein, als hätte er sich an Papier geschnitten.

«Hören Sie mich? Ich höre Sie nicht.»

Im Hintergrund erkannte ich gerade noch die Titelmusik der Sesamstraße.

«Wenn Sie mich hören», mir fiel eine Szene aus einem Kinderfilm ein, «klopfen Sie bitte einmal an den Hörer.»

Kein Klopfen, nur die Sesamstraße.

«Haben Sie sich vielleicht verwählt?»

Ein Baby fing an zu brüllen, und der Hörer wurde aufgeknallt. Menschen machen beim Zuhören ein Zuhörgeräusch.

Ich hatte es gehört, also hatte der andere mich gehört.

«Das macht den Kohl nun auch nicht mehr fett.» Miss Throckmorton hat uns das schon vor Urzeiten beigebracht. Weil ich das verbotene Zimmer irgendwie mit einem Grund betreten hatte, guckte ich zwischen den messerscharfen Lamellen durch, über das Pfarrland, vorbei an der Rosskastanie, über die Felder bis zu den Malvern Hills. Fahler Morgen, eisiger Himmel, raureifbedeckte Hügel, aber keine Spur von liegengebliebenem Schnee. Leider. Dads Drehstuhl ist wie der Lasertower des Millennium Falcon. Ich ballerte auf die russischen MiGs, die den Himmel über den Malverns verdunkelten. Bald verdankten mir zigzehntausend Menschen zwischen hier und Cardiff ihr Leben. Das Pfarrland war übersät mit zerfetzten Flugzeugrümpfen und verrußten Tragflächen. Sowie die sowjetischen Flieger ihre Schleudersitze aktivierten, würde ich sie mit Betäubungspfeilen torpedieren, und dann würden unsere Marinetruppen sie erledigen. Ich würde alle Orden ablehnen. «Danke, aber nein danke», würde ich zu Margaret Thatcher und Ronald Reagan sagen, wenn Mum sie ins Haus bat, «ich hab bloß meine Pflicht getan.»

An Dads Schreibtisch klemmt ein klasse Bleistiftanspitzer. Er macht die Bleistifte so spitz, dass sie durch eine kugelsichere Weste kommen würden. H-Bleistifte sind die spitzesten, mit denen schreibt Dad am liebsten. Ich mag lieber 2B.

Es klingelte an der Tür. Ich schloss die Jalousie, überzeugte mich, dass ich keine Spuren hinterlassen hatte, schlüpfte aus dem Zimmer und rannte die Treppe runter. Die letzten sechs Stufen nahm ich mit einem todesmutigen Satz.

Moron, verpickelt und grinsend wie immer. Aber sein Flaum wird langsam dichter. «Das rätst du nie!»

«Was?»

«Kennst du den See im Wald?»

«Was ist mit dem?»

«Gar nichts», er guckte, ob uns jemand belauschte, «er ist bloß zugefroren. Die meisten Jungs aus dem Dorf sind schon da. Ist das affengeil, oder was?»

«Jason!» Mum kam aus der Küche. «Du lässt die Kälte ins Haus. Entweder Dean kommt rein – hallo, Dean –, oder du machst die Tür zu.»

«Äh … ich geh nochmal raus, Mum.»

«Äh … wohin?»

«Nur ein bisschen gesunde Frischluft schnappen.»

Das war ein taktischer Fehler. «Was führst du im Schilde?»

Ich wollte «nichts» sagen, aber Henker entschied sich dagegen. «Was soll ich denn im Schilde führen?» Ich zog meinen dunkelblauen Dufflecoat an und wich dabei ihrem Blick aus.

«Dürfte ich erfahren, was dein neuer schwarzer Parka dir angetan hat?»

Ich kriegte immer noch kein «nichts» raus. (Die Wahrheit ist, Schwarz bedeutet, dass du dich für einen oberharten Typen hältst. Man kann von Erwachsenen nicht erwarten, dass sie das verstehen.) «Der Dufflecoat ist einfach wärmer. Es ist eisig draußen.»

«Mittag gibt’s um Punkt eins.» Mum war schon wieder dabei, den Staubsaugerbeutel zu wechseln. «Dad kommt heute zum Essen. Setz eine Wollmütze auf, du verkühlst dir sonst den Kopf.»

Wollmützen sind schwul, aber ich konnte sie später einfach in die Manteltasche stopfen.

«Wiedersehen, Mrs.Taylor», sagte Moron.

«Wiedersehen, Dean», sagte Mum.

Mum hat Moron noch nie leiden können.

Moron ist so groß wie ich und ganz in Ordnung, aber meine Fresse, stinkt der nach Bratensoße. Moron trägt Hochwasserhosen aus dem Secondhandladen und wohnt in Drugger’s End in einem winzigen Haus, in dem es auch nach Bratensoße stinkt. Eigentlich heißt er Dean Moran (reimt sich auf verworren), aber unser Sportlehrer Mr.Carver nannte ihn schon in der ersten Schulwoche «Moron» der Schwachkopf, und das ist hängengeblieben. Wenn wir unter uns sind, nenne ich ihn «Dean», aber Namen sind nicht bloß Namen. Schüler, die bei allen beliebt sind, werden mit ihren Vornamen angesprochen, Nick Yew ist also immer «Nick». Mehr oder weniger beliebte Schüler wie Gilbert Swinyard haben halbwegs respektvolle Spitznamen wie «Yardy». Dann kommen Schüler wie ich, die sich gegenseitig mit ihren Nachnamen anreden. Unter uns stehen die Schüler mit Verarsche-Spitznamen, so wie Moran-Moron oder Nicholas Briar, den alle Knickerless Bra, den BH ohne Schlüpfer, nennen. Wenn du ein Junge bist, dreht sich alles darum, welchen Rang du hast, so wie beim Militär. Würde ich Gilbert Swinyard einfach «Swinyard» nennen, bekäme ich was auf die Fresse. Würde ich dagegen Moron vor allen anderen «Dean» nennen, würde ich damit meinem eigenen Ansehen schaden. Du musst also immer auf der Hut sein.

Mädchen sind da nicht so schlimm, außer Dawn Madden, aber die ist ein missglückter Junge, nach einem Laborversuch oder so. Mädchen prügeln sich auch nicht so oft wie Jungs. (Mal abgesehen von Dawn Madden und Andrea Bozard, die sich kurz vor den Weihnachtsferien, als wir nach der Schule auf den Bus warteten, mit «Dreckstück!» und «Schlampe!» beschimpften. Auf die Titten geboxt und an den Haaren gezogen haben die sich.) Manchmal wünsche ich mir, ich wäre als Mädchen auf die Welt gekommen. Die haben meistens ein tausendmal besseres Benehmen. Aber das dürfte ich nie offen aussprechen, weil die anderen sonst ARSCHFICKER an meinen Spind schmieren. So ist es Floyd Chacely ergangen, nur weil er gesagt hatte, er würde Johann Sebastian Bach gut finden. Wenn die anderen wüssten, dass ich Eliot Bolivar bin, dessen Gedichte im Gemeindemagazin von Black Swan Green abgedruckt werden, dann würden sie mich hinter den Tennisplätzen mit stumpfem Werkzeug totschlagen und auf meinen Grabstein das Logo der Sex Pistols sprühen.

Jedenfalls erzählte mir Moron auf dem Weg zum See von der Autorennbahn, die er zu Weihnachten gekriegt hatte. Am zweiten Feiertag explodierte der Transformator, was beinahe seine ganze Familie ausgelöscht hätte. «Wer’s glaubt», sagte ich. Aber Moron schwor, beim Grab seiner Oma. Also schlug ich vor, er soll an die BBC schreiben, damit Esther Rantzen von That’s Life dafür sorgt, dass der Hersteller Schadensersatz zahlen muss. Moron meinte, dass könne schwierig werden, weil sein Vater die Rennbahn Heiligabend auf dem Tewkesbury Market bei einem Brummie gekauft hatte. Ich traute mich nicht zu fragen, was ein «Brummie» ist, falls es dasselbe heißt wie «Bumboy», was Schwuler bedeutet. «Ja», sagte ich, «verstehe.» Moron wollte wissen, was ich zu Weihnachten bekommen hatte. Eigentlich hatte ich für 13,50 Büchergutscheine und ein Poster von Mittelerde gekriegt, aber Bücher sind schwul, und darum erzählte ich ihm vom Spiel des Lebens, das mir Onkel Brian und Tante Alice geschenkt haben. Das ist ein Brettspiel, bei dem derjenige gewinnt, der mit seinem kleinen Auto als Erster am Ende der Straße des Lebens ankommt, und zwar mit dem meisten Geld. Wir überquerten die Kreuzung beim Black Swan und gingen in den Wald. Ich bereute, dass ich mir die Lippen nicht mit Vaseline eingeschmiert hatte, weil sie immer rissig werden, wenn es draußen so kalt ist.

Kurz darauf hörten wir durch die Bäume Rufe und Geschrei. «Wer zuletzt am See ist, ist ein Spast!», schrie Moron und peste los, bevor ich startklar war. Er stolperte sofort über eine gefrorene Reifenspur und flog auf den Hintern. Typisch Moran. «Ich glaub, ich hab ’ne Gehirnerschütterung», sagte er.

«Gehirnerschütterung kriegst du, wenn du dir den Kopf stößt. Oder sitzt bei dir das Hirn im Arsch?» Was für ein Satz. Mist, dass niemand Wichtiges in der Nähe war und ihn hörte.

Der See im Wald war spitze. Im Eis steckten winzige Blasen wie in einem Gletschereis-Bonbon. Neal Brose hatte echte Rennschlittschuhe, die er für 5 Pence verlieh. Nur Pete Redmarley durfte umsonst laufen, damit die anderen sahen, wie er übers Eis flitzte, und es auch mal probieren wollten. Es ist schon schwer genug, nur auf dem Eis zu stehen. Ich legte mich x-mal hin, bevor ich den Dreh raushatte, in den Turnschuhen zu gleiten. Ross Wilcox tauchte mit seinem Cousin Gary Drake und Dawn Madden auf. Alle drei sind ziemlich gute Schlittschuhläufer. Außerdem sind Drake und Wilcox jetzt größer als ich. (Sie hatten sich die Handschuhe abgeschnitten, damit alle die Wunden sahen, die sie sich beim Fingerkloppen zugefügt hatten. Mum würde mich umbringen!) Squelch saß auf der höckerigen Insel in der Mitte des Sees, wo sonst die Enten wohnen, und schrie jedes Mal, wenn jemand hinfiel: «Bauchklatscher! Bauchklatscher!» Squelch ist nicht ganz richtig im Kopf, weil er zu früh auf die Welt gekommen ist, darum kriegt er nie was verpasst. Nicht so doll jedenfalls. Grant Burch fuhr mit dem Bonanzarad seines Dieners Philip Phelps aufs Eis. Ein paar Sekunden lang hielt er das Gleichgewicht, doch als er auf dem Hinterrad fahren wollte, rutschte es weg. Nach der Landung sah das Rad aus, als hätte Uri Geller es zu Tode gefoltert. Phelps grinste matt. Überlegte bestimmt, wie er das seinem Vater beibringen sollte. Dann beschlossen Pete Redmarley und Grant Burch, dass der zugefrorene See ideal für eine Runde British Bulldogs wäre. Nick Yew sagte: «Okay, ich bin dabei», und damit war die Sache entschieden. Ich hasse British Bulldogs. Ich war tierisch erleichtert, als Miss Throckmorton das Spiel an unserer Grundschule verbot, nachdem Lee Biggs drei Zähne dabei verloren hatte. Aber an diesem Vormittag hätte jeder als die Oberschwuchtel dagestanden, der nicht ganz wild auf British Bulldogs war. Besonders jemand aus den Kingfisher Meadows, so wie ich.

Zwanzig bis fünfundzwanzig Jungs und dazu Dawn Madden standen zusammen wie ein Haufen Sklaven auf dem Sklavenmarkt und warteten darauf, gewählt zu werden. Grant Burch und Nick Yew waren die Kapitäne des einen Teams, Pete Redmarley und Gilbert Swinyard die des anderen. Ross Wilcox und Gary Drake wurden vor mir von Pete Redmarley gewählt, aber beim sechsten Mal wählte mich Grant Burch, was nicht peinlich spät war. Moron und Squelch blieben als Letzte übrig. Grant Burch und Pete Redmarley sagten aus Witz: «Nein, ihr könnt sie beide haben, wir wollen gewinnen!», und Moron und Squelch lachten, als würden sie es auch lustig finden. Vielleicht fand Squelch es wirklich lustig. (Moron nicht. Als die anderen wegsahen, machte er das gleiche Gesicht wie damals, als wir ihm sagten, wir würden Verstecken spielen und er wäre als Erster dran. Es dauerte eine Stunde, bis er dahinter kam, dass ihn niemand suchte.) Nick Yew gewann die Seitenwahl, damit waren wir zuerst die Läufer und Pete Redmarley und seine Mannschaft waren die Bulldoggen. Dann wurden an den Rändern des Sees mit den Mänteln der unwichtigen Jungs die Torräume markiert. Mädchen, ausgenommen Dawn Madden, und Babys wurden vom Eis gejagt. Redmarleys Bulldoggen bildeten in der Mitte eine Mauer, und wir Läufer schlitterten zu unserem Tor. Mein Herz raste. Bulldoggen und Läufer gingen in Startposition wie Eisschnellläufer. Die Kapitäne führten den Sprechchor an.

«British Bulldogs! Eins, zwei, drei!»

Mit Kamikazegeschrei stürmten wir los. Ich rutschte (versehentlich-absichtlich) aus, bevor die erste Woge Läufer in die Mauer der Bulldoggen krachte. Ich spekulierte darauf, dass die meisten der härtesten Bulldoggen durch Rangeleien mit der vordersten Läuferreihe lahmgelegt wurden. (Die Bulldoggen müssen die Läufer so lange mit beiden Schultern aufs Eis drücken, bis sie «British Bulldogs, eins, zwei, drei» gerufen haben.) Mit etwas Glück taten sich ein paar Lücken zum Durchschlüpfen auf, und ich konnte ungehindert bis ins Ziel vordringen. Anfangs ging meine Taktik prima auf. Die Tookey-Brüder und Gary Drake rammten Nick Yew. Ein fliegendes Bein traf mich am Schienbein, aber ich kam ohne hinzufallen an ihnen vorbei. Doch dann wurde ich von Ross Wilcox attackiert. Ich wollte mich an ihm vorbeiwinden, aber Wilcox packte mich am Handgelenk und versuchte mich zu Boden zu reißen. Anstatt mich zu befreien, packte ich ihn umso fester am Handgelenk und stieß ihn so heftig weg, dass er gegen Ant Little und Darren Croome prallte. Ist das oberaffengeiloder was? Bei Spielen und im Sport geht es nicht darum, dabeizusein oder sogar zu gewinnen. Es geht nur darum, deine Gegner zu demütigen. Lee Biggs unternahm den lachhaften Versuch, mich zu Boden zu ringen, aber ich schüttelte ihn problemlos ab. Er hat zu viel Angst um die Zähne, die er noch hat, um eine ordentliche Bulldogge zu sein. Ich kam als vierter Läufer ins Ziel. Grant Burch schrie: «Sauber, Jacey-Boy!» Nick Yew hatte sich von den Tookeys und Gary Drake befreit und kam auch ins Ziel. Ungefähr ein Drittel von uns wurde gefangen genommen und für die nächste Runde zu Bulldoggen gemacht. Das ist das Ätzende an British Bulldogs. Du wirst gezwungen, zum Verräter zu werden.

Egal, jedenfalls brüllten wir im Chor: «British Bulldogs, eins, zwei, DREI!» und griffen mit der gleichen Taktik an wie vorher, aber diesmal hatte ich keine Chance. Ross Wilcox und Gary Drake und Dawn Madden nahmen mich sofort ins Visier. Sosehr ich auch versuchte, mich durchs Kampfgetümmel zu schummeln, es war aussichtslos. Ich hatte es noch nicht mal bis zur Mitte des Sees geschafft, als sie mich kriegten. Ross Wilcox packte meine Beine, Gary Drake stieß mich um, und Dawn Madden setzte sich auf meine Brust und nagelte mir mit den Knien die Schultern aufs Eis. Ich lag wehrlos da und ließ mich zur Bulldogge machen. Doch in meinem Herzen würde ich immer ein Läufer sein. Gary Drake verpasste mir mit Absicht oder aus Versehen einen Tritt, und mein Bein wurde taub. Dawn Madden hat die grausamen Augen einer chinesischen Kaiserin, und in der Schule genügt manchmal schon ein einziger Blick von ihr, dass ich den ganzen Tag an sie denke. Ross Wilcox sprang auf und stieß die Faust in die Luft, als hätte er ein Tor für Manchester United geschossen. Dieser Spast! «Ist ja gut, Wilcox», sagte ich, «drei gegen einen, super!» Wilcox zeigte mir das Siegerzeichen und schlitterte in die Schlacht zurück. Grant Burch und Nick Yew liefen mit rudernden Armen auf einen Haufen Bulldoggen zu, und die Hälfte von ihnen landete auf dem Eis.

Dann schrie Gilbert Swinyard aus voller Kehle: «ALLE DRAUF!» Das war für jeden Läufer und jede Bulldogge auf dem See das Zeichen, sich auf eine immer höher werdende Pyramide aus zappelnden, ächzenden Jungs zu werfen. Das eigentliche Spiel war so gut wie vergessen. Ich hielt mich zurück, indem ich so tat, als würde ich wegen meines tauben Beins ein bisschen humpeln. Plötzlich hörten wir eine knatternde Kettensäge, die aus dem Wald direkt auf uns zuraste.

Die Kettensäge war keine Kettensäge. Es war Tom Yew auf seiner lila Suzuki 150cc. Hintendrauf saß Pluto Noak, ohne Helm. Das Spiel wurde abgebrochen, denn Tom Yew ist in Black Swan Green so was wie ein Held. Tom Yew dient in der Royal Navy auf einer Fregatte namens Coventry. Tom Yew hat alle Led-Zep-Alben und kann das Gitarrenintro von «Stairway to Heaven» spielen. Tom Yew hat sogar schon Peter Shilton, dem englischen Nationaltorhüter, die Hand gegeben. Pluto Noak ist kein so strahlender Held. Letztes Jahr hat er die Schule abgebrochen. Jetzt arbeitet er in Upton upon Severn in der Schweineschwartenfabrik. (Es geht das Gerücht um, dass Pluto Noak schon mal Hasch geraucht hat, aber offenbar war es nicht die Sorte, die dein Hirn in Blumenkohl verwandelt und dich dazu bringt, von Dächern auf Zäune zu springen.) Tom Yew hielt neben der Bank am schmalen Ende des Sees und schlug lässig ein Bein über. Pluto Noak klopfte ihm zum Dank auf die Schulter und ging zu Colette Turbot, mit der er laut Morons Schwester Kelly Geschlechtsverkehr hatte. Die älteren Jungs saßen auf der Bank, sahen Tom Yew an wie die Jünger Jesu und ließen Kippen rumgehen. (Ross Wilcox und Gary Drake rauchen jetzt. Noch schlimmer ist, dass Ross Wilcox Tom Yew etwas über den Auspuff der Suzuki fragte und Tom Yew ihm antwortete, als wäre Wilcox schon achtzehn.) Um bei Tom Yew Eindruck zu schinden, befahl Grant Burch seinem Diener Phelps, ihm aus Rhydds Laden ein Erdnuss-Yorkie und eine Dose Top Deck zu holen, und schrie ihm nach: «Du sollst rennen, hab ich gesagt!» Wir Jungs aus den mittleren Rängen saßen um die Bank herum auf der gefrorenen Erde. Die älteren Jungs fingen an, sich über die besten Fernsehsendungen an Weihnachten und Neujahr zu unterhalten. Tom Yew sagte, er hätte Gesprengte Ketten gesehen, und sofort fanden alle, dass alles andere scheiße gewesen wäre im Vergleich zu Gesprengte Ketten, besonders zu der Szene, wo Steve McQueen bei der Flucht über den Stacheldraht von den Nazis geschnappt wird. Aber dann sagte Tom Yew, er hätte den Film ein bisschen zu lang gefunden, und sofort stimmten ihm alle zu und meinten, der Film wäre zwar ein Klassiker, aber unendlich langatmig. (Ich habe ihn verpasst, weil Mum und Dad das The Two Ronnies Weihnachtspecial sehen wollten. Aber ich habe genau zugehört, damit ich am Montag, wenn die Schule wieder losgeht, so tun kann, als hätte ich ihn gesehen.)

Dann änderte sich aus irgendeinem Grund das Thema, und es ging um die schlimmste Art zu sterben.

«Wenn du von einer Grünen Mamba gebissen wirst», meinte Gilbert Swinyard. «Die giftigste Schlange der Welt. Deine Organe platzen, und die Pisse läuft dir ins Blut. Horror.»

«Klar», sagte Grant Burch verächtlich, «aber du bist ziemlich schnell tot. Die Haut abgezogen zu kriegen wie ’ne Socke ist viel schlimmer. Die Apachen machen das so. Bei den richtig Guten dauert’s die ganze Nacht.»

Pete Redmarley sagte, er hätte von den Hinrichtungen der Vietcong gehört. «Die ziehen dich aus, fesseln dich, und dann stopfen sie dir Philadelphia-Käse in den Arsch. Dann sperren sie dich in ’nen Sarg, wo ein Rohr rausragt. Dann schicken sie hungrige Ratten durch das Rohr. Die Ratten fressen sich erst durch den Käse und dann durch dich.»

Alle Blicke richteten sich erwartungsvoll auf Tom Yew. «Ich habe immer diesen Traum.» Er zog endlos lange an seiner Zigarette. «Ich bin bei den letzten Überlebenden nach einem Atomkrieg. Wir gehen auf einer Autobahn. Keine Autos, nur Unkraut. Jedes Mal, wenn ich mich umdrehe, sind wir ein paar weniger. Die Strahlung kriegt sie, einen nach dem anderen.» Er sah seinen Bruder Nick an, dann blickte er über den zugefrorenen See. «Dass ich sterben werde, macht mir nicht zu schaffen. Sondern dass ich der Letzte sein werde.»

Einen Augenblick lang waren alle ziemlich schweigsam.

Ross Wilcox drehte sich zu uns um. Wieder zog er endlos lange an seiner Zigarette, der Angeber. «Wenn Winston Churchill nicht gewesen wäre, würdet ihr da unten jetzt alle Deutsch sprechen.»

Klar, und Ross Wilcox wäre den Deutschen entkommen und hätte eine Widerstandsgruppe angeführt. Ich brannte darauf, dem Blödmann zu verklickern, dass Amerika, wenn die Japaner nicht Pearl Harbor bombardiert hätten, nie in den Krieg eingetreten wäre. Dann wäre Großbritannien nämlich so lange ausgehungert worden, bis es kapituliert hätte, und Winston Churchill wäre als Kriegsverbrecher hingerichtet worden. Aber ich wusste, dass das nicht ging. Es wimmelte darin von Stotterwörtern, und Henker ist in diesem Januar verdammt erbarmungslos. Darum stand ich auf, sagte, ich müsste dringend schiffen, und ging den Weg ein Stück in Richtung Dorf. Gary Drake rief: «He, Taylor! Wenn du mehr als zweimal abschüttelst, spielst du dran!», womit er lautes Gelächter von Neal Brose und Ross Wilcox erntete. Ich machte über die Schulter das Siegeszeichen. Der Spruch mit dem Abschütteln ist im Moment groß angesagt. Es gibt niemand, dem ich genug vertrauen kann, um ihn zu fragen, was er bedeutet.

Nach Menschen sind Bäume eine Wohltat. Gut möglich, dass Gary Drake und Ross Wilcox über mich herzogen, aber je leiser die Stimmen wurden, desto weniger Lust hatte ich zurückzugehen. Ich hasste mich, weil ich es Ross Wilcox von wegen Deutschsprechen nicht gezeigt hatte, aber es wär mein Ende gewesen, wenn ich vor den anderen gestottert hätte. Der Frost taute in dicken Tropfen von den dornigen Ästen. Das gleichmäßige tropf tropf tropf beruhigte mich – ein bisschen. In kleinen Kuhlen, wo die Sonne nicht hinkam, lag noch verharschter Schnee, aber nicht genug für einen Schneeball. (Nero tötete seine Gäste, indem er sie zwang, Speisen aus Glas zu essen, nur so zum Spaß.) Ich sah ein Rotkehlchen, einen Specht, eine Elster, eine Amsel, und in der Ferne, glaube ich, hörte ich eine Nachtigall, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob es im Januar welche gibt. Als ich zu der Stelle kam, wo der schmale Weg vom Haus im Wald auf den Hauptweg zum See trifft, hörte ich einen Jungen, der atemlos in meine Richtung rannte. Ich verdrückte mich zwischen zwei verwunschene Kiefern. Phelps flitzte vorbei, in den Händen den Erdnussriegel und eine Dose Tizer für seinen Herrn. (Mr.Rhydd war wohl das Top Deck ausgegangen.) Hinter den Kiefern führte ein möglicher Weg eine Steigung hinauf. Ich kenne jeden Weg in diesem Teil des Walds, dachte ich. Aber diesen kannte ich nicht. Wenn Tom Yew gegangen war, würden Pete Redmarley und Grant Burch weiter British Bulldogs spielen. Und das war nicht unbedingt ein Grund, umzukehren. Also folgte ich dem Weg, um zu sehen, wohin er führte.

Es gibt nur ein Haus im Wald, darum nennen wir es das Haus im Wald. Angeblich sollte eine alte Frau dort leben, aber ich wusste nicht, wie sie hieß, und ich hatte sie noch nie gesehen. Das Haus hat vier Fenster und einen Schornstein, genau wie die Häuser auf Kleinkinderbildern. Es ist umgeben von einer Backsteinmauer so groß wie ich, und das Gestrüpp wächst noch höher. Wenn wir früher im Wald Krieg spielten, machten wir immer einen Bogen um das Haus. Nicht, weil es Geistergeschichten oder so darüber gibt. Sondern einfach, weil dieser Teil des Walds nicht gut ist.

Aber an diesem Morgen wirkte das Haus so verrammelt und eingefallen, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass darin noch jemand wohnte. Außerdem war meine Blase kurz vorm Platzen, und das macht leichtsinnig. Also pinkelte ich gegen die bereifte Mauer. Ich hatte gerade mein dampfend gelbes Autogramm geschrieben, als mit leisem Quietschen ein rostiges Tor aufging, und dahinter stand eine grantige Tante aus Schwarzweißtagen. Sie starrte mich stumm an.

Mein Strahl versiegte.

«O Gott! Entschuldigung!» Ich zog den Reißverschluss hoch und rechnete mit einem derben Anschiss. Wenn Mum einen Jungen dabei erwischen würde, wie er an unseren Zaun pisst, würde sie ihm bei lebendigem Leib die Haut abziehen und seine Leiche in die Komposttonne werfen. Sogar wenn ich dieser Junge wäre. «Ich wusste nicht, dass … hier jemand wohnt.»

Die grantige Tante starrte mich weiter an.

Pinkeltropfen sickerten in meine Unterhose.

«Mein Bruder und ich sind in diesem Haus geboren», sagte sie schließlich. Ihr Hals war schlaff wie bei einer Eidechse. «Wir haben nicht die Absicht, von hier fortzuziehen.»

«Oh …» Ich rechnete immer noch damit, dass sie jeden Augenblick das Feuer auf mich eröffnen würde. «Gut.»

«Was für einen Lärm ihr Kinder macht!»

«Entschuldigung.»

«Es war sehr gedankenlos von dir, meinen Bruder aufzuwecken.»

Mein Mund war wie zugekleistert. «Ich war nicht der Einzige, der Lärm gemacht hat. Ehrlich.»

«An manchen Tagen», ihre Lider bewegten sich kein einziges Mal, «liebt mein Bruder Kinder. Aber herrje, an Tagen wie heute bringt ihr ihn zur Weißglut.»

«Wie gesagt, es tut mir leid.»

«Es wird dir noch mehr leidtun», sie sah mich zornig an, «wenn mein Bruder dich zu fassen kriegt.»

Leise Geräusche waren zu laut, und laute waren nicht mehr zu hören.

«Ist er … ist er da? Jetzt? Ihr Bruder, meine ich.»

«Sein Zimmer ist noch so, wie er es verlassen hat.»

«Ist er krank?»

Sie tat, als hätte sie mich nicht gehört.

«Ich muss jetzt nach Hause.»

«Es wird dir noch mehr leidtun», sie machte das feuchte Kaugeräusch, das alte Leute machen, damit sie nicht sabbern, «wenn das Eis bricht.»

«Das Eis? Auf dem See? Das ist meterdick.»

«Das sagt ihr immer. Ralph Bredon hat das auch gesagt.»

«Wer ist das?»

«Ralph Bredon. Der Schlachterjunge.»

Ich bekam ein mulmiges Gefühl im Bauch. «Ich muss jetzt nach Hause.»

Das Mittagessen in der Nummer9, Kingfisher Meadows, Black Swan Green, Worcestershire, bestand aus Findus’ tiefgefrorenen Schinken-Käse-Pfannkuchen, 1-2-3 Frites von McCain und Rosenkohl. Rosenkohl schmeckt wie frische Kotze, aber Mum sagte, ich muss fünf Stück essen, ohne Theater zu machen, oder ich würde zum Nachtisch keinen Karamellpudding kriegen. Mum sagt, dass sie bei Tisch kein «pubertäres Genörgel» duldet. Vor Weihnachten habe ich sie gefragt, was es mit «pubertärem Genörgel» zu tun hat, wenn man keinen Rosenkohl mag. Sie antwortet, ich soll ihr ja nicht auf die neunmalkluge Tour kommen. Es wäre besser gewesen, ich hätte den Mund gehalten, aber ich machte sie darauf aufmerksam, dass Dad sie schließlich auch nicht zwingt, Melone zu essen (die sie eklig findet), und sie Dad nicht zwingt, Knoblauch zu essen (den er eklig findet). Sie ging an die Decke und schickte mich in mein Zimmer. Als Dad nach Hause kam, musste ich mir einen Vortrag über Arroganz anhören.

Taschengeld gab’s in der Woche auch keins.

Egal, jedenfalls schnitt ich diesmal meinen Rosenkohl in winzige Stückchen und gluckerte ordentlich Ketchup drüber. «Dad?»

«Jason?»

«Was passiert mit dem Körper, wenn man ertrinkt?»

Julia verdrehte die Augen wie Jesus am Kreuz.

«Etwas makaberes Thema fürs Mittagessen.» Dad kaute ein knuspriges Stück Pfannkuchen. «Warum fragst du?»

Am besten war es, den zugefrorenen See gar nicht zu erwähnen. «In meinem Buch Abenteuer in der Arktis geht es um zwei Brüder, Hal und Roger Hunt, die von dem Bösewicht Kaggs verfolgt werden. Dabei fällt Kaggs ins …»

Dad hob die Hand als Zeichen, dass es genug war. «Also, wenn du mich fragst, wird der gute Mr.Kaggs von den Fischen gefressen. Sauber abgenagt.»

«Gibt’s in der Arktis denn Piranhas?»

«Fische fressen alles, was weich ist. Wenn er allerdings in die Themse fiele, würde seine Leiche rasch angespült werden. Die Themse gibt alle ihre Toten wieder her.»

Die Sache lief in die völlig falsche Richtung. «Was wäre zum Beispiel, wenn er im Eis einbricht, auf einem See zum Beispiel? Was würde dann mit ihm passieren? Wäre er dann … dauertiefgefroren?»

«Mum», quakte Julia, «Ding faselt absurdes Zeug, dabei essen wir noch.»

Mum rollte ihre Serviette auf. «Bei Lorenzo Hussingtree gibt es eine neue Fliesenkollektion, Michael.». (Meine Missgeburt-Schwester warf mir ein triumphierendes Grinsen zu.) «Michael?»

«Ja, Helena?»

«Ich dachte, wir könnten auf dem Weg nach Worcester bei Lorenzo Hussingtrees Ausstellungsraum halten. Die neue Kollektion ist vom Allerfeinsten.»

«Darf ich davon ausgehen, dass Lorenzo Hussingtree dafür auch allerfeinste Preise verlangt?»

«Wir haben ohnehin bald die Handwerker, da können wir die Sache doch auch richtig angehen. Die Küche wird langsam peinlich.»

«Helena, warum –»

Manchmal erkennt Julia schon vor Mum und Dad, dass Streit ansteht. «Darf ich raufgehen?»

«Schätzchen», Mum schien ehrlich verletzt, «es gibt Karamellpudding.»

«Lecker, aber kann ich meinen heute Abend essen? Ich muss mich wieder um Robert Peel und die aufgeklärten Whigs kümmern. Außerdem hat Ding mir den Appetit verdorben.»

«Den hast du dir selbst verdorben», konterte ich, «weil du mit Kate Alfrick Cadbury-Pralinen in dich reingestopft hast.»

«Ach, und wo ist die Orangen-Schokolade geblieben, Ding?»

«Julia», seufzte Mum, «ich wünschte mir wirklich, du würdest Jason nicht so nennen. Du hast nur einen Bruder.»

Julia sagte: «Einen zu viel», und stand auf.

Dad fiel etwas ein. «Ist einer von euch in meinem Büro gewesen?»

«Ich nicht, Dad.» Julia witterte Blut und blieb in der Tür stehen. «Das war bestimmt mein ehrliches, reizendes, folgsames Brüderchen.»

Woher wusste sie das?

«Ich habe euch eine einfache Frage gestellt.» Dad hatte handfeste Beweise. Ich kenne nur einen Erwachsenen, der Kinder blufft, unseren Schulleiter Mr.Nixon.

Der Bleistift! Als Dean Moran geklingelt hatte, musste ich ihn im Anspitzer vergessen haben. Dieser verdammte Moran! «Dein Telefon hat eine Ewigkeit geklingelt, ehrlich, bestimmt vier oder fünf Minuten, darum …»

Dad pfiff darauf. «Wie lautet die Regel zu meinem Büro?»

«Aber ich bin nur rangegangen, weil ich dachte, es wäre vielleicht ein Notfall, und dann hat sich» – Henker blockierte «niemand» – «keiner gemeldet, aber –»

«Ich glaube», jetzt sagte Dads Handfläche STOPP!, «ich habe dir nur eine Frage gestellt.»

«Ja, aber –»

«Welche Frage habe ich dir gerade gestellt?»

«‹Wie lautet die Regel zu meinem Büro?›»

«Richtig.» Manchmal ist Dad scharf wie eine Schere. Schnipp schnipp schnipp schnipp. «Und warum beantwortest du meine Frage nicht?»

Dann tat Julia etwas Ungewöhnliches. «Das ist ja komisch.»

«Ich sehe niemanden, der lacht.»

«Nein, Dad, am zweiten Weihnachtstag, als ihr mit Ding nach Worcester gefahren seid, klingelte in deinem Büro plötzlich das Telefon. Ehrlich, es hörte gar nicht wieder auf. Ich konnte mich nicht aufs Lernen konzentrieren. Je länger ich mir einredete, dass es kein verzweifelter Rettungssanitäter war, desto wahrscheinlicher erschien es mir. Irgendwann hat es mich wahnsinnig gemacht. Mir blieb nichts anderes übrig. Ich habe ‹hallo› gesagt, aber die Person am anderen Ende meldete sich nicht. Also habe ich aufgelegt, falls es irgendein Perverser war.»

Dad schwieg, aber die Gefahr war noch nicht vorbei.

«Genauso war’s bei mir auch», sagte ich zaghaft. «Aber ich habe nicht gleich wieder aufgelegt, weil ich dachte, vielleicht kann der andere mich nicht hören. Hast du im Hintergrund auch ein Baby schreien gehört, Julia?»

«Na schön, ihr zwei, genug Detektiv gespielt. Falls uns tatsächlich ein Witzbold mit anonymen Anrufen belästigt, möchte ich, dass keiner von euch an den Apparat geht, egal, was ist. Wenn das nochmal vorkommt, zieht ihr einfach den Stecker. Verstanden?»

Mum saß ganz still da. Ich bekam ein richtig mulmiges Gefühl im Bauch.

Dads «HABT IHR MICH VERSTANDEN?» war wie ein Stein durch die Fensterscheibe. Julia und ich zuckten zusammen. «Ja, Dad.»

Mum, ich und Dad aßen schweigend unseren Karamellpudding. Ich traute mich nicht mal, meine Eltern anzusehen. Ich konnte nicht um Erlaubnis bitten, früher vom Tisch aufzustehen, denn die Karte hatte Julia schon ausgespielt. Warum ich verschissen hatte, war sonnenklar, aber warum Mum und Dad sich gegenseitig mit Schweigen bestraften, weiß kein Mensch. Als Dad seinen Pudding aufgegessen hatte, sagte er: «Wunderbar, Helena, ich danke dir. Jason und ich übernehmen den Abwasch, oder, Jason?»

Mum machte ein Nichts-gewesen-Geräusch und ging nach oben.

Dad summte beim Abwaschen ein Nichts-gewesen-Lied. Ich stellte das schmutzige Geschirr in die Durchreiche, dann ging ich zum Abtrocknen in die Küche. Ich hätte einfach die Klappe halten sollen, aber ich dachte, ich bräuchte nur das Richtige zu sagen, und der Tag würde wieder friedlich und normal werden. «Gibt es im Januar». (Henker liebt es, mich an diesem Wort leiden zu lassen) «Nachtigallen, Dad? Ich glaube, ich hab heute Morgen eine gehört. Im Wald.»

Dad scheuerte eine Pfanne. «Woher soll ich das wissen?»

Ich ließ nicht locker. Meistens redet Dad gern über die Natur und so. «Aber der Vogel bei Opa im Hospiz. Du hast gesagt, das war eine Nachtigall.»

«Dass du dich daran noch erinnerst.» Dad starrte über den Rasen auf die Eiszapfen an der Gartenlaube. Dann machte er ein Geräusch, als wäre er Kandidat für die Wahl zum unglücklichsten Mann 1982. «Konzentrier dich lieber auf die Gläser, Jason, sonst lässt du noch eins fallen.» Er stellte Radio 2 an, um den Wetterbericht zu hören. Dann nahm er eine Schere und zerschnitt die Straßenverkehrsordnung von 1981. Er hatte sich die Ausgabe für 1982 am selben Tag gekauft, an dem sie herausgekommen war. Heute Abend sinken die Temperaturen fast überall auf den britischen Inseln deutlich unter den Gefrierpunkt. Autofahrer, die in Schottland und im Norden unterwegs sind, sollten auf Glatteis achten. In weiten Teilen der Midlands muss mit gefrierendem Nebel gerechnet werden.

Ich spielte oben in meinem Zimmer das Spiel des Lebens, aber gegen sich selbst zu spielen macht keinen Spaß. Julias Freundin Kate Alfrick kam zum Lernen vorbei. Aber sie tratschten nur darüber, wer in der Oberstufe mit wem geht, und hörten Singles von Police. Meine Milliarden Probleme trieben nach oben wie Leichen in einer überschwemmten Stadt. Mum und Dad beim Mittagessen. Henker, der das Alphabet erobert. Wenn er in dem Tempo weitermacht, muss ich demnächst Gebärdensprache lernen. Gary Drake und Ross Wilcox. Sie waren noch nie meine besten Freunde, aber heute haben sie sich gegen mich verbündet. Neal Brose hat auch mitgemacht. Und dann ging mir die grantige Tante im Wald nicht mehr aus dem Kopf. Wieso nicht?

Ich wünschte, es gäbe einen Spalt, durch den ich durchschlüpfen und all das hinter mir lassen könnte. Nächste Woche werde ich dreizehn, aber dreizehn kommt mir viel schlimmer vor als zwölf. Julia stöhnt ohne Ende rum, wie ätzend es ist, achtzehn zu sein, aber wenn man da ist, wo ich bin, ist Achtzehnsein einfach spitze. Ins Bett gehen, wann du willst, doppelt so viel Taschengeld. Außerdem hat Julia ihren Achtzehnten mit ihren 1001 Freunden in Tanya’s Night Club in Worcester gefeiert. Dort gibt’s den einzigen Xenon-Discolaser in ganz Europa! Wie geil ist das bitte?

Dad ist mit dem Auto weggefahren, allein.

Mum muss noch in ihrem Zimmer sein. Da ist sie in letzter Zeit immer öfter.

Um mich aufzuheitern, band ich Opas Omega um. Am zweiten Weihnachtstag rief Dad mich in sein Büro und sagte, er hätte etwas für mich, etwas Wichtiges, von meinem Großvater. Er hätte es für mich aufbewahrt, bis ich groß genug bin, um selber drauf aufzupassen. Es war eine Armbanduhr. Eine Omega Seamaster de Ville. Opa hat sie einem echten Araber abgekauft, 1949 in einer Hafenstadt namens Aden. Aden ist in Arabien, und früher war es mal britisch. Er hat sie sein ganzes Leben lang jeden Tag getragen, sogar in dem Moment, als er gestorben ist. Das macht die Omega nicht unheimlich, sondern zu etwas ganz Besonderem. Das Gehäuse ist silbern und so groß wie ein 50-Pence-Stück, aber so dünn wie die Plättchen beim Flohhüpfen. «Eine erstklassige Uhr», sagte Dad todernst, «erkennt man daran, wie dünn sie ist. Das ist etwas anderes als die dicken Plastikdinger, die sich die Teenager heutzutage zum Angeben ans Handgelenk binden.»

Das Versteck meiner Omega ist genial und wird sicherheitstechnisch nur noch von meiner OXO-Dose unter der losen Holzdiele übertroffen. Mit einem Stanley-Messer habe ich ein ätzendes Buch mit dem Titel Holzschnitzarbeiten für Jungen ausgehöhlt. Holzschnitzarbeiten für Jungen steht zwischen echten Büchern in meinem Regal. Julia schnüffelt oft in meinem Zimmer rum, aber dieses Versteck hat sie noch nicht entdeckt. Das hätte ich gemerkt, weil ich ganz hinten einen halben Penny draufgelegt habe. Außerdem hätte sie den geilen Trick todsicher nachgemacht, wenn sie es gefunden hätte. Ich habe ihr Regal nach Buchattrappen abgesucht, aber es gibt keine.

Draußen hörte ich ein fremdes Auto. Ein himmelblauer VW Jetta fuhr im Schneckentempo am Kantstein lang, als würde der Fahrer eine Hausnummer suchen. Der Fahrer, eine Frau, wendete am Ende der schmalen Sackgasse und fuhr die Kingfisher Meadows runter. Ich hätte mir das Nummernschild merken sollen, falls die Polizei nach ihr fahndet.

Opa ist als Letzter meiner Großeltern gestorben, und er ist der Einzige, an den ich noch Erinnerungen habe. Nicht viele. Die Straßen, die er für meine Modellautos mit Kreide auf den Gartenweg malte. Sein Bungalow in Grange-over-Sands, wo ich mir im Fernsehen Thunderbirds ansah und eine Limo trank, die Dandelion and Burdock hieß.

Ich zog die stehengebliebene Omega auf und stellte sie auf kurz nach drei.

Ungeborener Zwilling murmelte: Geh zum See.

Der Engpass auf dem Waldweg wird von einem Ulmenstumpf bewacht. Auf dem Stumpf saß Squelch. Squelchs richtiger Name ist Mervyn Hill, aber einmal, als wir uns für Sport umzogen, zog er die Hose runter, und wir sahen, dass er eine Windel trug. Ungefähr neun muss er damals gewesen sein. Grant Burch verpasste ihm den Spitznamen Squelch, und es ist Jahre her, dass ihn jemand Mervyn genannt hat. Du kannst dir leichter neue Augen zulegen als einen neuen Spitznamen.

Egal, jedenfalls streichelte Squelch etwas Mondgraues, Pelziges in seiner Armbeuge. «Finder darf behalten, Finder darf behalten!»

«Alles klar, Squelch. Was hast du denn da?»

Squelch hat fleckige Zähne. «Zeig ich nicht!»

«Ach, komm. Uns kannst du’s doch zeigen.»

Squelch nuschelte: «Kittikatze.»

«Kitkat? Einen Schokoriegel?»

Squelch zeigte mir den Kopf eines schlafenden Kätzchens. «Kittikatze! Finder darf behalten, Finder darf behalten!»

«Mann, eine Katze! Wo hast du sie gefunden?»

«Am See. Ganz früh, bevor die anderen da waren. Ich hab sie versteckt, wie wir British Bulldogs gespielt haben. In ’nem Karton.»

«Wieso hast du sie niemandem gezeigt?»

«Weil Burch und Swinyard und Redmarley und die andern  Arschlöcher hätten sie mir weggenommen! Finder darf behalten, Finder darf behalten! Hab sie versteckt. Jetzt hol ich sie.»

Bei Squelch weiß man nie so genau. «Sie ist ziemlich still, findest du nicht?»

Squelch tätschelte sie.

«Darf ich sie mal halten, Merv?»

«Wenn du keinem was verrätst», Squelch musterte mich skeptisch, «darfst du sie streicheln. Aber zieh die Handschuhe aus. Die haben Knubbel.»

Ich zog die Torwarthandschuhe aus und streckte die Hand aus.

Squelch warf mir die Katze zu. «Jetzt gehört sie dir!»

Überrascht fing ich sie auf.

«Dir!» Squelch rannte lachend zurück ins Dorf. «Dir!»

Die Katze war kalt und steif wie ein Stück Fleisch aus der Tiefkühltruhe. Erst jetzt kapierte ich, dass sie tot war. Ich ließ sie fallen. Sie landete dumpf auf dem Boden.

«Finder», Squelchs Stimme verklang in der Ferne, «darf behalten!»

Ich hob das Kätzchen mit zwei Stöcken auf und legte es zwischen ein paar verschreckte Schneeglöckchen.

So still, so würdevoll. Wahrscheinlich war sie letzte Nacht erfroren.

Totes zeigt dir, was du eines Tages sein wirst.

Ich hatte damit gerechnet, dass keine Menschenseele auf dem zugefrorenen See sein würde, und ich hatte recht. Superman 2 lief im Fernsehen. Ich hatte ihn vor ungefähr drei Jahren im Kino in Malvern gesehen, an Neal Broses Geburtstag. Er war nicht schlecht, aber nicht so gut, dass ich dafür die einmalige Chance sausenlassen würde, den zugefrorenen See ganz für mich zu haben. Clark Kent gibt seine Superkräfte auf, damit er mit Lois Lane auf einem Glitzerbett Geschlechtsverkehr haben kann. Wer würde sich schon auf einen so bescheuerten Tausch einlassen? Wenn man fliegen kann? Atomraketen ins Weltall umlenken? Die Zeit umkehren, indem man die Erde andersrum dreht? So toll kann Geschlechtsverkehr gar nicht sein.

Ich setzte mich auf die leere Bank und aß ein Stück Ingwerkuchen. Dann ging ich aufs Eis. Jetzt, wo niemand mir zusah, fiel ich kein einziges Mal hin. Übermütig zog ich meine Runden, immer entgegen dem Uhrzeigersinn, ein Stein an einer langen Schnur. Die Bäume am Ufer versuchten, mir mit ihren Fingern über den Kopf zu streichen. Krähen machten kra … kra … kra wie alte Leute, die vergessen haben, warum sie die Treppe raufgekommen sind.

Ich war wie in Trance.

Der Nachmittag war vorbei, und der Himmel ging langsam in den Weltraum über, als ich sah, dass noch ein Junge auf dem Eis war. Er fuhr genauso schnell wie ich und folgte meiner Bahn, doch er blieb immer auf der anderen Seite. Wenn ich bei zwölf Uhr war, war er bei sechs. Wenn ich zur Elf kam, kam er zur Fünf und so weiter, immer genau gegenüber. Zuerst dachte ich, es wäre ein Junge aus dem Dorf, der mich verarschen wollte. Ich dachte sogar, es wäre vielleicht Nick Yew, denn er war ein bisschen stämmig. Aber das Merkwürdige war, jedes Mal, wenn ich den Jungen länger als einen Augenblick ansah, wurde er von der Dunkelheit verschluckt. Die ersten paar Male glaubte ich, er wäre nach Hause gegangen. Aber eine halbe Runde später tauchte er wieder auf. Im äußersten Winkel meines Blickfelds. Einmal lief ich quer über den See, um ihm den Weg abzuschneiden, aber bevor ich zu der Insel in der Mitte kam, war er verschwunden. Als ich wieder meine Runden zog, war er wieder da.

Geh nach Hause, drängte der verschreckte Wurm in mir. Was, wenn das ein Geist ist?

Ungeborener Zwilling kann Wurm nicht ausstehen. Und wenn?

«Nick?», rief ich. Meine Stimme klang, als käme sie aus einem Keller. «Nick Yew?»

Der Junge flitzte weiter übers Eis.

Ich rief: «Ralph Bredon?»

Es dauerte eine ganze Runde, bis die Antwort bei mir ankam.

Schlachterjunge.

Wenn ein Arzt zu mir gesagt hätte, dass der Junge auf dem See nur in meiner Phantasie existierte und ich mir seine Stimme nur einbildete, ich hätte ihm geglaubt. Wenn Julia mir gesagt hätte, ich würde mir bloß einreden, dass Ralph Bredon da war, um das Gefühl zu haben, etwas Besonderes zu sein, ich hätte ihr geglaubt. Und wenn ein Geisterseher mir gesagt hätte, dass ein bestimmter Ort zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt als Antenne dienen kann, die undeutliche Signale von vermissten Menschen empfängt, dann hätte ich auch ihm geglaubt.

«Wie ist das so?», rief ich. «Ist es nicht furchtbar kalt?»

Es dauerte wieder eine Runde, bis die Antwort bei mir ankam.

Man gewöhnt sich an die Kälte.

Störte es die Kinder, die im Lauf der Jahre im See ertrunken waren, dass ich unerlaubt ihr Dach betreten hatte? Wollen die sogar, dass noch mehr Kinder einbrechen? Damit sie nicht so alleine sind? Beneiden sie die Lebenden? Sogar mich?

Ich rief: «Kannst du es mir zeigen? Zeigen, wie das ist?»

Der Mond war in den Himmelssee getaucht.

Wir zogen denselben Kreis.

Der Schattenjunge fuhr in gebückter Haltung, genau wie ich.

Wir zogen verschiedene Kreise.

Eine Eule oder so flatterte tief über dem See.

«He?», rief ich. «Hast du mich gehört? Ich will wissen, wie das …»

Das Eis zog mir die Füße weg. Eine wirre Sekunde lang befand ich mich unwahrscheinlich hoch in der Luft. Bruce Lee beim Karatekick, so hoch. Ich wusste, dass es keine sanfte Landung werden würde, aber damit, dass es so wehtun würde, hatte ich nicht gerechnet. Das Knacken in meinem Knöchel schoss bis in meinen Kiefer und weiter in die Fingergelenke, so laut wie ein Eiswürfel, der in warme Brause fällt. Nein, lauter! Ein Spiegel, der aus einer Raumstation geworfen wird. Der Moment, in dem er auf der Erde aufschlägt und in tausend Dolche, Dornen und unsichtbare Splitter zerspringt, so fühlte sich mein Knöchel an.

Ich schlitterte übers Eis und blieb zitternd am Ufer liegen.

Eine kurze Weile lag ich reglos da und aalte mich in diesem übermenschlichen Schmerz. Sogar ein Ringerheld wie Giant Haystacks hätte nach einem solchen Sturz gewimmert. «Scheiße», keuchte ich, um die Tränen wegzudrücken, «Scheiße, Scheiße, Scheiße!» Durch die teilnahmslosen Bäume hörte ich gerade noch die Autos auf der Hauptstraße, aber so weit konnte ich unmöglich gehen. Ich versuchte aufzustehen, aber ich flog sofort wieder auf den Arsch und zuckte unter neuem Schmerz zusammen. Ich konnte mich nicht bewegen. Wenn ich so liegen blieb, würde ich an Lungenentzündung sterben. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.

«Du», seufzte die grantige Tante. «Wir haben geahnt, dass du bald wieder vor unserer Tür stehst.»

«Ich», meine Stimme klang wie ausgeleiert, «ich habe mir den Knöchel verletzt.»

«Das sehe ich.»

«Es tut höllisch weh.»

«Kann ich mir denken.»

«Darf ich kurz meinen Vater anrufen, damit er mich abholt?»

«Telefone sind nicht unser Fall.»

«Könnten Sie vielleicht Hilfe holen? Bitte!»

«Wir gehen nie aus dem Haus. Nicht bei Nacht. Nicht hier.»

«Bitte», der unterwasserdumpfe Schmerz wummerte wie elektrische Gitarren. «Ich kann nicht laufen.»

«Mit Knochen und Gelenken kenne ich mich aus. Am besten, du kommst herein.»

Drinnen war es kälter als draußen. Riegel rasteten hinter mir ein, und ein Schlüssel drehte sich. «Geh schon mal vor», sagte die grantige Tante, «nach hinten ins Wohnzimmer. Ich komme nach, wenn ich deine Arznei zubereitet habe. Aber du musst leise sein. Wenn du meinen Bruder aufweckst, wirst du es sehr bereuen.»

«Okay …» Ich sah mich um. «Wo ist das Wohnzimmer?»

Aber die Dunkelheit hatte sich verschoben, und die grantige Tante war weg.

Am Ende des Flurs schimmerte ein trüber Lichtstreifen, und ich humpelte darauf zu. Keine Ahnung, wie ich mit meinem kaputten Fuß den gewundenen, wurzeldurchzogenen Weg vom zugefrorenen See gegangen bin. Aber ich muss ihn gegangen sein, sonst wäre ich nicht hier. Ich kam an einer Stiege vorbei. Von oben fiel gedämpftes Mondlicht herein, gerade hell genug, dass ich das alte Foto an der Wand erkennen konnte. Ein U-Boot in einem Hafen, wahrscheinlich irgendwo in der Arktis. Die Mannschaft stand salutierend an Deck. Ich humpelte weiter. Der Lichtstreifen kam nicht näher.

Das Wohnzimmer war ein bisschen größer als ein großer Kleiderschrank und vollgestopft mit alten Sachen. Ein leerer Papageienkäfig, eine Wäschemangel, eine riesenhohe Anrichte. Ramsch war auch dabei. Eine verbogene Fahrradfelge und ein einzelner, völlig verdreckter Fußballstiefel. Ein uraltes Schlittschuhpaar an einem Garderobenständer. Es gab überhaupt nichts Modernes. Keine Heizung. Nichts Elektrisches, bis auf eine nackte, funzelige Glühbirne. Pelzige Pflanzen streckten die ausgebleichten Wurzeln aus winzigen Blumentöpfen. Es war schweinekalt! Das Sofa sackte mit einem Sssssssss! unter mir zusammen. Eine zweite Tür war mit Perlenschnüren verhängt. Ich versuchte, eine Sitzhaltung zu finden, in der mein Knöchel nicht so wehtat, aber es gab keine.

Irgendwie verging wohl die Zeit.

Die grantige Tante trug eine Porzellanschüssel und ein trübes Glas in den Händen. «Zieh die Socke aus.»

Mein Knöchel war schlaff und dick geschwollen. Die grantige Tante legte meinen Unterschenkel auf einen Schemel und kniete sich hin. Ihr Kleid raschelte. Bis auf das Rauschen in meinen Ohren und meinen rasselnden Atem war es totenstill. Dann tauchte sie die Hand in die Schüssel und beschmierte meinen Knöchel mit klebrigem Schleim.

Mein Knöchel erschauerte.

«Das ist ein Breiumschlag.» Sie fasste mich am Schienbein. «Er zieht die Schwellung raus.»

Der Brei kitzelte ein bisschen, aber der Schmerz war zu heftig, und ich hatte zu sehr mit der Kälte zu kämpfen. Die grantige Tante schmierte weiter, bis die Schüssel leer und mein Knöchel völlig zugekleistert war. Dann reichte sie mir das trübe Glas. «Trink das.»

«Es riecht wie … Marzipan.»

«Das ist zum Trinken. Nicht zum Riechen.»

«Aber was ist das?»

«Es hilft gegen die Schmerzen.»

Ihre Miene verriet mir, dass ich keine Wahl hatte. Ich kippte das Zeug in einem Zug runter wie Magnesiamilch. Es war sirupzäh, schmeckte aber fast nach nichts. Ich fragte: «Ist Ihr Bruder oben und schläft?»

«Wo soll er wohl sonst sein, Ralph? Pst jetzt.»

«Ich heiße nicht Ralph», sagte ich, aber sie tat, als hätte sie mich nicht gehört. Es wäre enorm anstrengend gewesen, das Missverständnis aufzuklären, und da ich jetzt völlig still saß, kam ich gegen die Kälte nicht mehr an. Das Komische dabei war, sowie ich mich geschlagen gab, wurde ich von einer wunderbaren Schläfrigkeit fortgezogen. Ich stellte mir vor, wie Mum und Dad und Julia zu Hause vor dem Fernseher saßen und sich Paul Daniels Magic Show ansahen, aber ihre Gesichter verschwammen wie Spiegelbilder auf der Rückseite eines Löffels.

Die Kälte rüttelte mich wach. Ich wusste nicht, wer und wo und in welcher Zeit ich war. Meine Ohren brannten, als hätte wer hineingebissen, und ich konnte meinen Atem sehen. Auf einem Schemel stand eine Porzellanschüssel, und mein Knöchel war mit einer schwammigen Kruste überzogen. Dann fiel mir alles wieder ein, und ich setzte mich auf. Der Schmerz in meinem Fuß war weg, aber irgendetwas war mit meinem Kopf, so als wäre eine Krähe hineingeflogen und hätte sich verirrt. Mit einem vollgerotzten Taschentuch wischte ich den Brei von meinem Fuß. Unglaublich, mein Knöchel ließ sich ganz leicht drehen; geheilt, wie durch einen Zauber. Ich zog Socke und Turnschuh an, stand auf und belastete den Fuß. Ich verspürte ein leichtes Stechen, aber nur, weil ich es erwartete. Ich rief durch den Perlenvorhang: «Hallo?»

Keine Antwort. Ich trat durch die klackernden Perlen und kam in eine winzige Küche mit einer Spüle aus Stein und einem riesigen Backofen. So riesig, dass ein Kind hineinklettern konnte. Die Tür stand offen, aber darin war es so finster wie in der bröckeligen Gruft unter St. Gabriel. Ich wollte mich bei der grantigen Tante dafür bedanken, dass sie meinen Knöchel geheilt hatte.

Sieh nach, ob die Hintertür aufgeht,ermahntemichUngeborener Zwilling.

Ging sie nicht. Genauso wenig wie das Schiebefenster mit den Eisblumen. Der Haken und die Scharniere waren vor langer Zeit überlackiert worden, und man hätte mindestens einen Meißel gebraucht, um das Fenster aufzukriegen. Ich überlegte, wie spät es wohl war, und sah auf Opas Omega, aber es war zu dunkel in der winzigen Küche. Was, wenn schon später Abend war? Dann würde mein Abendbrot unter Zellophan auf mich warten, wenn ich nach Hause kam. Mum und Dad kriegen jedes Mal Zustände, wenn ich nicht rechtzeitig zum Abendbrot zu Hause bin. Und wenn es schon nach Mitternacht war? Wenn die Polizei bereits verständigt war? O nein! Und was erst, wenn ich eine Nacht und einen ganzen Tag lang durchgeschlafen hatte? Dann hätten der Malvern Gazetteer und Midlands Today mein Foto gezeigt und mögliche Zeugen dazu aufgerufen, sich zu melden. O nein! Squelch hätte berichtet, dass er mich auf dem Weg zum zugefrorenen See gesehen hatte. Vielleicht suchten jetzt in diesem Moment Froschmänner nach mir.

Das alles war ein schlechter Traum.

Nein, schlimmer als ein schlechter Traum. Als ich wieder im Wohnzimmer war, sah ich auf die Omega meines Großvaters und stellte fest, dass es keine Uhrzeit mehr gab. «Nein!», hörte ich mich wimmern. Das Uhrglas, der Stundenzeiger und der Minutenzeiger fehlten, nur der verbogene Sekundenzeiger war noch da. Der Sturz auf dem Eis – dabei musste es passiert sein. Das Gehäuse war gesprungen, und das halbe Innenleben quoll heraus.

Opas Omega war vierzig Jahre lang nie falsch gegangen.

In nicht mal zwei Wochen hatte ich sie kaputtgemacht.

Ich schlich mit weichen Knien über den Flur und zischte am Fuß der gewundenen Treppe: «Hallo?» Stille wie in einer Eiszeitnacht. «Ich muss jetzt gehen!» Die Sorge um die Omega hatte die Sorge, in diesem Haus zu sein, weggefegt, aber zu schreien traute ich mich trotzdem nicht, falls ich den Bruder aufweckte. «Ich muss jetzt nach Hause», sagte ich ein bisschen lauter. Keine Antwort. Ich beschloss, einfach durch die Haustür zu gehen. Ich würde bei Tag wiederkommen und mich bedanken. Die Riegel ließen sich ganz leicht öffnen, aber das altmodische Schloss war ein Problem. Ohne Schlüssel würde ich es nicht aufkriegen. Das war’s dann wohl. Um an den Schlüssel zu kommen, musste ich nach oben gehen und die alte Schachtel aufwecken, und wenn sie böse wurde, war das eben Pech. Ich musste etwas wegen des Unglücks mit der zerbrochenen Uhr unternehmen, und zwar dringend. Was, wusste ich nicht, aber ich konnte es auf keinen Fall im Haus im Wald tun.

Die Treppe wand sich immer steiler. Bald musste ich mich mit den Händen an der Stufe über mir festhalten, sonst wäre ich abgestürzt. Wie die grantige Tante in ihrem weiten Vogelscheuchenkleid diese Treppe hoch- und runterkam, war mir wirklich unbegreiflich. Schließlich zog ich mich auf einen winzigen Treppenabsatz mit zwei Türen. Ein schießschartenschmales Fenster ließ einen Schimmer Licht herein. Hinter einer Tür musste das Zimmer der grantigen Tante sein. Hinter der anderen das Zimmer ihres Bruders.

Links hat eine Anziehungskraft, die rechts fehlt, also schloss sich meine Hand um den eisernen Türknauf zu meiner Linken. Er sog die Wärme aus meiner Hand, meinem Arm, meinem Blut.

Ritz-ratz.

Ich erstarrte.

Ritz-ratz.

Ein Holzwurm? Eine Ratte auf dem Dachboden? Ein eingefrorenes Wasserrohr?

Aus welchem Zimmer kam das merkwürdige Geräusch?

Der Eisenknauf quietschte qualvoll, als ich ihn drehte.

Durch die schneeweißen Spitzenvorhänge schien puderiges Mondlicht in die Dachkammer. Ich hatte richtig geraten. Die grantige Tante lag reglos unter einer Steppdecke wie eine Marmorfürstin in einer Krypta. In einem Glas auf dem Nachttisch schwamm ihr Gebiss. Ich schlich über den schwankenden Fußboden und hoffte, dass sie nicht aufwachte. Was, wenn sie sich nicht mehr an mich erinnerte, dachte, dass ich sie umbringen wollte, um Hilfe schrie und einen Schlaganfall bekam? Ihre Haare bedeckten das faltige Gesicht wie Laichkraut. Alle zehn bis zwanzig Herzschläge drang eine Atemwolke aus ihrem Mund. Der einzige Beweis, dass sie aus Fleisch und Blut bestand wie ich.

«Hören Sie mich?»

Nein, ich musste sie wachrütteln.

Meine Hand näherte sich ihrer Schulter, als das seltsame Geräusch wiederkam. Es kam aus ihr.

Kein Schnarchen. Ein Todesröcheln.

Geh in das andere Zimmer. Weck ihren Bruder auf. Sie braucht einen Notarzt. Nein. Wirf ein Fenster ein und hau ab. Lauf zu Isaac Pye in den Black Swan und hol Hilfe. Nein. Alle würden dich fragen, was du im Haus im Wald zu suchen hattest. Was sollst du dann sagen? Du weißt nicht mal, wie die Frau heißt. Es ist zu spät. Sie stirbt, jetzt. Da bin ich mir sicher. Das Geräusch entwickelt sich. Wird lauter, stechender, schneidender.

Ihre Luftröhre tritt hervor, während die Seele sich aus ihrem Herzen quetscht.

Ihre erschöpften Augen klappen auf wie bei einer Puppe, schwarz, glasig, entsetzt.

Aus dem schwarzen Mundspalt bläst ein Schneesturm.

Ein stummes Dröhnen hängt im Zimmer.

Und verweilt.

Henker

DUNKEL, HELL, dunkel, hell, dunkel, hell. Die Scheibenwischer des Datsun kamen gegen den Regen nicht an, nicht mal auf höchster Stufe. Als auf der Gegenfahrbahn ein Sattelschlepper vorbeirumpelte, klatschte Gischt auf die triefende Windschutzscheibe. Es war wie in der Waschanlage. Ich erkannte gerade noch die beiden sich irrsinnig schnell drehenden Radargeräte des Verteidigungsministeriums, die auf den geballten Angriff der Warschauer-Pakt-Streitkräfte warteten. Mum und ich redeten nicht viel während der Fahrt. Lag wahrscheinlich an dem Ort, zu dem wir fuhren. (Die Uhr am Armaturenbrett zeigte 16:05 an. Noch genau siebzehn Stunden bis zu meiner öffentlichen Hinrichtung.) Als wir an der Kreuzung vor dem leerstehenden Schönheitssalon standen, fragte sie, wie mein Tag gewesen war, und ich antwortete: «Ganz okay.» Dann fragte ich, wie ihr Tag so gewesen war, und als Antwort kam: «Oh, unheimlich kreativ und zutiefst befriedigend, danke.» Mum ist manchmal tierisch zynisch, dabei gibt sie mir dafür immer einen Anschiss. «Hast du eine Valentinskarte bekommen?» Ich sagte nein, aber das hätte ich auch gesagt, wenn ich eine bekommen hätte. (Ich habe tatsächlich eine bekommen, aber ich habe sie gleich in den Müll geworfen. Es stand «Lutsch mir den Schwanz» drauf und unterschrieben war mit «Nicholas Briar», aber die Schrift sah aus wie die von Gary Drake.) Duncan Priest hat vier gekriegt. Neal Brose sieben, behauptet er jedenfalls. Ant Little hat rausgefunden, dass Nick Yew zwanzig gekriegt hat. Dad sagt immer, Valentinstag und Muttertag und Armamputierter-Torhütertag wären bloß eine Verschwörung von Kartenherstellern, Blumengeschäften und Schokoladenfabrikanten.

Egal, jedenfalls setzte Mum mich an der Ampel in Malvern Link ab, direkt vor der Klinik. Ich hatte mein Tagebuch im Handschuhfach liegen lassen, und wäre die Ampel nicht im richtigen Moment auf Rot gesprungen, wäre Mum damit zu Lorenzo Hussingtree gefahren. («Jason» ist nicht gerade der geilste Name, den man sich wünschen kann, aber einen «Lorenzo» würden sie an meiner Schule über dem Bunsenbrenner grillen.) Der Parkplatz war überschwemmt, und ich sprang mit dem Tagebuch im Ranzen von trockener Stelle zu trockener Stelle wie James Bond über die Krokodilrücken. Draußen vor der Klinik standen ein paar Acht- und Neuntklässler von der Dyson-Perrins-Schule. Sie sahen meine feindliche Uniform. Wenn es stimmt, was Pete Redmarley und Gilbert Swinyard sagen, schwänzen alle Dyson-Perrins-Schüler aus der Zehnten einmal im Jahr die Schule und treffen sich in ihrer geheimen Arena auf dem Poolbrook Common, wo sie, verborgen hinter Stechginsterbüschen, eine Massenbeulerei austragen. Wenn du kneifst, bist du ein Homo, und wenn du es einem Lehrer petzt, bist du tot. Vor drei Jahren hat Pluto Noak einen ihrer härtesten Typen offenbar so schlimm verdroschen, dass man ihm im Krankenhaus in Worcester den Kiefer wieder drannähen musste. Er trinkt sein Essen heute noch durch einen Strohhalm. Zum Glück regnete es so doll, dass die Schüler von der Dyson Perrins mich in Ruhe ließen.

Heute war mein zweiter Termin in diesem Jahr, und die hübsche Kliniksprechstundenhilfe erkannte mich wieder. «Ich sage Mrs. de Roo Bescheid, dass du da bist, Jason. Nimm Platz.» Ich mag sie. Sie weiß, warum ich hier bin, darum beginnt sie keine überflüssigen Gespräche, bei denen ich mich blamiere. Im Wartebereich riecht es nach Desinfektionsmittel und warmem Plastik. Niemand, der dort wartet, sieht aus, als würde ihm was Schlimmes fehlen. Aber das tue ich wahrscheinlich auch nicht, nicht auf den ersten Blick. Alle sitzen ganz eng beieinander, aber worüber soll man schon reden, außer über das, worüber man am wenigsten reden will: «Und, warum sind Sie hier?» Eine alte Schachtel strickte. Das Klappern der Nadeln vermischte sich mit den Regengeräuschen. Ein Hobbit mit wässerigen Augen schaukelte auf seinem Stuhl. Eine Frau mit Knochen wie Kleiderbügel las Unten am Fluss. Einen Käfig für kleine Kinder mit lauter vollgesabbertem Spielzeug drin gibt es auch, aber heute war er leer. Das Telefon klingelte, und die hübsche Sprechstundenhilfe nahm den Hörer ab. Offenbar war eine Freundin dran, denn sie legte die Hand vor die Muschel und senkte die Stimme. Mann, ich beneide jeden, der spontan sagen kann, was er will, ohne seine Sätze vorher auf Stotterwörter zu testen.

Eine Uhr mit Dumbo dem Elefanten tickte: Mor – gen – kommt – bald – tick – tock – tick – tock – drum – zieh – dir – schnell – ei – nen – Sack – über – den – Kopf – du – kannst – noch – nicht – mal – das – Al – pha – bet – ver – giss – es – für – dich – is – ses – zu – spät. (Viertel nach vier. Noch sechzehn Stunden und fünfzig Minuten zu leben.) Ich nahm mir einen zerfledderten National Geographic. Darin stand ein Bericht über eine Amerikanerin, die Schimpansen Zeichensprache beigebracht hatte.

Die meisten Leute glauben, Stottern und Stottern sei dasselbe, aber die Unterschiede sind so groß wie zwischen Durchfall und Verstopfung. Die meisten Stotterer bleiben am Anfang eines Wortes stecken und müssen ihn immer wiederholen. St-st-st-stottern. Oder so. Ich dagegen bleibe hinter dem Anfang stecken. Zum Beispiel: St … OTtern! Wegen meines Stotterns gehe ich zu Mrs. de Roo. (Sie heißt wirklich so. Der Name ist nicht australisch, sondern holländisch.) Zum ersten Mal war ich in dem Sommer vor fünf Jahren bei ihr, als kein Regen fiel und die Malvern Hills ganz braun wurden. Miss Throckmorton hatte eines Nachmittags Galgenmännchen mit uns gespielt. Sonnenstrahlen durchfluteten das Klassenzimmer, und an der Tafel stand:

Das konnte jeder Hirni lösen, und ich meldete mich. Miss Throckmorton sagte: «Ja, Jason?», und genau in diesem Augenblick teilte sich mein Leben in die Zeit vor Henker und die Zeit mit Henker. Das Wort «Nachtigall» explodierte krawumm! in meinem Schädel, aber es wollte partout nicht heraus. Das «N» kam ganz normal, aber je mehr ich versuchte, den Rest mit Gewalt rauszupressen, desto enger zog sich die Schlinge um meinen Hals. Ich erinnere mich, wie Lucy Sneads mit Angela Bullock tuschelte, an das unterdrückte Kichern. Ich erinnere mich, dass Robin South dieses groteske Schauspiel ungläubig anstarrte. Ich hätte an seiner Stelle dasselbe getan. Wenn Stotterer stottern, quellen ihre Augäpfel vor, sie zittern vor Anstrengung und laufen knallrot an wie zwei gleich starke Armdrücker, und ihr Mund geht auf und zu wie bei einem Fisch im Netz. Das muss ein ziemlich komischer Anblick sein.