Utopia Avenue - David Mitchell - E-Book
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Utopia Avenue E-Book

David Mitchell

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Beschreibung

In der Londoner Psychedelic-Szene der späten Sixties finden sich Folksängerin Elf Holloway, Bluesbassist Dean Moss, der Gitarrenvirtuose Jasper de Zoet und der Jazzdrummer Griff Griffin und erschaffen zusammen einen einzigartigen Sound, mit Texten, die den Aufbruchsgeist der Zeit atmen. Nur zwei Alben produziert die Band. Doch ihr Erbe lebt fort.    Dies ist die Geschichte von Utopia Avenues kurzer, rasanter Reise, von den kleinen Clubs in Soho und den englischen Provinzkäffern ins Land der Verheißung, Amerika – als der technicolorbunte Sommer der Liebe gerade etwas viel Dunklerem weicht. Ein greller Trip ins Land der Träume, der Drogen, des Sex, des Wahnsinns und der Trauer, ein Buch über einen faustischen Pakt für Ruhm und Erfolg, über den Zusammenprall von jugendlichem Aufbruch und trister Spießigkeit.    Doch vor allem ist dies ein gewaltiger Liebesbrief an die Musik der Sixties, an deren Kraft, uns über alle Grenzen hinweg zu verbinden. David Mitchells «Utopia Avenue» ruft eine Zeit voller Träume und Verheißungen zurück, die immer noch nachwirken.

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Seitenzahl: 987

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David Mitchell

Utopia Avenue

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Volker Oldenburg

 

Über dieses Buch

In der Londoner Psychedelic-Szene der späten Sixties finden sich Folksängerin Elf Holloway, Bluesbassist Dean Moss, der Gitarrenvirtuose Jasper de Zoet und der Jazzdrummer Griff Griffin und erschaffen zusammen einen einzigartigen Sound, mit Texten, die den Aufbruchsgeist der Zeit atmen. Nur zwei Alben produziert die Band. Doch ihr Erbe lebt fort.

Dies ist die Geschichte von Utopia Avenues kurzer, rasanter Reise, von den kleinen Clubs in Soho und den englischen Provinzkäffern ins Land der Verheißung, Amerika – als der technicolorbunte Sommer der Liebe gerade etwas viel Dunklerem weicht. Ein greller Trip ins Land der Träume, der Drogen, des Sex, des Wahnsinns und der Trauer, ein Buch über einen faustischen Pakt für Ruhm und Erfolg, über den Zusammenprall von jugendlichem Aufbruch und trister Spießigkeit.

Doch vor allem ist dies ein gewaltiger Liebesbrief an die Musik der Sixties, an deren Kraft, uns über alle Grenzen hinweg zu verbinden. David Mitchells «Utopia Avenue» ruft eine Zeit voller Träume und Verheißungen zurück, die immer noch nachwirken.

Vita

David Mitchell, geboren 1969 in Southport, Lancashire, wurde für sein Werk vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Commonwealth Writers’ Prize und dem John Llewellyn Rhys Prize; zweimal stand er auf der Booker-Shortlist. Sein Weltbestseller «Der Wolkenatlas» wurde von Tom Tykwer und den Wachowski-Geschwistern verfilmt. Auch «Utopia Avenue» war ein internationaler Bestseller und u. a. «Book of the Year» der New York Times, des Guardian, der Times und desSunday Express. David Mitchell lebt in Clonakilty, Irland.

 

Volker Oldenburg lebt in Hamburg. Er übersetzte unter anderem Colum McCann, Oscar Wilde, T Cooper und Dinaw Mengestu. Für seine Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel «Utopia Avenue» bei Sceptre, London

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2022

Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Copyright © David Mitchell 2020

Zitiert wird aus folgenden Werken:

William Blake, «Die Hochzeit zwischen Himmel und Hölle», in: Zwischen Feuer und Feuer. Poetische Werke, deutsch von Thomas Eichhorn, München (dtv) 2007.

William Shakespeare, Der Sturm, deutsch von Jens Roselt für eine Inszenierung der Münchner Kammerspiele, Frankfurt a. M. (Fischer Theater Verlag) 2007.

Samuel Beckett, Warten auf Godot, deutsch von Elmar Tophoven, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1962.

 

Foto auf Vor- und Nachsatz Granger Historical Picture Archive/Alamy Stock Foto

Covergestaltung Cordula Schmidt Design, Hamburg, nach der Originalausgabe von Hodder & Stoughton

ISBN 978-3-644-00903-5

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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Dieses E-Book ist nicht vollständig barrierefrei.

 

 

www.rowohlt.de

Für Beryl und Nic – wegen der Rotkehlchen und der Jahre

Dean eilt am Phoenix Theatre vorbei, weicht einem dunkel bebrillten Blinden aus, tritt vom Bordstein auf die Charing Cross Road, um eine bummelnde Frau mit Kinderwagen zu überholen, springt über eine schmutzige Pfütze, läuft in die Denmark Street und rutscht auf einem Flecken Glatteis aus. Seine Füße fliegen nach oben. Er ist lange genug in der Luft, um zu sehen, wie Rinnstein und Himmel die Plätze tauschen, und zu denken: Das wird verdammt wehtun, bevor das Pflaster an seine Rippen, die Kniescheibe, den Knöchel schlägt. Es tut verdammt weh. Niemand bleibt stehen, um ihm aufzuhelfen. Scheiß-London. Ein bärtiger Börsenmaklertyp mit Melone feixt über das Missgeschick des langhaarigen Flegels und ist fort. Dean ignoriert den pochenden Schmerz und steht vorsichtig auf. Hoffentlich ist nichts gebrochen. Mr. Craxi zahlt kein Krankengeld. Finger und Handgelenke funktionieren jedenfalls. Das Geld. Er überprüft, ob das Sparbuch mit den kostbaren zehn Fünfpfundscheinen darin noch in seiner Jackentasche steckt. Alles gut. Er humpelt weiter. Im Fenster des Café Gioconda gegenüber entdeckt er Rick «One Take» Wakeman. Gerne würde er sich auf einen Tee und eine Kippe zu ihm setzen und sich nach Jobs als Studiomusiker erkundigen, aber freitagmorgens ist die Miete fällig, und Mrs. Nevitt lauert in ihrem Wohnzimmer wie eine Riesenspinne. Dean ist spät dran heute, sogar für seine Verhältnisse. Rays Scheck ist erst gestern angekommen, und eben auf der Bank hat er vierzig Minuten am Schalter angestanden, um ihn einzulösen, also geht er weiter, vorbei am Musikverlag Lynch & Lupton, wo Mr. Lynch ihm erklärte, die meisten seiner Songs seien beschissen und die übrigen Mist. Vorbei an Alf Cummings Music Management, wo Alf Cummings ihm die fleischige Hand auf den Schenkel legte und säuselte: «Wir wissen beide, was ich für dich tun kann, du verführerischer Lump; fragt sich nur, was tust du für mich?», und vorbei an den Fungus Hut Studios, wo Dean mit Battleship Potemkin ein Demo aufgenommen hätte, wäre er nicht vorher aus der Band geflogen.

«HILFE, bitte, ich –» Ein rotgesichtiger Mann klammert sich an Deans Kragen und stöhnt: «Ich –» Er krümmt sich vor Schmerz. «Ich sterbe …»

«Alles klar, Mann, setzen Sie sich auf die Stufe hier. Wo tut’s weh?»

Speichel läuft dem Mann aus dem verzogenen Mund. «Brust …»

«Das wird schon, wir, äh … holen Hilfe.» Er schaut sich um, aber die Leute eilen mit hochgeschlagenen Mantelkragen, tief in die Stirn gezogenen Hüten und abgewandtem Blick vorbei.

Der Mann drückt sich wimmernd an Dean. «Aaah-aaaaaah.»

«Ich glaub, Sie brauchen ’nen Krankenwagen, am besten –»

«Kann ich behilflich sein?» Der Neuankömmling ist in Deans Alter, mit kurzgeschnittenem Haar und in einem winterfesten Dufflecoat. Er löst dem Zusammengesunkenen die Krawatte und blickt ihm in die Augen. «Hopkins mein Name. Ich bin Arzt. Nicken Sie, wenn Sie mich verstehen, Sir.»

Der Mann ringt nach Luft und nickt mit schmerzverzerrtem Gesicht.

«Gut so.» Hopkins wendet sich an Dean. «Ist der Herr Ihr Vater?»

«Nein, ich hab ihn noch nie gesehen. Er sagt, die Brust tut ihm weh.»

«Die Brust?» Hopkins zieht einen Handschuh aus und legt dem Mann drei Finger an die Halsschlagader. «Sehr unregelmäßig. Sir? Ich glaube, Sie haben einen Herzinfarkt.»

Der Mann reißt die Augen auf; eine neuerliche Schmerzattacke drückt sie wieder zu.

«Im Café gibt es Telefon», sagt Dean. «Ich ruf den Rettungswagen.»

«Der ist nicht schnell genug hier», sagt Hopkins. «Auf der Charing Cross Road herrscht ein mörderischer Verkehr. Wissen Sie, wo die Frith Street ist?»

«Na klar – da gibt’s eine Klinik, am Soho Square.»

«Ganz genau. Laufen Sie schnellstens dorthin und sagen Sie, ein Mann habe vor dem Tabakwarenladen in der Denmark Street einen Herzinfarkt erlitten. Und dass Dr. Hopkins sofort ein paar Männer und eine Trage braucht. Kapiert?»

Hopkins, Denmark Street, Trage. «Ja, kapiert.»

«Ausgezeichnet. Ich bleibe hier und leiste Erste Hilfe. Und jetzt nichts wie los. Das Leben dieses armen Teufels liegt in Ihren Händen.»

 

Dean läuft über die Charing Cross Road in die Manette Street, vorbei an der Buchhandlung Foyles und in den schmalen Durchgang, der unter dem Pub Pillars of Hercules hindurchführt. Sein Körper hat den Schmerz von seinem Sturz vergessen. Er rennt an Müllmännern vorbei, die auf der Greek Street Tonnen in ihren Wagen leeren, sprintet mitten auf der Straße bis zum Soho Square, wo er einen Schwarm Tauben aufscheucht, legt sich beim Einbiegen in die Frith Street fast zum zweiten Mal lang und stürmt die Stufen zur Klinik hinauf in den Eingangsbereich, wo ein Pförtner hinter dem Daily Mirror sitzt. DONALD CAMPBELL TOT steht fett auf der Titelseite. Dean sagt schnaufend seinen Text auf: «Dr. Hopkins schickt mich … ein Herzinfarkt in der Denmark Street … braucht ein paar Männer und eine Trage, schnell …»

Der Pförtner lässt die Zeitung sinken. Teigkrümel hängen in seinem Schnauzbart. Seine Miene wirkt gleichgültig.

«Da stirbt ein Mann», erklärt Dean. «Haben Sie mich nicht gehört?»

«Aber sicher. Sie schreien mir ja ins Gesicht.»

«Dann schicken Sie Hilfe! Verdammt, das ist doch ein Krankenhaus hier!»

Der Pförtner schnaubt geräuschvoll und tief. «Sie haben vor Ihrer Begegnung mit diesem ‹Dr. Hopkins› nicht zufällig ’nen Haufen Geld von Ihrem Konto abgehoben?»

«Doch. Fünfzig Pfund. Na und?»

Der Pförtner schnipst Krümel von seinem Revers. «Und das haben Sie noch bei sich?»

«Ja, hier.» Dean greift in seine Jackentasche. Das Sparbuch ist nicht mehr da. Das kann nicht sein. Er probiert die anderen Taschen. Ein Krankenbett rollt quietschend vorbei. Ein Kind heult sich die Augen aus. «Mist – es muss rausgefallen sein, als ich …»

«Tut mir leid, junger Mann. Man hat Sie reingelegt.»

Dean erinnert sich daran, wie der Mann gegen seine Brust gefallen ist … «Nein. Nein. Der Herzinfarkt war echt. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten.» Er durchsucht noch einmal seine Taschen. Das Geld ist weg.

«Es ist nur ein schwacher Trost», sagt der Pförtner, «aber Sie sind schon der Fünfte seit November. Die Sache hat sich rumgesprochen. Kein Krankenhaus und keine Klinik in der Londoner Innenstadt schickt noch eine Trage, wenn jemand namens Hopkins eine anfordert. Kann man sich schenken. Es ist nie jemand dort.»

«Aber sie …» Dean wird schlecht. «Aber sie …»

«Wollen Sie sagen: ‹Sie sahen gar nicht wie Taschendiebe aus›?»

Wollte er. «Woher wusste der Kerl, dass ich Geld bei mir habe?»

«Was würden Sie tun, wenn Sie auf eine schöne dicke Brieftasche aus wären?»

Dean denkt nach. Die Bank. «Sie haben mich beim Abheben beobachtet. Dann sind sie mir gefolgt.»

Der Pförtner beißt in sein Würstchen im Blätterteig. «Volltreffer, Sherlock.»

«Aber … ich wollte mit dem Geld meinen Bass bezahlen, und –» Dean fällt Mrs. Nevitt ein. «O Scheiße. Der Rest war für die Miete. Wie bezahle ich jetzt meine Miete?»

«Sie könnten Anzeige erstatten, aber versprechen Sie sich nicht zu viel. Für die Polizei ist Soho von Warnschildern umgeben. Darauf steht: ‹Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren.›»

«Meine Wirtin ist ein verdammter Nazi. Die setzt mich vor die Tür.»

Der Pförtner schlürft seinen Tee. «Sagen Sie ihr, Sie haben es verloren, als Sie den guten Samariter spielen wollten. Wer weiß? Vielleicht weckt das ihr Mitleid.»

 

Mrs. Nevitt sitzt am großen Fenster. Im Zimmer riecht es nach Speckfett und Schimmel. Der Kamin ist mit Brettern vernagelt. Das Kassenbuch der Wirtin liegt aufgeschlagen auf dem Sekretär. Ihre Stricknadeln klackern und klappern. Ein immer dunkler Kronleuchter hängt von der Decke. Das Blumenmuster der Tapete ist zu einem düsteren Dschungelgrau verblasst. Mrs. Nevitts drei verstorbene Ehemänner blicken finster aus ihren vergoldeten Bilderrahmen. «Morgen, Mrs. Nevitt.»

«Es ist fast Mittag, Mr. Moss.»

«Ja, also, äh …» Deans Kehle ist trocken. «Ich wurde ausgeraubt.»

Die Stricknadeln verstummen. «Das ist sehr bedauerlich.»

«Kann man wohl sagen. Ich wurde auf der Denmark Street von zwei Taschendieben übertölpelt, auf dem Rückweg von der Bank. Sie müssen mich beim Einlösen des Schecks beobachtet haben und mir gefolgt sein.»

«Nicht möglich, Sachen gibt’s!»

Sie glaubt, ich binde ihr einen Bären auf, denkt Dean.

«Zu ärgerlich», fährt Mrs. Nevitt fort, «dass Sie bei Bretton’s, der königlichen Druckerei, nicht durchgehalten haben. Das war eine ordentliche Stellung. In einem anständigen Viertel. In Mayfair wird man nicht ‹ausgeraubt›.»

Bretton’s war Frondienst und Arschkriecherei, denkt Dean. «Ich hab’s Ihnen doch erklärt, Mrs. Nevitt, bei Bretton’s hat es einfach nicht hingehauen.»

«Das ist nicht mein Problem. Mein Problem ist die Miete. Sie wollen Zahlungsaufschub, nehme ich an?»

Dean entspannt sich, ein bisschen. «Da wäre ich Ihnen wirklich sehr dankbar.»

Ihre Lippen pressen sich zusammen, und ihre Nüstern blähen sich. «Dann verlängere ich die Zahlungsfrist diesmal und nur dieses eine Mal –»

«Danke, Mrs. Nevitt. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie –»

«– bis zwei Uhr. Niemand soll mir nachsagen, ich hätte kein Herz.»

Will die alte Kuh mich verarschen? «Zwei Uhr … heute Mittag?»

«Reichlich Zeit für den Weg zu Ihrer Bank und wieder zurück. Aber wedeln Sie diesmal beim Hinausgehen nicht wieder mit den Scheinen.»

Dean wird heiß, kalt und kotzübel. «Auf meinem Konto herrscht gerade Ebbe, aber am Montag kriege ich meinen Lohn. Dann bezahl ich alles.»

Die Wirtin zieht an einer von der Decke hängenden Schnur und nimmt eine Karte vom Sekretär: MÖBLIERTES ZIMMER ZU VERMIETEN – SCHWARZE & IREN NICHT ERWÜNSCHT – BEI INTERESSE BITTE KLINGELN.

«Bitte, Mrs. Nevitt, tun Sie das nicht. Das ist doch nicht nötig.»

Die Wirtin stellt die Karte ins Fenster.

«Wo soll ich denn heute Nacht schlafen?»

«Wo Sie wollen. Aber nicht hier.»

Erst das Geld futsch, jetzt das Zimmer. «Ich brauche meine Kaution.»

«Mieter, die mit der Zahlung in Rückstand sind, verlieren ihren Kautionsanspruch. Die Bedingungen hängen an jeder Zimmertür. Ich schulde Ihnen nicht einen roten Heller.»

«Das Geld gehört mir, Mrs. Nevitt.»

«Nicht laut des Vertrages, den Sie unterschrieben haben.»

«Sie haben Dienstag oder Mittwoch einen neuen Mieter. Spätestens. Sie dürfen meine Kaution nicht einbehalten. Das ist Diebstahl.»

Die Stricknadeln setzen sich wieder in Bewegung. «Wissen Sie, ich habe Ihnen von Anfang an den Straßenjungen aus dem Armenviertel angesehen. Aber ich habe mir gesagt: Nein, gib dem jungen Mann eine Chance, die Druckerei Ihrer Majestät hält schließlich große Stücke auf ihn. Also gab ich Ihnen eine. Und was ist passiert? Sie haben bei Bretton’s wegen einer ‹Popgruppe› gekündigt. Sich die Haare lang wachsen lassen wie ein Mädchen. Ihr Geld für Gitarren und was weiß ich rausgeworfen, statt was für schlechte Zeiten zurückzulegen. Und jetzt beschuldigen Sie mich des Diebstahls. Nun, das wird mir eine Lehre sein. Wer aus der Gosse kommt, bleibt in der Gosse. Ach, Mr. Harris …» Der Ex-Soldat und Schläger, mit dem Mrs. Nevitt zusammenlebt, erscheint in der Wohnzimmertür. «Diese» – ihr Blick richtet sich auf Dean – «Person verlässt uns. Sofort.»

«Schlüssel», sagt Mr. Harris zu Dean. «Beide.»

«Was ist mit meinem Zeug? Wollen Sie das auch klauen?»

«Nehmen Sie Ihr ‹Zeug› mit», sagt Mrs. Nevitt, «und tschüs. Alles, was um zwei noch in Ihrem Zimmer liegt, ist um drei bei der Heilsarmee. Und jetzt dalli.»

«Herrgott noch mal», stößt Dean hervor. «Hoffentlich beißen Sie bald ins Gras.»

Mrs. Nevitt ignoriert ihn. Ihre Nadeln machen klapperdiklapp. Mr. Harris packt ihn von hinten am Kragen und zieht ihn vom Stuhl.

Dean bekommt kaum Luft. «Sie erwürgen mich, Sie Drecksack!»

Der Ex-Sergeant schubst Dean in den Flur. «Auf dein Zimmer, packen und ab durch die Mitte. Oder ich mache Hackfleisch aus dir, du nichtsnutzige kleine Gammlerschwuchtel …»

 

Wenigstens habe ich noch meinen Job. Dean drückt das Kaffeemehl an, spannt den Siebträger ein und betätigt den Hebel. Die Gaggia stößt Dampf aus. Deans Achtstundenschicht zieht sich. Sein Körper ist vom Sturz auf der Denmark Street mit blauen Flecken übersät. Draußen ist es dunkel und eiskalt, aber im Etna Café an der Ecke D’Arblay und Brewer Street ist es warm, hell und laut. Studenten und Teenager aus den Vororten quatschen, flirten, diskutieren. Mods treffen sich hier, bevor sie weiter in die Musikclubs ziehen, um zu tanzen und Drogen einzuwerfen. Gepflegte ältere Herren begutachten junge Dinger mit glatter Haut auf der Suche nach einem Sugardaddy. Weniger gepflegte ältere Herren kehren auf einen Kaffee ein, bevor sie ins Pornokino oder in den Puff gehen. Hier drinnen drängen sich bestimmt über hundert Leute, denkt Dean, und alle haben heute Nacht ein Bett zum Schlafen. Seit Schichtbeginn hofft er, dass vielleicht ein Bekannter hereinkommt, der ihm noch einen Gefallen schuldet und ihm einen Schlafplatz auf dem Sofa anbietet. Die Hoffnung ist stündlich geschrumpft, und nun ist sie dahin. «19th Nervous Breakdown» von den Rolling Stones dröhnt aus der Jukebox. Einmal, in der unbeschwerten Zeit mit den Gravediggers, haben Dean und Kenny Yearwood die Akkorde entschlüsselt. Kaffee fließt aus der Öffnung, bis die Tasse zu einem Drittel gefüllt ist. Dean löst den Siebträger und klopft den Filterkuchen in den Eimer. Mr. Craxi eilt mit einem Tablett voll schmutziger Teller vorbei. Bitte ihn, dass er dich heute schon bezahlt, sagt sich Dean zum fünfzigsten Mal. Du hast keine andere Wahl. «Mr. Craxi, könnte ich –»

Mr. Craxi dreht sich um, ohne Dean zu registrieren: «Pru, nach vorne, Tische wischen, die sehn fuuurrrchtbar aus!» Er zwängt sich wieder an Dean vorbei, und Deans Blick fällt auf einen Mann, der zwischen Milchspender und Kaffeemaschine am Tresen sitzt. Um die dreißig, hohe Stirn, Typ Bücherwurm. Er trägt eine Jacke mit Hahnentrittmuster, dazu eine angesagte rechteckige Brille mit blau getönten Gläsern. Könnte schwul sein, aber in Soho weiß man nie.

Der Gast blickt von seiner Zeitschrift auf – die Record Weekly – und sieht Dean ungeniert an. Seine Stirn legt sich in Falten, als versuchte er, Dean zuzuordnen. In einem Pub würde Dean jetzt sagen: Was glotzt du so? Hier sieht er einfach weg und spürt, während er das Sieb unter den Kaltwasserhahn hält, wie die Augen des Gastes auf ihm verweilen. Vielleicht glaubt er, ich stehe auf ihn.

Sharon kommt mit einer neuen Bestellung. «Zwei Espresso und zwei Cola für Tisch neun.»

«Zwei ’spresso, zwei Cola, Tisch neun, geht klar.» Dean wendet sich der Gaggia zu, legt den Schalter um und schäumt Milch für einen Cappuccino auf.

Sharon tritt hinter den Tresen, um eine Zuckerdose aufzufüllen. «Tut mir wirklich leid, dass du nicht bei mir auf dem Fußboden pennen kannst.»

«Ist schon in Ordnung.» Dean streut Kakaopulver auf den Cappuccino und stellt ihn für Pru auf den Tresen. «War auch ziemlich frech von mir, dich zu fragen.»

«Meine Wirtin ist halb KGB, halb Mutter Oberin. Wenn ich versuchen würde, dich reinzuschmuggeln, würde sie uns abpassen und zetern: ‹Dies ist ein anständiges Haus und kein Bordell!›, und dann würde sie mich auf die Straße setzen.»

Er befüllt das Sieb für einen Espresso. «Ich versteh schon. Kein Problem.»

«Du musst doch nicht unter der Brücke schlafen, oder?»

«Nee, natürlich nicht. Ich ruf später ein paar Kumpels an.»

Sharons Miene hellt sich auf. «Wenn das so ist» – sie wackelt mit den Hüften –, «bin ich froh, dass du mich zuerst gefragt hast. Wenn ich sonst irgendwas für dich tun kann, ich bin da.»

Dean macht sich nichts aus diesem netten, aber pummeligen Mädchen mit dem Pfannkuchengesicht und den zu eng stehenden Rosinenaugen … doch in der Liebe und im Krieg ist alles erlaubt. «Kannst du mir vielleicht bis Montag etwas Kohle leihen? Nur, bis ich meinen Lohn kriege.»

Sharon zögert. «Und wie revanchierst du dich dafür?»

Ah, du willst flirten! Dean setzt sein sexy Grinsen auf und öffnet schwungvoll eine Colaflasche. «Sobald ich aus dem Schneider bin, zahl ich’s dir zurück, mit Riesenzinsen.»

Sie strahlt, und Dean hat fast ein schlechtes Gewissen, weil es so leicht geht. «Vielleicht habe ich noch ein bisschen was im Portemonnaie. Aber denk an mich, wenn du ein millionenschwerer Popstar bist.»

«Tisch funfzehn wartet immer noch!», ruft Mr. Craxi mit seinem sizilianischen Cockneyakzent. «Drei heiße cioccolate! Marshmallows! Beeilung!»

«Drei heiße Schokoladen», ruft Dean zurück. Sharon verschwindet mit der Zuckerdose. Pru schnappt sich den Cappuccino für Tisch acht, und Dean spießt den Bestellzettel auf. Der Dorn ist zu zwei Dritteln voll. Mr. Craxi müsste guter Laune sein. Wenn nicht, bin ich geliefert. Er macht sich an die Espressi für Tisch neun. «Sunshine Superman» von Donovan löst die Stones ab. Dampf zischt durch die Gaggia. Dean überlegt, wie viel Sharons «ein bisschen» wohl sein mag. Nicht genug für ein Hotelzimmer, so viel steht fest. In der Tottenham Court Road gibt es ein YMCA, aber wer weiß, ob sie noch ein freies Bett haben. Wenn er dort ankommt, ist es schon halb elf. Wieder geht Dean die Liste mit Londonern durch, die ihm (a) helfen könnten und (b) Telefon haben. Die U-Bahn fährt nur bis kurz nach Mitternacht, wenn Dean also mit seinem Bass und dem Rucksack vor irgendeiner Haustür in Brixton oder Hammersmith steht, und es macht niemand auf, sitzt er fest. Er zieht sogar seine alten Bandkumpel von Battleship Potemkin in Erwägung, aber dieser Zug ist wohl endgültig abgefahren.

Dean blickt hinüber zu dem Gast mit den blau getönten Brillengläsern. Er hat die Record Weekly gegen ein Buch getauscht, Ganz unten in Paris und London. Dean überlegt, ob er ein Beatnik ist. Ein paar Typen an der Kunstakademie gaben sich als Beatniks aus. Sie rauchten Gauloises, redeten über Existenzialismus und liefen mit französischen Zeitungen rum.

«He, Clapton.» Pru hat ein Faible für Spitznamen. «Wartest du, dass die Schokolade von selber heiß wird, oder was?»

«Clapton ist Leadgitarrist», erklärt Dean zum hundertsten Mal. «Ich spiele Bass, Mann!» Ein zufriedenes Lächeln huscht über Prus Gesicht.

 

Der kleine Hof hinter der Küche des Etna ist ein verrußter Nebelschacht mit Platz für Mülltonnen und nicht viel mehr. Eine Ratte klettert an einem Regenrohr hinauf zu dem Viereck aus unterbelichteten Abendwolken. Dean nimmt einen letzten tiefen Zug von seiner letzten Dunhill. Es ist nach zehn, und seine und Sharons Schicht ist vorbei. Bevor Sharon abgeschwirrt ist, hat sie Dean acht Shilling geliehen. Wenn alle Stricke reißen, reicht das für eine Zugfahrkarte nach Gravesend. Durch die Küchentür hört Dean, wie Mr. Craxi sich auf Italienisch mit einem seiner Neffen unterhält, der erst kürzlich aus Sizilien gekommen ist. Der Junge spricht kaum Englisch, aber das ist auch nicht nötig, um eine Kelle brodelnde Bolognese auf einen Teller Spaghetti zu klatschen, das einzige Gericht, das im Etna serviert wird.

Mr. Craxi kommt nach draußen. «Du willst mit mir reden, Moss?»

Dean tritt die Zigarette auf dem Backsteinboden aus. Sein Chef starrt ihn böse an. Scheiße! Er hebt den Stummel auf. «Tut mir leid.»

«Ich habe nicht den ganzen Abend Zeit.»

«Könnten Sie mich bitte jetzt bezahlen?»

Mr. Craxi macht ein Gesicht, als würde er seinen Ohren nicht trauen. «Dich ‹jetzt› bezahlen?»

«Ja. Meinen Lohn. Heute Abend. Jetzt. Bitte.»

Mr. Craxi sieht ihn ungläubig an. «Ich zahle Löhne Montag.»

«Ich weiß, aber ich hab Ihnen doch erzählt, ich wurde ausgeraubt.»

Das Leben und London haben Mr. Craxi misstrauisch gemacht. Vielleicht ist er aber auch schon so auf die Welt gekommen. «Ist Pech. Aber ich zahle immer Montag.»

«Ich würde Sie nicht bitten, wenn es nicht dringend wäre. Meine Wirtin hat mich rausgeschmissen, weil ich die Miete nicht zahlen konnte, darum stehen mein Rucksack und mein Bass im Personalschrank.»

«Ah. Ich dachte, du gehst in Urlaub.»

Dean täuscht ein Lächeln vor, falls das ein Scherz gewesen ist. «Schön wär’s. Aber nein, ich brauche wirklich meinen Lohn. Ich meine, für ein Zimmer im YMCA oder so.»

Mr. Craxi denkt nach. «Du sitzt in der Scheiße, Moss. Aber ist deine Scheiße und nicht meine. Ich zahle Löhne immer Montag.»

«Könnten Sie mir nicht ein paar Pfund vorstrecken? Bitte?»

«Du hast Gitarre. Bring ins Pfandhaus.»

Hart wie Granit, denkt Dean. «Erstens, ich kann die Gitarre gar nicht verkaufen, weil die letzte Rate noch nicht bezahlt ist. Dafür war das Geld gedacht, das die Räuber mir geklaut haben.»

«Hast du nicht gesagt, Geld war für die Miete?»

«Ein Teil war für die Miete. Der Großteil war Gitarrengeld. Zweitens, es ist zehn Uhr am Freitagabend. Die Pfandhäuser haben jetzt zu.»

«Ich bin nicht deine Bank. Ich zahle Montag. Basta.»

«Und wie soll ich am Montag herkommen, wenn ich eine doppelseitige Lungenentzündung habe, weil ich das ganze Wochenende im Hyde Park schlafen musste?»

Mr. Craxis Wange zuckt. «Wenn du Montag nicht kommst, ist kein Problem. Dann ich bezahle nix. Und du kriegst Kündigung. Klar?»

«Was macht es schon aus, ob Sie mich jetzt bezahlen oder am Montag? Mein Gott, ich arbeite am Wochenende doch gar nicht.»

Mr. Craxi verschränkt die Arme. «Moss, du bist entlassen.»

«Verdammt! Das können Sie nicht mit mir machen.»

Ein Wurstfinger bohrt sich in Deans Solarplexus. «Ist ganz einfach. Schon passiert. Ciao!»

«Nein.» Erst mein Geld, dann mein Zimmer, jetzt mein Job. «Nein. Nein.» Dean schlägt Craxis Finger weg. «Sie schulden mir fünf Tage Lohn.»

«Beweis es. Verklag mich. Besorg dir Anwalt.»

Dean vergisst, dass er nicht zwei Meter, sondern nur eins siebzig groß ist, und brüllt Craxi ins Gesicht: «SIE SCHULDEN MIR FÜNF TAGE LOHN, SIE BESCHISSENER HINTERFOTZIGER BETRÜGER!»

«Ah, sì, sì, ich schulde dir was. Hier, ich bezahle meine Schulden.»

Eine kräftige Faust landet in Deans Magengrube. Dean klappt zusammen und geht keuchend und fassungslos zu Boden. Zum zweiten Mal heute. Ein Hund bellt. Dean rappelt sich auf, aber Mr. Craxi ist fort, und zwei sizilianische Neffen erscheinen in der Küchentür. Einer hat Deans Fender, der andere seinen Rucksack. Sie bugsieren Dean im Polizeigriff durchs Café. In der Jukebox singen die Kinks «Sunny Afternoon». Dean blickt sich um. Mr. Craxi steht mit verschränkten Armen und finsterer Miene an der Kasse.

Dean zeigt seinem ehemaligen Arbeitgeber den Mittelfinger.

Craxi hebt die Hand auf Halshöhe und macht eine Schlitzbewegung.

 

Auf der D’Arblay Street denkt Dean darüber nach, welche Folgen es hätte, wenn er einen Stein ins Fenster des Etna würfe. Eine Nacht in einer Zelle würde das drängende Schlafplatzproblem lösen, aber ein Eintrag im polizeilichen Führungszeugnis wäre auf lange Sicht nicht hilfreich. Er geht in die Telefonzelle an der Straßenecke. Die Wände sind gepflastert mit Zetteln mit den Namen und Telefonnummern von Mädchen. Er hält die Fender dicht bei sich, den Rucksack stellt er in die halb offene Tür. Er kramt ein Sixpencestück hervor und blättert in seinem schwarzen Büchlein. Der wohnt jetzt in Bristol … Dem schulde ich noch einen Fünfer … Der ist tot … Dean stößt auf die Nummer von Rod Dempsey. Er kennt Rod nicht besonders gut, aber er ist auch aus Gravesend. Letzten Monat hat er in Camden einen Laden mit Lederjacken und Motorradzubehör eröffnet. Dean wählt die Nummer. Es nimmt niemand ab.

Und jetzt?

Dean verlässt die Telefonzelle. Eisiger Nebel lässt Umrisse verschwimmen, verwischt die Gesichter von Passanten, umhüllt Leuchtreklamen – GIRLS! GIRLS! GIRLS! – und dringt tief in Deans Lunge. Er hat noch fünfzehn Shilling und drei Pence und zwei Möglichkeiten, das Geld auszugeben. Er könnte die D’Arblay Street bis zur Charing Cross Road hinuntergehen, den Bus zum Bahnhof London Bridge und dort den Zug nach Gravesend nehmen, Ray, Shirl und ihren Sohn aufwecken, Ray gestehen, dass die sauer verdienten fünfzig Pfund – von denen Shirl nichts weiß – nur zehn Minuten nach Einlösung des Schecks geklaut wurden, und ihn fragen, ob er auf dem Sofa schlafen kann. Aber er kann dort nicht ewig bleiben.

Und morgen? Wieder bei Nan Moss und Bill einziehen? Mit dreiundzwanzig? Ende der Woche wird er die Fender wieder zu Selmers Gitarrenladen bringen und betteln, dass er einen Teil des angezahlten Geldes zurückbekommt. Abzüglich Abnutzungskosten. Ruhe in Frieden, Dean Moss, Berufsmusiker. Harry Moffat wird natürlich Wind davon kriegen. Und sich einen Ast lachen.

Oder … Dean blickt in die Brewer Street mit ihren Clubs, Lichtern, dem Getümmel, den Peep-Shows, Spielhallen und Pubs … ich fordere das Schicksal heraus. Vielleicht sitzt Goof im Coach and Horses. Nick Woo ist freitags meistens im Mandrake. Und Al im Bunjies in der Lichfield Street. Vielleicht lässt Al ihn bis Montag bei sich auf dem Fußboden pennen. Morgen wird er sich einen neuen Café-Job suchen. Am besten weit weg vom Etna. Bis ich wieder flüssig bin, lebe ich von Brot mit Marmite.

Aber … was, wenn das Schicksal aufseiten der Vernünftigen steht? Was, wenn Dean ein letztes Mal aufs Ganze geht, das Geld für den Eintritt in einen Club ausgibt und ein reiches Mädchen mit eigener Wohnung angräbt, das dann, während er auf Klo ist, die Biege macht? Wäre nicht das erste Mal. Oder wenn der Türsteher ihn morgens um drei Uhr sturzbesoffen und mit leerem Portemonnaie hinaus auf den vollgekotzten Bürgersteig befördert? Dann bleibt ihm nur ein eisiger Fußmarsch nach Gravesend. Gegenüber wühlt ein Penner im Licht eines Waschsalons in einer überquellenden Mülltonne. Was, wenn der irgendwann auch ein letztes Mal aufs Ganze gegangen ist?

Dean spricht es laut aus: «Was, wenn meine Songs wirklich beschissen sind?»

Und ich mir nur vormache, dass ich Musiker bin?

Dean muss sich entscheiden. Er holt das Sixpencestück hervor.

Kopf bedeutet D’Arblay Street und Gravesend.

Zahl bedeutet Brewer Street, Soho und Musik.

Dean wirft die Münze …

 

«Verzeihung, bist du Dean Moss?» Die Münze landet im Rinnstein und rollt davon. Mein Sixpence! Dean dreht sich um. Vor ihm steht der vielleicht schwule Beatnik vom Tresen im Etna. Er trägt eine Pelzmütze wie ein russischer Spion, doch sein Akzent klingt amerikanisch. «Oje, jetzt hast du wegen mir deine Münze verloren …»

«Ja, verdammte Scheiße.»

«Warte, da ist sie …» Der Fremde bückt sich und fischt das Geldstück aus einer Ritze. «Hier, bitte.»

Dean steckt die Münze ein. «Und Sie sind wer?»

«Ich heiße Levon Frankland. Wir sind uns im August begegnet, backstage im Brighton Odeon. Bei der Future Stars Revue. Ich habe die Great Apes gemanagt. Oder es versucht. Du warst bei Battleship Potemkin. Ihr habt ‹Dirty River› gespielt. Tolles Stück.»

Lobende Worte machen Dean misstrauisch, besonders aus dem Mund eines möglicherweise Schwulen. Anderseits ist dieser möglicherweise Schwule Bandmanager, und Dean wurde in letzter Zeit von niemandem für irgendwas gelobt. «Das ist mein Lied. Ich habe ‹Dirty River› geschrieben.»

«Ich weiß. Und ich weiß auch, dass du und die Potemkins euch getrennt habt.»

Deans Nasenspitze ist eiskalt. «Sie haben mich rausgeschmissen. Wegen ‹Revisionismus›.»

Levon Frankland lacht fransige Atemwölkchen. «Mal was anderes als ‹künstlerische Differenzen›.»

«Ihr Lied über Mao war grottenschlecht, und das hab ich ihnen auch gesagt. Der Refrain ging: ‹Chairman Mao, Chairman Mao, your red flag is not a holy cow.› Kein Witz.»

«Ohne die bist du besser dran.» Frankland zückt ein Päckchen Rothmans und hält es Dean hin.

«Ohne die bin ich pleite.» Dean nimmt sich mit tauben Fingern eine Zigarette. «Und stehe bis zum Hals in der Scheiße.»

Frankland gibt Dean mit einem schicken Zippo Feuer und zündet sich auch eine an. «Ich habe unfreiwillig mitgehört …» Er nickt Richtung Etna. «Du hast also keine Bleibe für heute Nacht?»

Eine Horde Mods in Freitagabend-Ausgehkluft stiefelt vorbei. Auf Speed unterwegs ins Marquee, vermutet Dean. «So sieht’s aus.»

«Ich mache dir einen Vorschlag», sagt Frankland.

Dean fröstelt. «Ach? Und der wäre?»

«Heute Abend spielt im 2i’s eine Band. Ich würde gerne deine Meinung als Musiker hören, ob sie etwas taugt. Wenn du mich begleitest, kannst du auf meinem Sofa schlafen. Ich wohne in Bayswater. Es ist nicht das Ritz, aber wärmer als unter der Waterloo Bridge.»

«Ich dachte, Sie sind der Manager der Great Apes?»

«Nicht mehr. Künstlerische Differenzen. Ich» – irgendwo in der Nähe bricht Glas, und teuflisches Gelächter ertönt – «bin auf der Suche nach neuen Talenten.»

Dean kommt in Versuchung. Dort ist es warm und trocken. Morgen kann er ein Frühstück abstauben, sich waschen und in Ruhe sein schwarzes Büchlein durchgehen. Frankland hat sicher Telefon. Das Problem ist: Was, wenn an dieser Rettungsleine ein Preisschild hängt?

«Wenn dir das Sofa zu gefährlich ist» – Levon wirkt belustigt –, «kannst du gerne in der Badewanne schlafen. Die Tür lässt sich abschließen.»

Also ist er doch schwul, erkennt Dean, und er weiß, dass ich es vermute … aber wenn er kein Problem damit hat, warum ich? «Das Sofa ist in Ordnung.»

 

Im Keller der 2i’s Coffee Bar in der Old Compton Street 59 ist es heiß, feucht und dunkel wie in einer Achselhöhle. Über der niedrigen Bühne aus Holzbrettern auf Milchkästen baumeln zwei nackte Glühbirnen. Die Wände schwitzen, die Decke tropft. Vor fünf Jahren war das 2i’s noch Sohos angesagtester Talentschuppen: Cliff Richard, Hank Marvin, Tommy Steele und Adam Faith haben ihre Karriere hier begonnen. Heute Abend spielen Archie Kinnock’s Blues Cadillac, bestehend aus Archie Kinnock (Gesang und Rhythmusgitarre), Larry Ratner (Bass), einem Schlagzeuger im Unterhemd, dessen Drumset kaum auf die Bühne passt, und einem großen, mageren, wild aussehenden Gitarristen mit rosiger Haut, rötlicher Mähne und zusammengekniffenen Augen. Sein lila Jackett schlackert, und die langen Haare hängen über das Griffbrett. Die Band spielt Archie Kinnocks alten Hit «Lonely as Hell». Dean merkt schnell, dass der Blues Cadillac nicht nur mit einem, sondern zwei losen Rädern unterwegs ist. Kinnock ist betrunken, bekifft oder beides. Er stöhnt bluesmäßig ins Mikro – «I’m looo-ooonely as hell, babe, looo-ooonely as hell» –, verbockt aber ständig seinen Gitarrenpart. Larry Ratner hinkt dem Takt hinterher. Sein Backgroundgesang – «You’re looo-ooonely as well, babe, looo-ooo-ooo-ooonely as well» – ist grauenhaft schief. Mitten im Stück blafft er den Schlagzeuger an: «Zu langsam, Mann!» Der Schlagzeuger guckt ihn böse an. Der Gitarrist beginnt mit einem Solo: Er hält drei Takte lang einen heulenden, schnarrenden Ton, dann haut er einen lebensmüden Riff raus. Archie Kinnock übernimmt wieder den Rhythmuspart mit den Grundakkorden E, A und G, während der Gitarrist die Melodie aufgreift und sie auf berauschende Weise auf den Kopf stellt. Dean ist von dem zweiten Solo noch beeindruckter als vom ersten. Die Leute recken die Hälse, um zu sehen, wie die Finger des Leadgitarristen zupfen, klemmen, ziehen, hämmern, gleiten und über das Griffbrett fliegen.

Wie macht er das bloß?

 

Auf «I’m Your Hoochie Coochie Man» von Muddy Waters folgt mit «Magic Carpet Ride» ein mittelmäßiger Archie-Kinnock-Hit, der nahtlos in «Green Onion» von Booker T. and the M.G.’s übergeht. Der Gitarrist und der Schlagzeuger legen sich leidenschaftlich ins Zeug, doch die beiden alten Hasen, Kinnock und Ratner, ziehen die Band runter. Am Ende des ersten Sets begrüßt der Bandleader die nicht einmal hundert Zuschauer, als hätte er die ausverkaufte Royal Albert Hall in Taumel versetzt. «London, ich bin Archie Kinnock, und ich bin wieder da! Kurze Pause, dann kommt der zweite Teil, okay?» Blues Cadillac ziehen sich in die Katakomben neben der Bühne zurück. «I Feel Free» von Cream jault aus den blechernen Boxen, und die Hälfte des Publikums verschwindet nach oben, um sich Cola, Orangensaft oder Kaffee zu holen.

«Und?», sagt Frankland.

«Du hast mich hergebracht, damit ich mir den Gitarristen ansehe, oder?»

«Richtig.»

«Er ist ziemlich gut.»

Levon macht ein «Ist das alles?»-Gesicht.

«Er ist der Wahnsinn. Wer ist der Typ?»

«Er heißt Jasper de Zoet.»

«O Mann. Da, wo ich herkomme, wird man für weniger gelyncht.»

«Vater Holländer, Mutter englisch. Er ist erst seit sechs Wochen in England, das heißt, er muss erst Fuß fassen. Willst du einen Schuss Bourbon in deine Cola?»

Dean hält ihm die Flasche hin und bekommt einen ordentlichen Schluck. «Danke. Bei Archie Kinnock verschwendet er jedenfalls sein Talent.»

«So wie du bei Battleship Potemkin.»

«Wer ist der Schlagzeuger? Der ist auch gut.»

«Peter Griffin. ‹Griff›. Aus Yorkshire. Er hat sich seine Sporen in der nordenglischen Jazzszene verdient, im Ensemble von Wally Whitby.»

«Wally Whitby, der Jazztrompeter?»

«Ganz genau.» Levon trinkt aus seinem Flachmann.

«Spielt Jasper de Dingsbums nur Gitarre oder schreibt er auch Lieder?», fragt Dean.

«Beides, soweit ich weiß. Aber Archie lässt ihn sein eigenes Material nicht spielen.»

Dean verspürt einen Anflug von Neid. «Er hat echt was.»

Levon tupft sich mit einem gepunkteten Taschentuch die glänzende Stirn. «Finde ich auch. Aber er hat ein Problem. Er ist zu eigensinnig, um sich in eine bereits bestehende Band wie die von Archie Kinnock einzufügen, aber ein Solokünstler ist er auch nicht. Er braucht von Hand verlesene, ebenso begabte Bandkollegen, die ihn beflügeln und sich von ihm beflügeln lassen.»

«Welche Band schwebt dir vor?»

«Es gibt sie noch nicht. Aber ich glaube, ihr Bassist steht vor mir.»

Dean stößt ein schnaubendes Lachen aus. «Alles klar.»

«Ich mein’s ernst. Ich stelle gerade eine Band zusammen. Und ich habe so ein Gefühl, dass sich zwischen euch dreien diese ganz besondere magische Chemie entwickeln könnte.»

«Willst du mich verarschen?»

«Sehe ich so aus?»

«Nein, aber … was sagen die anderen dazu?»

«Ich habe noch nicht mit ihnen gesprochen. Du bist der erste Puzzlestein, Dean. Die wenigsten Bassisten sind rhythmisch präzise genug für Griff und kreativ genug für Jasper.»

Dean lässt sich auf das Spiel ein. «Und du wärst unser Manager?»

«Natürlich.»

«Aber Jasper und Griff spielen doch schon in einer Band.»

«Blues Cadillac sind keine Band, sondern ein verendender Hund. Es wäre ein Akt der Barmherzigkeit, sie von ihrem Leiden zu erlösen.»

Ein Tropfen von der schwitzenden Decke landet auf Deans Nacken. «Ihr Manager sieht das sicher anders.»

«Archies Ex-Manager ist mit dem Sparschwein getürmt, seitdem managt Larry Ratner die Band. Dummerweise taugt er als Manager so viel wie ich als Stabhochspringer.»

Dean nimmt einen kräftigen Schluck Bourbon-Cola. «Dann ist das ein Angebot?»

«Ein Vorschlag.»

«Sollten wir nicht wenigstens mal zusammen proben, bevor wir» – Dean verkneift sich, zusammen ins Bett hüpfen zu sagen – «irgendwas entscheiden?»

«Unbedingt. Wie der Zufall es will, hast du deinen Bass dabei, und wir haben ein angeheiztes Publikum. Du musst nur noch nicken.»

Was redet der da? «Das ist Archie Kinnocks Auftritt. Der hat schon einen Bassisten. Wir können jetzt kein Probespiel machen.»

Levon setzt die Brille ab und putzt die blauen Gläser. «Aber die Antwort auf die Frage: Würdest du gerne mit Jasper und Griff proben?, lautet Ja, oder?»

«Ja, ich glaub schon, aber –»

«Ich lass dich kurz allein.» Frankland setzt die Brille wieder auf. «Ich habe noch einen Termin. Wird nicht lange dauern.»

«Einen Termin? Jetzt? Mit wem denn?»

«Den dunklen Künsten.»

 

Dean stellt sich mit Bass und Rucksack in eine Ecke und wartet, dass Levon Frankland wiederkommt. «Sha-La-La-La-Lee» von den Small Faces spielt. Gerade als Dean denkt, dass der Text besser sein könnte, sagt eine bekannte Stimme: «Mosser!» Dean starrt in das erstaunte, dümmlich grinsende Gesicht von Kenny Yearwood, seinem Freund von der Kunstakademie. «Kenny!»

«Du lebst also noch. Mensch, deine Haare sind lang geworden.»

«Und deine kurz.»

«Der Schnitt heißt ‹Eintritt ins Erwerbsleben›. Kann nicht behaupten, dass er mir gefällt. Warst du an Weihnachten zu Hause? Im Captain Marlow hast du dich jedenfalls nicht blicken lassen.»

«War ich, aber ich hatte die Grippe und bin bei meiner Großmutter geblieben. Ich hab mich bei niemandem von der alten Clique gemeldet.» Oder eher, ich hatte keinen Bock auf euch.

«Spielst du noch bei Battleship Potemkin? Ich hab gehört, EMI gibt euch einen Plattenvertrag.»

«Das hat sich erledigt. Ich hab die Band im Oktober verlassen.»

«Oh. Hast bestimmt was Besseres, oder?»

«Hoffentlich.»

«Und … wo spielst du jetzt?»

«Äh … nirgends … also … eigentlich. Mal sehen.»

Kenny wartet auf eine richtige Antwort. «Alles okay bei dir?»

Dean merkt, dass er die Wahrheit weniger anstrengend findet als eine Lüge. «Ich hatte einen beschissenen Tag, wenn du so fragst. Ich wurde heute Morgen überfallen.»

«Verdammt, Mosser!»

«Sechs Dreckskerle haben sich auf mich gestürzt. Ich hab ein paar Mal ordentlich zugeschlagen, aber sie haben mir das Geld für die Miete geklaut – alles, was ich hatte, um genau zu sein –, also hat meine Wirtin mich vor die Tür gesetzt. Und zur Krönung hat mich das Café, in dem ich gearbeitet habe, rausgeschmissen. Sprich, mir steht die Scheiße bis zum Hals, mein Freund.»

«Und wo schläfst du jetzt?»

«Bei jemandem auf dem Sofa, bis Montag.»

«Und dann?»

«Es wird sich schon irgendwas ergeben. Aber erzähl’s keinem in Gravesend, ja? Die Leute tratschen, und wenn Nan Moss, Bill und mein Bruder davon hören, machen sie sich bloß Sorgen und so …»

«Natürlich nicht. Hier, kleiner Vorschuss, bis du wieder Land siehst.» Kenny hat das Portemonnaie gezückt und Dean etwas in die Tasche gesteckt. «Sollte kein Fummelangriff sein. Das sind fünf Pfund.»

Dean ist beschämt. «Ich wollte dich nicht anschnorren, Kumpel, ich –»

«Ich weiß, ich weiß. Du würdest dasselbe für mich tun, wenn’s andersrum wäre.»

Dean spielt mit dem Gedanken, ihm das Geld zurückzugeben – volle drei Sekunden lang. Mit fünf Pfund kommt er vierzehn Tage über die Runden. «Mann, Kenny, ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll. Ich zahl’s dir zurück.»

«Weiß ich doch. Besorg dir erst mal deinen Plattenvertrag.»

«Das vergess ich dir nie. Ehrenwort. Danke. Ich –»

Geschrei und Tumult brechen los. Ein Mann rempelt sich durch die Menge und stößt zu beiden Seiten Leute um. Kenny und Dean springen gerade noch rechtzeitig auseinander. Es ist Larry Ratner, der Bassist von Blues Cadillac. Er stürmt zur Treppe – verfolgt von Archie Kinnock, der über Deans zu Boden gerutschten Gitarrenkasten stolpert. Kinnock stürzt unglücklich nach vorne und schlägt mit dem Gesicht auf dem Betonboden auf. Ratner erreicht die steile Treppe und rennt sie zwei Stufen auf einmal nehmend hinauf, vorbei an den verblüfften Gästen des 2i’s. Archie Kinnock steht auf – seine Nase ist übel zugerichtet – und brüllt Ratner hinterher: «Ich reiß dir dein verdammtes Herz raus! So wie du mir meins rausgerissen hast!» Dann taumelt er seinem Bandkollegen hinterher die Treppe hinauf und ist verschwunden.

Leute sehen einander fassungslos an.

«Was war das denn?», fragt Kenny.

Dean macht Archies Drohung songtauglich und speichert sie im Gedächtnis ab: I’m gonna rip-rip-rip your heart out, just like you ripped mine.

Levon Frankland kommt zurück. «Ich werd verrückt, habt ihr das mitgekriegt?»

«War schwer zu übersehen. Levon, das ist Kenny, ein Freund von der Kunstakademie. Wir hatten in einem früheren Leben zusammen eine Band.»

«Freut mich, Kenny. Levon Frankland. Ich hoffe, Wirbelsturm Kinnock und Wirbelsturm Ratner haben euch verfehlt.»

«Ja», sagt Kenny, «um Haaresbreite. Worum ging’s denn?»

Frankland zuckt übertrieben die Achseln. «Ich habe nur Klatsch, Tratsch und Gerüchte gehört, und wer schenkt so was schon Glauben?»

«Klatsch, Tratsch und Gerüchte worüber?», bohrt Dean nach.

«Larry Ratner, Archie Kinnocks Frau, eine heiße Affäre und finanzielle Unregelmäßigkeiten.»

Dean entschlüsselt die Information. «Larry treibt es mit Archie Kinnocks Frau?»

«Da könnte was dran sein.»

Und Archie Kinnock ist dahintergekommen?», fragt Kenny. «Gerade eben? Während des Auftritts?»

Levon macht ein betroffenes Gesicht. «Das würde seine mörderische Wut erklären. Was meint ihr?»

Bevor Dean weiter darüber nachdenken kann, rauscht Oscar Morton, der pomadige, eulenäugige Manager des 2i’s Club, vorbei und steuert auf die Katakomben zu.

«Könntest du kurz auf Deans Rucksack aufpassen, Kenny?», fragt Levon. «Dean und ich werden möglicherweise gebraucht.»

«Äh … klar.» Kenny guckt genauso verdutzt wie Dean. Der Manager fasst Dean am Arm, und sie folgen Oscar Morton.

«Wo gehen wir hin?», fragt Dean.

«Ich wittere etwas. Du nicht?»

«Wittern? Was denn?»

«Eine Chance.»

 

In den Katakomben mieft es nach Kanalisation. Oscar Morton verhört die beiden verbliebenen Mitglieder von Blues Cadillac und bemerkt nicht, dass Dean und Frankland hereingeschlichen sind. Jasper de Zoet sitzt in einem niedrigen Sessel, auf dem Schoß die Stratocaster. Griff der Schlagzeuger ist stinksauer. «Hoffentlich ist er von der nächsten Brücke gesprungen. Ich hab für den Scheiß hier zwei Wochen in den Blackpool Winter Gardens sausen lassen.»

Der Manager des 2i’s versucht es bei Jasper de Zoet. «Kommen die beiden wieder?»

«Das kann ich Ihnen nicht sagen.» De Zoet klingt gleichgültig und nach reichem Elternhaus.

«Was ist überhaupt passiert?», fragt Morton.

«Das Telefon hat geklingelt.» Griff deutet mit einem Nicken auf den schwarzen Apparat auf dem Tisch. «Kinnock ging ran. Er hörte mit finsterer Miene zu, und nach ungefähr einer Minute wurde er vor Wut knallrot. Er sah zu Ratner rüber. Ich dachte: Holla, Ärger im Anmarsch, aber Ratner zog gerade neue Saiten auf seinen Bass auf und kriegte nichts mit. Als der Typ am anderen Ende fertig war, legte Kinnock wortlos auf und starrte Ratner an, der es endlich mitbekam und meinte, Kinnock würde ein Gesicht machen, als hätte er sich in die Hose geschissen. Kinnock fragte Ratner seelenruhig: ‹Bumst du mit Joy? Und habt ihr euch vom Geld der Band eine gemeinsame Wohnung gekauft?›»

«Wer ist Joy?», fragt Oscar Morton. «Archies Freundin?»

«Mrs. Joy Kinnock», antwortet Griff. «Archies Frau.»

«Na, großartig», sagt Morton. «Und was hat Larry gesagt?»

«Nichts», erwidert Griff. «Worauf Kinnock sagte: ‹Dann ist es also wahr.› Und dann kam Ratner mit irgendwelchem Müll von wegen, dass die beiden auf den richtigen Moment gewartet hätten, es ihm zu erzählen, dass die Wohnung eine Geldanlage für die Band sei und dass die Liebe nun mal ihre eigenen Wege gehe. Das L-Wort war kaum draußen, da wurde Kinnock zum Unglaublichen Hulk und … Sie haben ihn da draußen gesehen, oder? Hätte Ratner nicht bei der Tür gesessen und die Beine in die Hand genommen, wäre er jetzt wahrscheinlich tot.»

Oscar Morton reibt sich die Schläfen. «Wer war der Anrufer?»

«Keine Ahnung», sagt Griff.

«Könnt ihr den zweiten Teil alleine spielen?»

«Sind Sie bekloppt?», antwortet der Schlagzeuger.

«Electric Blues ohne Bass?» Jasper macht ein skeptisches Gesicht. «Das würde flach klingen. Und wer spielt Mundharmonika?»

«Blind Willie Johnson hatte nur eine olle Akustikgitarre», sagt Oscar Morton. «Kein Verstärker, kein Schlagzeug, nichts.»

«Wenn ich gehen soll», sagt der Schlagzeuger, «rücken Sie meinen Anteil raus.»

«Ich habe mit Archie einen Auftritt von neunzig Minuten vereinbart», sagt Oscar Morton. «Ihr habt erst dreißig gespielt. Entweder ihr macht die neunzig voll, oder ihr seht nicht einen Penny.»

«Meine Herren.» Levon ergreift das Wort. «Ich habe einen Vorschlag.»

Oscar Morton dreht sich um. «Wer sind Sie?»

«Levon Frankland. Moonwhale Music. Das ist Dean Moss, Bassist und mein Klient. Wir sind vielleicht Ihr Ausweg.»

Ich?, denkt Dean. Wir?

«Ausweg woraus?», fragt Morton.

«Aus Ihrem Dilemma», sagt Levon. «Draußen warten hundert Gäste, die gleich lautstark ihr Geld zurückfordern werden. Geld, Mr. Morton. Die Mieten sind gestiegen. Die Weihnachtsausgaben müssen noch bezahlt werden. Hundert Eintrittskarten zu erstatten ist das Letzte, was Sie jetzt brauchen. Sie können sich natürlich weigern, aber …», Levon setzt eine besorgte Miene auf, «… die Hälfte der jungen Leute ist mit Speed zugedröhnt. Das kann sehr unangenehm werden. Es könnte sogar Randale geben. Wie das Gericht wohl in dieser Sache entscheiden wird? Sie müssen eine neue Band aus dem Hut zaubern. Jetzt gleich.»

«Die Sie Schlauberger», sagt Griff, «rein zufällig in Ihrem Dickdarm versteckt haben?»

«Die sich rein zufällig» – Levon zeigt auf die Musiker – «in diesem Raum befindet. Jasper de Zoet, Gitarre und Gesang, Peter ‹Griff› Griffin, Schlagzeug, und, darf ich vorstellen» – er klopft Dean auf die Schulter – «Dean Moss, begnadeter Bassist, Mundharmonika und Gesang. Hat seine Fender dabei, ist spielbereit.»

Der Schlagzeuger sieht Dean argwöhnisch an. «Und wie der Zufall so will, hast du ausgerechnet an dem Abend, an dem unser Bassist uns sitzen lässt, deinen Bass dabei?»

«Meinen Bass und alles, was ich besitze. Ich musste von jetzt auf gleich mein möbliertes Zimmer räumen.»

Jasper ist die ganze Zeit merkwürdig still gewesen, aber jetzt fragt er Dean: «Wie gut spielst du denn?»

«Besser als Larry Ratner», antwortet Dean.

«Dean ist großartig», sagt Levon. «Ich nehme keine Amateure.»

Der Schlagzeuger zieht an seiner Zigarette. «Kannst du singen?»

«Besser als Archie Kinnock», sagt Dean.

«Das tut ein kastrierter Esel auch», sagt Griff.

«Welche Lieder kennst du?», fragt Jasper.

«Äh … ich kann ‹House of the Rising Sun› spielen, ‹Johnny B. Goode›, ‹Chain Gang›. Habt ihr die drauf?»

«Mit verbundenen Augen», sagt Griff, «und ’nem Finger im Arsch.»

«Ich leite diesen Club», sagt Oscar Morton. «Die drei haben noch nie zusammen gespielt. Woher weiß ich, dass sie was taugen?»

«Das wissen Sie», sagt Levon, «weil Jasper ein Virtuose ist und Griff bei den Wally Whitby Five gespielt hat. Was Dean angeht, müssen Sie auf mein Wort vertrauen.»

Griffs Brummen klingt nicht unzufrieden. Jasper sagt nicht Nein. Dean denkt: Ich habe nichts zu verlieren. Oscar Morton sieht verschwitzt und elend aus und braucht noch einen Schubs.

«Ich weiß, im Musikgeschäft wimmelt es von Schwätzern», sagt Levon. «Wir hatten beide schon viel zu oft mit welchen zu tun. Aber ich gehöre nicht dazu.»

Der Clubmanager seufzt. «Enttäuschen Sie mich nicht.»

«Sie werden es nicht bereuen», verspricht Levon, «und für fünfzehn Pfund sind die Jungs ein Schnäppchen.» Er wendet sich an die Musiker: «Meine Herren, ihr bekommt vier Pfund pro Nase. Meine Provision beträgt drei. Einverstanden?»

«Jetzt halten Sie mal die Luft an!» Oscar Morton ist entsetzt. «Fünfzehn Pfund? Für drei Nobodys? Das soll wohl ein Witz sein!»

Levon sieht ihn einen ausgedehnten Augenblick lang an. «Dean, ich habe die Situation falsch eingeschätzt. Offenbar ist Mr. Morton nicht an einem Ausweg interessiert. Lass uns abhauen, bevor hier die Hölle losbricht.»

«Halt, warten Sie!», lenkt Morton ein. «Ich habe ja nicht gesagt, dass ich gar nichts bezahle. Aber mit Archie Kinnock waren nur zwölf vereinbart.»

Levon blickt über den Rand der blau getönten Brille. «Wir wissen beide, dass Archie Kinnocks Gage achtzehn Pfund betrug. Nicht wahr?»

Oscar Morton zögert zu lange und kann nicht mehr zurück.

Griffs Miene verfinstert sich. «Achtzehn? Zu uns hat Archie zwölf gesagt!»

«Deshalb regelt man solche Sachen schriftlich», sagt Levon. «Was man nicht schwarz auf weiß besitzt, ist juristisch gesehen in den Schnee gepinkelt.»

Ein schwitzender Türsteher kommt herein. «Die Leute fangen an zu toben, Boss.»

Aufgebrachtes Geschrei dringt in die Katakomben: «Wo ist die Scheiß-Band?» «Acht Shilling für vier Lieder? Schiebung! Schiebung! Schiebung! Geld zu-rück! Geld zu-rück! Geld zu-rück!»

Was machen wir, Chef?», fragt der Türsteher.

 

«Meine Damen und Herren.» Oscar Morton beugt sich zum Mikro vor. «Aufgrund» – ein schrilles Pfeifen aus den Boxen verschafft Dean ein paar zusätzliche Sekunden, um die Kabelanschlüsse zu kontrollieren – «unvorhersehbarer Umstände kommen Archie Kinnock’s Blues Cadillac leider nicht wieder auf die Bühne …» Höhnisches Gelächter und Buhrufe aus dem Publikum. «Aber … wir haben stattdessen eine ganz besondere Band für euch …»

Dean testet die Einstellungen von Ratners Verstärker und stimmt dabei den Bass. Jasper sagt: «Wir spielen in A-Dur. Griff, gib uns ein locker-zügiges Tempo, etwa so wie bei den Animals.» Der Schlagzeuger nickt. Dean macht ein «Zu allem bereit»-Gesicht. Levon steht mit verschränkten Armen und zufriedener Miene am Rand. Du wirst auch nicht von einer Meute zugedröhnter Archie-Kinnock-Fans in Stücke gerissen, wenn der Auftritt in die Hose geht, denkt Dean. Jasper sagt zu Oscar Morton: «Wir sind so weit.»

«Wir freuen uns, euch heute Abend exklusiv und zum allerersten Mal … Hier sind für euch …»

Erst jetzt wird Dean bewusst, dass sie keinen Namen haben.

Levons Gesichtsausdruck sagt: Okay, ein Name, denk dir einen Namen aus!

Jasper sieht Dean an und flüstert stumm: Irgend ’ne Idee?

Dean ist im Begriff – ja, was zu rufen? The Pickpockets? The Evicted? The Penniless? The Anythings?

«Hier sind für euch», röhrt Oscar Morton, «The – Way – Out!»

An Tag drei nach dem großen Krach gestand Elf sich ein, dass Bruce diesmal vielleicht nicht zurückkommen würde. Sie war am Boden zerstört. Bruce’ Zahnbürste, jedes Lied über eine Trennung, egal wie schnulzig, ja schon der Anblick seines Vegemite-Glases in der Speisekammer genügte, und sie brach in Tränen aus. Nicht zu wissen, wo er steckte, war unerträglich, doch sie traute sich nicht, ihre Freunde anzurufen und sie zu fragen, ob sie ihn gesehen hatten. Wenn sie Nein sagten, würde sie die Frage erklären müssen. Wenn sie Ja sagten, würde sie sich nur selbst erniedrigen und die anderen durch ihr Drängen, ihr jede schmerzliche Einzelheit zu erzählen, in Verlegenheit bringen.

An Tag vier verließ sie die Wohnung, um die Telefonrechnung zu bezahlen, bevor man ihr den Anschluss sperrte. Unterwegs ging sie auf einen Kaffee ins Etna, wo sie Andy aus dem Les Cousins in die Arme lief. Bevor er sich nach Bruce erkundigen konnte, platzte sie damit heraus, dass er auf Verwandtenbesuch in Nottingham sei. Sie erschrak über ihre Lüge. Erbärmlich, wie schnell sie sich von einer modernen jungen Frau, die sich nicht wie ein Fußabtreter behandeln ließ, in die sitzen gelassene, selbstmitleidige Ex-Freundin verwandelt hatte. «Ex». Sie fühlte sich wie Billie Holiday in «Don’t explain», ohne den tragischen Glamour der Heroinsucht …

All das erklärte nur teilweise, warum Elf den Schlüssel leise wie eine Einbrecherin ins Schloss ihrer Wohnungstür schob. Falls, falls, falls Bruce nach Hause gekommen war, sollte er nicht vor Schreck die Flucht ergreifen. Dumm? Ja. Irrational? Ja. Aber ein gebrochenes Herz ist nun mal weder klug noch vernünftig. Und so betrat Elf an einem Februarnachmittag geräuschlos ihre Wohnung und hoffte, Bruce dort vorzufinden …

 

… und da stand sein Koffer. Darauf seine Jacke, seine Mütze, sein Schal. Elf hörte ihn im Schlafzimmer. Zum ersten Mal seit vier Tagen konnte sie wieder normal atmen. Sie vergrub das Gesicht in seinem Schal und sog die flauschige, feuchte Bruceigkeit ein. Die Twiggy-dürren Fans, die bei den Konzerten von Fletcher & Holloway auftauchten, Bruce anhimmelten und Elf böse Blicke zuwarfen, waren auf dem Holzweg. Elf war nicht Bruce’ Steigbügelhalter. Er liebte sie. Sie rief: «Ich bin zu Hause, Känguru!», und wartete, dass er «Wombat!» rief und herbeigestürzt kam, um sie zu küssen.

Doch als er aus dem Schlafzimmer trat, zeigte sein Gesicht keine Regung. LPs guckten aus seinem Rucksack. «Ich dachte, du unterrichtest heute Vormittag.»

Elf konnte ihm nicht ganz folgen. «In der Klasse kursiert die Grippe … Hallo erst mal.»

«Ich dachte, ich hole meinen restlichen Kram.»

Elf begriff, dass der Koffer neben der Wohnungstür nicht voll mit zurückgebrachten Sachen war, sondern mit Zeug, das Bruce mitnehmen wollte. «Du wolltest mir aus dem Weg gehen.»

«Schien mir das Beste so.»

«Wo wohnst du denn jetzt? Ich hab mir schreckliche Sorgen gemacht!»

«Kennst du nicht.» Sprich: Geht dich nichts an.

«Aha.» Elf konnte sich nicht beherrschen. Wäre die Person ein Mann gewesen, hätte Bruce als Australier einfach «bei einem Kumpel» gesagt. «Also bei einer Frau.»

Bruce seufzte wie ein geduldiger Erwachsener. «Warum bist du so?»

Elf verschränkte die Arme vor der Brust wie eine Frau, die sich schlecht behandelt fühlt. «Warum bin ich wie?»

«Du bist so besitzergreifend. Damit hast du mich vertrieben.»

«Soll heißen: ‹Ich mache, was ich will, und wenn du dich darüber beschwerst, bist du eine hysterische Zicke›?»

Bruce schloss die Augen, als hätte er rasende Kopfschmerzen.

«Wenn du Schluss machen willst, dann sag, es ist aus.»

«Na schön.» Bruce sah sie an. «Es – ist – aus.»

«Was ist mit dem Duo?» Elf bekam kaum Luft. «Toby wird uns demnächst eine LP anbieten.»

«Nein, wird er nicht.» Bruce sagte es laut und überdeutlich, als spräche er mit einer Ausländerin. «Es wird keine LP geben.»

«Du willst keine aufnehmen?» Ihre Stimme war heiser.

«A&B Records haben es sich jetzt doch anders überlegt. ‹Shepherd’s Crook›, ich zitiere wörtlich, ‹hat die Erwartungen nicht erfüllt.› Keine LP. Sie lassen uns fallen. Fletcher and Holloway sind Geschichte.»

Unten auf der Livonia Street knatterte ein Motorrad vorbei. Kurierfahrer und Kleinkriminelle nutzten die Straßen als Abkürzung.

Zwei Stockwerke darüber hätte Elf sich am liebsten übergeben. «Nein.»

«Ruf Toby an, wenn du mir nicht glaubst.»

«Und unsere Auftritte? Andy hat uns am nächsten Sonntag im Cousins den Neun-Uhr-Platz gegeben. Und nächsten Monat ist das Cambridge Festival.»

Bruce zuckte die Achseln und zog einen Flunsch. «Sag ab, spiel ohne mich – mach, was du willst.» Er zog die Jacke an. «Mein Schal.»

Elf gab ihn ihm. «Kann ich dich im Notfall irgendwo –»

Bruce zog die Tür hinter sich zu.

Plötzlich war es still in der Wohnung. Plattenvertrag: futsch. Das Duo: futsch. Bruce: futsch. Elf flüchtete sich ins Bett – ihr Bett, nicht mehr unseres –, rollte sich unter der Decke zusammen wie ein Fötus und weinte sich in der stickigen Geborgenheit die Augen aus. Wieder einmal.

 

An Tag neun prasselt Regen gegen die Fensterscheiben des im Pseudo-Tudorstil erbauten Hauses der Holloways. Der matschige Garten und die Chislehurst Road sind nur verschwommen zu sehen. Lawrence, der Anzug tragende Freund von Elfs älterer Schwester Imogen, benimmt sich sonderbar. «Also, äh …» Er macht Anstalten aufzustehen, setzt sich wieder hin, zögert und beugt sich schließlich vor. «Also, äh …» Er nestelt an seinem Schlips. «Also, äh, ich … ich … ich habe eine Überraschung zu verkünden.» Imogen lächelt ihm aufmunternd zu, als wäre Lawrence ein aufgeregtes Kind in einem Krippenspiel.

Mein Gott, denkt Elf. Sie verloben sich.

Ein kurzer Blick verrät ihr, dass ihre Eltern Bescheid wissen.

«Ich meine, Mr. Holloway wird wohl nicht besonders überrascht sein», sagt Lawrence.

«Ich schätze mal, wir sind ab heute per Du», sagt Elfs Vater. «Stimmt’s?»

«Nun mach dem Jungen doch nicht seinen großen Moment kaputt, Clive», weist seine Frau ihn zurecht.

«Ich mache niemandem etwas kaputt, Miranda.»

«O Gott!» Bea, Elfs jüngere Schwester, spielt die Besorgte. «Lawrence wird ja puterrot.»

Lawrence’ Gesicht nimmt tatsächlich eine beeindruckende Farbe an. «Das ist nichts, ich –»

«Soll ich den Notarzt rufen?» Bea stellt ihr Sektglas ab. «Hast du einen Anfall?»

«Bea», Elfs Mutter setzt ihre strenge Stimme ein, «das reicht.»

«Was ist, wenn er explodiert, Mummy? Natron alleine wird nicht genügen, um die Lawrence-Flecken aus dem Teppich zu entfernen.»

Normalerweise würde Elf darüber lachen, doch seit Bruce weg ist, ist nichts mehr lustig. Elfs Vater übernimmt die Regie. «Sprich weiter, Lawrence, bevor du noch kalte Füße bekommst und aus diesem Irrenhaus türmst.»

«Lawrence bekommt keine kalten Füße», sagt Elfs Mutter bestimmt.

«Äh – hm – ähm – auf gar keinen Fall, Mrs. Holloway.»

«Wenn Daddy jetzt ‹Clive› ist», fragt Bea, «muss Lawrence dann nicht ‹Miranda› zu dir sagen, Mummy? Ich mein ja nur.»

«Bea», stöhnt ihre Mutter, «wenn dir langweilig ist, schwirr ab.»

«Damit ich Lawrence’ geheimnisvolle Neuigkeit verpasse? Schließlich verlobt sich meine Schwester nicht alle Tage.» Bea schlägt sich die Hand vor den Mund. «Huch. Tut mir leid. War das die geheimnisvolle Neuigkeit? Ist nur eine wilde Vermutung.»

Ein Auto auf der Chislehurst Road hat eine Fehlzündung. Lawrence bläst erleichtert die Backen auf. «Ja. Ich habe Immy gebeten, meine Frau zu werden. Und sie hat …»

«‹Von mir aus, wenn du drauf bestehst› gesagt», verkündet Imogen.

«Es könnte für Clive und mich nichts Schöneres geben», sagt ihre Mutter.

«Außer England gewinnt die Ashes.» Elfs Vater zündet seine Pfeife an und zwinkert Lawrence ironisch zu.

«Herzlichen Glückwunsch», sagt Elf. «Euch beiden.»

«Jetzt zeig uns schon den Ring, Schwesterherz», sagt Bea.

Imogen holt ein Kästchen aus der Handtasche. Alle beugen sich vor.

«Donnerwetter», sagt Bea. «Der kommt aber nicht aus dem Kaugummiautomaten.»

«Da hat jemand ein Vermögen hingeblättert», sagt Elfs Vater. «Junge, Junge.»

«Eigentlich, Mr. Hollo – Clive, hat meine Großmutter mir den Ring vermacht, für …», Lawrence sieht zu, wie Imogen ihn aufsteckt, «… meine Verlobte.»

«Ist das nicht rührend?», sagt Elfs Mutter. «Clive?»

«Ja, Liebling.» Elfs Vater wirft Lawrence einen schelmischen Blick zu. «Zwei Zauberwörter, die du ab jetzt oft sagen wirst.»

Mum und Dad sind ein eingespieltes Gespann, denkt Elf, so wie Bruce und ich es gewesen sind. Trauer um «Bruce und Elf» drückt gegen ihren Brustkorb. Das tut weh.

«So», sagt Elfs Mutter. «Dann wollen wir mal auf das glückliche Paar anstoßen.»

Alle erheben die Gläser und rufen im Chor: «Auf das glückliche Paar!»

«Willkommen bei den Holloways», sagt Bea mit Grabesstimme. «Du gehörst jetzt zur Familie … ‹Lawrence Holloway›.»

«Danke, Bea, aber» – Lawrence sieht seine Schwägerin in spe nachsichtig an – «ganz so läuft das nicht.»

«Das haben die letzten beiden auch gesagt», sagt Bea. «Die liegen jetzt unter der Terrasse. Sie wird jedes Jahr um einen Meter breiter und Elfs Mordballade ‹The Lovers of Imogen Holloway› um eine Strophe länger. Komischer Zufall.»

Sogar ihre Mutter muss darüber lächeln, aber Elf bringt es einfach nicht über sich, mit einzustimmen. «Komm, wir decken den Tisch.»

Bea betrachtet ihre heute ungewöhnlich in sich gekehrte Schwester. «O-kay.»

 

Elf hat eine Solo-EP, Oak, Ash and Thorn, aufgenommen und mit Bruce eine Duo-EP, Shepherd’s Crook. Ihr Lied «Any Way the Wind Blows» wurde von der amerikanischen Folksängerin Wanda Virtue gecovert, auf einer LP veröffentlicht, die sich über eine Million Mal verkauft hat, und war als Single ein Top-Twenty-Hit. Von den Tantiemen hat Elf sich eine Wohnung in Soho gekauft, eine Geldanlage, gegen die nicht einmal ihr Vater etwas einzuwenden wusste. Elf kann vor dreihundert Fremden neunzig Minuten lang ihre Folksongs spielen. Sie wird mit betrunkenen Zwischenrufern fertig. Sie darf wählen, Auto fahren, trinken, rauchen, Sex haben und hat all das schon getan. Doch wenn sie bei ihren Eltern am Esstisch sitzt und auf Onkel Dereks Aquarell der HMS Trafalgar schaut, das sie sich früher als magisches Bild à la Die Reise auf der Morgenröte vorgestellt hat, oder auf die vierundzwanzigbändige Schmuckausgabe der Encyclopedia Britannica auf der Anrichte, fällt alles Erwachsene von ihr ab, und der picklige, launenhafte, unsichere Teenager kommt wieder zum Vorschein. «Das ist genug Braten für mich, Dad.»

«Das sind nur zwei Scheiben. Du löst dich noch in Luft auf.»

«Du siehst wirklich blass aus, Schätzchen», bemerkt Elfs Mutter. «Hoffentlich hat Bruce dich nicht mit seiner rätselhaften … Krankheit angesteckt.»

Elf strickt weiter an ihrer Lüge. «Stimmbandentzündung, sagt der Arzt.»

«Wie schade, dass er Immys und Lawrence’ große Neuigkeiten verpasst hat.» Da hat Elf so ihre Zweifel. Sie vermutet, dass ihre Mutter heimlich Protokoll über sämtliche Vergehen führt, die Bruce sich ihrer Meinung nach zuschulden kommen lässt. Dazu gehören: mit Elf in Sünde leben, Elfs Illusionen nähren, dass Musik machen ein Beruf ist, als Mann lange Haare haben und Australier sein. Sie wird sich über unsere Trennung mehr freuen als über Immys und Lawrence’ Verlobung.

Draußen stampft der Regen die Krokusse zu seidigem Mus.

«Elf?» Imogen und alle anderen sehen sie an.