Charlie und die Hexe - Max Graf - E-Book

Charlie und die Hexe E-Book

Max Graf

1,0

Beschreibung

Mit Charlie ist alles in Ordnung, redet sich ihre Mutter immer wieder ein. Trotz aller alarmierenden Symptome. Erst ein nicht vorgesehener Arztbesuch konfrontiert sie mit der nieder-schmetternden Diagnose. Doch ist diese nur Teil einer unaussprechlichen Wahrheit … Ein Krimi, der betroffen macht. Und die Geschichte einer Mutter, die um das Leben und die Seele ihrer Tochter kämpft. Und dies über zwei Kontinente und zwei Kulturen, das pragmatische Europa und das mystische Afrika, hinweg.

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www.luxkrimi.lu

Krimis aus Luxemburg

Kriminalromane des Autors:

Moselland

Der Dritte Bruder

Charlie und die Hexe

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

TEIL 1

BRÜSSEL 1996

BENNY

MEIN KRÜMELCHEN

BRÜSSEL 1997

MAGDA

BRÜSSEL 1997

MEINE MUTTER

BRÜSSEL 1997

MAMA

KARL UND FRANZ

BRÜSSEL 2002

DER ARZT

PJOTR

DAS KRANKENHAUS, TEIL 1

RONALD

DAS KRANKENHAUS, TEIL 2

RUSSLAND, JANUAR 1943

OBANA

RUSSLAND, OSTERN 1984.

DAS DING

DER FRIEDHOF

LIMPOPO, UM 1800

DIE ERSTE REISE

DIE BEGEGNUNG

LIMPOPO, UM 1800

DER HEILIGE WALD

LIMPOPO, UM 1800

DER FOTOGRAF

LONE RIVER LODGE, VOS TREKKER

DIE FOTOS

LONE RIVER LODGE, 1985

DER PAKT

LIMPOPO, UM 1800

DAS LETZTE DINNER

DIE TRÄUME

DER ABSCHIED

DAS WUNDER

DIE FASSADE

ENTRACTE

TEIL ZWEI

DER NOTAR

MEIN VATER

DER BULLE

DAS GESCHWÜR

DAS MÄDCHEN

DIE DÄMONEN

DER PLAN. LUXEMBURG, 1990

DIE ZWEITE REISE

JOHANNESBURG

DIE FOTOS, NACHTRAG

MISTER WILCOX

DIE GEISTER

DAS DORF

LIMPOPO, 1919

DIE HÖLLE

LONE RIVER LODGE, 1999

DAS FEGEFEUER

LONE RIVER LODGE, 2000

RIP

DER PLAN. AM HOF DER BALOBEDU, 2010

DAS GERICHT

LIMPOPO, JUNI 2001

DAS GEFÄNGNIS

LIMPOPO, 2005

DIE ENTHÜLLUNG

DER VATER

DIE HOFFNUNG

N’GONA

INTERLUDIUM

DAS REVISIONSVERFAHREN

DER ANWALT

DAS REVISIONSVERFAHREN, FORTSETZUNG

AM HOF DER BALOBEDU, 2010: DER NEUE PLAN.

AM HOF DER BALOBEDU, 2010: DIE TAT

DIE HEILIGE SCHLANGE

EPILOG

Danksagung

Moselland

Der Dritte Bruder

PROLOG

Hallo, mein Name ist Marie. Heute kann ich endlich wieder lachen und fröhlich sein.

Nach all dem Kummer. Nach all den Schicksalsschlägen.

Und ich verspüre nun den unbändigen Drang, Ihnen meine Erlebnisse mitzuteilen.

Nun gut, ich möchte ehrlich mit Ihnen sein - mein Therapeut hat mir dazu geraten.

Aber womit soll ich nur anfangen?

Das Folgerichtigste wäre mit dem Tag, an dem das Unheil begonnen hat sich abzuzeichnen.

TEIL 1

CHARLIE

Charlie ist der Name meiner Tochter. Zur Zeit der Ereignisse war sie sieben Jahre alt. Damals hab ich sie immer nur Krümelchen genannt, da sie anfangs nur sehr langsam an Gewicht zugenommen hat. Wobei sie auch heute nicht mehr als ein Krümel ist.

„Mama, Mama“, schrie Krümelchen, als sie wie immer vom Schulbus nach Hause gehetzt kam. So konnte sie sich dem Zusammensein mit den anderen Kindern entziehen. Soziale Kontakte zu knüpfen war nie ihre Stärke.

Nun stand dieses bleiche Ding – ihre Großmutter hatte sie einmal Die mit der durchsichtigen Haut genannt – vor ihrer Mutter und rang nach Atem.

„Kuck mal, Mama“, keuchte sie und krempelte ihr linkes Hosenbein hoch. Ihr Hund Benny sprang dabei zum Zeichen seiner Freude immer wieder an ihr hoch.

Ein Handteller großer blauer Fleck schmückte ihr zierliches Schienbein.

„Was hast du denn da wieder angestellt?“, rügte Marie sie. Dann fiel ihr ein, dass sich diese Hämatome in letzter Zeit häuften. Sämtliche Alarmglocken hätten laut schrillen müssen. Doch sie blieben stumm. Vielleicht auch, weil sie sich keine weiteren Sorgen aufhalsen wollte. Denn ihre Ehe durchlebte damals ziemlich stürmische Zeiten. Zudem brachte Krümelchen achtbare Schulnoten mit nach Hause, sodass Marie alle düsteren Gedanken guten Gewissens weit von sich schieben konnte.

Aber dennoch blieben Zweifel. Unbequeme Fragen, die an diesem ruhigen Gewissen nagten. Hatte Charlies Lehrer sich nicht dahingehend geäußert, dass sie immer auffällig müde wäre?

Ach was. Kinder durchleben doch immer wieder solche Phasen. Wachstumsschübe oder so nennt man das. Oder?

Sie durchforstete das Internet nach einer Bestätigung. Und wurde auch rasch fündig, was das Wachstum im Zusammenhang mit Müdigkeit betraf.

Allerdings ließ sie dabei außer Acht, dass Charlie in den letzten Monaten keinen Millimeter in die Höhe geschossen war. Während andere Kinder stets in zu kurzen Hosen herumliefen, saßen Charlies Kleider, die immerhin schon ein Jahr alt waren, noch immer wie angegossen. Oder wollte sie es nicht sehen?

Denn da wäre noch Zeit gewesen.

„Komm, ich tue dir etwas von der Salbe drauf.“ Marie hatte einen Kompromiss gefunden, der ihr das Gefühl gab, ihrer Rolle als fürsorglicher Mutter gerecht zu werden.

„Und nun wollen wir essen“, sagte sie, nachdem das Bein versorgt war. „Dein Lieblingsgericht. Spaghetti mit Tomatensoße.“

„Ach, Mama, ich möchte mich noch ein bisschen aufs Sofa legen. Bitte“, bettelte Charlie. Dabei sah sie ihre Mutter mit ihren großen braunen Augen an. Denn sie wusste ganz genau, dass ihre Mutter ihr so nie etwas abschlagen konnte. „Bitte.“

„Na gut. Aber nicht länger als eine Viertelstunde. Da, schau auf die Uhr. Wenn der große Zeiger auf der Zwanzig steht, dann kommst du.“

Nachdenklich setzte sich Marie an den alten Küchentisch. Ihre Gedanken kreisten unweigerlich um Ronald, ihren Mann. Mal wieder hatte er sich kurzfristig zum Mittagessen abgemeldet. Wegen angeblicher Kundengespräche.

Mit ihrer Gabel stocherte sie lustlos in den Nudeln herum und erinnerte sich an vergangene glückliche Tage, als ein beißender Geruch ihren Tagtraum plötzlich platzen ließ. „Verdammt, die Soße!“ Sie sprang auf und riss den Topf von der Platte. Doch zu spät. Die Tomatensoße war verbrannt.

Und der große Zeiger stand mittlerweile auf der Vierzig.

„Mist“, fluchte sie. Wütend schmiss sie den Löffel in den Topf. Soße spritzte auf die weißen Kacheln hinter dem Herd.

„Nicht auch das noch ... Verdammt, Charlie, wieso hast du dich auch hinlegen müssen.“ Schnell hatte sie einen Sündenbock ausgemacht. Aufgebracht stapfte sie zum Sofa. Und fand ihre Tochter fest schlafend vor.

So zierlich. So zerbrechlich. Mit ihrem bleichen Gesicht, kontrastvoll umrahmt von ihren braunen Haaren. Und Benny zu ihren Füßen. Maries Ärger war schlagartig verflogen.

„Hallo, aufwachen.“ Sie rüttelte Charlie ganz behutsam an der Schulter.

„Hm, was ist?“, nuschelte das Mädchen, ohne dabei die Augen zu öffnen.

„Das Essen. Verbrannt.“ Ihre Mutter sprach zu ihr wie zu einer Schwachsinnigen. „Ich schlage vor, dass wir uns ein Sandwich besorgen. Das können wir dann während der Fahrt zur Schule verzehren. Dann brauchst du auch nicht den Bus zu nehmen.“

„Nein. Keinen Hunger. Lieber noch ein bisschen liegen bleiben“, erwiderte Charlie und schlief auch prompt wieder ein.

Ihre Mutter blieb ratlos neben ihr sitzen. Sie streichelte die Stirn ihrer Tochter.

Und dachte dabei erneut an ihren Mann. Und wie alles begonnen hatte.

BRÜSSEL 1996

Ein kühler Herbsttag. Marie hatte, nach unendlich langen Sommerferien, ihre Studien an der Hochschule in Brüssel wieder aufgenommen.

An dem Abend fand sie sich mit ihrer damals besten Freundin Magda auf einer Studentenfete ein. Spaß hatten ihr diese rauchgeschwängerten, improvisierten Discos mit all den Angeheiterten nie gemacht. Doch sie hatte ihrer Freundin den Wunsch, sie dorthin zu begleiten, nicht abschlagen können.

„Hey, darf ich dich auf einen Drink einladen?“ Ein unbekannter, aber offensichtlich nüchterner, junger Mann sprach sie an.

Schwarze, gegellte Haare, eine hübsche Nase, unwiderstehliche braune Augen mit perfekt dazu abgestimmten Augenbrauen. Binnen weniger Momente hatte sie ihn gemustert und als nett eingestuft. Ja, sie fand ihn sogar gut aussehend. Was umso erstaunlicher war, da sie sich bis zu dem Zeitpunkt nicht allzu viel mit dem anderen Geschlecht abgegeben hatte. Ein Umstand, der ihre Kommilitoninnen des Öfteren zum Tuscheln veranlasst hatte.

„Äh …“

„Ein Äh. Mit oder ohne Eis?“ Der Adonis wollte witzig erscheinen.

Doch bei Marie zog die Masche nicht. „Was?“

„Ein ... vergiss es. Ob du etwas trinken möchtest?“

Verunsichert sah sie ihn an. Verwirrt, weil ihr in solchen Situationen jegliche Erfahrung fehlte. Aber auch, weil ihr tausend Gedanken durch den Kopf schossen, unbekannte Gefühle sie durcheinanderbrachten.

„Nein, danke.“ Sie starrte ihn an, obwohl sie bemüht war den Blick zu senken. Die Sache mit der Unerfahrenheit. Und ihrer angeborenen Naivität.

Und diese Umstände zwangen wiederum den jungen Mann in die Defensive. Er war sich nicht über ihre Absichten im Klaren. Wollte sie ihn einfach nur an der Nase herumführen? Denn so arglos konnte doch kein Mensch sein. Oder? Er wagte einen weiteren Versuch. Denn er war es nicht gewohnt, dass ein Mädchen ihm widerstand.

„Mein Name ist Ronald ... Ich studiere Maschinenbau im vierten Semester. Und ich gehe gerne aus. Ins Kino, Essen und so fort“, erzählte er und kämmte mit einer Hand einige widerspenstige Haare zurück.

Auf eine Antwort wartete er jedoch vergeblich. Da er aber mittlerweile Gefallen an der Situation gefunden hatte, oder war es nur die Neugierde, wie diese Geschichte sich weiterentwickeln würde, gab er weitere Einzelheiten von sich preis. Von seinen Freunden. Von seinen Erlebnissen an der Schule. Dabei nahm er sie genauer unter die Lupe. Ihr rot schimmerndes Haar, ihre geschwungene Stirn, ihre ausgeprägten Wangenknochen und ihre vollen Lippen verliehen ihr eine natürliche Erotik.

Ein hübsches Mädchen. Wenn nur ihr Unbeholfensein und ihre angeborene Scheu ihr nicht immer wieder im Wege gestanden hätten.

Und dies schien auch ihre Freundin erkannt zu haben, denn nach einer Weile schloss sich Magda den beiden an. „So trocken?“

Marie schenkte ihrer Freundin ein dankbares Lächeln für deren Erscheinen.

„Nun ja.“ Ronald war bemüht, diese neue Situation unter Kontrolle zu bringen. „Wer möchte nun was trinken? Ich bin am Verdursten.“

„Eine Cola.“ Magda meldete sich kichernd zu Wort. Und nach einem Blick auf Marie fügte sie hinzu: „Zwei Cola, bitte.“

Zufrieden nahm er die lang ersehnte Bestellung entgegen. Aber auch erfreut, weil Magda eines jener Mädchen war, das über seine Witze lachen konnte.

Auch sie unterzog er, nachdem er mit den Erfrischungsgetränken zurück war, einer genauen Überprüfung. Auf keinen Fall hatte sie die sexy Ausstrahlung ihrer Freundin. Mit ihrem biederen Haarschnitt und ihrem spitznasigen Gesicht entsprach sie eher dem Klischee der grauen Maus, doch hatte sie Marie gegenüber den Vorteil, dass sie aufgeschlossener war. Und eindeutig die größeren Brüste. Ein für Ronald gewichtiges Argument.

„Maschinenbau. Soso. Ich, das heißt wir, Marie und ich, studieren Pädagogik. An der Hochschule. Im zweiten Jahr.“ So erfuhr er dank Magdas Plappermäulchen doch noch Maries Namen. Und noch viele andere Details dazu.

„Musstest du ihm so viel von mir erzählen?“, beschwerte sich Marie auf dem Nachhauseweg. Zu jener Zeit konnten sich zwei junge Frauen nachts noch alleine durch die Großstadt wagen.

„Was denn?“ Magda widersprach ihr aufs Heftigste. „Du musst doch zugeben, dass er ganz in Ordnung ist. Also ich könnte mir ...“

„Danke, ich habe kein Interesse an deinen Fantasien. Außerdem ist er ein arroganter Arsch“, unterbrach Marie ihre Freundin ungewohnt schroff. An dem Abend war alles gesagt.

Schweigend erreichten sie nach einer Viertelstunde ihr Studentenheim. Still und leise verschwanden beide auf ihre Zimmer.

Da Marie sich fortan, ob ihres in ihren Augen beschämenden Auftritts, nicht mehr auf die auch nur harmloseste Studentenmanifestation traute, war diese Geschichte für sie abgeschlossen. Aber dann lief er ihr eines Tages, in einem Einkaufszentrum nahe der Gare du Midi, über den Weg.

„Hallo, Marie“, begrüßte er sie erstaunlich ernst. Weil er wusste, dass seine faden Witze bei ihr keinen Eindruck schindeten.

Artig, weil gut erzogen, erwiderte sie seinen Gruß. Und starrte ihn wieder unverhohlen an.

„Ja, gut, tja“, stotterte er und wünschte sich Magda herbei. Herbei gesehnt hatte er sie sich schon öfters, vor allem nachts. Aber da eher wegen ihrer großen ... doch in diesem Moment, da diese als Einzige Einblicke in Maries Seelenleben zu haben schien. Da er sich allein der Situation nicht gewachsen fühlte, wollte er sich schon verabschieden, als Marie überraschenderweise doch noch auf ihn einging.

„Bezaubernde Stadt“, meinte sie.

„Wie bitte?“

„Nun, die Stadt hier. Eine charmante, alte Stadt. Vor allem die Altstadt rund um die Grand‘ Place strahlt viel Gemütlichkeit aus. Oder bist du hier geboren und hast keinen Blick mehr für deren Schönheiten?“

„Nein. Nein, ich wohne nicht hier ... doch, schon. In einer Studentenwohnung. Mit einigen Freunden zusammen.“ Mit nur wenigen Worten hatte sie es fertig gebracht, ihn aus dem Takt zu bringen.

Und vielleicht war es genau dieser Anflug von Unsicherheit, dieser Einblick hinter seine überhebliche Fassade, die ihr Herz plötzlich ins Stolpern gebracht hatte. Schmetterlinge im Bauch. „Ich wohne in einem großen Heim. Ein Ordenshaus. Nur Mädchen.“

„Ein Traum. Sozusagen.“ Er hatte sein wahres Ich nicht lange verbergen können.

Doch Marie verzieh ihm dies. Und überhaupt sollte sie in den nächsten Tagen und Wochen immer öfters über seine offensichtlichen Charakterschwächen hinwegsehen.

Denn die Liebe macht bekanntlich blind.

Seither waren beide ein Paar. Die Schöne und das Biest.

Und die Tratschereien hinter ihrem Rücken loderten wieder auf.

BENNY

Benny ist unser Familienhund.

Es war ein Spätsommer vor acht, neun Jahren, als ich ihn mit einer gebrochenen Pfote im Straßengraben gefunden habe.

Der Herbst nahte. Die Blätter begannen sich zu verfärben. Marie war mit ihrem dunkelblauen Fahrrad auf dem Weg zu ihrer Mutter.

Plötzlich vernahm sie ein Winseln. Sie blieb stehen und horchte. Von wo mochte dieser Jammerlaut hergekommen sein? Üppige Büsche vereinfachten die Suche nicht. Doch da, unter der Hecke, die sich fast bis zum Straßenrand neigte, glaubte sie, eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Sie stellte ihr Fahrrad ab und bewegte sich vorsichtigen Schrittes zum Wegesrand. Sie lugte in den Straßengraben. Was sie sah, ließ ihren Magen verkrampfen. Ein kleiner Hund, ein Welpe noch, das weiße Fell blutverschmiert, lag dort und blickte Marie aus seinen traurigen Augen an.

Sie sprang zu ihm hinunter. Allerdings wusste sie nicht, wo und wie sie ihn anfassen sollte und begnügte sich erstmal damit, seinen Kopf zu tätscheln.

„Verdammt, was soll ich nur machen? ... Und du willst Kinder in die Welt setzen und traust dich nicht einmal, einem kleinen Hund zu Hilfe zu eilen.“ Auf ihre Weise sprach sie sich Mut zu. Dann griff sie mit einer Hand unter den Bauch des Tieres, was wiederum ein fürchterliches Gejaule zur Folge hatte.

Mit einem Satz war sie aus dem Graben gesprungen und schwang sich auf ihr Fahrrad.

„Ich komme wieder, halte durch, ich bin bald wieder bei dir.“ Eiligst und unter Tränen fuhr sie Richtung Elternhaus.

In ihrem Kopf das Heulen des kleinen Hundes.

Mit dem Auto fuhren Marie und ihre Mutter zurück zu der Stelle, wo das kleine Wollknäuel lag.

„Das ist wirklich noch ein Welpe“, stellte die Mutter fest.

„Ach nein.“

„Eine Art Terrier. Die Frau aus dem Haus bei der Kirche hatte mal so ...“

„Ja, Mama, das interessiert nun keinen“, sagte Marie aufgeregt. „Sag mir lieber, was wir nun tun sollen.“

„Wir müssen versuchen, ihn vorsichtig da herauszuholen. Komm, hilf mir mal.“ Doch dasselbe herzzerreißende Jaulen wie vorhin quittierte diese Aktion. Beide Frauen, Mutter und Tochter, standen nun hilflos am Straßenrand.

„Gibt es eigentlich so etwas wie einen Krankenwagen für Tiere“, wollte die Mutter wissen. So hatte sie wenigstens einen Vorschlag gemacht. Wenn auch einen unsinnigen, der sogleich mit einem energischen Kopfschütteln vonseiten der Tochter quittiert wurde.

„Dann schlag du doch etwas vor, Kind. Du hast doch im Rahmen deiner Ausbildung einen Kurs in Erster Hilfe absolviert. Was würdest du denn tun, wenn ein verletzter Mensch dort liegen würde?“

„Einen Krankenwagen verständigen, Mama.“

„Aha.“

Beide standen noch immer ratlos herum, als plötzlich ein Autofahrer anhielt, um sich nach dem Problem zu erkundigen.

„Verstehe“, meinte er kurz und bündig, nachdem die zwei Frauen ihm die Lage in mehr oder weniger dramatischen Worten geschildert hatten.

Dann ging der Mann zurück zu seinem Wagen, entnahm dem Kofferraum eine Decke und stieg zum Hund hinunter. Ohne Zweifel ein Fox Terrier, wie er nebenbei feststellte und sich so zugleich als großer Hundekenner outete. Dann wickelte er das Fellbündel in die Decke ein. Das gelegentliche Aufheulen des Welpen ignorierte der Mann dabei stoisch. Mit Maries Hilfe hievte er das Paket aus dem Graben und auf die Rückbank des Autos ihrer Mutter.

Ohne größere Diskussionen bewegte sich der ganze Konvoi zur nächstgelegenen Tierarztpraxis nach Bereldingen. Zu dem alten Johannes mit seiner Stirnglatze und seiner zierlichen Nickelbrille, die in Kontrast zu seinem grobschlächtigen Äußeren stand.

„Ein schöner Bruch. So wie er sein sollte“, meinte dieser mit unbewegter Miene. „Ich meine damit, dass es eine glatte Fraktur ist. Einfach zu behandeln. Ohne, dass Komplikationen zu erwarten wären“, fügte er auf die erstaunten und erbosten Blicke der beiden Frauen hinzu. „Ein sauberer Gipsverband und in sechs Wochen redet niemand mehr davon. Ist noch ein Welpe, da heilt das gut und schnell. Ein Jack Russel. Ein Rüde. Ein schöner Hund. Den hier hab ich aber noch nie gesehen. Ich wüsste auch nicht, wem der gehören könnte. Bis sich ein etwaiger Besitzer meldet, müssten sie ihn also in ihre Obhut nehmen“, teilte er Mutter und Tochter unverblümt mit.

Der selbst ernannte Hunderassenexperte hatte sich mittlerweile unauffällig entfernt.

„Ein Jack Russel also“, flüsterte die Mutter ihrer Tochter zu. „Dann wollen wir ihn doch einfach Jacky nennen.“

„Ach, Mama“, seufzte Marie und schüttelte den Kopf. „Fantasieloser geht’s wohl nicht ... Benny. Was hältst du von Benny?“

„Benny? Da war doch was.“

„Meine Kindergartenliebelei. Der kleine Benny von nebenan. Der mit den Sommersprossen und der Stoppelfrisur. Was macht der eigentlich heute?“

„Benny ... Der sitzt im Knast. Fünf Jahre wegen Körperverletzung.“

„Aha. Egal.“

MEIN KRÜMELCHEN

So also sind wir auf den Hund gekommen. Zudem hat ein dorfbekannter Knacki Namenspate gestanden. Aber das muss keiner wissen. Und der schon gar nicht.

„Mama.“ Verschlafen protestierte Charlie, als ihre Mutter den Kopf ihrer Tochter losließ. Augenblicklich legte sie ihre Hand wieder auf deren Stirn. So wundervoll geschwungen wie das Werk eines Bildhauers. Aus Marmor. Und ebenso weiß.

Benny hob den Kopf und schielte vorwurfsvoll in die Runde. Als er festgestellt hatte, dass Charlie noch immer schlief, senkte er sein Haupt wieder.

Währenddessen tätschelte Marie mit der anderen Hand die Flanke des Hundes. „Hey, Alter. Du magst sie. Nicht wahr? Sie dich auch. Ich hoffe, dass du ihr noch lange erhalten bleibst.“ Dabei lief eine Träne über ihre Wange und fiel auf Charlies Bluse, auf der sie einen kleinen Flecken bildete.

Wieso muss es immer sie treffen? Wieso? Sie hat doch niemandem etwas angetan. Wieso ist sie zu dem geworden, was sie heute ist? Ein unsicheres, scheues Kind. Mit fast schon autistischen Zügen. Kind? War sie jemals Kind?

Verzweifelt kramte Marie in ihren Erinnerungen. Doch ein spielendes, lärmendes Mädchen kam darin nicht vor.

Eigentlich lebte sie immer nur im Beisein von Tieren auf ... Vor allem, wenn sie mit Benny, ihrem Benny, allein sein konnte.

In ihrer Welt. In ihrer und Bennys Welt.

„Ach, wenn ich doch auch mal Zutritt zu diesem Universum erhalten könnte“, seufzte Marie, als sie Charlies Stimmchen vernahm.

„Mama, Mama, mir ist so kalt“, flüsterte diese im Schlaf. „Mama, wer sind die? Mama, wer ist da? Geh weg, geh weg.“

Sie schlug um sich. Dann wurde sie wach und sah erst ihre Mutter und dann ihren Hund ganz aufgelöst an.

„Hey, ist okay, du hast nur schlecht geträumt.“ Verzweifelt versuchte Marie ihre Tochter zu beruhigen.

„Nein, nein, diese Dämonen kehren immer wieder ... Ihre widerlichen Fratzen“, wimmerte sie und suchte zum Leidwesen ihrer Mutter Trost bei ihrem Hund. Sie hatte ihn, ganz zu seinem Gefallen, fest an sich gedrückt. „Oh, Benny, wieso kannst du nicht bei mir sein? In meinem Kopf. Du würdest die verscheuchen.“

„Willst du vielleicht etwas trinken?“ Marie wollte noch nicht klein beigeben. „Oder hast du nun Hunger?“

Doch Charlie verneinte kopfschüttelnd.

„Gut. Ich habe noch in der Küche zu tun. Benny kann bei dir bleiben.“ Doch wie so oft wartete sie vergebens auf eine Antwort.

Charlie und Benny waren wieder in ihrer Welt angelangt.

Zutritt für Erwachsene verboten.

In der Küche wurde Marie von ihrer eigenen Realität eingeholt. Ein Kochtopf mit verkohltem Inhalt und eine mit Tomatenflecken verzierte Wand erwarteten sie.

Doch dies war das geringere Übel gegenüber der Schwermut, die nun wie ein Damoklesschwert über ihr hing, und die sie zu erschlagen drohte. Denn auch beim Saubermachen konnte sie sich ihren düsteren Gedanken nicht entziehen.

Unerträgliche Bilder quälten sie auch dort. Und immer wieder dieselbe Frage. Was hab ich falsch gemacht?

Ihr Mann hatte ihr in der jüngeren Vergangenheit des Öfteren zu verstehen gegeben, dass er die Schuld für Charlies Unzugänglichkeit vor allem bei ihr, seiner Ehefrau, ausmachte. Vor allem wenn sie sich gestritten hatten, und das kam in letzter Zeit immer häufiger vor.

Und er hatte hinzugefügt, dass ihm unter den Umständen schon lange die Lust auf weitere Kinder vergangen wäre.

Eine Charlie reicht mir, hatte er einmal im Beisein des Kindes geschrien. Wobei seine Tochter einfach nur geistesabwesend vor sich hingestarrt hatte.

Dass sie später im Bett geweint hatte, war keinem aufgefallen. Denn nur wenn sie alleine war, konnte sie Gefühle zeigen. Manchmal sogar lächeln. Aber dann durfte kein anderer Mensch dabei sein. Mit Ausnahme von Benny. Doch das war ein Hund, kein Mensch. Oder?

Als sie dann zwei, drei Jahre alt war, hatte sie begonnen, sich zu verschließen.

Wieso, wieso, wieso? Gedankenverloren starrte Marie auf ihren Putzlappen. Am liebsten hätte sie ihren Frust laut hinausgeschrien. Doch sie wollte nicht das Risiko eingehen, Krümelchen zu wecken.

Krümelchen. Allein schon dieser Name. So zerbrechlich. So verletzlich. So zart, so sensibel … so schutzbedürftig.

Bin ich gut zu ihr? Bin ich ihr eine gute Mutter? Bin nicht ich es, die sie zu dem gemacht hat? Mit Tränen in den Augen setzte sie sich hin. Ihr chronisch schlechtes Gewissen hatte sie mal wieder voll im Griff.

Am anderen Morgen, Ronald war bereits ohne große Worte zur Arbeit gegangen, begab sich Marie ins Zimmer ihrer Tochter. „Hallo. Zeit für die Schule.“

Doch als sie die Lampe anknipste, erschrak sie. Charlie lag schweißgebadet in ihren Laken.

Sie fieberte stark. Zudem fantasierte sie: „Nein, nicht schon wieder, lasst mich.“

Marie informierte erst ihren Mann, der das Ganze kommentarlos zur Kenntnis nahm, und rief dann den Hausarzt an, der gleich um die Ecke wohnte.

Dieser versprach auf der Stelle vorbeizuschauen.

Dann kehrte Marie zu ihrer Tochter zurück. Sie dämmte das Licht und hockte sich auf den Boden neben das Bett. Dort wollte sie den Besuch des Arztes abwarten.

Nach zwei Stunden wurde sie wach. Und da das sofortige Erscheinen des Doktors der Medizin noch immer auf sich warten ließ, blickte sie sich in Charlies Zimmer um.

Auf dem kleinen Schreibtisch stapelten sich diverse Bücher für das erste Lesealter und verschiedene Gegenstände, die Charlie gesammelt hatte. Etliche mehr oder weniger kurios geformte Steine, Zweige, Tannenzapfen. Aber auch einige Püppchen, Farbstifte und andere undefinierbare Kuriositäten waren darunter.

Lächelnd betrachtete Marie das Poster mit den verschiedenen Hundewelpen. Charlie hatte es sich gewünscht. Es hing an der Wand neben dem Kleiderschrank, den sie mit einem Stuhl verbarrikadiert hatte. Charlie hatte Angst, dass dort nachts Monster herauskriechen könnten. Eine Pforte zur Anderswelt.

Sieht aber auch ein wenig unheimlich aus, müsste ich mal umstellen. Vielleicht so, dass sie aus ihrem Bett nicht drauf schauen kann. Vielleicht da hinten in die Ecke ... Was ist denn das?

Ihr Blick blieb an der Mauer haften. Unheimliche Fratzen starrten sie von einigen Zeichnungen an.

Schwerfällig erhob sie sich. Sie wollte sich das genauer anschauen.

Die erste stellte ein Zottelwesen, eine Art Menschenaffen, dar. Aber doch anders. Lange schwarze Haare am ganzen Körper, dunkle Augen und ein mit spitzen Zähnen bewaffneter Mund. Aber mit einem traurigen Blick ausgestattet. „Puh, dem möchte ich nicht begegnen. Aber was ist das?“

Leere Augenhöhlen blickten sie aus einem maskenähnlichen Kopf an. So realistisch, dass sie gleichwohl fasziniert wie auch erschrocken über die Zeichenkünste ihrer Tochter war.

Aber vielleicht hat ein anderer das gemalt. Oder sie hat die Zeichnungen irgendwo gefunden.

Dass dies Charlies Albträume waren, kam ihr dabei nicht in den Sinn.

Marie hatte sich gerade die letzte Skizze, eine Art Assel im unnatürlich zusammengekauerten Zustand, angeschaut, als es klingelte. Kopfschüttelnd verließ sie dieses Horrorkabinett.

„Kommen Sie, Herr Doktor. Sie liegt in ihrem Bett.“

Nachdem der alte Herr, die jüngeren Kollegen waren sich für solch zeitraubenden Firlefanz wie Hausbesuche zu schade, seinen Mantel und seinen Hut abgelegt hatte, untersuchte er seine Patientin akribisch.

Soweit dies in drei Minuten möglich war. Denn nach genau dieser Zeit wandte er sich an Marie. „Erkältung. Beginnende Bronchitis. Ich werde ein Rezept ausstellen. Und Sie behalten die Kleine bitte einige Tage im Bett. Meine Verehrung, gnädige Frau.“

Dann nahm er seinen Hut, seinen Mantel und sein Honorar und verabschiedete sich. Wie immer etwas zu hastig für Maries Geschmack. Und dabei hörte sie anderswo ständig das Gegenteil. Dass er sich auffallend viel Zeit nehmen würde. Hauptsächlich für einen Plausch bei einer Tasse Tee.

Mittags blieb die Küche, da Marie in die Apotheke fahren musste, mal wieder kalt. Zudem hatte Krümelchen ohnehin keinen Appetit. Und so kam es zwangsläufig, da zur Abwechslung Ronald nach Hause gekommen war, zu einer Auseinandersetzung.

Er warf ihr vor, sich nicht um ihr Kind zu kümmern, es ohne Mütze zur Schule gehen zu lassen und so weiter. Doch seine Wut galt eigentlich dem leeren Mittagstisch. Denn es hätte ihm Mühe bereitet, sich zu erinnern, wann er sich das letzte Mal selbst um seine Tochter gekümmert hatte.

BRÜSSEL 1997

„Hey, Marie, schau dir das an. Da würde ich gerne hinfliegen. Das würde ich gerne mal erleben.“ Euphorisch wie ein kleines Kind zeigte Ronald auf ein Werbeplakat im Schaufenster eines Reiseveranstalters auf der Toison d’Or in Ixelles. Afrika pur: der unerlässliche Sonnenuntergang, vor dem sich tausende von Wildtieren in Pose geworfen hatten. Klassischer Kitsch.

„Ach, Ronald.“ Marie war mal wieder bemüht, ihm eines seiner zahlreichen Hirngespinste aus dem Kopf zu treiben. „Wie wollen wir denn so etwas bezahlen? Ich wäre schon froh, einige Tage an die Nordsee fahren zu können.“

„Aber später doch, Mäuschen. Wenn wir richtig Geld verdienen. Dann werde ich dir die Welt zu Füßen legen.“ Dabei nahm er ihre beiden Hände und drehte sich wie ein Derwisch um sie herum. Wobei ihr solch aufsehenerregendes Benehmen immer höchst peinlich war. Vor allem, wenn fremde Leute sie anstarrten.

„Lass doch“, bat sie ihn. „Die Menschen ...“

„Ach, was interessieren mich die anderen. Wann wirst du lernen, nur nach dir zu schauen. Sieh mich an, ich fühle mich wie ein Vogel. So frei.“

Das mit dem Vogel stimmte. Und das mit der Freiheit interpretierte er doch ziemlich großzügig.

Denn einige Tage später saß Ronald in einem Straßencafé in der Avenue d‘Ixelles. Neben seiner Geliebten, deren Hand er die ganze Zeit über knetete. Auf dem Tisch standen zwei nicht angerührte Cappuccinos.

„Bist du dir sicher?“, fragte er seine Begleiterin. Dann endlich ließ er ihre Hand los und spielte stattdessen mit dem Löffel herum.

„Lass das doch mal sein.“ Sie nahm ihm sein Spielzeug weg. „Und benimm dich wie ein erwachsener Mann. Natürlich bin ich mir sicher. Was soll die blöde Frage?“

„Und was willst du nun machen?“

„Wie? Was soll ich machen? ... Ach so, ich verstehe. Aber nicht mit mir.“ Aufgebracht erhob Magda sich und verließ das Bistrot.

Doch Ronald war das egal. Er blickte nachdenklich zu Boden. Dann griff er nach seiner Jacke und machte sich ebenfalls auf den Weg. Eine Abtreibung war auch nicht in seinem Sinne.

„Was ist los mit dir?“, fauchte Marie ihn eines Morgens an. „Wieso fasst du mich nicht mehr an? Weißt du, wie frustrierend und erniedrigend das ist, wenn du meine Zärtlichkeiten nicht erwiderst.“ Sie spielte auf letzte Nacht an. Denn trotz seiner offensichtlichen Abneigung war sie noch immer um ihre Beziehung bemüht. „Und wo treibst du dich ständig herum? Man könnte meinen, dass du eine andere hast.“

Bei diesen Worten schoss ihm der Kaffee in die Nase, sodass er kräftig schnäuzen musste. Aber trotz ihrer nun misstrauischen Blicken erlangte er schnell seine Ruhe wieder. „Aber, Mäuschen. Wo denkst du denn hin? Ich liebe doch nur dich. Habe momentan nur ein wenig Stress … an der Uni.“

Und das Mäuschen ließ sich mal wieder erweichen.

Am nächsten Tag, einem Dienstag, lag er wieder bei Magda im Bett und starrte nach vollbrachtem Liebesakt die Decke an. In der Hand hielt er eine Zigarette.

„Was erzählst du eigentlich immer Marie, wenn du bei mir bist?“, fragte sie ihren Ronald. Zu jener Zeit wollte sie ihn noch ganz für sich alleine haben. Die hässlichen Szenen vom letzten Mal hatte sie verdrängt.

„Praktische Übungen an der Uni. Meine Kumpels sind eingeweiht, falls sie mal nachfragen sollte.“

Dass sie sich mit einem Drecksschwein abgab, hatte Magda nicht wahrhaben wollen. Zumindest damals nicht.

Und irgendwann, als ihr das letzte Lichtlein aufgegangen war, hatte sie keine Wahl mehr gehabt. Da war es zu spät.

Dabei wäre vorher noch so viel Zeit gewesen. So auch an dem Tag, als sie nach langer Zeit mal wieder mit ihrer Freundin Marie ausgegangen war.

Ein schönes Bild. Die offizielle Freundin und die Geliebte des Herrn Ronald gemeinsam an einem Tisch.

„Wieso können wir das nicht öfters machen?“, fragte Marie. „Es ist schon so lange her, dass wir das letzte Mal zusammen aus waren. Das war an dem Tag, an dem ich Ronald kennengelernt habe. Erinnerst du dich noch?“

Und ob Magda sich erinnerte. Als beide Mädchen in ihr Heim zurückgekehrt waren. Und sich auf ihre jeweiligen Zimmer verabschiedet hatten. Und wie Ronald, wie auch immer er es geschafft hatte, sich in dieses männerunerwünschte Institut zu schleichen, auf ihrem Bett gelegen hatte. Nackt.

Und wie sie es die ganze Nacht getrieben hatten.

„Ich kann mich noch gut erinnern. Bist du dir sicher, dass er der Richtige ist?“ Magda blickte ausdruckslos an Marie vorbei. Denn niemals mehr hätte sie ihr in die Augen schauen können. Doch ohnehin sollte es ihr letzter gemeinsamer Tag sein.

Denn Magda war kurze Zeit später in eine andere Stadt gezogen. Ohne sich von ihrer Freundin zu verabschieden.

MAGDA

Magda. Was weiß ich eigentlich von ihr? Nicht viel.

Nur dass wir vom Schicksal zusammengewürfelt wurden. In einer fremden Zeit. In einer fremden Stadt.

Vor vielen Jahren. Dann ist sie gegangen.

Magda. Sie geht mir nicht aus dem Kopf. Dabei ist sie schon solange weg. Zwölf Jahre lang. Anfangs habe ich mich oft gefragt, was sie dazu bewogen haben mag?

Erst sehr viel später sollte ich die ganze Wahrheit erfahren.

BRÜSSEL 1997

„Ich bin nicht hässlich!“ Magda betrachtete sich im Spiegel. „Wer das sagt, der lügt.“

Sie nahm eine Schere und schnitt sich die Haare ab. Mit einem Rasierapparat entledigte sie sich der restlichen Stoppeln.

Erneut musterte sie sich im Spiegel. „Jetzt bin ich hübsch.“

Ein groteskes Bild. Glatze und runder Bauch.

Ein Widerspruch. Das vergänglich Männliche versus das ewig Weibliche. Der Tod und das Leben.

Denn Magda war schwanger. Im vierten Monat.

Auf die Rolle des Vaters gab es zwei Anwärter. Da war zum Ersten dieser Mike, den sie auf einer feuchtfröhlichen Geburtstagsfete im Studentenmilieu kennengelernt hatte.

Eine hitzige, sinnliche Atmosphäre. Mehr feucht als fröhlich. Ein One-Night-Stand. Den sie am anderen Tag bereute, da sie sich nicht geschützt hatte.

Und dann war da noch Ronald. Der aus dem Schwesternheim.

Am Tag der Geburt werde ich wissen, wer der Gewinner ist. Sie grinste ihrem Spiegelbild zu. Oder der Verlierer.

Ebony against ivory. Denn Mike war so schwarz wie der Kontinent, von dem er abstammte. Er studierte Wirtschaft.

Mit ihren beiden Händen tastete sie ihren Bauch ab. Diese Wölbung war mit ein Grund dafür, dass sie ihre Studien in Brüssel abgebrochen, die Stadt Hals über Kopf verlassen hatte und nach Luxemburg-Stadt zu ihren Eltern geflüchtet war. Diese hatten sie mit gemischten Gefühlen aufgenommen, denn eigentlich war diese Brücke schon vor vielen Jahren niedergerissen worden. Zu viele hässliche Worte waren damals gefallen. Doch das Hässliche schien ohnehin ihr treuester Begleiter zu sein.

Nun saß sie also wieder da, wo alles begonnen hatte. Sie hatte sich im Kreis gedreht. Ein Teufelskreis.

Doch das wollte sie nicht wahrhaben. Stattdessen betrachtete sie sich und ihren Bauch noch immer im Spiegel. Gerne hätte sie gesehen, was sich darin verbarg.

Auch hatte sie in diesen Tagen oft an Abtreibung gedacht. Aber diese Idee auch sofort immer wieder verworfen. Eine zu hässliche Sache. Sogar für sie.

Weinend schmiss sie sich auf ihr Bett. Sie wollte nichts mehr hören, nichts mehr wissen. Zu viele Fragen plagten sie. Und kein Knopf zum Ausschalten.

Das wäre es. Für immer Ruhe.

Sie stand auf und begab sich zu ihrem Fenster. Sie konnte das ganze Tal überschauen, denn sie wohnte in der Oberstadt. Mit garantiert unverbaubarem Blick auf die Unterstadt. Auch weil ihre Eltern im siebten Stock wohnten.

In der Ferne sah sie die Lichter der Autobahn. Bäume, die sich am Horizont abzeichneten. Kühe auf den Wiesen.

Sie schaute nach unten auf ihre Straße. Menschen so groß wie Ameisen. Und ebenso emsig. Scheinbar ziellos bewegten sie sich fort.

Ist das das Paradies? Mein Paradies?

Sie sah sich in ihrem Zimmer um. Ein schmuckloser, trostloser Raum. Nichts erinnerte daran, dass hier ein Mensch einen Großteil seines Lebens verbracht hatte.

Mit Ausnahme von zwei verschlissenen Postern an den Wänden. Zwei Filmaffichen. Dirty Dancing mit Jennifer Grey und Casablanca mit Humphrey Bogart.

Vielleicht gibt es auch keine Erinnerungen. Hat nie welche gegeben.

Dennoch versuchte sie verzweifelt, sich auf ihre Vergangenheit zu besinnen. Sie sah Bilder, auf denen Kinder mit ihren Eltern im Schnee spielten. Bilder von Weihnachten, auf denen die Familie vor einem geschmückten Tannenbaum saß. Bilder von ... glücklich sein. Bilder, an denen sie sich hätte festhalten können.

Doch die Kinder auf diesen Bildern waren andere Kinder. Die Familien waren andere Familien. Sogar der Baum war ein anderer.

Die einzige Erinnerung an ihre Vergangenheit war eine rezente. Und die wuchs gerade in ihr heran. Doch von der wollte sie nichts wissen. Noch nicht.

So wenig wie die Vergangenheit von ihr.

Ein oberflächliches, hässliches Leben. Doch hätte sie gewusst … denn wen der Teufel einmal in seinen Klauen hielt, den gab er nicht wieder frei.

MEINE MUTTER

Ein Leben besteht aus Fragen.

Wenn es doch nur die richtigen wären.

Ein neuer Tag. Draußen schien die Sonne und Charlie trank ihre Milch. Ihre Erkältung hatte sie offenbar überwunden.

„Mama, heute fahren wir mit der Klasse ins Museum. Mit dem Bus. Und danach gehen wir Pizza essen.“

Ein ungewohnt schöner Tag.

Als Charlie zur Schule aufgebrochen war, Ronald war ohnehin schon längst weg, beschloss Marie, sich zur Abwechslung etwas Gutes anzutun.

Shoppen. Danach essen gehen. So lautete der Plan. Aber mit wem? Alleine machte das doch keinen Spaß. Und Freundinnen hatte sie keine.

Wieso eigentlich, fragte sie sich. Andere Frauen in meinem Alter haben doch auch welche. Was ist mit den Müttern von Charlies Schulgefährtinnen. Die treffen sich doch öfters, unternehmen gemeinsam etwas. Aber Charlie hat doch keine Spielkameradinnen. Wieso eigentlich?

Fragen über Fragen. Auch wenn es auf die letzte eine Antwort gab. Doch auch wenn Marie bewusst war, dass Ronald am Ursprung dieser unheilvollen Entwicklung gestanden hatte, so war sie dennoch nicht bereit, sich dies einzugestehen.

Müssen diese Gören so viel Krach machen? Das hatte er geschrien, als Charlie vor Jahren eine Mitschülerin mitgebracht hatte. Dabei hatten die beiden nur ruhig in ihrem Zimmer gehockt und mit zwei Püppchen gespielt.

Doch Kinder schienen Ronald ohnehin ein Gräuel zu sein. Vor allem fremde. Das eigene akzeptierte er. Wenn auch augenscheinlich nur mit Widerwillen.

Und so musste sie ständig für Charlie da sein. Eine verheiratete und doch alleinerziehende Mutter, der es ob ihrer Überforderung nicht möglich war, Bindungen zu schaffen. Noch nicht mal zu einigen flüchtigen Beziehungen hatte es gereicht. Ihr blieb nur ihre eigene Mutter.

Neue Fragen taten sich auf.

„Kaffee steht schon bereit“, begrüßte Maries Mutter ihre Tochter, die sie nie als erwachsene Frau betrachtet hatte. Auch nicht nach Charlies Geburt. Für sie, wie für so viele Mütter, war Marie immer nur ihr Kleines, ihr Baby, geblieben.

Marie hatte sich längst damit abgefunden. „Schön.“ Sie lächelte zurück und betrachtete den gedeckten Tisch.

Alles war perfekt aufeinander abgestimmt. Das Geschirr, das selbst gehäkelte Deckchen, die drapierten Servietten, einfach alles. Sogar der Kuchen schien in denselben Farben zu erstrahlen.

Die Löffel, die Gabeln, Millimeter genau neben den Tellern abgelegt. Militärisch korrekt. Und ebenso steril.

Daran konnte auch die wunderschöne, erdfarbene Vase mit den Feldblumen, die in denselben warmen Farbtönen leuchteten, nichts ändern.

Marie zwang sich, den Blick abzuwenden.

„Schön.“ Sie grinste ihrer Mutter erneut zu. Denn sie war nicht darauf bedacht, ihr wehzutun. Das konnte nicht ihr Ziel sein. Und nicht nur, weil diese ihre Gefährtin und Trösterin war.

Die Mutter als einzige Freundin.

Eine Wahrheit, die Marie immer verdrängt hatte. Wie so vieles andere auch.

„Magst du ein Stück Kuchen? Hab ich gestern gebacken. Ist noch ganz frisch.“ Ihre Mutter lächelte glückselig. Denn als alleinstehende Frau war sie immer froh, wenn ihre einzige Tochter zu Besuch kam.

Am liebsten ohne Mann. Charlie war gern gesehen, denn meist saß sie still auf dem Sofa und las. Ruhig und sauber. Das war in Ordnung.

Nur Ronald, den konnte sie nicht ausstehen. Nie hatte sie verstehen können, dass ihre Tochter so einen zum Ehemann genommen hatte. Und zum Vater ihres Kindes. Doch eine Diskussion zu dem Thema hatten sich beide bisher verkniffen. Wie eigentlich zu allem, wo sie gegenteiliger Meinung waren, wo Konfliktpotenzial in der Luft gelegen hätte.

„Hast du Lust auf einen Stadtbesuch?“, fragte Marie, nachdem beide ihr Stück Kuchen gegessen und ihren Kaffee getrunken hatten. Dabei war sie akribisch bemüht, einige Krümel von der geblümten Tischdecke zu entfernen.

„Lass nur“, ermahnte ihre Mutter sie. „In die Stadt? Eher nicht. Ich habe die Haare nicht gewaschen und auch sonst … das würde nun zu lange dauern.“

Dabei sah sie aus, als wäre sie eben erst von einem Frisörbesuch zurückgekommen. Innerlich verfluchte Marie alle Haare dieser Welt, denn sie hatte sich auf etwas Abwechslung gefreut. Auf etwas Ablenkung von ihrem eintönigen Leben.

Doch das behielt sie für sich. Denn dann hätten sie vielleicht doch über Ronald reden müssen.

Und so saßen sie herum, tranken Kaffee und schwelgten in Erinnerungen. In immer denselben. Charlies Geburt. Benny. Und noch einigen unwesentlichen Details.

Aber wenigstens gab es etwas, das die beiden verband. Und worüber sie lachen konnten.

Und wahrscheinlich hätten sie bis in den Nachmittag hinein herumgesessen, wenn nicht plötzlich das Schrillen des Telefons die beiden Frauen aus ihrer Behaglichkeit herausgerissen hätte.

Marie wusste sofort, dass es nur ihr gelten könnte. Dass irgendjemand ihr diese Oase der Ruhe, ihr einziges Refugium, abspenstig machen wollte.

„Es ist Ronald“, meinte ihre Mutter verächtlich und reichte ihr das Telefon. Dabei traten die vielen Sorgenfältchen auf ihrer Stirn noch deutlicher als ohnehin hervor. Auch wenn sie ihre Brille darüber geschoben hatte. Die rosa Brille, über die Marie sich schon des Öfteren im Stillen aufgeregt hatte.

Mit einem mulmigen Gefühl nahm Marie das Gespräch entgegen. Sie schnitt dabei eine Grimasse.

„Wo bist du denn?“, schallte ihr die Stimme ihres Ehemannes aus dem Apparat entgegen. Dabei wusste er doch genau, wo sie war. „Hier ist die Hölle ausgebrochen und du machst dir einen gemütlichen Nachmittag. Verdammt noch mal. Muss ich mich denn immerzu um die Göre kümmern?“

Eine Antwort brannte Marie auf der Zunge. Doch sie war zu müde, diese auszusprechen.

„Was ist denn?“, wollte sie nur wissen.

„Charlies Lehrer hat angerufen. Die sind auf einem Ausflug, wenn ich recht verstanden habe, wieso weiß ich eigentlich nichts davon, und Charlie geht es nicht gut. Du sollst sie abholen. Sie wartet unten an der Rezeption im Naturmuseum.“

„Gut.“

„Was ist gut? Nichts ist gut. Das wird noch Folgen haben. Dass du ein krankes Kind zur Schule schickst. Und ...“ Marie hatte aufgelegt. Einfach so. Das erste Mal. Es war auch das erste Mal, dass ihr das Wort Arschloch spontan in den Sinn gekommen war. Ihre Mutter hatte vielleicht doch recht.

Als sie im Begriff war, sich zu verabschieden, sah sie sich noch einmal im Zimmer um. Sauber, aufgeräumt und doch so leer.

Hätte sie zu dem Zeitpunkt auch nur ansatzweise geahnt, dass dies das letzte Mal war, wo sie ihre Mutter lebend sehen sollte, hätte sie wahrscheinlich anders gedacht, anders gehandelt. So aber beschränkte sich ihr Abschied auf einen flüchtigen Kuss, auf eine eingespielte Umarmung.

Andererseits war Marie aber schon zu sehr mit ihren Gedanken bei Charlie, als dass sie großen Wert auf eine wie auch immer geartete Abschiedszeremonie gelegt hätte.

„Kommen Sie mit. Ihre Tochter hat sich hingelegt.“ Im Museum in Luxemburg-Grund wurde sie von einem aufmerksamen Rezeptionsangestellten begrüßt. „Sie hat über Müdigkeit geklagt. Und Bauchschmerzen. Es wäre vielleicht angebracht, einen Arzt hinzuzuziehen.“

„Sicher, danke. Kann ich nun zu ihr?“

„Natürlich, natürlich. Entschuldigung“, entgegnete der junge Mann verlegen und führte Marie dann zu ihrer Tochter.

„Hallo, Charlie.“ Doch diese war fest eingeschlafen. Auch schien sie noch blasser als sonst zu sein. Eine Haut wie Pergament.

„Hey, komm, wach auf. Wir müssen nach Hause.“ Nach mehreren Versuchen gelang es Marie, ihr Kind zu wecken. Und es zum Auto zu führen. Doch statt nach Hause, fuhren sie zu einem Arzt. Zu einem jüngeren. Zu einem Kinderarzt.

Zwei Stunden später waren sie wieder draußen. Mit einem Eisenpräparat in der Hand und einem Pflaster auf Charlies Arm. Über der Einstichstelle, wo der Arzt ihr, zwecks Laboruntersuchung, Blut entnommen hatte.

Sie wäre schwach, hatte er gemeint. Und dass sie Ruhe bräuchte. Viel Ruhe. Und Vitamine. Und das Eisen. Dann käme sie wieder auf die Beine, hatte er ihr noch lächelnd mitgeteilt.

Aber dennoch war Marie sein nachdenklicher, sorgenvoller Blick nicht entgangen.

BRÜSSEL 1997

„Magda. Telefon.“ Eine schrille, vorwurfsvolle Stimme durchbrach die Stille. Magdas Mutter rief nach ihrer Tochter.

Wie konnte Magda es wagen, dass ihre Liebhaber dort bei ihr anriefen. Wie konnte sie es zulassen, all diesen Schmutz in dieses adrette Heim hineinzulassen.

„Komme!“ Aufgeschreckt und aufgewühlt zugleich stürzte sie nach unten. Wer konnte von ihrem Aufenthaltsort wissen? Sie hatte doch niemandem davon erzählt, als sie vor ein paar Wochen Hals über Kopf aus Brüssel geflüchtet war. Noch nicht mal in der Schule hatte sie eine Notiz hinterlegt.

„Hallo“, hauchte sie zaghaft und mit verstellter Stimme ins Telefon. Auf diese Weise hoffte sie den Anrufer zu irritieren.

Doch weit gefehlt. Denn der Teufel ließ sich nicht übertölpeln. Und schon gar nicht von Mädels wie Magda. Die waren schon immer eine zu leichte Beute für ihn.

„Ich bin es.“ Eine tiefe Stimme schallte ihr entgegen. „Hast du gedacht, dass du einfach so verschwinden könntest. Du hast noch eine Schuld zu begleichen. Hast du das etwa schon vergessen?“

Wie konnte sie etwas vergessen, von dem sie nichts gewusst hatte. Aber eine andere Frage beschäftigte sie viel mehr. „Wie hast du mich gefunden, Ronald?“

Er antwortete ihr nicht. Er sagte ihr nicht, dass ein kurzer Blick in ihre Schulakte gereicht hatte, um die Adresse ihrer Eltern in Erfahrung zu bringen. Dann hatte er nur noch Eins und Eins zusammenzuzählen brauchen. „Ich komme jetzt zu dir hoch.“

„Nein, warte ...“, schrie sie noch ins Telefon. Doch zu spät. Er hatte bereits aufgelegt.

Panikartig lief sie im Wohnzimmer auf und ab. Sie versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Doch damit tat sie sich, wie so oft, ziemlich schwer. Und entschied sich prompt für das Falsche. Sie riss die Haustür auf und flüchtete nach draußen. Und lief ihm direkt in seine Fänge. Genauso wie er es vorausgesehen hatte.

„So gierig mich zu sehen?“ Er fing sie hinter der Mauer, die ihr Elternhaus umgab, ab. „Hast es wohl richtig nötig.“ Er legte seine Hände auf ihre Brüste, die schon immer Objekte seiner Begierde waren. „Die sind ja noch praller geworden.“ Ein bösartiges Lachen untermalte seine Worte.

Dann stieß er sie zu seinem Wagen. Ihre ängstlichen Blicke wanderten ständig zwischen ihrem Peiniger und dem Haus ihrer Eltern hin und her. In der Hoffnung, dass jemand sie hätte sehen, ihr hätte helfen können. Doch da war niemand, den ihr Schicksal berührt hätte … niemand.

Das Einzige, was sie mit Marie gemeinsam hatte. Von Ronald mal abgesehen.

„Hast du wirklich geglaubt, du könntest dich vor mir versteckt halten? Du und dein Ungeborenes.“ Dabei warf er bohrende Blicke auf ihren Bauch.

„Aber du bist doch mit Marie zusammen“, stammelte Magda weinerlich. „Wieso kannst du nicht einfach bei ihr bleiben? Ihr passt doch so gut zusammen. Wieso?“

„Das Kind. Das kannst du nicht vor mir verstecken. Denk an dein Versprechen.“

„Welches Versprechen? Wovon redest du denn?“

Er lachte auf. „Du hast doch dieses Kind gewollt. Dann wird Marie, diese kleine verzogene Göre, staunen, hast du gemeint. Oder wolltest du mich nur an dich binden? Das hast du dir wohl so gedacht. Damals, in dieser Nacht … Ich habe deinen Wunsch erfüllt und mir hast du im Gegenzug versprochen, mich aus allem herauszuhalten. Und von Zeit zu Zeit würde ich euch besuchen. Erinnerst du dich nun?“

„Ja, aber.“ Sie sah ihn mit geweiteten Augen an.

„Kein aber. Es gab kein Wenn, also auch kein Aber.“

„So hab ich das nicht verstanden. Das war doch nur so daher gesagt ... im Rausch unserer Gefühle.“

„Unserer Gelüste, meinst du wohl. Deiner Lust.“ Er legte seinen Zeigefinger an ihre Lippen. Dann fuhr er damit über ihre Nase und über ihre Stirn zu ihrer Glatze hoch. „Grotesk. Wen willst du denn damit beeindrucken? Ach so, ich verstehe. Du wolltest dich unkenntlich machen ... Im Rausch unserer Gefühle. Das hättest du wohl gerne gehabt. Doch nun steht unser Pakt. Du behältst das Kind und ich zahle. Und ich darf es manchmal sehen. So und nicht anders. Verstanden?“

Sie fühlte instinktiv, dass es nun besser war, zu schweigen. Um ihres Lebens willen und um das ihres ungeborenen Kindes. Und für einmal bewies sie das richtige Gespür.

Dann entließ er sie. Unter den vorwurfsvollen Blicken ihrer Mutter schlich sie sich in ihr Haus und auf ihr Zimmer.

Denn es ziemte sich in dieser anständigen Gegend nicht, Männerbesuche im Auto zu empfangen.

MAMA

Oft frage ich mich heute, ob es Ronald schon immer egal gewesen ist, was mit seiner Familie geschieht. Oder tue ich ihm am Ende doch Unrecht? Ich weiß es nicht.

Wenn wenigstens Mama mir noch beistehen könnte.

An dem Morgen ging es Charlie gar nicht gut. Eine lange, schlaflose Nacht lag hinter ihr und ihrer Mutter. Und niemand, der Marie hätte ablösen können.

Wie zufällig hatte Ronald stündlich ins Ausland reisen müssen. Zu irgendeinem Seminar über irgendwelche neue Verfahren im Straßenbau. Doch das konnte ihr mittlerweile nichts mehr anhaben.

Erst nachdem die Kleine ihre morgendlichen Medikamente, eine Mischung aus Antibiotikum und Entzündungshemmer, zu sich genommen hatte, konnte sie endlich einschlafen.

Marie stand ganz behutsam auf und begab sich ins Badezimmer. Sie hatte sich nach einer Dusche gesehnt. Warmes Wasser umspülte nun ihren Körper. Das tat gut. Dann drehte sie den Hahn auf kalt. Um ihre Müdigkeit zu bekämpfen.

Nach einem halben Liter Kaffee fühlte sie sich wieder einigermaßen fit. Sie entschied sich, Hilfe bei ihrer Mama zu suchen.

„Entweder sie zu mir oder Krümelchen und ich zu ihr.“ Das wollte sie Ronald an den Kopf knallen. Und dann mal kucken, wie er reagieren würde.

Sie wählte die Nummer ihrer Mutter, doch niemand hob ab. Seltsam, dachte sie, da diese eigentlich immer um die Zeit zu Hause war. Am Frühstückstisch, denn nach ihrem Tagesrhythmus hätte man die Uhr stellen können. Doch an dem Morgen wohl lieber nicht.

Nach einem weiteren ergebnislosen Anruf bei ihrer Mama legte sie sich auf die Couch. In der Hand hielt sie ein Buch, das dann irgendwann runtergerutscht sein musste. Denn auf dem Boden fand sie es, als sie gegen Mittag wach wurde. Ihre Müdigkeit war stärker gewesen.

Charlie, ihre Medizin.