Moselland - Max Graf - E-Book

Moselland E-Book

Max Graf

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Beschreibung

"Papa, was hast du im Krieg getan?" Dieser Frage muss Marc sich nach dem Tod seines Vaters stellen. Diesem werden Taten vorgeworfen, die nie aufgeklärt wurden. Während der Testamentseröffnung tauchen Hinweise auf Marcs bis dato unbekannte Geschwister auf. Alle im Verlauf des Zweiten Weltkrieges geboren und auf mysteriöse Weise verschwunden. Er muss wissen was damals passiert ist. Dann werden Morde verübt …

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www.luxkrimi.lu

Krimis aus Luxemburg

Die Kriminalromane des Autors:

Der Dritte Bruder

Charlie und die Hexe

Moselland

Inhaltsverzeichnis

Erstes Buch

Hamburg

Luxemburg

Hamburg

Luxemburg

Hamburg

Luxemburg

Hamburg

Luxemburg

Hamburg

Luxemburg

Hamburg

Luxemburg

Hamburg

Toskana

Hamburg

Luxemburg

Hamburg

Luxemburg

Hamburg

Luxemburg

Hamburg

Luxemburg

Zweites Buch

Dienstagabend

Mittwoch. 06:45

Mittwoch. 10:30

Mittwoch. 12:00

Mittwoch. 15:00

Mittwoch. 19:00

Mittwoch. 22:00

Donnerstag. 06:30

Donnerstag. 12:00

Donnerstag. 13:30

Donnerstag. 16:00

Donnerstag. 17:30

Donnerstag. 18:30

Donnerstag. 20:30

Donnerstag. 22:30

Donnerstag. 24:00

Freitag. 00:30

Nachtzug Hamburg-Trier

Freitag. 01:30

Nachtzug Hamburg-Trier

Freitag. 02:00

Nachtzug Hamburg-Trier

Freitag. 02:30

Nachtzug Hamburg-Trier

Freitag. 05:30

Luxemburg. Freitagmorgen

Epilog

Danksagung

Erstes Buch

Luxemburg

Marc, der zuvor noch seine betagte Mutter abgeholt hatte, war bewusst etwas früher erschienen. Das hatte er schon immer, zu jeder nur erdenklichen Gelegenheit, so gehandhabt. Denn es war ihm stets ein Gräuel, als Letztgekommener die Runde der Gäste zu machen.

Er lehnte sich entspannt, den Kragen hochgeschlagen, in die Sitzschale seines Autos zurück. Nachdenklich beobachtete er die leere Parkfläche, die vor ihm lag. Asphalt, grau in grau. Am Himmel waren zudem mächtige, dunkle Wolken aufgezogen. Ein düsterer Tag.

Jedoch passend zum Anlass. Zur Einäscherung seines Vaters hatte sich Marc mit Familienangehörigen auf dem Platz vor dem Krematorium verabredet.

Viele Gerüchte, Halbwahrheiten über seine Familie, über seinen Vater, waren im Laufe der Zeit an sein Ohr gelangt. Doch was war wahr, was gelogen? Trotz all dieser Fragen hatte er nie das Verlangen verspürt, sich mit dieser Vergangenheit auseinander zu setzen. Geblieben war eine oberflächliche Verbindung zu seiner Verwandtschaft. Einige flüchtige, unausweichliche Begegnungen. Ein paar abgegriffene Worte.

Familienangehörige und doch Fremde.

Ein mit Rostbeulen übersäter Wagen französischen Fabrikats rollte sehr langsam auf den Parkplatz des Krematoriums. Er blieb in respektabler Distanz zu Marcs Fahrzeug, einem großen blauen Siebener BMW, stehen.

Ohne jeden Zweifel einer jener Verwandten. Ein Blutsverwandter. Dafür würde Marc, passend zu dem unförmigen grauen Gebäude im Hintergrund, seine Hände ins Feuer legen.

Der Fahrer stieg aus. Ein älterer Mann, dem der Wind einige graue Strähnen ins Gesicht und hinter die Brillengläser blies. Mit nervösem, unstetem Blick versuchte er sich einen Überblick zu verschaffen. Obwohl es nichts zu überblicken gab. Der typische Gesichtsausdruck eines Wichtigtuers.

Mein Blut, dachte Marc resigniert. Er musste an seinen Vater denken. An seinen verhassten Vater, der ihn dennoch zu dem geformt hatte, der er war.

Der Neuankömmling tat nun so, als hätte er Marcs Auto eben erst entdeckt. Ungeachtet der Tatsache, dass weit und breit kein anderes stand. Mit theatralisch fuchtelnden Armen und ebenso gekünstelter Mimik bewegte sich der Mann auf ihn zu. Für einen Augenblick glaubte Marc seinen Vater zu erkennen. Jünger. Doch einen weiteren Augenschlag später sah er erneut diesen fremden Menschen vor sich. Obwohl dieser unverkennbar die typischen Familienzüge der Königs trug. Die hohe Stirn, die buschigen Augenbrauen, die listigen braunen Augen. Marc war dankbar, die feinen Linien seiner Mutter geerbt zu haben. Ihre schöne gerundete Stirn, ihre wundervollen Augen, ihre ganze Eleganz.

Auf einen Knopfdruck hin senkte sich das Fenster. „Hallo.“ Distanziert lächelte Marc seinem Gegenüber zu.

„Hallo“, erwiderte der Fremde und doch so seltsam Vertraute zögerlich. „Schönes Auto.“

Nachdenklich sah Marc ihn an. Durch das geöffnete Fenster hielt er ihm die Hand hin. Irritiert und linkisch zugleich schüttelte der grauhaarige Mann sie. Dabei wurde sich Marc seines unhöflichen Benehmens bewusst. Beschämt stieg er aus und stellte sich vor.

„Das ist übrigens meine Mutter“, fügte er hinzu und begab sich auf die andere Seite seiner Luxuskarosse, um ihr die schwere Tür aufzuhalten.

„Ich bin Hans“, antwortete der Fremde. Er ignorierte die alte Frau. Marc wunderte sich nicht über den deutsch klingenden Namen. Er wusste, dass seine Familie schon immer eine Schwäche für alles Deutsche gehabt hatte. Auch damals, als ein gewisser Adolf Hitler die Macht in dem Nachbarland ergriffen hatte. Schnell, zu schnell hatten Marcs Vorfahren sich für die nationalsozialistische Sache begeistern lassen. Auch wenn das später, wie in so vielen luxemburgischen Familien, heruntergespielt worden war.

Doch was war nun Wahrheit, was Lüge? Nach dem Ende des Krieges, nach dem Selbstmord des Herrn Hitler, wie er in Marcs Familie genannt wurde, kamen diese und andere Fragen auf. Aber niemand wusste das so genau. Niemand wollte sich erinnern. Und schon gar nicht darüber reden. Und so hatte auch Marc es stets dabei belassen. Er, der ohnehin erst ein Vierteljahrhundert nach Beendigung dieses desaströsen Krieges geboren worden war.

Verdammt, was soll das? Er versuchte, sich von diesen Gedanken zu lösen. „Hans also. Schön, Sie kennenzulernen.“ Dabei war ihm dieser Hans egal. Es galt einzig und alleine, die Zeit zu überbrücken.

Und so atmete Marc auf, als zwei weitere Autos auf den Parkplatz fuhren. Kleine Wagen älteren Baujahrs. Er nahm zufrieden zur Kenntnis, dass er der Platzhirsch war. Dass wahrscheinlich niemand es wagen würde, ihn allzu vertraulich anzureden.

„Das ist deine Tante Félicie“, flüsterte seine Mutter ihm mahnend zu. Wieso auch immer. Er kannte diese Frau nicht, war ihr noch nie begegnet. „Der andere ist der Bruder deines Vaters. Jean.“ Sie zupfte ihn am Ärmel.

Sein Onkel. Eine gewisse Familienähnlichkeit war auch hier nicht zu verleugnen.

Da nun alle Familienangehörige anwesend waren, Freunde hatte der Verstorbene nie gehabt, begaben sie sich gemeinsam zu dem Bau am Ende des Platzes. Beton, grau in grau. Nur ein paar blühende Sträucher hauchten diesem Ort des Todes etwas Leben ein.

Kein Laut war auf diesen letzten Metern zu vernehmen. Alle waren ihren eigenen Gedanken verhaftet. Keiner sagte etwas. Aber dennoch war dies keine Trauergemeinschaft wie jede andere. Die Stille war nicht aus Schmerz, nicht aus dem Verlust eines Menschen entstanden. Denn niemand schien wirklich um den Verblichenen zu trauern. Nicht mal der Sohn. Das Schweigen war das Resultat einer undefinierbaren, kollektiven Familienscham. Niemand traute sich etwas zu sagen. Niemand wollte Einblick in sein Inneres gewähren.

Ein befremdendes Benehmen, aber angemessen zum Geschehen. Zum letzten Weg seines Vaters. Und so beließ Marc es dabei.

Später, als alle im Zeremoniensaal saßen und den Worten des Pfarrers lauschten oder so taten als ob, musste Marc immer wieder an die letzten Tage seines Vaters denken. Gegen seinen Willen stiegen Bilder, Gesprächsfetzen und andere Details in ihm hoch. Gedankenverloren starrte er auf den gefliesten Boden und erinnerte sich.

„Marc, deine Mutter hat eben angerufen.“ Mit diesen Worten wird er beim Nachhause Kommen von Sophie, seiner Frau, empfangen. „Du sollst sie zurückrufen. Sofort.“

Marc setzt sich hin und ist erst mal mehr mit seiner modischen Frisur, die an dem heißen Tag arg gelitten hat, als mit dem Anruf seiner Mutter beschäftigt. Einer Frau, zu der er jeglichen Kontakt abgebrochen hat, denn sie passt nicht mehr in seine Welt. In seine schöne neue Welt. Sie, das Relikt einer Vergangenheit, die er hasst. Marc ist es dann mit der Zeit immer schwerer gefallen, sie zu besuchen. Aus Scham. Doch wovor? Vor seinem Spiegelbild?

„Marc, sofort.“ Sophie lässt keinen Zweifel daran bestehen, dass ihr Wunsch ein Befehl ist. Zehn gemeinsame Jahre lassen keinen Platz für Leerräume.

„Ja, gut.“ Er fügt sich dem Diktat seiner Angetrauten. Er nimmt das Mobiltelefon, das seine Frau ihm schon vorsorglich hingelegt hat und tippt die Nummer seines Elternhauses ein. Jede Zahl ein Schritt zurück in seine Vergangenheit.

Aufmerksam, aber auch ein bisschen vorwitzig, belauscht Sophie das Gespräch. Doch mehr als ein gelegentliches Räuspern gibt er nicht von sich. So dass ihre anfängliche Neugierde recht schnell in Ärger umschlägt. Dabei ist sie diese Art Konversation von ihm gewohnt. Doch die aufgewühlte Stimme seiner Mutter hat sie hellhörig werden lassen. Denn Gefühle zeigen ist dieser Frau stets fremd geblieben. Genauso wie ihrem Sohn. Also muss schon etwas Außergewöhnliches passiert sein. Doch weder Mutter noch Sohn scheinen in der Lage zu sein, ihr das mitzuteilen. Und dieses Ausgeschlossen Sein ärgert sie auch noch nach all den gemeinsamen Jahren.

So muss sie sich gedulden, bis Marc das Telefon hinlegt und sich ihr mit teilnahmslosem Gesicht zuwendet. „Papa ist tot. Die Krankenschwester hat ihn eben leblos in seinem Zimmer aufgefunden.“

„ ... gefehlt hat, so ist er doch auch unser Vater, Ehemann, Bruder und Schwager. Er war Zimmermann, so wie Josef von Nazareth, Jesus’ Vater. Und zu Jesus ist er nun gegangen. Amen“

Die letzten Worte des Pfarrers hatten Marc aus seinen Gedanken gerissen.

Gefehlt? Wo hatte Vater gefehlt, fragte sich Marc und bedauerte schon, der Predigt des Pfarrers nicht zugehört zu haben. Allerdings wäre es das erste Mal, dass ihn etwas, seinen Vater betreffend, interessiert hätte. Und so machte er sich auch keine weiteren Gedanken dazu.

Nach der Zeremonie flüchteten die einzelnen Familienmitglieder zu ihren Autos. In Marcs Augen ein weiteres Indiz, dass etwas mit dieser Familie nicht stimmte. Dabei machte aber auch er keine Ausnahme.

Zusammen mit seiner Mutter fuhr er nach Hause, wo Sophie beide bereits erwartete. Sie selbst hatte nicht mitkommen können, da ihr siebenjähriger Sohn Luca an einer Bronchitis erkrankt war und sie kurzfristig keinen Babysitter auftreiben konnte. Allerdings hatte dies Sophie recht wenig zu schaffen gemacht. Sie hatte sich in Beisein von Marcs Eltern, wie bei den seltenen Zusammenkünften zu Weihnachten und anderen unerlässlichen Gelegenheiten, noch nie wohl gefühlt. Es war, als hätte sie sich diese Last Minute Bronchitis herbeigewünscht.

Die Kaffeemaschine gab die letzten Spuckgeräusche von sich, als Marc mitsamt der Frau, die er seine Mutter nannte, eintrat.

Beginn des Rituals zweiter Teil. Zusammensein bei Kaffee und Kuchen. All das, das Marc so verpönt war. Diese kleinbürgerliche Welt, der er sich entflohen glaubte und die ihn doch immer wieder einholte.

Viel wurde nicht geredet. Obwohl Sophie sich redlich bemühte, eine Konversation, wenn auch auf Sparflamme, aufrecht zu erhalten, so blieben ihre Anstrengungen doch fruchtlos. Denn ihre Schwiegermutter war, nachdem sie ein Stück Kuchen gegessen hatte, in ihre eigene Welt abgetaucht. Zugang verboten. Ein weiterer dieser verdammten familiären Charakterzüge, die Sophie so hasste. Denn auch ihr Mann hatte sich geistig verabschiedet. Nur manchmal ließ er ein undefinierbares Brummen verlauten. Als Zustimmung zu Sophies Äußerungen. Auch wenn diese es ganz anders deutete.

Zwei Monate waren vergangen, seitdem Marcs Vater ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Zwei Monate, während denen er nur noch wirres Zeug geredet hatte, nachdem er zu Hause in der Treppe gestolpert und mit dem Kopf aufgeschlagen war. Dieser Zwischenfall hatte seine ohnehin vorhandene Demenz beschleunigt. Zwei Monate, während denen er immer wieder das Bewusstsein verloren, es aber auch immer wieder für kurze Zeit zurückerlangt hatte. Bis vor ein paar Tagen. Da hatte Gott oder die Natur endlich ein Erbarmen gekannt und ihn von seinem menschenunwürdigen Siechtum erlöst.

Bilder einer verkorksten Kindheit kamen Marc in den Sinn, als er plötzlich seinen Namen vernahm. Ein gedämpfter Ruf von jenseits dieser schützenden Nebelwand, die er nur mit Widerwillen zu durchdringen vermochte.

„Marc, hörst du mir überhaupt zu?“ Er hörte die Stimme seiner Frau nun ganz deutlich.

„Äh ja, Liebling, was sagtest du?“

„Ob du noch etwas Kaffee möchtest? Und du könntest deiner Mutter auch noch welchen anbieten.“ Sie deutete mit einer unauffälligen Kopfbewegung in Richtung ihrer Schwiegermutter. Eine diskrete Geste, die aber auch besagte, dass sie diesem ungemütlichen Beisammensein so langsam ein Ende bereiten wollte.

Doch Marc ging nicht auf diesen Wink ein. Er hatte sich schon immer schwer mit solchen Subtilitäten getan. Und so zog sich der Nachmittag endlos lange hin, bis seine Mutter von sich aus den Wunsch äußerte, nach Hause gefahren zu werden. Müde sei sie, erschöpft von den Ereignissen der letzten Tage.

„Okay, Schatz, bis später, ich gehe nachher noch ein wenig spazieren. Ich muss mir noch etwas Luft verschaffen, da oben.“ Lächelnd tippte er an seine Schläfe.

Was Sophie nicht ungelegen kam, da sie sich nichts sehnlicher als eine Stunde Ruhe wünschte. Die Beine hochlegen, ein wenig fernsehen. Und sich um Luca kümmern.

Nachdem Marc seine Mutter abgesetzt hatte, fuhr er zu einem nahe gelegenen Waldstück. Trotz eines drohenden Sommergewitters begab er sich auf einen Spaziergang. Er musste seine Ideen ordnen. Zu viel hatte sich seit dem Anruf der Krankenschwester angestaut.

Doch seine Gedanken sprangen hin und her, standen sich gelegentlich selbst im Wege. Denn eigentlich verspürte er keine große Lust auf diese Aufarbeitung. Er hatte seinen Vater bisher nicht gebraucht, wieso also nun, wo dieser nicht mehr war. Sollte er doch in Frieden ruhen. Und ihm, seinem Sohn, denselben inneren Frieden zugestehen. Doch er wusste, dass dem nicht so sein konnte. Nicht solange er seine leibliche Familie, diesen Klotz an seinem Bein, mit sich herumschleppte. Vor allem seine Mutter.

Wütend kickte er einen Tannenzapfen weg. Und zerkratzte sich dabei einen seiner schicken schwarzen Lederschuhe, die er nach der Einäscherung auszuziehen vergessen hatte.

Verdammt.

Er ging jetzt schneller. Davonlaufen, einfach nur davonlaufen. Er war noch mehr Sohn seines Vaters, als er es in seinen schlimmsten Albträumen für möglich gehalten hätte.

Hamburg

„Woran denkst du?“, fragte Pit.

„An Apfelbäume.“ Jack blickte apathisch nach unten. „An große kahle Apfelbäume. Vom Wind gebeugte Stämme. Verkrüppelte Äste. Ein paar mickrige Früchte. Und von denen eine nach der anderen zu Boden fällt und dort zu Matsch zertreten wird.“

„Aha.“ Seit gemeinsamen Kindergartenzeiten schon war Pit an die geistigen Eskapaden seines Kumpels gewöhnt. Als einer der wenigen, die ihn verstanden.

„Und an eine Herde Esel“, fügte Jack hinzu.

„Was?“

„Esel. Die auf der Wiese herumlaufen. Auf der Wiese mit den Apfelbäumen. Und die die heruntergefallenen Äpfel zu Matsch zertrampeln. Und überall Maden.“

„Verstehe.“ Doch weder Eselherden noch Obstwiesen hatten mit dem zu tun, was vor ihnen im Straßengraben lag. Die Leiche eines toten Jungen. Daneben hockten die Männer der Spurensicherung. Auf den ersten Blick keine Spur von Gewaltanwendung. Auch war die Leiche vollständig bekleidet.

„Wenigstens haben wir es nicht mit einem dieser Scheiß Kinderficker zu tun.“ Fluchend kehrte Pit in die brutale Realität zurück.

Er war Kommissar bei der Hamburger Kripo. Spezialgebiet: Verbrechen an Kindern. Obwohl nichts ihn dafür qualifizierte oder prädestinierte. Mit der Ausnahme, dass er selbst zweifacher Vater war und kein anderer daran interessiert war. So war er langsam, aber immer tiefer in diese Rolle hineingerutscht. Er hatte Unmengen von Seminaren zu dem Thema besucht und mit unzähligen Psychologen unendliche Gespräche geführt. Über das Verhalten traumatisierten Kindern gegenüber. Über die Psyche von Kindesentführern und Vergewaltigern. Und darüber, wie mit den betroffenen Eltern zu reden wäre. Ihnen schonend beizubringen, dass ihr Kind Opfer eines Verbrechens geworden war. Meistens jedoch blieb es bei der einstudierten Absicht.

Schweigend schaute Pit auf die Leiche hinunter. Wie alt mochte der Junge sein? Zehn, zwölf Jahre. Er erinnerte ihn an seinen eigenen Sohn. Was dieser wohl gerade tat? Zwei Monate waren vergangen, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Ihn und seine kleine Schwester. Seit der Scheidung vor zwei Jahren, wohnten sie bei ihrer Mutter in Berlin.

Er versuchte diese Gedanken auszublenden und suchte die nähere Umgebung gewissenhaft nach Hinweisen ab. Er achtete auf kleine, auf den ersten Blick vielleicht wenig bedeutsame Indizien.

„Scheiße.“ Er fluchte leise vor sich hin. Doch laut genug, dass sein Kumpel es vernehmen konnte.

„Hey, lass uns gehen, das hier wird noch etwas dauern“, sagte Jack und blickte in Richtung des toten Jungen, dem eben die zusammengeballte Faust vorsichtig geöffnet wurde. „Ein letzter Gedanke, nun befreit.“ Er konnte sich der absurden Faszination des Gebotenen nicht entziehen. „Fliegt wie ein Vogel davon. Zu dem riesigen Haufen von letzten Überlegungen, von Fragen ... Komm, lass uns abhauen.“

Leichter Nieselregen setzte ein und begleitete die hektischen, aber zielgerichteten Handgriffe der Männer der Spurensicherung, die trotz der Windstöße in kürzester Zeit eine Zeltplane über den Fundort der Leiche ausgebreitet hatten. So dass keine noch so geringfügige Spur vom Regen verwischt werden konnte.

Pit setzte sich hinter das Steuer des zivilen Polizeiautos und starrte gedankenverloren auf die Windschutzscheibe. Dicke Regentropfen trommelten nun auf sie ein.

Ein kurzer Blick auf seinen Kumpel reichte Jack, um dessen Gemütszustand zu erfassen.

Jack war Journalist bei der Hamburger Post. Sein erster und bisher einziger Job, seit er seine Philosophiestudien an der Universität an den Nagel gehängt hatte. Nicht wegen schlechter Noten oder dass er nicht mitgehalten hätte. Nur deswegen, weil ihn diese vorgekauten Gedanken schlicht und einfach gelangweilt hatten. Er wollte sein eigenes Ding machen, seine eigenen Ideen zu Papier bringen. Und so hatte er eines guten Morgens bei diesem verhältnismäßig kleinen Blatt angeheuert. Und ist ihm, trotz mehrerer Abwerbungsversuche größerer Zeitungsverlage, immer treu geblieben. Denn hier war er der Star und konnte nach Belieben schalten und walten.

„Was soll das alles?“ Jack redete auf das Autofenster ein. „Gestern im Supermarkt. An der Kasse eine Frau. Griesgrämiges, angespanntes Gesicht. Verkrampfte Körperhaltung. Ich versuche mir vorzustellen, was die wohl gerade denkt. Wer sie ist. Wieso sie so ist.“ Er schaute zu Pit hinüber. „Ein erzwungenes Lächeln, als die Kassiererin sie etwas fragt. Dazu ihr leerer Blick, tote Augen. Tote Seele ... Was muss man erlebt haben, um so zu werden?“

„Willst du das wirklich wissen?“ Pit rieb sein Kinn, seine spärlichen Bartstoppeln, die nach einigen Tagen des Nichtrasierens deutlich gesprossen waren. „Du hast recht, lass uns fahren, hier können wir ohnehin nichts tun ... Ein Drink?“

Grinsend gab Jack seine Zustimmung zu verstehen. „Aber lass es nicht zu spät werden. Ich habe morgen einen Haufen Arbeit.“

Ein stets unnützer Einwand. So auch in dieser Nacht, als der kleine Zeiger der Uhr, die in ihrem Stammlokal über der alten Jukebox hing, bereits auf der Zwei stand.

… fat bottomed girls you make the rockin‘ world go round ...

„Weißt du“, lallte Jack. „Weißt du was ...“

Mit glasigen Augen blickte Pit ihn an. „Was?“

„Na, das Leben, Scheißleben ...oder ... so.“

„Genau.“ Pit erhob die Stimme und sein Glas und goss sich das Bier über sein Hemd. Gelassen zapfte der Wirt ein Neues und stellte es vor ihn hin.

„Nein, nein.“ Jack suchte indessen verzweifelt nach dem schon längst verloren gegangenen Faden. „Ich meine, na ja, weiß nicht.“

„Genau“, schnaubte Pit, stumpfsinnig vor sich hinstarrend.

„Nein, du verstehst mich nicht.“ Jack packte seinen Kumpel an der Schulter. „Ich weiß es jetzt wieder. Eine Änderung ... genau, etwas ändern. Im Leben. Jetzt ist noch Zeit … Sind noch nicht zu alt. Verstehst du?“

„Ja, ja.“ Ein dämliches Grinsen bemächtigte sich Pits Gesicht bevor er hart mit dem Kopf auf der Theke aufschlug. So fest, dass es um ihn herum dunkel wurde. Rabenschwarze Nacht.

… fat bottomed girls you make the rockin‘ world go round ...

„Hallo.“ Eine raue Stimme drang nur mühsam zu Pit durch. „Hallo, ist schon nach neun.“ Es war die des Wirtes.

Mit hämmernden Kopfschmerzen sah Pit sich um und erkannte das Hinterzimmer seiner Stammkneipe.

Er nahm es mit Humor, denn so konnte er praktischerweise gleich frühstücken. Wobei sich sein Frühstück an diesem Tag auf eine Tasse Kaffee beschränkte. Etwas Festes hätte sein Magen nicht vertragen. Vorher hatte er etwas bedröppelt nach einem Lappen verlangt, denn auf dem Boden hatte er eine übelriechende Pfütze bemerkt. Sein eigenes Erbrochenes.

Kurze Zeit später verließ er das Bistrot und begab sich nach Hause. Zu Fuß, denn in die U-Bahn traute er sich ob des Geruches, der ihm anhaftete, dann doch nicht.

In seinem Zwei Zimmer Appartement angelangt, entledigte er sich sogleich seiner stinkenden Kleider. Er warf diese auf den bereits beachtlichen Haufen Wäsche, der sich auf dem Flur vor dem Badezimmer angesammelt hatte und verschwand unter der Dusche.

Danach schluckte er noch zwei Aspirin und war dann bereit, den Tag in Angriff zu nehmen. Bevor er sich zu seinem Kommissariat nach St. Georg begab, gönnte er sich noch schnell einen Kaffee.

Auf seiner Arbeitsstelle wurde er schon erwartet, wenn auch nicht mit offenen Armen. Er sollte sich in der Pathologie melden. Die hätten schon zweimal nach ihm gefragt und anderes zu tun als den ganzen Tag auf ihn zu warten.

Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend, ob seiner Alkoholeskapade, aber vor allem ob des Besuchs, der vor ihm lag, begab er sich einige Straßen weiter nach Eppendorf. Hinunter in das Labyrinth des Todes, wie er es nannte. Das Reich der Gerichtsmediziner. Schon der Geruch, eine Mischung aus Formol und anderen Desinfektionsmitteln widerte ihn regelmäßig an. Wie konnte jemand freiwillig diesen Beruf ausüben? So fiel ihm jedes Mal ein Stein vom Herzen, wenn er wieder nach oben zu den Lebenden durfte. Doch noch war es nicht so weit.

„Hallo, Pit, ich habe dich schon erwartet.“ Übertrieben freundlich, stets ein schlechtes Omen, wurde er vom Chefpathologen begrüßt. Einem Endfünfziger mit grauem Haupthaar, aber schwarz kolorierten Augenbrauen, was ihm ein diabolisches Aussehen verlieh. Ohne Umschweife geleitete er Pit in den großen Sezierraum. Weißer Klinker und chromierte Schränke vermittelten dem Saal etwas Übernatürliches.

Pit bemerkte, dass sein Mageninhalt zu rebellieren begann, doch noch hatte er ihn unter Kontrolle. Zuviel Koffein.

„Also“, begann Mephisto, einige Kollegen hatten ihn so getauft. „Viel haben wir nicht. Die Details wirst du im Obduktionsbericht, den ich dir nachreichen werde, nachlesen können. Ist was? Du siehst so, so niedergeschlagen aus. Wegen deinen Kindern?“

„Nein, nein“, antwortete Pit und schüttelte den Kopf. „Ist schon okay. Gestern Abend … spät geworden.“ Ein schwaches Grinsen sagte mehr aus als hundert Worte.

„Ah, verstehe. Nun, zurück zu unserem Fall. Möchtest du den Körper des toten Jungen sehen?“

„Nein ... Schon identifiziert?“

„Ja, aber dazu später mehr. Erst wollen wir uns mit der Obduktion beschäftigen. Also, viel ist da, wie gesagt, nicht. Männlich, elf Jahre alt. Das Erste dann, was mir aufgefallen ist, ist eine Einstichstelle in der linken Armbeuge.“

„Eine Injektion? Gift oder so?“

„Das weiß ich nicht, aber die Todesursache ist eindeutig Ersticken. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wurde ihm ein Kissen aufs Gesicht gedrückt. Ich habe einige Textilspuren gefunden, die in diese Richtung weisen. Interessant ist aber, dass keinerlei äußerliche Läsionen festzustellen sind. Der Junge hat sich nicht gewehrt.“

„Oder er ist freiwillig mitgegangen.“ Pit dachte laut nach. „Er hat den oder die Entführer gekannt und später wurde ihm ein Narkotikum gespritzt, um ihn schonend zu töten. Daher auch die Einstichstelle.“

„Hey, bin ich der Fachmann oder du?“, fragte der Arzt und schaute von seinem Notizblock auf. „Erstens wissen wir nichts von einer Entführung. Und zweitens nichts von einem Narkosemittel. Warte die toxikologischen Analysen ab. Okay? Gedulde dich bis dahin.“

Pit hielt die Hand vor den Mund. Der Mageninhalt drängte nach oben. Er schluckte mehrmals lautstark.

Der Pathologe ignorierte Pits Getue und fuhr fort. „Wieso? Wieso wurde er getötet? Das ist doch jedes Mal die Frage. Ich kann dir aber keine Antworten liefern. Noch nicht mal Vermutungen.“

„Hm, klar. Sieht aber nicht nach der Tat eines Psychopathen aus. Oder? Und ein Triebverbrechen können wir auf den ersten Blick auch ausschließen. Was dann? Eine misslungene Entführung, unerfüllte Lösegeldforderungen? Unerwünschter Zeuge?“

„Das ist dein Job.“ Der Mediziner unterbrach Pits Ausführungen. „Fang doch bei den Eltern an. Ach so, warte, hier noch Name und Wohnort. Du warst gestern Abend nicht erreichbar. Zwei Kollegen sind hingegangen.“ Er überreichte Pit einen Zettel. „Er wurde am Tag zuvor vom Vater als vermisst gemeldet. Der Kleine war abends noch mit dem Fahrrad unterwegs. Die Straße auf und ab. Und dann nicht mehr nach Hause gekommen. Sprich du mit ihnen. Auch dein Job.“

„Na klar.“ Er schaute auf den Zettel, den der Arzt ihm gegeben hatte. „Ist nicht weit weg von hier. Werde zu Fuß hingehen. Wir sehen uns.“

Pit ließ den Mann stehen und begab sich zum Ausgang. Begleitet von den nachdenklichen Blicken des Doktors.

Draußen angekommen, lehnte Pit sich an eine Mauer und sog frische Luft in seine Lungen. Er musste sich der penetranten Pathologieatmosphäre entledigen. Dann warf er einen erneuten Blick auf das Stück Papier. „Mischa“, murmelte er. „Mischa, elf Jahre alt. Und schon ist dein Leben vorbei ... Scheiße. Verdammte.“

Ob er wohl Geschwister hatte, überlegte Pit unterwegs. Um sich von der Kernfrage, wie er den Eltern gegenübertreten sollte, abzulenken.

Doch je näher er dem Haus kam, umso weniger konnte er sich dieser einen Frage entziehen. Hundert Mal mit Spezialisten erörtert und doch war er nun auf sich alleine gestellt. Verloren im Sumpf seiner Gefühle.

Zwei Stunden später saß er in einem Gasthaus. Er brauchte einen Schnaps. Er hätte nun, da er seine Last losgeworden war, erleichtert sein müssen. Doch das Gegenteil war der Fall. Er musste an die Eltern denken, die er mit ihren Gedanken und ihren Gefühlen zurückgelassen hatte. Ihre maskenhaften Gesichter verfolgten ihn. Man hatte ihm gesagt, dass es mit jedem Male besser zu verkraften wäre. Doch im Gegenteil, es wurde mit jedem Male schlimmer. Dann raffte er sich zusammen und begab sich in sein Büro. Dort ließ er sich kraftlos in seinen Sessel plumpsen und schloss die Augen.

Zwei Stunden später wurde er unsanft von einem Mitarbeiter geweckt. „Der Obduktionsbericht, den du angefordert hast.“ Respektlos schmiss der Polizist einen Hefter auf Pits Arbeitsplatte.

Der versuchte sich aufzurappeln, doch fehlte ihm die letzte Entschlossenheit. Erst der Gedanke an Mischa ließ ihn zur Besinnung kommen. Er besorgte sich einen Kaffee. Sein Magen war nun das geringste Problem.

Zurück an seinem Schreibtisch, schnappte er sich die Akte aus der Gerichtsmedizin und las sie mehr oder weniger ausführlich durch. Denn trotz all seiner Schludrigkeit war ihm beruflich bis dato nicht viel vorzuwerfen. Zum Leidwesen seiner sogenannten Kollegen, die ihn nur allzu gerne abgeschossen hätten. Einziger schwarzer Flecken auf seiner Weste war die freiwillige Versetzung seines einstigen Partners, der es nicht mehr mit ihm ausgehalten hatte. Auch hatte sich seitdem, seit fast zwei Monaten, kein Freiwilliger für diese Rolle auftreiben lassen.

Der Bericht bestätigte anfangs nur das, was ohnehin bekannt war. So waren die Faserspuren, die im Bereich des Mundes gefunden worden waren, eindeutig einer bestimmten Marke von billigen und viel verkauften Kissen zuzuordnen. Doch erst beim Kapitel Toxikologie wurde er hellhörig. Der getötete Junge wies eine hohe Konzentration an Chloroform auf. Vor allem im Bereich der Nasen- und Mundschleimhäute.

Klassische Methode. Oder, überlegte Pit. Oder doch schon etwas veraltet?

Er griff nach dem Telefon und rief den Pathologen an. Um zu erfahren, dass im Bereich der Einstichstelle keine Fremdsubstanzen entdeckt worden waren. Und um sich bestätigen zu lassen, dass Chloroformieren nun wirklich nicht mehr Up to Date war.

Grübelnd lehnte Pit sich in seinen Sessel zurück und dachte über diese Fakten nach. Und über den Tod des Jungen. Und über das Leben im Allgemeinen.

Luxemburg

Auf der Heimfahrt hatte Marc ständig das Bild von der Streuung der Aschen vor Augen. Es erinnerte ihn daran, wie viel oder wie wenig von einem Menschen an dessen Ende übrig blieb. Ein bisschen Staub, ein paar nichtssagende Worte. Aber jede Menge Fragen.

Dabei kamen ihm zum wiederholten Male die letzten Sätze seines Vaters in den Sinn. Von Kirschenklauen in Nachbars Garten war die Rede. Und dass die Polizei ihn daraufhin abgeführt, eingesperrt und verhört hatte. Ziemlich konfuses Zeug. Und dazwischen hatte er immer wieder die Namen von einigen deutschen Städten erwähnt: Wiesbaden, Bremen, München und einige andere.

Marc hätte diese Wörter leichtfertig als letzte Rückblicke eines Sterbenden abgetan, wenn nicht ein einzelner Satz ihn hätte aufhorchen lassen: Sie haben sie weggenommen.

Immer wieder hatte sein Vater diese Worte wiederholt. Und die emotionale Art, wütend und traurig zugleich, mit der sein Vater diese betont hatte, bekräftigte Marcs Bedenken, dass dies nichts mit den Kirschen zu tun hatte.

Was haben sie dir weggenommen?

Das Öffnen der Haustür erlöste ihn von seiner Zwiesprache. Es war sein siebenjähriger Sohn Luca, der ihn mit großen Augen anstarrte. Offenbar hatte seine Mutter dem Jungen aufgetragen, nach Papa zu schauen.

Kurze Zeit später saßen alle drei im Wohnzimmer beisammen. Sophie fragte sich nicht zum ersten Male, wie sehr sie ihren Mann überhaupt kannte, dass sie ihn nicht offen auf seine Gefühle anzusprechen wagte. Vielleicht war er ihr in der Vergangenheit aber einfach nur zu oft auf solche Fragen ausgewichen.

Sophie, dieses zierliche Wesen. Mit ihrem blonden Pony und ihren zarten Gesichtszügen ähnelte sie eher einer Studentin als einer gestandenen Frau und Mutter. Studierter Ökonomist und leitende Büroangestellte bei derselben Bank wie ihr Mann, war sie im Begriff, ihn auf der Karriereleiter zu überholen, als sie schwanger wurde. Daraufhin wollte sie sechs Monate lang allen unnötigen Stress, von dem es eine Menge auf ihrem Arbeitsplatz gab, von sich fernhalten. Doch inzwischen waren sieben Jahre seit jener Entscheidung vergangen. Und sie hatte sich noch immer nicht dazu durchringen können, in die Berufswelt, die ihr schon lange nichts mehr bedeutete, zurückzukehren. Zu sehr hatte sie Gefallen an ihrem Dasein als Mutter und Hausfrau gefunden. Zudem eine Haushaltshilfe ihr diese Aufgabe ungemein erleichterte. Hatten sie sich anfangs finanziell nach der Decke strecken müssen, so war dies aber mittlerweile, seit Marcs Aufstieg zum stellvertretenden Bankdirektor, kein Thema mehr. Doch ihre berufliche Spaltung hatte auch eine private, wenn auch in geringerem Umfang, mit sich geführt. Dennoch in einem Maße, dass sie anfingen, sich zu entfremden. Zumindest Sophie empfand dies so. Marc hatte sich nie dazu äußern wollen. Oder können.

Umso erstaunter war sie, als er plötzlich von seinem Vater sprach. Er dessen letzte Worte erwähnte.

„Wir haben doch alle schon mal Obst geklaut.“ Sophie lächelte ihm zu. „Na ja, deswegen hat aber noch niemand die Polizei gerufen. Aber vielleicht hat er nur ein paar Sachen durcheinander gebracht. Er war doch zum Schluss auch ein bisschen verwirrt.“

„Klar.“ Marc nippte nachdenklich an einem Cognac, den er sich eingeschenkt hatte. „Habe ich mir auch schon gedacht. Belassen wir es dabei. Habt ihr eigentlich noch Hunger? Ich glaube, ich werde aufs Abendessen verzichten. Nach all dem Kuchen heute Nachmittag.“

Doch Sophie wollte, da er für einmal über intime Dinge zu reden gewillt war, nicht so schnell lockerlassen. „Was weißt du überhaupt von deinem Vater? Was war vor deiner Zeit? Er hatte doch sicher ein Vorleben.“

Erstaunt sah Marc seine Frau an. Dann musterte er seinen Cognacschwenker, von dem er mehrere von seiner Bank zu irgendeinem Weihnachtsfest geschenkt bekommen hatte. „Nun ... eigentlich nicht so viel ... eigentlich nichts“, meinte er kleinlaut. „Hat mich auch nie interessiert. Ist nie darüber geredet worden.“ Dann nahm er einen ordentlichen Schluck. „Ist mir auch egal.“ Das Thema war endgültig beendet.

Marc saß im Wohnzimmer. Er starrte ausdruckslos vor sich hin, als er plötzlich die Stimme seiner Frau vernahm. „Hey, noch nicht müde?“ Mit besorgter Miene stand sie in der Tür und hatte sich das Schauspiel unbemerkt schon eine Weile lang angeschaut. „Komm ins Bett.“

Doch er schüttelte den Kopf und bat stattdessen sie, sich zu ihm zu setzen. Sophie sagte zu. Sie spürte instinktiv, dass ihr Mann Hilfe brauchte. Der sonst so coole, abgezockte Banker. Doch dass das nur Fassade war, wusste sie schon längst. Nur was sich dahinter verbarg, hatte sie, auch nach all den gemeinsamen Jahren, noch nie zu Gesicht bekommen.

„Du“, begann er mit leiser Stimme. „Ich habe nochmals nachgedacht. Über ihn. Da ist noch etwas, das du nicht wissen kannst. Beim Begräbnis hat der Pfarrer mehrmals von Verfehlung gesprochen. Und von Vergebung. Wieso?“ Er sah seine Frau kurz an. „Das war schon auffällig. Der Pfarrer hat dies kaum aus eigenem Antrieb heraus getan. Und ich weiß, dass er am Tag vor dem Begräbnis bei meiner Mutter war. Sie hat es mir erzählt, und dass sie über meinen Vater geredet haben. Ich bin überzeugt, dass Mutter etwas weiß, das sie mir verheimlicht.“ Und dann stellte Marc die Frage, auf die alles hinauslief. „Was hat er im Krieg getan? Und wo hat er all die Zeit nach Kriegsende verbracht?“

Sophie nickte nur stumm.

„Ich muss sie fragen.“ Marc fuhr mit belegter Stimme fort. „Morgen.“

„Gute Idee“, erwiderte Sophie, auch wenn sie von seinem Vorhaben nicht überzeugt war.

Und sie sollte recht behalten. Denn am anderen Tag beim Frühstück wollte er nichts mehr von seinen nächtlichen Plänen wissen. Im Gegenteil. Er verkündete, dass es ihm egal wäre, was sein Vater in einem früheren Leben angestellt hätte. Dass er es nicht wissen wollte. Und dass der Krieg ein für alle Mal der Vergangenheit angehören sollte. Und somit war dieses Kapitel für ihn abgeschlossen.

Als sein Sohn Luca zur Schule gegangen war, eröffnete er seiner Frau, dass er doch zu seiner Mutter fahren müsste. Sie hatte ihn gebeten, einige Papiere in Ordnung zu bringen. Und er hatte, da ihm ohnehin zwei freie Tage zustanden, zugesagt.

„Möchtest du noch etwas Milch zum Kaffee?“, fragte seine Mutter ihn. Dabei hatte er seinen Kaffee noch nie anders getrunken.

„Natürlich“, grunzte er und beugte sich erneut über die Papiere, die sie ihm vorgelegt hatte. Es waren Bankauszüge. „Was soll ich denn damit machen?“ Er ließ seinem Unmut freien Lauf. „Das sind Vaters Konten. Die sind zwar fast leer, aber wir können die nicht so einfach auflösen. Das liegt alles beim Notar. Der muss die Erbangelegenheit regeln. Und dann erst kannst du zur Bank gehen. Und wieso so ein Aufstand für die paar hundert Euro? … Ach, verstehe, du möchtest mit all dem abschließen. Ist es das?“

Auch wenn seine Mutter ihm nicht antwortete, so hatte er doch ins Schwarze getroffen. Sie wollte alle Erinnerungen an ihren Mann auslöschen. Daher auch die Einäscherung. Nichts sollte zurückbleiben.

„Na gut.“ Marc lehnte sich zurück. Themawechsel. „Wer waren denn all die Leute auf dem Begräbnis?“

„Aber das weißt du doch, Jean, Félicie ...“

„Nein, ich meine ja. Ich habe diesen Hans gemeint. Wer ist er?“

Seine Mutter sah ihn sprachlos an, dann rührte sie nervös mit einem kleinen Löffel in ihrem Kaffee herum. Auf eine Antwort hingegen wartete er erneut vergebens.

„Was denn nun?“

Doch seine Mutter ließ sich zu nichts drängen und malträtierte weiterhin ihren Kaffee.

„Auch gut.“ Angefressen leerte Marc seine Tasse. Er sah sich im Zimmer um. In dem Raum, in dem er einen nicht unbeträchtlichen Teil seiner Kindheit und seiner Jugend verbracht hatte. Sein Zuhause. Welches Zuhause? An den Wänden und auf den Ablagen fehlten jegliche persönliche Erinnerungen. Nur gewöhnlicher Plunder. Niemand konnte sich vorstellen, dass hier einmal ein Kind gelebt hatte. Marc selbst auch nicht. Ein Kind namens Marc König hatte es nie gegeben. Und wenn doch, so war es längst gestorben.

„Hast du eigentlich Fotos von früher?“, fragte er. Er wollte all das nicht wahrhaben.

Seine Mutter stand auf und begab sich wortlos nach oben in ihr Schlafzimmer. Wenige Minuten später kam sie mit einem grünen Album zurück. Ein vergilbtes Giftgrün. Sie legte es ohne weiteren Kommentar vor ihn hin.

Marc sah erst seine Mutter und dann das Album an. Er zögerte. Dann schlug er es auf und blickte auf das, was ihm eben noch Unbehagen bereitet hatte. Seine eigene Vergangenheit. Er erblickte einen etwas dicklichen Jungen, der, nur mit Unterhosen bekleidet, im Sand spielte. Mit einem mulmigen Gefühl blätterte er weiter. Und sah immer wieder das Kind, das er eben noch für tot erklärt hatte. Er sah es wachsen. Von Seite zu Seite. Von Jahr zu Jahr. Und seine Mutter älter werden. Ansonsten ähnelten sich die Aufnahmen. Entweder hinten im Garten oder vor dem Haus, selten außerhalb des elterlichen Bezirks. Nur seinen Vater vermisste er auf den Fotos.

„Schön.“ Er schlug das Album zu. Ein Brocken im Hals hielt ihn von weiteren Bemerkungen ab. Mit einem Schluck Kaffee versuchte er diesen Knäuel aus Erinnerungen hinunterzuspülen. Er hätte gerne mit etwas Stärkerem nachgeholfen, doch diese Blöße wollte er sich nicht geben. Nicht vor seiner Mutter. Immer darauf bedacht, der nette anständige Sohn zu sein.

„Hast du diese Fotos noch nie gesehen?“, fragte seine Mutter, als sie das Album beiseitelegte.

„Nein. Oder ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Ist doch schon so lange her, dass ich ausgezogen bin“, antwortete er mit einem schwachen Lächeln. Mit neunzehn auf die Universität nach Lüttich. Obwohl nur hundert Kilometer von zu Hause entfernt, war er doch die meiste Zeit über dort geblieben. Auch in den Ferien. Er hatte immer vorgegeben, etwas Stoff aufarbeiten zu müssen. Dabei war dies nur ein willkommenes Alibi, um nicht nach Hause kommen zu müssen. Flucht vor der eigenen Familie. In Belgien hatte er auch Sophie kennengelernt, mit der er nach den gemeinsamen Studien zusammengezogen war. Zwei Jahre später dann die Heirat. Der offizielle Abschied vom Elternhaus. Der endgültige Bruch. „Nein, ich kann mich nicht erinnern.“

„Willst du noch etwas Kaffee?“ Seine Mutter wollte diese Diskussion beenden.

Doch nicht so Marc. „Nein. Danke. Aber hast du nicht noch ältere Aufnahmen? Von ganz früher. Bevor du Vater kennen gelernt hast. Von dir. Oder vielleicht von ihm.“ Welche Überwindung musste ihn diese Frage gekostet haben.

Mit ernstem Blick sah seine Mutter ihn an. „Ich …“ Ihre Stimme erstarb zu einem Flüstern. „Warte.“

Mit dem alten Fotoalbum ging sie nach oben, mit einigen einzelnen Aufnahmen in der Hand kam sie wieder runter. „Hier.“

Es waren fünf an der Zahl. Auf jedem Bild seine Mutter. Als Kleinkind, als Kind, als Jugendliche. Die Familienähnlichkeit war verblüffend. Spätestens hier hatte er den Beweis, dass er nach ihr geschlagen war. „Und Vater? Hast du keine Fotos von ihm?“

„Nein. Es gibt keine. Du darfst nicht vergessen, dass in seiner Jugendzeit Kameras ein seltenes Gut waren. Ein Luxusartikel, und seine Familie war arm.“ Dann stand sie wieder auf und räumte die Kaffeekanne und die Tassen weg.

„Und später? Hier in eurem Haus. Was hätte es gekostet, wenn jemand ein Foto von ihm gemacht hätte? Man könnte fast meinen, dass Vater nie existiert hat. Nicht die geringste Erinnerung an ihn.“ Marc verstand nicht, weshalb er sich so ereiferte und entschuldigte sich.

„Schon gut“, erwiderte seine Mutter, die sich erschrocken umgedreht hatte und sich mit beiden Händen gegen den Tisch stemmte. Als hätte sie urplötzlich eine schwere Last zu tragen. „Er hat doch die Kamera geführt.“

Dem gab es nichts entgegen zu setzen und so kam Marc auf sein ursprüngliches Anliegen zurück. „Dieser Hans, wer ist er? Was hat er mit unserer Familie zu schaffen?“

Doch seine Mutter wich aus. „Ich hatte mir immer gewünscht, dass du zu deines Vaters Lebzeiten etwas mehr Interesse für deine Familie und für ihn gezeigt hättest. Dann wäre er wahrscheinlich leichteren Herzens von uns gegangen.“

Marc faltete seine Hände vors Gesicht und schloss die Augen. Er wirkte angeschlagen. Auch weil ihm klar war, dass sie recht hatte. Abgründe taten sich auf. Der Gedanke an eine Versöhnung mit seiner Mutter schwelte schon länger in ihm. Doch vorher blieb noch so viel aufzuarbeiten. Es galt zu klären, wer wem was angetan hatte. Und dabei oblag es nicht ihm, den ersten Schritt zu tun. Und so hatte er es dabei belassen, wohl wissend, dass die Zeit gegen sie, gegen ihre Aussöhnung, lief. Denn seine Mutter hatte die Achtzig bereits lange überschritten. Auch wenn sie geistig fit geblieben war.

„Papa hat oft nach dir gefragt. Und wie es dir ginge.“ Sie trieb den Keil noch tiefer in Marcs Brust. Doch dieser hatte längst sein Schutzschild ausgefahren.

„Das hätte er sich früher überlegen müssen.“ Geschickt konterte er den Schlag auf altbewährte Weise. „Wenn du mir nicht sagen willst wer dieser Hans ist.“ Marc hatte seine Jacke an sich gerissen und war schon auf dem Weg in den Flur. Er hatte sich keine Antwort mehr erwartet, als diese ihn doch noch mit voller Wucht traf und ihn endgültig im Trümmerfeld seiner Familie versinken ließ.

„Also gut“, hörte er seine Mutter sagen. „Hans ist dein Bruder.“

Hamburg

Zwei Jahre auf den Tag genau waren vergangen, seit Pits Frau ihn verlassen hatte. Sie zu ihrem Liebhaber nach Berlin gezogen war. Und die beiden Kinder mitgenommen hatte.

Pit wollte an diesem besonderen Datum nicht alleine sein und hatte seinen Kumpel Jack auf ein Glas eingeladen. Beide saßen an diesem freundlichen Sommertag auf einer der zahlreichen Terrassen an der Binnenalster und ließen sich ihr Bier schmecken. Dabei sahen sie den zahlreichen Röcken zu, die leicht und beschwingt durch das belebte Hamburg tanzten. Wobei die Sonne viel nacktes Fleisch kitzelte.

„Hättest du immer nur gekuckt.“ Brutal ehrlich wie immer erinnerte Jack Pit an den Anlass ihrer Mußestunde.

Zwei Jahre Verlassen Sein. Seltsamer Grund für Festlichkeiten. Wie oft hatte Pit seine Kinder in all der Zeit gesehen? Zehn, höchstens zwölf Mal. Oft war seiner Ex-Frau in letzter Minute etwas dazwischen gekommen. Oder sie hatten den Zug verpasst. So hatte sie sich nachträglich an ihrem Mann gerächt. Für all die Erniedrigungen, für all seine Abenteuer. Vor allem aber für all die Fragen der Kinder. Deren Schmerz, deren Traurigkeit, wenn Papa mal wieder nicht zu Hause war. Oder wenn die Eltern sich gestritten hatten.

Anfangs war ihm die Trennung noch entgegen gekommen. Er hatte seinen Frauengeschichten ohne Störung frönen, sein neues Junggesellendasein genießen können.

Doch seit dem letzten Besuch seiner Kinder war nichts mehr wie zuvor. Zwei Monate waren seit jenem verhängnisvollen Treffen, an dem etwas in ihm zerbrochen war, vergangen.

Jack saß schweigend am Tisch. Ihm war bewusst, dass er ohnehin schon zu viel gesagt hatte. Mit blinzelnden, weil von der Sonne geblendeten Augen sah er sein Gegenüber an. Er wusste, dass sein Freund dem Liebhaber seiner Frau alle Schuld in die Schuhe schob. Diesen für den Zusammenbruch seiner Familie verantwortlich machte. Er fragte sich aber auch, wieso ein eigentlich intelligenter und rational denkender Mensch sich nicht eingestehen konnte oder wollte, dass er selbst am Ursprung dieses fatalen Geschehens gestanden hatte. Doch Jack hatte es damals nicht gewagt, seinen Kumpel auf diese verhängnisvolle Entwicklung aufmerksam zu machen. Er hatte nur tatenlos dabei zugesehen. Er musste sogar zugeben, dass es ihm eine gewisse Freude bereitet hatte, bei diesem Schauspiel in der ersten Reihe zu sitzen. Neugierig auf das, was noch kommen sollte. Voyeurismus des Trivialen. Oder doch unbewusster Neid. Auf den aufstrebenden Superbullen. Mit seiner hübschen Frau. Und den netten Kindern. Und all den anderen Frauen, die zu ihm aufblickten. All das, was Jack nicht besaß.

Er nahm sein Glas und leerte es in einem Zug. Und bestellte zwei neue.

„Ist aber das Letzte“, bemerkte Pit, der sich genug an den unzähligen nackten Beinen gelabt hatte, grinsend. Doch sein Lächeln wirkte aufgesetzt.

„Sagt der Richtige.“

Lässig kratzte sich Pit am Kinn. „Ah ja … Erzähl mir doch von deinen Eseln.“

„Meinen ... verstehe.“ Jack lehnte sich zurück. Er war nun in seinem Element. In der Defensive. Der Dauerkartenbesitzer des HSV. Auch wenn sein Herz eigentlich dem F.C. St.-Pauli gehörte. Doch sein Verstand hatte sich für den schöneren Fußball entschieden. Für die Ästhetik. Für die Ordnung. Gegen die Emotion. Gegen das Chaos der Gefühle. Weshalb er auch noch nie eine feste Bindung eingegangen war. Er, dessen Wohnung immer pingelig genau aufgeräumt war. Im Gegensatz zu der seines Kumpels.

Doch all das zählte in diesem Moment nicht. „Meine Esel. Sie stehen auf ihrer Wiese. Manchmal besuche ich sie. Ich setze mich dann zu ihnen. Und lese ein Buch. Irgendeines. Manchmal aber sehe ich den Eseln einfach nur zu. Was die so treiben. So denken. Sie stehen herum und kucken sich seelenruhig um. Ihr Blick auf immer denselben Punkt gerichtet. Sie lesen gewissermaßen auch in einem Buch.“

„Ah ja“, bemerkte Pit, der an Jack vorbei schwermütig auf die Binnenalster starrte. „Welche Bücher lesen Esel denn? Von Artgenossen geschriebene oder welche?“

„Ihre Bücher halt“, antwortete Jack zögerlich. Er hatte sich schon immer mit Pits Sarkasmus schwer getan. „Ihr Buch des Lebens. In dem es von Autos, Traktoren und Zügen nur so wimmelt. Und von vorbeiziehenden Wolken. In Form von Möhren, Äpfeln ...“

„Und von lesenden Fantasten“, ergänzte Pit mit unbewegter Miene. „Du bist dir aber schon bewusst, welchen Stuss du manchmal von dir gibst. Oder?“

„Stuss?“ Jack war sich dessen offenbar nicht bewusst. „Ich weiß nicht, was du meinst.“

„Ein anderes Mal, ich bin nun ziemlich müde.“

Am anderen Morgen betrat Pit übel gelaunt sein Büro. Ärger und Trauer wüteten in ihm. Weil er noch vor seinem Frühstück ein Fax von seiner Ex vorgefunden hatte. Sie hatte ihm in wenigen, jedoch unmissverständlichen Worten mitgeteilt, dass seine Kinder keine Lust verspürten, am nächsten Wochenende nach Hamburg zu kommen. Dass sie viel für die Schule zu arbeiten hätten. Doch Pit wusste, dass dies nur ein Vorwand war. Denn seit ihrem letzten Besuch hatte sich zu viel verändert. Zwar hatte die Beziehung zwischen Pit und seinen Kindern nie unter einem besonders günstigen Licht gestanden, doch an dem Wochenende hatte seine Tochter ihm eröffnet, dass sie viel lieber zu Hause in Berlin bleiben möchte. Dass zwei, drei Mal im Jahr doch völlig ausreichen würden, um sich gegenseitig anzuöden. Und dass es viel lustiger mit Mamas neuem Freund wäre. Der würde viel mit ihnen unternehmen. Vor allem an den Wochenenden. Punkt. Aus.

Er setzte sich hin. Er musste dies ausblenden, denn er wusste, dass er bald Resultate aufzeigen müsste. Ansonsten der Fall auf einen anderen übertragen würde. Auf einen, der fähig war, sich vierundzwanzig Stunden am Tag darauf zu konzentrieren.

In großen Blockbuchstaben schrieb er das Wort Einstich auf ein Blatt Papier. Mit seinem Stift malte er einige Figuren darum herum. Was ihm gerade in den Sinn kam. So auch einige Herzchen.

Okay, mal angenommen, es ist nichts injiziert worden. Dann muss etwas entnommen worden sein. Blut. Klar. Aber wozu? Und in welcher Menge?

Er schrieb das Wort Blut in eines der Herzchen. Dies passte irgendwie zusammen. Dann kramte er den Obduktionsbericht hervor. Doch er fand keine Antworten darin und rief erneut den Pathologen an.

„Nein“, antwortete dieser gereizt. „Nein, dem Jungen ist keine große Menge Blut entzogen worden. Wenn, dann höchstens ein bisschen. So viel, wie zum Beispiel für eine Blutuntersuchung benötigt wird.“

„Eine Blutuntersuchung?“

„Vielleicht. Vielleicht auch nicht.“

Pit bedankte sich und entnahm seinem Block ein weiteres leeres Blatt. Er betitelte es mit Blutanalyse.

Darunter schrieb er Cholesterin. Mehr fiel ihm nicht ein. Er suchte die passenden Seiten im Internet auf. Die präsentierten sich ihm aber insgesamt als zu kompliziert. Und so nahm er den Telefonhörer abermals zur Hand.

Ein Schnauben am anderen Ende der Leitung empfing ihn. „Erklär mir mal, wie ich meine Arbeit anständig verrichten soll, wenn du mich ständig anrufst“, entrüstete sich der Gerichtsmediziner. „Verdammter Mist.“

„Du bist doch mein Freund“, erwiderte Pit mit aller Seelenruhe. „Alles was ich brauche, sind ein paar Stichwörter, eine kleine Zusammenfassung, was man so alles mit einer Blutanalyse bestimmen kann. Um zwölf beim Italiener?“ Pit wusste, dass bellende Hunde nicht beißen. Er war lange genug verheiratet. Und die Hunde hatten erst zugebissen, als sie nicht mehr gebellt hatten. Dafür aber ordentlich. Bis auf die Knochen. Unbewusst rieb er sich beide Unterarme. Nachdenklich betrachtete er das Foto seiner Kinder, das immer in Sichtweite auf seinem Bürotisch stand.

„Hallo.“ Nach einem ereignislosen Morgen begrüßte Pit den Pathologen zur Mittagszeit auf der Terrasse von dessen Lieblingsitaliener. Beide Männer reichten sich die Hand.

„Tut mir leid für heute Morgen“, meinte der Arzt ein wenig beschämt. „Ich war ziemlich gestresst. Kennst du doch auch.“

„Mach dir deswegen mal keinen Kopf.“

„Hatte ich auch nicht vor.“ Der Mann orderte ein Risotto und Pit schloss sich einfachheitshalber an. Und bestellte eine Flasche Sprudelwasser dazu. San Pellegrino, passend zum italienischen Ambiente.

„Also, was möchtest du wissen?“

Eine Stunde später hockte Pit wieder in seinem Büro und brütete über den beim Essen erhaltenen Informationen.

Biochemische Untersuchungen, chromosomale Anomalien, Krankheiten. Er konnte keinen Zusammenhang erkennen.

Genetische Analysen. Bei der Erwähnung hatte er an Vaterschaftstests denken müssen. Denn einen solchen hatte er vor einigen Jahren über sich ergehen lassen müssen. Einer seiner One-Night-Stands hatte ihn angesucht. Sie hatte in ihm den Verursacher ihrer Schwangerschaft vermutet. Was sich dann zwar als falsch erweisen sollte, aber dennoch der letzte Tropfen war. Seine Frau schmiss ihn noch am selben Tag aus der gemeinsamen Wohnung. Denn auch, wenn er nicht der Vater war, so hatte er doch nie geleugnet, mit der jungen Frau geschlafen zu haben.

Scheiße, dachte er zurückblickend. Und versuchte sich erneut auf seine Arbeit zu konzentrieren. Auch wenn dies ihn viel Mühe kostete.

Genanalysen. Genetischer Fingerabdruck.

„Verdammt, Herr Doktor, Sie hätten mir schon noch etwas mehr Details geben können“, grummelte er vor sich hin und wandte sich seinem ungeliebten PC zu. Der gesamte Nachmittag ging dabei drauf, doch ohne wesentliche Erkenntnisse zu erlangen. Außer dass jeder, auch genetisch gesehen, einmalig ist. Außer eineiigen Zwillingen. Wenn auch mit Abstrichen. Der Vaterschaftstest ließ erneut grüßen. Denn seine ehemalige Geliebte hatte Zwillinge bekommen. Wie er aus zweiter Hand erfahren hatte.

Einen Menschen zu identifizieren. Das klingt interessant. Ein Kind wird gesucht.

Doch Mischa war nicht gesucht worden. Und wie er es sich auch zurechtlegte, stets klang es ziemlich absurd.

Ein Kaffee musste her. Momentaufnahmen seiner ehemaligen Gespielin kamen ihm am Kaffeeautomaten in den Sinn. Doch allesamt unscharf. Vor allem ihre Gesichtszüge hatten sich bereits aufgelöst.

Noch zwei Kinder, die ohne Vater aufwachsen. Ihn nicht mal kennen ... Ach, was mache ich mir Gedanken über anderer Leute Kinder. Er nahm sein Getränk und kehrte an seinen Arbeitsplatz zurück.

Ihn nicht kennen. Eine neue Idee schoss ihm in den Kopf. Na klar, das könnte eine Erklärung sein. Wenn es nicht der leibliche Vater ist. Der Junge ein Kuckuckskind. Oder der Vater … der Stiefvater?

Doch ein Blick in seinen Computer machte schon mal die letzte Hypothese zunichte. Das wäre auch zu schön gewesen. Er musste mit der Mutter über die Möglichkeit eines Kuckuckskindes reden. Eine heikle Sache. Er schob diese Idee beiseite.

Das nächste Stichwort auf seinem Zettel: Blutgruppenbestimmung. Er musste an seine eigenen Kinder denken. Und erinnerte sich daran, dass beide ein Kärtchen mit ihrer jeweiligen Blutgruppe besaßen. Er musste wissen, ob die Blutgruppe des Jungen bekannt war. Und er konnte sich so zugleich erkundigen, ob in der Vergangenheit eventuell noch andere Tests durchgeführt worden waren. Analysen, die ihm vielleicht irgendeinen Hinweis liefern konnten. Aber dazu müsste er sich erneut zu Mischas Eltern begeben. Und danach war ihm an dem Tag nicht zumute. Er verschob das Ganze auf den nächsten Morgen.

Gibt es eigentliche seltene Gruppen? Diese Frage kam ihm spontan in den Sinn. Er gab den Begriff Seltene Blutgruppe ins Internet ein.

Einige kamen wohl häufiger vor als andere, doch von selten konnte keine Rede sein. Ein Link machte ihn auf Gendefekte im Zusammenhang mit Blutgruppen aufmerksam. Doch das führte ihn dann doch zu weit.

Luxemburg

Marc saß in dem großen abgewetzten Ledersessel, in dem immer sein Vater gesessen hatte. Er war bemüht, die beiden Enden seiner Gedanken beisammen zu bekommen. Doch es wollte ihm partout nicht gelingen.

„Wer? ... Du? Oder Vater? … Oder?“

Der abweisende Blick seiner Mutter sprach Bände. „Dein Vater. Lange vor unserer Zeit. Hans ist ja schon älter.“

„Ja, verdammt, hab ich doch selbst gesehen. Habe gedacht, dass es irgendein Onkel sei … Scheiße. Aber gleich mein Bruder.“ Aufgeregt sprang er hoch. „Wieso?“ Resignierend ließ er sich wieder in den Sessel fallen.

Seine Mutter blickte zu Boden. Sie schämte sich für etwas, mit dem sie rein gar nichts zu tun hatte.

„Wieso hast du mir das verschwiegen ... Ihr, wieso?“ Marc gab sich Mühe, Tränen der Verzweiflung und der Wut zurückzuhalten. Vor seiner Mutter wollte er nicht weinen.

„Du hast darauf bestanden, es zu wissen“ Die Angeklagte wehrte sich. „Du wolltest es so. Ich hätte dir nichts sagen sollen … Hans wurde kurz nach Kriegsende geboren.“

„Und dann?“ Marc schrie seine Mutter an. „Was war dann? Nun erzähl mir alles, verdammt. Ich habe ein Recht darauf, das zu erfahren.“ Er musste sich zurückhalten, um sie nicht an den Schultern zu packen und durchzurütteln.

„Papas erste Frau habe ich nie kennen gelernt.“ Sie fuhr mit brüchiger Stimme fort. „Ich habe gehört, sie wäre eine italienische Krankenschwester. Nach dem Krieg ist sie mit ihrem Sohn in Italien geblieben. Sie ist dann irgendwann gestorben. Erst sehr viel später, als ich schon mit deinem Vater verheiratet war, ist Hans dann plötzlich aufgetaucht. Er wollte seinen Vater kennenlernen. Doch der ... der wollte nichts von ihm wissen. Hat ihn fortgejagt. Immer wieder. Und irgendwann ist er auch weggeblieben. Bis gestern beim Begräbnis.“

„Weggejagt, seinen eigenen Sohn.“ Marc umschloss seinen Kopf mit beiden Händen und starrte einen unbestimmten Punkt auf dem Fußboden an. Er wollte nichts mehr hören.

Irritiert von seinen eigenen Gefühlen sprang er auf und ließ seine Mutter alleine zurück. So wie damals sein Vater den eigenen Sohn. Doch das fiel Marc in seiner Erregung nicht auf.

Als er in seinem Auto hinter dem Lenkrad kauerte, ließ er seinen Tränen freien Lauf. Dabei schlug er immer wieder mit dem Kopf gegen das Seitenfenster. Bis er genug gebüßt hatte. Pünktlich zum Mittagessen erschien er zu Hause. Als sein Sohn aus der Schule kam, saß er wie jeder vorbildliche Familienvater am Tisch. Wenn auch etwas verschlossener als üblich. Dieses Manöver gelang ihm seinem Sohn gegenüber, doch seine Frau konnte er nicht täuschen.

„Was ist mit dir?“, wollte sie wissen, nachdem Luca nach dem Mahl auf sein Zimmer gegangen war.

Marc atmete heftig durch, als könnte er damit die lästigen Fragen vertreiben. Doch der bohrende Blick seiner Frau wich nicht von ihm. „Also gut.“ Er erzählte Sophie, was er erfahren hatte.

Nach seinen Ausführungen saßen beide zusammen. Sophie hatte ihre Hand tröstend auf seinen Arm gelegt. „Du musst dich nicht dafür schämen. Du trägst keine Schuld. Viele Männer haben Kinder von verschiedenen Frauen.“

„Darum geht es doch gar nicht.“ Er schüttelte ihre Hand wie eine lästige Fliege ab und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Hast du denn nichts verstanden? Er hat seine Familie im Stich gelassen, seinen Sohn verjagt ... Ein Monster. Bin ich auch ein Monster?“

Doch Sophie war schon aufgestanden. Sie hatte genug gehört. „Wenn ich ohnehin nichts verstehe, kann ich dir auch nicht helfen.“ Sie begab sich ins Fernsehzimmer, aus welchem auch bald darauf unmissverständliche Geräusche drangen. ¨

Ich hasse dich, Vater, ich hasse dich.

Nachdem seine erste Wut verraucht war, plagte ihn sein schlechtes Gewissen. Er schlich zu seiner Frau und setzte sich neben sie aufs Sofa. Er legte einen Arm um sie und schaute sich einige Minuten lang eine dieser unsäglichen Kochshows, Nachmittagsfutter für gelangweilte Hausfrauen, an. Doch er wusste, dass seine Frau nicht in diese Kategorie gehörte. Es war ihr wahrscheinlich egal, was im Fernseher lief.

„Tut mir leid für vorhin“, flüsterte er. So kannte Sophie ihn nicht. Sie schaltete den Fernseher aus und sah ihn verdutzt an. Dann drückte sie ihn fest an sich. Marc weinte. Zum zweiten Mal an dem Tag.

„Hey, hey.“ Seine Frau tätschelte ihm den Hinterkopf. „Du bist kein Monster.“

Irgendwann schlief er ein. Die Aufregung hatte ihn geschafft. Nach einer Weile erhob Sophie sich vorsichtig und entfernte sich.

Als er gegen Abend wach wurde, blieb er einen Augenblick lang auf der Couch hocken. Er betrachtete all die vertrauten Dinge, die ihn umgaben. Die karminroten Sessel, der Ebenholztisch, die mit ungelesenen Büchern gefüllten Regale. Und die aus diversen Nordfrankreichurlauben mitgebrachten Aquarelle an der Wand. Fischer auf Booten, Fischer, die Netze auswarfen, Fischer, die dies und das taten.

Wieso wurden diese Fischer nicht beim Kacken gemalt?

Er erhob sich schwerfällig und ging ins Badezimmer. Nachdem er sein Gesicht minutenlang mit kaltem Wasser benetzt hatte, fand er so langsam in die Realität zurück. Er begab sich zu seiner Familie an den gedeckten Küchentisch. Kein Wort zu den Geschehnissen. Auch später am Abend, als Luca im Bett lag und er alleine mit seiner Frau im Wohnzimmer saß, brachte er kein Wort über die Lippen. Alles wie gehabt. Als ob es die letzten Stunden nicht gegeben hätte. Stattdessen lief im Hintergrund Musik aus ihrer Jugendzeit.

Supertramp. Breakfast in America.

Er hatte sich und seiner Frau einen Tee zubereitet.

Weihnachtsträume stand auf der Packung. Ungeachtet der schwülen zwanzig Grad, die noch immer draußen herrschten und ein Sommergewitter ankündigten.

Am anderen Morgen, das nächtliche Gewitter hatte die Luft gereinigt, rief Marc seine Bank an. Er erfuhr, dass auch ohne ihn alles reibungslos lief.

Beide saßen am selben Frühstückstisch, doch jeder war in seinen eigenen Gedankengängen abgetaucht. Er schwieg und sie wagte es nicht, in diese ihr unbekannte Welt einzudringen. Die Vertrautheit des Vortages war nur noch eine Erinnerung.

Erst das Telefon riss Marc unbarmherzig aus seinen Tagträumen.

„Ja, geht“, murmelte er. Ausdruck für sein angespanntes Innenleben. Die nächsten Sätze wurden vom Gebimmel der Küchenuhr übertönt.

„Es war Mutter“, eröffnete er seiner Frau, als er in die Küche zurückkam. „Sie hat einen Termin beim Notar. Ich muss sie nachher abholen und dorthin fahren.“

„Das ging aber flott.“ Sophie wunderte sich. „Beim Tod meiner Mutter hat es Wochen gedauert, bis der Notar sich gemeldet hat.“

„Na ja.“ Marc grinste schwach. „Du kennst doch Mutter. Die hat den Mann wahrscheinlich wahnsinnig gemacht mit ihren Anrufen. Du weißt doch wie sie sein kann. Mir hat sie erzählt, dass sie die Sache schnellst möglichst über die Bühne bringen will. Ist ja auch in meinem Interesse. Ich meine, das mit diesem Bruder und so. Obwohl Mutter mir erklärt hat, dass er nichts erben wird, da Vater ohnehin nichts besessen hat. Alles gehört de facto meiner Mutter, auch das Haus. Sie haben einen Ehevertrag abgeschlossen, der all das regelt.“

„Ganz schön schlau, deine Mutter, nicht wahr?“, monierte Sophie, die ihre Schwiegermutter in solchen Dingen nur allzu gut kannte. Wie oft schon hatte sie sich in der Vergangenheit zusammenreißen müssen, um nicht auf eine anmaßende Bemerkung der alten Frau zu reagieren? Andeutungen, die allesamt darauf hinausliefen, in welch gemachtes Nest Sophie sich gesetzt hatte. Des häuslichen Friedens wegen hatte sie sich eine adäquate Antwort immer wieder verkniffen. „Sie hat alles vorausgesehen.“

„Wie?“ Marc fuhr sie an. „Was willst du damit sagen? … Tut mir leid, bin wohl etwas … nervös.“

„Ist schon okay.“ Sie tat sich schwer damit die richtigen Worte zu finden. „Ich habe sagen wollen, dass deine Mutter, ich meine, wieso tut deine Mutter das? Erst den Ehevertrag, und nun diese Hatz. Sie scheint das alles vorausgeplant zu haben ...“

„Was genau meinst du?“

„Na, das mit deinem, äh, Halbbruder. Verstehst du? Das gibt auch dem Ehevertrag einen Sinn.“ Sie erhoffte sich eine adäquate Antwort.

Doch er blieb stumm und blickte stattdessen stur vor sich hin. „Es kann doch auch andere Ursachen für einen solchen Vertrag geben“, entfuhr es ihm nach einer gefühlten Ewigkeit.

„Klar“, antwortete seine Frau. „War nur so eine Idee. Aber andererseits würde das zu ihrer Eile passen.“

„Hm. Ich weiß nicht. Aber wieso? Diesem Hans steht doch ohnehin nichts zu.“

„Vergiss nicht, dass deine Mutter eine alte Frau ist. Und die ticken für gewöhnlich anders. Ich kann mir schon vorstellen, dass das Ganze sie gewaltig belastet. Sie will wissen, ob ihr Plan, falls es denn einer war, aufgegangen ist. Sie braucht eine offizielle Bestätigung. Das beschäftigt sie momentan. Und deshalb dieses ungestüme Vorgehen ... Wobei ich sie verstehen kann. Mit dieser doch etwas dunklen Vergangenheit deines Vaters, von der du mir berichtet hast.“

„Hm, ja, vielleicht ... Ich bin jetzt müde. Ich möchte noch ein bisschen ausruhen, bevor ich zu meiner Mutter fahre.“ Er versteckte sich hinter seiner Zeitung.

Sophie hatte verstanden. Sie zog sich nachdenklich ins Wohnzimmer zurück, der Dinge harrend, die da kommen sollen.

Eine Stunde später begrüßte Marc seine Mutter. In der Rolle des ergebenen Sohnes. Die letzte Konfrontation war bereits verdrängt.

Zu Fuß begaben sie sich zum Notar, dessen Amtsstube sich nur einen Wohnblock weiter befand. Sie nahmen im Warteraum Platz. Die Sekretärin teilte ihnen mit, dass der Termin sich noch etwas hinauszögern würde und brachte ihnen zwei Tassen Kaffee.

Marc bedankte sich. So manch obskurer Gedanke ging ihm durch den Kopf. Nach einer ganzen Weile befragte er seine Mutter nach Details zum Ehevertrag. Sophies Fragen hatten Zweifel in ihm geweckt. Doch seine Mutter ging nicht darauf ein und schaltete auf stur. Im selben Augenblick wurde wie auf Bestellung die Tür zur Kanzlei geöffnet und beide wurden von der Sekretärin hereingebeten.

„Tut mir leid, dass ich Sie habe warten lassen.“ Überschwänglich empfing ein etwas hektischer älterer Herr Mutter und Sohn. „Aber ich habe noch ein paar Informationen einholen müssen. Im Regelfall erledige ich das in aller Ruhe und nicht kurz vor dem Erscheinen meiner Mandanten, doch Ihre Mutter hat mich ein wenig, nun ja, Sie verstehen.“ Er grinste.

Marc verzog kurz den Mund ob dieser verhaltenen Kritik, derweilen seine Mutter noch immer regungslos verharrte.

„Hm, gut dann, dann wollen wir mal“, sagte der Mann, dessen einstudiertes Grinsen nun einem trockenen Beamtenton gewichen war. Er bat die beiden Platz zu nehmen. Er zog seine Krawatte zurecht, räusperte sich und wollte mit seinem einstudierten Vortrag beginnen, als Marcs Mutter ihm zuvorkam. „Der Ehevertrag regelt alles, nicht wahr? Sie haben den doch gelesen, oder?“

„Aber sicher, gnädige Frau.“ Er knirschte die Antwort zwischen den Zähnen hervor. Marc verpasste seiner Mutter einen leichten Stoß mit dem Ellbogen, um sie zum Schweigen zu bringen. Doch weit gefehlt.

„Die anderen dürfen nichts … „