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Als Lincoln Hall erfährt, dass sein Vater, den er seit zwanzig Jahren nicht gesehen hat, gestorben ist, überlegt er nicht lange, sondern packt seine Sachen und fährt los. Mitten in der Nacht erreicht er die Farm seines Vaters und staunt nicht schlecht, als ein attraktiver Unbekannter ihn wenig herzlich begrüßt. Chase ist ruppig, übellaunig und verdammt sexy - und sein Stiefbruder ...
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Seitenzahl: 266
Veröffentlichungsjahr: 2017
ABBI W. REED
Chasing Home
Mit dir allein
Roman
Als Lincoln Hall erfährt, dass sein Vater, den er seit zwanzig Jahren nicht gesehen hat, gestorben ist, überlegt er nicht lange, sondern packt seine Sachen und fährt los. Mitten in der Nacht erreicht er die Farm seines Vaters und staunt nicht schlecht, als ein attraktiver Unbekannter ihn wenig herzlich begrüßt. Chase ist ruppig, übellaunig und verdammt sexy – und sein Stiefbruder …
Mein Handy läutete zum zweiten Mal, gerade als ich mit einem erschöpften Stöhnen von Mikes verschwitztem Körper glitt. Unsere Atmung ging laut und heftig. Beim ersten Klingeln hatte ich das Handy noch ignoriert, doch nun, da wir beide gekommen waren und Mike anfing mir mit diesem verträumten Glanz in den Augen über die Brust zu streicheln, war ich dankbar für die Ablenkung.
Mit einer gemurmelten Entschuldigung angelte ich das Handy vom Nachttisch und rutschte an den äußeren Rand des Bettes. Eine unbekannte Nummer leuchtete auf dem Display auf. Unter anderen Umständen wäre ich gar nicht erst rangegangen. Ich ließ es noch zwei Sekunden lang gegen meine Handfläche vibrieren, ehe ich abhob. »Hallo?«
»Guten Tag, spreche ich mit Mr Lincoln Hall?«
»Der bin ich«, antwortete ich mit einem irritierten Stirnrunzeln. Die Stimme war mir ebenfalls unbekannt und klang zu alt für einen vergessenen Liebhaber.
»Entschuldigen Sie die Störung. Ich bin Andrew Meyers, der Anwalt Ihres Vaters. Das heißt, ich war der Anwalt Ihres Vaters«, korrigierte er sich. »Es tut mir leid, Ihnen das mitteilen zu müssen, aber Ihr Vater ist vorgestern Nacht verstorben.«
Vater. Ich habe keinen Vater, war das Erste, was mir in den Sinn kam. Ich kannte einen Mann namens David Hall, der meine Mutter im Kokain-Rausch backstage nach einem Konzert geschwängert hatte. Die Beziehung hatte genau ein Jahr gehalten. Ich war sieben gewesen, als er sich das letzte Mal die Mühe machte vor unserer Haustür aufzukreuzen, um danach auf eine Tournee zu verschwinden, von der er nie mehr zurückkehrte. Er hatte mir sein viel zu großes Cap mit dem Logo seiner Band auf den Kopf gesetzt und versprochen, mich nächsten Sommer auf einen Campingtrip mitzunehmen, bei dem wir unser Essen aus einem Fluss fischen und unter freiem Himmel schlafen würden. Monatelang bettelte ich meine Mutter an, bis sie mir eine teure Kinderangel kaufte, doch dieser Sommer mit meinem Vater kam nie. Wir hatten keinen Kontakt. Schon seit zweiundzwanzig Jahren nicht mehr.
»Mr Hall, sind Sie noch dran?«
»Das ist tragisch«, brachte ich mit einem trockenen Räuspern hervor. Die Worte klangen genauso leer, wie ich mich fühlte. Tot. Mein Vater war gestorben. Schon vor zwei Tagen. Ich horchte in mich hinein, ließ die Botschaft noch etwas sacken und wartete darauf, von ihr getroffen zu werden, so wie es sein sollte, wenn man erfuhr, dass der eigene Vater verstorben war. Wartete auf irgendein Anzeichen dafür, dass der Tod dieses Mannes mir etwas bedeutete. Doch alles, was ich spürte, war Taubheit.
»Ich hätte Sie gerne schon früher angerufen, aber es war nicht leicht Sie zu erreichen. Von den Angehörigen wusste niemand, wie man Sie kontaktieren kann. Ich nehme an, Sie und Ihr Vater standen sich nicht besonders nahe?«
»Da haben Sie recht.«
Mike schien langsam ungeduldig zu werden. Er lag nackt auf dem Rücken, zog eine Schnute und rieb mit seinem nackten Fuß an meiner Hüfte.
»Es ist Ihnen vielleicht ein Trost zu wissen, dass er in seinen letzten lichten Momenten noch an Sie gedacht hat. Er war seit Monaten schwerkrank. Wussten Sie davon?«
Die Taubheit in mir wuchs. Ich packte das Handy fester und rutschte noch ein Stück weg von Mike und seiner Berührung. »Nein«, antworte ich so leise, dass ich nicht sicher war, ob Mr Meyers mich verstand.
»Krebs im Endstadium. Es ist wirklich sehr tragisch. Er war ein großartiger Mann.«
Das konnte ich nicht bezeugen. Ich hatte keine Ahnung, was für ein Mann mein Vater gewesen war. Ich konnte ihm nicht einmal mehr ein Gesicht zuordnen. Es kam mir falsch vor, Beileidswünsche von seinem Anwalt entgegenzunehmen. Mein Vater und ich waren Fremde, lose verbunden durch einen Nachnamen und ein paar gemeinsame DNA-Stränge.
Mr Meyers schien darauf zu warten, dass ich etwas erwiderte, doch ich schwieg. Mir fiel nichts ein, das ich noch hätte sagen können.
Schließlich räusperte er sich. »Die Beerdigung ist in zwei Tagen. Ich hatte gehofft, dass Sie vielleicht persönlich nach Iowa reisen würden, um ihm dort die letzte Ehre zu erweisen. Dann könnten wir uns treffen und alles Rechtliche klären.«
Iowa? Was in Gottes Namen hatte ihn nach Iowa verschlagen? Als meine Mutter mit ihm zusammen gewesen war, hatte er in Los Angeles gelebt. Ich hatte angenommen, dass er immer noch dort wohnte und vollgedröhnt mit wechselnden Frauen schlief, die alle viel jünger waren als er.
»Was meinen Sie mit ›alles Rechtliche‹?«, fragte ich.
»Ihr Vater hat Ihnen ein Erbe hinterlassen.«
Das war doch lächerlich. Ich wusste nicht, wieso dieser Mann überhaupt den Wunsch verspürt hatte, mir etwas zu vererben. Zu seinen Lebzeiten hatte er sich schließlich auch nicht für mich interessiert. Oder hatte er gar keine anderen Erben? Es sagte viel über unser Verhältnis aus, dass ich nicht einmal wusste, ob er noch andere Kinder gezeugt hatte.
»Das ist …« Meine Stimme versagte abermals. »Sie müssen wissen, dass ich seit mehr als zwanzig Jahren keinen Kontakt zu meinem Vater hatte. Es tut mir leid, dass er tot ist, aber ich will kein Erbe von ihm.«
»Sie werden also nicht nach Iowa kommen?«
»Nein.« Was sollte ich dort? Ich würde nicht so heuchlerisch sein und am Grab eines Fremden Tränen vergießen.
»Das ist bedauerlich. Sind Sie sich da absolut sicher? Ich kann mir vorstellen, dass Sie gerade ziemlich unter Schock stehen. Soll ich vielleicht später noch mal anrufen?«
»Ich bin mir sicher«, entgegnete ich knapp. »Hören Sie … Ich danke Ihnen für Ihren Anruf und dass Sie sich all die Mühe gemacht haben, aber mein Vater und ich hatten im Leben nichts miteinander zu tun und ich wüsste nicht, wieso das nach seinem Tod anders sein sollte.«
»Ich verstehe … Falls Sie das Erbe wirklich ausschlagen wollen, brauche ich allerdings Ihre schriftliche Zustimmung.«
»Von mir aus. Ich unterschreibe Ihnen, was Sie wollen.« Alles, nur damit dieses Gespräch endlich endete. Ich nannte Mr Meyers meine Adresse in Manhattan und legte nach einer Abschiedsfloskel auf. Das Telefon lag schwer wie Blei in meiner Hand. Alles war ganz und gar surreal, als wäre ich nicht wirklich da oder gefangen in einem Traum, aus dem ich nicht erwachen konnte.
»Das klang ernst.« Mike rutschte von hinten an mich heran und fing an, meine Schulter und meinen Nacken zu küssen. »Willst du darüber reden?«
»Nein.«
»Wirklich nicht? Manchmal hilft es …«
»Nein!«, wiederholte ich, heftiger diesmal.
Mike verstummte und zog sich zurück. Ich sah sein Gesicht nicht, aber ich war mir sicher, dass ich ihn gekränkt hatte und er nun schmollte.
Ich atmete tief durch. Meine Hände zitterten. Ich hatte seit Jahren nicht mehr geraucht, aber plötzlich verlangte es mich nach einer Zigarette. Oder einem Joint. Irgendetwas, um kurz abzuschalten und mich zu sammeln.
»Soll ich gehen?« Mike hatte sich vom Bett erhoben und fischte nach seinen Klamotten, die verstreut auf dem Fußboden lagen. Ich hörte an seiner Stimme, dass er bleiben wollte. Und dass ich das ebenfalls wollen sollte. Letzte Nacht hatte ich ihn zum ersten Mal bei mir übernachten lassen. Ein Fehler, wie ich mir nun eingestand. Davor hatte seine Stimme nie diesen hoffnungsvollen Ton gehabt, nachdem wir Sex gehabt hatten. Er war gekommen, er war gegangen. Es war einfach gewesen, genau so, wie ich meine Beziehungen mochte. Kein Drama, keine Verletzungen. Bloß Sex.
Wir hatten uns vor einem Monat in einem netten italienischen Lokal kennengelernt, in dem er als Aushilfe kellnerte. Er hatte Rotwein auf meinem Lieblingshemd verschüttet, und ich hatte ihn angeschrien. Als Wiedergutmachung hatte er mir seine Handynummer unter den Hosenbund geschoben. Seitdem sahen wir uns regelmäßig.
Ich spürte seinen Blick auf mir und wich ihm absichtlich aus. »Ich wäre jetzt lieber allein.«
Mike entgegnete nichts. Er zog sich fertig an und verschwand im Bad. Als er Minuten später wieder herauskam, begleitete ich ihn zur Wohnungstür. Draußen im Flur erwiderte ich zum ersten Mal, seit ich die Neuigkeit über meinen Vater erhalten hatte, seinen Blick.
»Tut mir leid wegen deinem Dad«, sagte Mike leise. Er war so alt wie ich, aber mit seinen Baggyhosen und der schief sitzenden Mütze sah er zehn Jahre jünger aus. Er war ein netter Kerl. Ich mochte ihn. Und dennoch …
»Danke.« Meine Hand verkrampfte sich um den Türstock. »Ich … ich melde mich.«
Mikes rechter Mundwinkel verzog sich zu einem traurigen Lächeln. Er wusste, dass ich mich nicht melden würde.
»Mach’s gut.« Mike drehte sich weg, ohne noch einmal zurückzusehen, die Hände tief in den Hosentaschen. Ich war kurz versucht, ihm hinterherzurufen. Ihn in mein Schlafzimmer zu zerren und dort weiterzumachen, wo wir aufgehört hatten, bevor das Klingeln meines Handys die Stimmung ruiniert hatte. Aber der Moment ging vorüber, Mike betrat den Aufzug, und ich schloss die Tür.
Minutenlang stand ich nur da, ohne mich zu bewegen. Ich dachte nicht einmal an meinem Vater. Ich war einfach vollkommen leer. Schließlich gab ich mir einen Ruck und stellte mich unter die Dusche. Ich hoffte, dass ich mich dann besser fühlen würde und blieb länger als nötig unter dem heißen Wasserstrahl stehen, doch alles, was ich erreichte, war, dass ich mir die Haut verbrühte.
Als ich fertig geduscht und angezogen war, war es erst zehn Uhr. Der bevorstehende Tag kam mir unendlich lang vor. Nicht einmal arbeiten half, dabei war ich sonst jemand, der stundenlang am Schreibtisch versinken konnte, bis ich irgendwann gegen Abend merkte, dass ich den ganzen Tag nicht mehr als eine halbe Schale Cornflakes gegessen hatte.
Ich war Autor, schrieb reißerische Thriller und verdiente mir damit seit einigen Jahren meinen Lebensunterhalt. Ich liebte die Abgeschiedenheit und die innere Ruhe, die ich durch das Schreiben fand. Schon als Kind war ich etwas eigenbrötlerisch gewesen, war hauptsächlich mit mir selbst beschäftigt und las Thriller und Horrorstorys für Erwachsene. Ich fühlte mich meinen Mitschülern überlegen und machte mir damit nicht viele Freunde.
Mein Job hatte den großen Vorteil, dass ich von daheim aus arbeiten konnte, und den Nachteil, dass ich an Tagen wie diesen zu viel Zeit mit meinen Gedanken verbrachte. Heute ließen mich diese Gedanken nicht zur Ruhe kommen. Mehrmals setzte ich die Finger an die Tastatur, um sie Sekunden später wieder wegzuziehen, ohne auch nur ein Wort geschrieben zu haben. Der Cursor blinkte und blinkte. Der Bildschirm verschwamm vor meinen Augen, und im Geiste durchlebte ich wieder das Gespräch mit Mr Meyers. Wir hatten keine fünf Minuten miteinander geredet, aber mir kam es vor wie eine Ewigkeit.
Tot.
Ich war nicht traurig, aber ich konnte dennoch nicht aufhören, an dieses eine Wort zu denken.
Tot.
Frustriert klappte ich den Laptop zu. Ich konnte so nicht arbeiten. Ohnehin würde alles, was ich in meinem momentanen Zustand niederschrieb, unbrauchbar sein.
Ich sah wieder zur Uhr. Noch nicht einmal halb zwölf. Um eins war ich bei meiner Mutter zum Essen eingeladen. Ich würde viel zu früh kommen, aber ich beschloss dennoch, schon aufzubrechen. In meiner Wohnung hielt ich es nicht mehr aus. Ich musste raus hier, und wenn mich in dieser Situation einer verstehen konnte, dann war es meine Mum. Sie hatte die letzten Jahre genauso wenig Kontakt zu meinem Vater gehabt wie ich. Als ich noch ein Kind war, hatte sie oft wegen ihm geweint. Ich erinnerte mich an wütende Telefonate und einsame Nächte mit leeren Weinflaschen auf dem Wohnzimmertisch. Inzwischen erwähnte sie ihn nicht einmal mehr. Dennoch würde sie wissen wollen, dass er tot war. Ich schalt mich innerlich dafür, dass ich nicht gleich zu ihr gefahren war. Plötzlich hatte ich es furchtbar eilig, die Wohnung zu verlassen. In meiner Hektik vergaß ich meine Jacke, was ich auf dem Weg zur U-Bahn sogleich bereute, weil ein kalter Wind durch die schattigen Straßen von New York fegte. Ein erster Vorbote des Herbstes.
Meine Mum wohnte in einer der netteren Wohngegenden von New York, in einem Reihenhaus in der Upper West Side, nur wenige Gehminuten vom Central Park entfernt. Ich kam etwa zweimal die Woche hierher. Meine Mum bestand darauf, denn sie fürchtete, dass ich andernfalls verhungern oder aufgrund meiner schlechten Ernährung vorzeitig an einem Herzinfarkt sterben würde. Wenn ich in keiner Beziehung war, ernährte ich mich hauptsächlich von Take-away- und Fertigkost, also hatte sie wahrscheinlich recht.
Ich besaß einen Schlüssel und ließ mich selbst zur Wohnungstür hinein. Bereits im Eingang wehte mir der Essensduft entgegen.
»Du bist früh dran«, begrüßte mich meine Mum, als ich die Küche betrat, und drehte die Herdtemperatur herunter, ohne sich zu mir umzudrehen. Sie trug ein knielanges Kleid mit zurückgekrempelten Ärmeln und hatte die Haare unordentlich hochgesteckt. »Es gibt Hackbraten. Er ist fast fertig. Ich muss nur noch den Salat marinieren. Deckst du den Tisch? Heute nur für zwei. Susa wollte auch kommen, aber sie hat leider einen dringenden Termin reinbekommen.«
Susa war eine Nachbarin, die eine Etage tiefer wohnte. Meine Mum lud sie auch immer zum Essen ein, wenn ich vorbeikam. Susa war hübsch, Single und wollte mindestens vier Kinder. Sie neigte dazu, mich auf alle möglichen unauffälligen Arten zu berühren. Ich hatte heute wirklich nicht den Nerv dafür, ihren Annäherungsversuchen auszuweichen, und war erleichtert, sie nicht zu sehen.
Meine Mum wusste zwar, dass ich schwul war, und hatte meinen Lebensstil akzeptiert, aber insgeheim hoffte sie wohl immer noch, dass ich eines Tages aufwachen und mich unsterblich in Susa verlieben würde. Oder sie zumindest schwängern. Meine Mum hätte alles für ein Enkelkind getan. Ich war mir sicher, wenn sie gekonnt hätte, hätte sie heimlich meinen Samen abgezapft und ihn in Susas Gebärmutter gepflanzt. Sie liebte mich jedoch viel zu sehr, um mir offen einen Vorwurf zu machen. Als ich ihr mit siebzehn zum ersten Mal gestanden hatte, dass ich Jungs lieber mochte als Mädchen, hatte sie mich umarmt und geschworen, dass es für sie keinen Unterschied machte. Später in der Nacht hatte ich sie jedoch weinen gehört, während sie mit einer Freundin telefonierte. Sie trauerte um die Enkelkinder, die sie nun niemals haben würde. Ich war ihr zuliebe danach noch ein paarmal mit Mädchen ausgegangen, in der Hoffnung, dass es bloß eine Phase war, wie man so schön sagte, aber es hatte sich einfach nicht richtig angefühlt, weshalb diese Dates auch nie über unbeholfene Küsse hinausgegangen waren.
Ich blieb in der Mitte des Raumes stehen. Ich hatte keine Ahnung, wo ich anfangen sollte.
»Ich habe vorhin einen Anruf bekommen«, sagte ich schließlich.
»Ja? Von wem?« Meine Mum holte Essig und Öl aus dem Küchenschrank und gab mir im Vorbeigehen einen Kuss. Sie wirkte ganz und gar unberührt. Ihr jung gebliebenes Gesicht war fast faltenfrei. Meine Mutter war eine schöne Frau, selbst jetzt noch. Als ich sie ansah, versuchte ich mir vorzustellen, wie es zwischen meinen Eltern gewesen sein musste, als beide noch jung waren. Ich wusste, dass sie ihn sehr geliebt hatte. Womöglich tat sie es immer noch.
Am liebsten hätte ich gar nichts gesagt. Einfach so getan, als wäre nichts passiert. Im Grunde veränderte sich durch den Tod dieses Mannes nichts in unserem Leben. Dennoch musste ich sie aufklären.
»Ein Mann namens Mr Meyers. Er sagte, er sei der Anwalt meines Vaters.«
Ihre Stirn legte sich in Falten, ansonsten gab sie nichts von sich preis, während sie das Dressing mit einer Gabel verquirlte.
Ich wartete ein paar Sekunden und fuhr dann fort. »Er ist vor zwei Tagen gestorben. An Krebs.« Das Herz schlug mir bis zum Hals. Ich hatte Angst davor, wie sie es aufnehmen würde. Vielleicht fürchtete ich, dass sie noch ein letztes Mal wegen ihm weinen würde. Doch ihre Reaktion überraschte mich.
»Ich weiß«, entgegnete sie nach einer gefühlten Ewigkeit. Sie klang gefasst, nur die tiefen Falten auf ihrer Stirn waren geblieben. Ihr Blick war auf den Salat geheftet. Mit einer kontrollierten Bewegung verteilte sie das Dressing über den Blättern.
Ich verstand nicht ganz. Was sollte das heißen, sie wusste es? »Hat Mr Meyers dich auch angerufen?«
»Nein … Ich habe es von einer Freundin erfahren. Anscheinend haben sie auf ein paar Musikseiten über seinen Tod berichtet. Nach all der Zeit … Dabei war er eigentlich nie ein besonders guter Musiker.«
»Du wusstest es … Wieso hast du es mir nicht erzählt?«
Sie zuckte mit den Schultern und fuhr fort, den Salat durchzumischen. »Ich dachte nicht, dass es etwas bedeutet.«
»Er war mein Vater.«
Die Worte verblüfften uns beide. Sie nahm die Hände von der Salatschüssel und sah mich endlich an. »Seit wann?« Ihre Stimme klang barsch. Beinahe wütend. Dann schüttelte sie den Kopf. »Es tut mir leid. Ich weiß, ich hätte es dir sagen sollen, und ich hatte es auch vor … Ich wusste nur nicht wie.« Sie seufzte. »Ich schätze, ich habe den richtigen Moment abgewartet.«
»Für so etwas gibt es keinen richtigen Moment.«
»Du hast recht.« Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab, obwohl sie sauber aussahen, und kam auf mich zu. »Es tut mir leid. Geht es dir gut?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich ehrlich. Es war alles schon so lange her. Ich hatte seit Jahren nicht mehr wirklich an ihn gedacht. Es sollte nichts bedeuten, aber irgendwie tat es das doch. Wieso sonst konnte ich nicht aufhören, mich damit zu beschäftigen?
»Wir können nachher in die Kirche gehen und für ihn beten, wenn du möchtest.«
»Nein, schon gut.« Ich war ohnehin nicht besonders gläubig. Gott würde mir in dieser Situation auch nicht helfen können. »Ich decke den Tisch.«
Zwei Minuten später war das Essen fertig. Ich schmeckte kaum etwas, der Hackbraten wurde in meinem Mund zu Asche. Ich schwieg die meiste Zeit und bekam kaum ein Wort heraus, doch meine Mum berichtete mir freudig von dem Tanzkurs, den sie seit zwei Wochen besuchte. Susa überlegte auch, sich anzumelden. Vielleicht hatte ich ja ebenfalls Lust?
Den Tod meines Vaters erwähnten wir nicht mehr.
***
Zurück in meiner Wohnung konnte ich immer noch nicht arbeiten. Auf dem Weg zur U-Bahn hatte ich mir eine Packung Zigaretten gekauft. Obwohl ich den Geschmack verabscheute, rauchte ich die ganze Schachtel leer, während ich auf dem Sofa saß und den restlichen Tag vor schlechten Fernsehsendungen verbrachte, die meinen Geist angenehm benebelten.
Ich ging früh zu Bett, konnte jedoch nicht einschlafen. Um ein Uhr nachts wälzte ich mich immer noch hin und her. Eine halbe Stunde später gab ich es auf. Meine Gedanken feuerten von einer Richtung in die andere. Ich holte mir einen Scotch aus der Küche und setzte mich dann vor meinen Laptop. Da war etwas, das mich nicht losließ. Das an mir nagte wie eine Krankheit. Ich scrollte durch meinen Posteingang, bis ich auf eine Mail von vor zwei Wochen stieß. Sie war ohne Betreff versendet worden.
Der Absender hieß David Hall. Er hatte nicht viel geschrieben. Bloß seine Telefonnummer und die Bitte, ihn anzurufen. Wahrscheinlich hatte er gewusst, dass er sterben würde, als er mir diese E-Mail schrieb. Ich hatte ihm nicht geantwortet, hatte nicht einmal in Erwägung gezogen, seine Nummer zu wählen. Ich hatte ihn vor Jahren abgeschrieben und wollte keinen Vater mehr. Jetzt war er tot. Das abschließende Gespräch, das er sich offensichtlich gewünscht hatte, würde niemals stattfinden.
Ich las die E-Mail so oft, bis mir vom grellen Bildschirmlicht die Augen tränten. Dann trank ich den Scotch in einem Zug leer und ging in die Küche, um mir ein zweites Glas zu holen. Im Durchgang blieb ich stehen. Die Uhr über der Küchenzeile zeigte zwei Uhr morgens an. Wie weit war es bis nach Iowa? Sicher mehr als tausend Meilen. Mit dem Auto würde ich den ganzen Tag unterwegs sein. Aber wenn ich jetzt gleich losfuhr … Ich könnte bis zum nächsten Abend dort sein.
Ich packte innerhalb weniger Minuten, warf einfach alles in eine große Sporttasche, ohne viel darüber nachzudenken, was ich für die Reise brauchte. Als Letztes holte ich meinen besten, schwarzen Anzug aus dem Schrank und hängte ihn mir über die Schulter, in der anderen Hand die Sporttasche.
Es war ruhig auf den Straßen der Stadt, die niemals schlief. Als ich den Motor startete und in Richtung Westen aufbrach, standen meine Gedanken endlich still.
Ich fuhr die ganze Nacht und den ganzen nächsten Tag. Ich war nicht einmal müde. Ich war hellwach und raste mit Höchstgeschwindigkeit über den Highway.
Während einer Pause gegen Mittag rief ich Mr Meyers an. Er schien überrascht von mir zu hören und noch überraschter, als ich ihm erzählte, wohin ich unterwegs war. Ich ließ mir von ihm die genaue Adresse meines Vaters geben. Anscheinend hatte er die letzten Jahre nicht allein gelebt. Er hatte geheiratet, und seine Frau lebte immer noch dort. Der Gedanke war seltsam und stimmte mich ein wenig wütend. Ich hatte mir meinen Vater immer als ewigen Junggesellen vorgestellt, weil er sich geweigert hatte, meine Mum zu heiraten, nachdem sie mit mir schwanger wurde. Ich hatte immer gedacht, er konnte einfach nicht anders, und das war mir ein geringer Trost gewesen. Und jetzt war er verheiratet und hatte die letzten Jahre in einem netten Häuschen in Iowa gelebt?
Wenn er mir vorher schon fremd gewesen war, dann jetzt erst recht. Ich wusste nichts mehr über diesen Mann. Ich dachte mehrmals daran umzukehren, tat es jedoch nie.
Mr Meyers hatte mir die Festnetznummer gegeben. Ich zögerte erst, dort anzurufen, aber irgendwann würde ich mit der Witwe meines Vaters konfrontiert werden, also konnte ich es ebenso gut hinter mich bringen. Ich wollte meine Ankunft ankündigen, doch als ich mich endlich dazu durchgerungen hatte, die Nummer zu wählen, hob niemand ab. Auch nicht die restlichen fünf Male, die ich danach anrief. Diese Frau war mir jetzt schon unsympathisch.
Ich fuhr über tausend Meilen, immer den Highway entlang, eine endlose Gerade, die sich von Ohio über Illinois bis nach Iowa erstreckte. Die Landschaft veränderte sich. Die Siedlungen wurden spärlicher, die Gegend immer ländlicher. So weit war ich noch nie in den Mittleren Westen vorgedrungen, und es war ungewohnt, wie flach hier alles war. Keine Berge, keine Hügel, nur Ebene. Der Horizont schien sich bis in die Unendlichkeit in alle Richtungen zu erstrecken. Ganz anders als in New York, wo man keine fünf Meter weit sehen konnte, ehe ein Hochhaus einem die Sicht versperrte. Die einzigen Gebäude, die ich so weit draußen in der Einöde sah, waren Rinderfarmen und die eine oder andere verloren wirkende Tankstelle. Ansonsten reihte sich bloß ein Feld an das andere. Es war noch keine Erntezeit, und die Pflanzen ragten mannshoch empor, eine einzige goldgrüne Fläche, die Meile um Meile vor meinen Augen verschwamm.
Es war bereits dunkel, als ich endlich in Silver Lake County ankam. Das Haus meines Vaters lag außerhalb der kleinen Stadt Silverton und stand allein inmitten von Sojafeldern. Die Navigations-App auf meinem Handy sagte, dass ich am Ziel war, aber ich war mir da nicht so sicher. Es kam mir immer merkwürdiger vor, dass es ihn ausgerechnet hierher verschlagen haben sollte. Was konnte er hier nur gewollt haben? Mitten im Nirgendwo, wo sonst nur Farmer wohnten.
Das Haus lag am Ende einer holprigen Auffahrt. Mein Stadtauto kam auf dem unebenen Gelände gehörig ins Rutschen. Es brannte kein Licht. Einzig die Scheinwerfer meines Wagens stachen durch die Dunkelheit und beschienen ein einsames Farmhaus. Das Gebäude schien alt zu sein, die rötliche Farbe der Holzvertäfelung war teilweise verblichen, und der Wind pfiff hörbar durch die Bretter. Auf einer von weißen Stützpfeilern umgebenen Veranda standen ein verwaschener Hundekorb und Gläser vom Vortag auf einem Tisch. Irgendein Rankengewächs schlängelte sich über ein in der Mitte gebrochenes Rosengitter empor zum Dach.
Obwohl das Gebäude gut erhalten schien, kam es mir merkwürdig vor, dass hier jemand wohnen sollte, geschweige denn mein Vater, der in meiner Erinnerung immer das Großstadtleben bevorzugt hatte. Es war unheimlich still hier. Einzig die Grillen zirpten im hohen Gras. Bei solch einer Stille würde ich verrückt werden.
Ich stellte den Motor ab, ließ die Scheinwerfer jedoch an. War überhaupt jemand zu Hause? Laut Mr Meyers musste zumindest die Ehefrau meines Vaters da sein, aber es war nach zehn und wahrscheinlich schlief sie schon. Irgendwie hatte ich das alles nicht richtig durchdacht. Natürlich hatte ich gehofft, hier übernachten zu können oder in einer nahe gelegenen Pension. Aber hier draußen gab es nichts, aus dem Bett klingeln wollte ich jedoch auch niemanden. Meine Augenlider wurden schwer. Die durchgemachte Nacht forderte langsam ihren Tribut. Vielleicht sollte ich einfach im Auto schlafen …
Meine Überlegungen fanden ein jähes Ende, als die Haustür plötzlich aufflog. Ein großer, schwarzer Hund mit wehenden Ohren sprang durch den Türspalt, stürmte die Veranda hinunter und direkt auf mein Auto zu. Knurrend und bellend warf er sich gegen die Fahrertür. Verfluchte Scheiße! Vor Schreck stieß ich mir den Kopf am Autodach an. Die Krallen des Hundes quietschten auf dem Metall, sein Maul war weit aufgerissen und Speicheltropfen flogen umher.
Ich drückte auf die Hupe. »Hau ab!«, schrie ich gegen die Scheibe, doch mein Gehupe schien das Vieh nur aggressiver zu machen.
Ein greller Pfiff erklang.
»Rufus!«, rief eine Männerstimme.
Schlagartig ließ der Hund von meinem Auto ab und hörte zu bellen auf. Das Licht auf der Veranda war angegangen. Ein junger Mann kam die Stufen herunter. Barfuß und nur mit einer Jogginghose bekleidet, die tief genug saß, dass man erahnen konnte, dass er darunter nichts anhatte. Der Hund schlich schwanzwedelnd an seine Seite und leckte mit eingezogenem Kopf nach den Fingern des Mannes. Breitbeinig blieb dieser in den Kegeln der Scheinwerfer stehen, die Augen zusammengekniffen, die Lippen leicht geöffnet. Ich hielt die Luft an. Mit dem nackten Oberkörper und den trainierten Bauchmuskeln war er ein ziemlicher Hingucker, sodass ich kurz vergaß, weshalb ich hier war. Bei meinen nächtlichen Streifzügen durch die New Yorker Schwulenklubs hätte ich ihn sofort mitgenommen, aber leider waren heiße Männer nicht das, wonach ich heute suchte. War ich mir doch ziemlich sicher, dass ich hier falsch war.
Ich ließ das Fenster herunter, aber nur auf halbe Höhe, für den Fall, dass das Biest von einem Hund mich wieder zu attackieren versuchte. »Entschuldigung, ich muss mich verfahren haben. Ich wollte zu David Halls Haus.«
»David Hall?« Mit gerunzelter Stirn kam der Mann um mein Auto herum und baute sich vor der Fahrertür auf. »David Hall ist tot. Was wollen Sie von ihm?«
Zumindest schien der Name ihm etwas zu sagen. Wenn ich Glück hatte, war ich gar nicht weit von seinem Anwesen entfernt. »Ich weiß, dass er tot ist. Deshalb bin ich hier. Für die Beerdigung.« Nach kurzem Zögern fügte ich hinzu: »Er war mein Vater.«
»Fuck.« Mit einer Grimasse trat der Mann vom Auto zurück. Sein Blick glitt über mich hinweg, und im Gegensatz zu mir schien er nicht erfreut über das, was er sah. »Du bist es. Lincoln.«
So abfällig hatte meinen Namen noch nie jemand ausgesprochen. Mir klappte der Mund auf. »Ja«, sagte ich. Woher kannte der Kerl mich? »Und wer bist du?«
»Chase O’Daniels«, erwiderte er mit einer Feindseligkeit, die mich überraschte, und fügte knurrend hinzu: »David Hall war auch mein Vater.«
***
Chase und ich saßen uns am Küchentisch gegenüber, beide in grimmiges Schweigen gehüllt, während wir uns über den Rand unserer Kaffeetassen hinweg anstarrten. Nach seiner Enthüllung hatte er mich widerwillig hereingebeten. Ich hatte eine Bruchbude erwartet, aber ich wurde überrascht. Die Einrichtung war zwar abgenutzt und sah zum Teil nach Flohmarktware aus, aber es war alles sauber und ordentlich und die vielen Holzmöbel verströmten sogar einen gewissen Landhauscharme. Die Küche war ein kleiner Raum, an dessen Tisch nur vier Stühle Platz hatten. In einer Vase standen frische Schnittblumen auf einem Spitzentuch, deren Duft mich jedoch an das bevorstehende Begräbnis erinnerte. Zu unseren Füßen lag der Hund, Rufus, auf einer Matte nahe dem Ofen, den massigen Kopf auf seinen Pfoten platziert, und döste friedlich vor sich hin.
Meine Müdigkeit war verflogen. Ich fühlte mich wieder wie gestern Nacht, aufgekratzt und von einer nervösen Unruhe erfüllt, die Schlaf unmöglich machte. Ich hatte erwartet, mit einem ehemaligen Familienmitglied abschließen zu können, und nicht auf ein neues zu treffen.
Ich suchte nach Gemeinsamkeiten in Chases Gesicht, aber wir sahen uns nicht ähnlich. Kein Stück. Während ich zur Fraktion dunkle Augen, dunkle Haare gehörte, war er rotblond und besaß graublaue Augen. Er sah irisch aus. Hatte braun gebrannte Haut im Gegensatz zu meiner Großstadtblässe. Alles an ihm war gröber. Er war größer, breiter, mit einem markanteren Kinn und definierteren Schultern. Mein Bruder war heiß, wie ich widerstrebend zugeben musste. War es falsch, so etwas zu denken?
»Also …« Nervös drehte ich die Tasse in meinen Händen hin und her. Mir war zu schlecht, um daraus zu trinken. »Ich hatte keine Ahnung, dass ich einen Bruder habe.«
»Wir sind nicht verwandt.«
»Aber du sagtest doch –«
»David war nicht mein leiblicher Vater«, unterbrach Chase mich kühl. Seine Füße schabten über den Holzboden. Seine Miene war nachdenklich, als wüsste er nicht ganz, was er sagen sollte. Er machte eine lange Pause, ehe er mit einem müden Seufzen fortfuhr. »Er hat meine Ma vor elf Jahren geheiratet. Er hat mich aufgezogen. Wir sind nicht blutsverwandt, aber er war dennoch mein Vater.«
»Dann war er das wenigstens für einen von uns«, bemerkte ich bitter.
Chase verschränkte die Arme, wodurch er noch größer und breiter wirkte. »Wieso bist du hier?« Da war wieder diese Feindseligkeit in seiner Stimme, auf die ich mir keinen Reim machen konnte. Wenn hier einer wütend sein sollte, dann doch wohl ich. Schließlich war ich derjenige, der gerade herausgefunden hatte, dass sein Vater für eine andere Familie den Daddy gespielt hatte, während meine Mum mich ganz allein hatte großziehen müssen.
»Das sagte ich doch schon. Ich will zur Beerdigung.«
»Nachdem ihr zwanzig Jahre lang keinen Kontakt hattet? Das ist doch Bullshit.«
»Er war dennoch mein Vater«, entgegnete ich und musste mich zusammenreißen, um nicht laut zu werden. In mir brodelte es immer heftiger. Für wen hielt er sich, dass er mir vorschreiben wollte, ob ich zur Beerdigung gehen konnte? Außerdem ärgerte es mich, dass er offensichtlich Dinge über mich wusste, während ich bis vor fünf Minuten keine Ahnung von seiner Existenz gehabt hatte.
»Komisch. Ich habe dich nämlich nicht an seinem Krankenbett gesehen, als er die letzten Wochen im Sterben lag. Kein einziges Mal. Ich war jeden Tag bei ihm.«
Meine Hand zuckte. Beinahe hätte ich die Kaffeetasse umgeworfen. »Ich wusste nicht, dass er krank war.«
»Und jetzt fühlst du dich schuldig. Bist du deshalb hier?«
»Er hat uns verlassen.«
»Also gibst du ihm die Schuld?«
»Es geht hier doch nicht um Schuld!«, stieß ich hervor und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Inzwischen bebte ich schier vor Zorn.
»Ach ja? Um was geht es dir dann? Was hat dich dazu bewogen, mehr als tausend Meilen bis ins ländlichste Iowa zu fahren?«
»Ich suche doch nur nach einem Weg, mit alldem endlich abzuschließen.«
»Er ist tot. Wenn du dich nach Wiedergutmachung sehnst, kommst du leider zu spät.«
Es reichte mir. Ich stand so ruckartig auf, dass ich den Tisch ein Stück verschob. Unsere Kaffeetassen schlitterten über die Platte. Chase blieb sitzen, die Arme immer noch vor der Brust verschränkt, und sah mich herausfordernd an.
»Danke für den Kaffee«, sagte ich. »Und den warmen Empfang.«
Chases Mundwinkel zuckten, doch er erwiderte nichts. Auch nicht, als ich mich umdrehte und zur Haustür ging. Erst als ich die Hand bereits auf der Türklinke hatte, hörte ich Schritte hinter mir. Ich dachte, es wäre Chase, der sich vielleicht entschuldigen wollte, doch dann ertönte eine leise Frauenstimme.
»David?«
Die Stimme gehörte einer zarten Frau um die sechzig. Sie war die Treppe zum ersten Stock heruntergekommen. Ihr Mund stand offen, und ihre Wangen waren aschfahl. Die Hand hatte sie über ihrem Herzen zur Faust geballt. »David?«, fragte sie noch einmal und überwand die letzte Stufe. Sie trug nur ein dünnes Nachthemd mit offenem Morgenmantel. Ihre langen, grau melierten Haare hingen ihr in einem Zopf über die Schulter.