Chemiker im "Dritten Reich" - Helmut Maier - E-Book

Chemiker im "Dritten Reich" E-Book

Helmut Maier

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Beschreibung

Die Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh) wurde 1949 gegründet und ist heute mit über 30.000 Mitgliedern, vorrangig aus Hochschulen und Industrie, die größte kontinentaleuropäische chemische Gesellschaft. Ihre im 19. Jahrhundert gegründeten Vorgängerorganisationen, die Deutsche Chemische Gesellschaft (DChG) und der Verein Deutscher Chemiker (VDCh), wirkten als die Motoren der so erfolgreichen Chemie in Deutschland und sind Teil des Erbes der GDCh. Dessen dunkle Seite begann man erst ab 2001 zu untersuchen. Bis dahin sorgten auch in diesem Bereich unserer Gesellschaft existierende Kontinuitäten dafür, dass der Mantel des Schweigens über Leben und Wirken der männerbestimmten Verbände und ihrer Protagonisten gebreitet wurde. Viele Opfer des totalitären NS-Staates blieben gänzlich unbekannt. Der Wissenschaftshistoriker Helmut Maier legt nun eine eindrucksvolle, umfassende und unabhängige Studie über Funktionen und Strukturen der DChG und des VDCh von 1933 bis 1945 vor. Detailliert wird der Weg auch weniger bekannter Chemiker aus Forschung, Industrie und dem deutschen chemischen Literaturwesen beschrieben, sowie Einzelschicksale systematisch aufgespürt und beleuchtet. Erstmals existiert ein Gesamtbild über die Berufsgruppe der Chemiker, ihre für das ?Dritte Reich? so bedeutende Rolle und damit vor allem eine mahnende Erinnerung für alle Nachfolgegenerationen.

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Contents

Geleitwort

Vorwort

1: Einleitung

1.1 Gründerzeiten der Chemie (1850–1900)

1.2 Die Chemiker des Kaisers (1900–1919)

1.3 Weimarer Krisenjahre (1919–1933)

2: „Gleichschaltung“ – „ohne zwangsweise Eingriffe“ (1933–1934)

2.1 Machtkämpfe: Robert Ley, Gottfried Feder und die NS-Aktivisten

2.2 Selbstgleichschaltung und Beitritte des VDCh zu NS-Organisationen

2.3 „Gleichschaltung“ und „Arisierung“ der DChG (1933–1934)

2.4 Reichs-Chemiker-Kammer, „Bilderstürmer“ und „Burgfrieden“

3: Die Disziplinierung standespolitischen Eigensinns (1934–1937)

3.1 Berufsständische Stellen (VDCh) und die „stillschweigende Arisierung“

3.2 Die Haber-Gedächtnisfeier (1935): „Was würde der Führer [...] tun?“78)

3.3 „Es fehlt noch das NS“: VDCh und DChG als Hauptvereine des BDCh168)

3.4 „Wir sind jetzt ein NS-Bund“ – die Chemikervereine im NSBDT

4: Die Fachgruppe Chemie im NSBDT (ab 1937)

4.1 Freiwillige Eingliederung, Generationswechsel und die Plassenburg

4.2 Unvollendete Satzungsänderungen: Komplikationen der „Arisierung“

4.3 Generationswechsel (DChG) und der Kampf mit der Wirtschaftsgruppe

4.4 „Evviva il Duce!“ – Internationale Beziehungen bis 1939

5: Fachgruppenarbeit und Mitgliederentwicklung

5.1 Gas- und Luftschutz und das Archiv der Gaskampfstoffe

5.2 Wirtschaftschemie, Vierjahresplan, Kunststoffe

5.3 „Nordrassische“ Wissenschaft? „Deutsche Chemie“ und Chemiegeschichte

5.4 „Unbekannt verzogen“ (1938/39) – Mitglieder, Emigranten, Vergessene

6: Die Kriegsarbeit der Reichsfachgruppe Chemie im NSBDT

6.1 Kriegstagungen, Reichsredner und Gauhäuser der Technik

6.2 Uk-Stellungen: „W-Betrieb mit Betreuung Heer“ (DChG)

6.3 Reichsstellennachweis, Militärchemiker und territoriale Expanison

6.4 Hierarchie und Standesdünkel: Die Chemotechniker-Kontroverse

7: Gemeinschaftsarbeit für den NS-Vernichtungsapparat

7.1 Zentralisierung der Gemeinschaftsarbeit in Frankfurt (VDCh)

7.2 Verein Europäischer Chemiker? Internationale Beziehungen im Krieg

7.3 Mobilisierung der Forschung, Raubaktionen und KZ-Häftlinge

7.4 Schicksale: Gefallene, Inhaftierte, Deportierte, Suizide

7.5 Verlagerung und Untergang: Grünberg, Rüdersdorf und die Archivfilme

8: Zusammenfassung

9: Anhang

9.1 Verzeichnis der Tabellen

9.2 Verzeichnis der Abbildungen

9.3 Verzeichnis der Abkürzungen

9.4 Archive

9.5 Ausgewertete Zeitschriften

9.6 Literatur und publizierte Quellen

9.7 Präsident/innen/en (DChG/ GDCh) und Vorsitzende (VDCh)

9.8 Danksagung

Index

Weitere biographische Werke finden Sie hier:

Will, Heike

"Sei naiv und mach' ein Experiment": Feodor Lynen

Biographie des Münchner

Biochemikers und Nobelpreisträgers

2011

978-3-527-32893-2, e-books erhältlich

Wieland, Sibylle / Hertkorn, Anne-Barb / Dunkel, Franziska (Hrsg.)

Heinrich Wieland

Naturforscher, Nobelpreisträger und Willstätters Uhr

2008

978-3-527-32333-3, e-books erhältlich

Hoffmann, Dieter

Einsteins Berlin

Auf den Spuren eines Genies

2006

978-3-527-40596-1, e-books erhältlich Schaumann, Wolfgang

Charles Darwin – Leben und Werk

Würdigung eines großen Naturforschers und kritische Betrachtung seiner Lehre

2007

978-3-527-32123-0, e-books erhältlich

Hoffmann, Dieter / Walker, Mark (Hrsg.)

Physiker zwischen Autonomie und Anpassung

Die Deutsche Physikalische Gesellschaft im Dritten Reich

2006

978-3-527-40585-5, e-books erhältlich

In Zusammenarbeit mit der GDCh erschienen bei Wiley-VCH auch:

Roth, Klaus

Chemische Leckerbissen

2014

978-3-527-33739-2

Zellner, Reinhard / GDCh (Hrsg.)

Chemie über den Wolken

... und darunter

2011

978-3-527-32651-8

Mädefessel-Herrmann, Kristin / Hammar, Friederike / Quadbeck-Seeger, Hans-Jürgen / GDCh

Chemie rund um die Uhr

Das Buch zum Jahr der Chemie

2004

978-3-527-30970-2

Autor

Prof. Helmut Maier

Ruhr-Universität Bochum

Lehrstuhl für Technik- und Umwelt-geschichte

Universitätsstraße 150

44780 Bochum

Im Auftrag der Gesellschaft

Deutscher Chemiker

Gesellschaft Deutscher

Chemiker e.V.

Postfach 90 04 40

60444 Frankfurt am Main

1. Auflage 2015

Alle Bücher von Wiley-VCH werden sorgfältig erarbeitet. Dennoch übernehmen Autoren, Herausgeber und Verlag in keinem Fall, einschließlich des vorliegenden Werkes, für die Richtigkeit von Angaben, Hinweisen und Ratschlägen sowie für eventuelle Druckfehler irgendeine Haftung

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Print ISBN: 978-3-527-33846-7

ePDF ISBN: 978-3-527-69134-0

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Umschlaggestaltung Adam Design, Weinheim

Satz Reemers Publishing Services GmbH, Krefeld

Druck und Bindung betz-druck GmbH, Darmstadt

Gedruckt auf säurefreiem Papier.

Geleitwort

Die heutige Gesellschaft Deutscher Chemiker wurde zwar erst 1949, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gegründet, doch sieht sie sich in der Tradition der 1867, also vor bald 150 Jahren, gegründeten Deutschen Chemischen Gesellschaft (DChG) und des 20 Jahre später entstandenen Vereins Deutscher Chemiker (VDCh). Beide Vereine, der eine eher fokussiert auf den Hochschul- der andere auf den Industriebereich, und die durch sie geschaffenen Netzwerke waren in den Folgejahren Ausdruck und auch Motor des Erfolges der Wissenschaft Chemie und der damit verbundenen Industrie in Deutschland. Sowohl die DChG als auch der VDCh haben nach dem 2. Weltkrieg praktisch aufgehört zu bestehen und sind in der GDCh aufgegangen, die vormalige Differenzierung zwischen „Hoch-schulchemikern“ und „Industriechemikern“ fand damit ein Ende.

Die großen Erfolge und Leistungen der beiden Vereine und der dort agierenden Personen sind unumstritten und Teil des Erbes, auf das sich die GDCh stolz beruft. Aber wir stehen in der Verantwortung, neben den verdienstvollen auch die dunklen Seiten unserer Vorgängerorganisationen zu dokumentieren. Diese dürfen nicht verschwiegen werden, das sind wir den Opfern schuldig. Ganz besonders steht hier natürlich die Zeit der NS-Diktatur im Vordergrund. Wie haben sich die chemischen Fachgesellschaften zum NS-Herrschaftsapparat gestellt, wie weit waren sie involviert oder haben sich mit ihm arrangiert? Welche Rolle haben die einzelnen Führungspersönlichkeiten dabei gespielt, welchen Beitrag haben sie geleistet? Und schließlich, welchen Wahrheitsgehalt hat die häufig gehörte Vorstellung, VDCh und vor allem DChG hätten sich als ausschließlich wissenschaftliche und daher per se unpolitische Organisationen den Verstrickungen im NS-Regime weitgehend entzogen? All dies wurde bislang kaum thematisiert.

Um diese Lücken zu schließen hat der Vorstand der Gesellschaft Deutscher Chemiker vor einigen Jahren den Wissenschaftshistoriker Professor Dr. Helmut Maier beauftragt, eine umfassende und unabhängige Studie zu diesem Thema anzufertigen. Die GDCh hat Herrn Maier uneingeschränkten Zugang zu allen in ihrem Besitz befindlichen Unterlagen gegeben und soweit möglich, Hilfestellung bei der Einsichtnahme weiterer Dokumente geleistet. Davon abgesehen hat Herr Maier die vorliegende Studie unabhängig und ohne Einfluß der GDCh erstellt.

Wir danken Herrn Professor Maier und seinen Mitarbeitern für die sorgfältige und kompetente Durchführung der Studie, die viele neue, bislang nicht bekannte Aspekte enthält und das lange fällige Licht auf das Verhalten von DChG und VDCh sowie ihrer Protagonisten in der Zeit von 1933–45 wirft. Weiterhin danken wir ihm und dem Verlag Wiley-VCH für das daraus entstandene, vorliegende Buch, das die Ergebnisse in angemessener Weise dokumentiert und damit die Erinnerung an Unrecht und Opfer vor dem Vergessen bewahrt.

Thomas GeelhaarPräsident der GDCh 2014/15Wolfram KochGeschäftsführer der GDCh

Vorwort

Im Jahre 2001 beschloss der Vorstand der Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh) eine „historische Kommission“ einzusetzen, die sich mit der Frage befassen sollte, wie die beiden GDCh-Vorläufer-Organisationen, die Deutsche Chemische Gesellschaft (DChG) und der Verein Deutscher Chemiker (VDCh), sowie deren leitende Personen bei der Durchsetzung nationalsozialistischer Prinzipien und Ziele in ihren Gesellschaften involviert waren.

Nach einem ersten aus der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte folgenden Schritt, die nach dem Nobelpreisträger und ehemaligem DChG- wie später auch GDCh-Präsidenten Richard Kuhn benannte Medaille nicht mehr zu verleihen, beauftragte der Vorstand 2005 Michael Schüring mit einer Pilotstudie zur Rolle der Vorläuferorganisationen in der NS-Zeit. In kleinen Schritten und kontroversen Diskussionen näherte man sich somit 60 Jahre nach Kriegsende dem dann 2007 gefassten Beschluss, den Wissenschaftshistoriker Dr. Helmut Maier damit zu beauftragen, die Entwicklung von VDCh und DChG im Verlaufe der NS-Diktatur zu erforschen und die Ergebnisse dieser Arbeiten in einer Monographie zu dokumentieren. Maier, Professor für Technik- und Umweltgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum, brachte für diese Arbeit beste Voraussetzungen mit, da er u.a. an dem umfangreichen Projekt über die Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus maßgeblich beteiligt war.

Das Bindeglied zwischen der Forschung und der GDCh bildeten die Autoren dieses Vorworts, die das Vorhaben mit großem Interesse über die Jahre begleiteten.

Wie jede Forschungsarbeit war auch diese in ihrem Ende „offen“, niemand wusste wie ihr Resultat aussehen würde und keiner ahnte, wie viele neue Quellen-und Archivmaterialien im Laufe der mit großer Sorgfalt durchgeführten Arbeit auftauchen und neue Perspektiven eröffnen sollten.

Was das nunmehr vorgelegte umfangreiche Werk in unseren Augen vor allen Dingen auszeichnet, ist seine detailreiche und plastische Illustration des Begriffs „totalitärer Staat“.

Nach der Machtübergabe 1933 bedeutete dies eine zügige Selbstgleichschaltung, doch danach hielten die Chemiker hartnäckig an ihrer Unabhängigkeit von NS-Ingenieurorganisationen fest. Dies war weniger einer Ablehnung der NS- Ideologie geschuldet als ihrem professionellen Selbstverständnis und am Ende erfolglos. Für die jüdischen und sonstigen missliebigen Mitglieder und Mitarbeiter bedeutete diese Phase Entrechtung, Ausschluss und Vertreibung auf Grund von „rassischen“ Kriterien, deren unwissenschaftliche Natur eigentlich jedem „echten“ Wissenschaftler von Anfang an hätte einleuchten müssen. In der Kriegsphase des „Dritten Reiches“ wurde der totale Zugriff noch gesteigert und ging bis zu Raub von wissenschaftlichen Bibliotheken, Geräten, Denunziation und Verfolgung, die zu Deportationen und Selbsttötungen und letztlich zur Ermordung führten. Vielen bisher nicht in der einschlägigen Literatur gewürdigten Opfern hat Maier hier erstmals sichtbar einen Namen gegeben und sie so vor dem Vergessen bewahrt. Dafür sei ihm besonders gedankt.

Auf einer zweiten Ebene verlief das „Alltagsgeschäft“ der wissenschaftlichen Gesellschaften nicht so viel anders als heute, indem Satzungs-, Tagungsfragen, internationale Kontakte u. Ä. organisiert werden mussten - aber immer unter den politischen Vorgaben der Nazi-Herrscher.

Einige der in diesem Zusammenhang behandelten Probleme muten uns heute bizarr an, etwa wenn es um Statusfragen geht, die immer auch Abgrenzungsfragen gegenüber anderen Berufsgruppen waren. Die wissenschaftlichen Gesellschaften waren eben seinerzeit trotz NS-Ideologie nach wie vor viel stärker als heute von klassischem Standesdünkel beherrscht. Ebenso bedingt das in der Wissenschaft damals geltende Geschlechterrollenverständnis, dass wir eine Geschichte von Männern vorfinden, Frauen kaum sichtbar werden. Dennoch scheint auch die „sozialistische“ Komponente des Nationalsozialismus immer wieder auf, etwa in den Fortbildungstagen auf der Plassenburg, die (auch) dazu beitragen sollten eine „Volksgemeinschaft“ unter den Wissenschaftlern zu generieren.

Ein dritter wichtiger Punkt betrifft die Kontinuitäten, die Maier explizit anspricht. Viele der in diesem Buch erwähnten Personen sind den älteren von uns wohlbekannt – über ihr „früheres Leben“ wusste man meist nichts. – Sehr deutlich wird, dass sich die GDCh mit ihrem Selbstverständnis nicht ungebrochen in die Tradition ihrer Vorläuferorganisationen stellen kann und die Legende vom unpolitischen Wissenschaftler einmal mehr widerlegt wird.

Es ist ein Irrtum zu glauben, dass man historische Ereignisse – und ganz besonders negative Ereignisse – auf irgendeinem Wege wieder „gut machen“ oder gar „bewältigen“ kann. Aber man kann und muss sich ihrer möglichst detailliert erinnern. Diesem Zweck dient das vorliegende Werk.

Braunschweig, November 2014Henning Hopf und Petra Mischnick

1Einleitung

Die Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh) ging im Jahre 1946 – zunächst in der britischen Zone – aus dem Zusammenschluß der Deutschen Chemischen Gesellschaft (DChG) und des Vereins Deutscher Chemiker (VDCh)1) hervor.2) Damit reagierten die Chemikervereine auf das Verbot der nationalsozialistischen Organisationen und der ihnen angegliederten Vereine durch die alliierten Siegermächte vom 10. Oktober 1945.3) Während die technisch-wissenschaftlichen Vereine im Osten in Liquidation gingen, erlangten sie in den westlichen Besatzungszonen nach und nach den Status von „non political bodies“. Dadurch war es ihnen wie im Fall der Deutschen Bunsen-Gesellschaft im Jahre 1947 möglich, ihre Aktivitäten nach einer Satzungsänderung wieder aufzunehmen.4) Die junge GDCh verschrieb sich dem Ziel, an die guten Traditionen ihrer Vorläufer anzuknüpfen. Der Zusammenschluß ihrer Länderorganisationen in der Bundesrepublik Deutschland erfolgte 1949 in München.5)

Die berufsständischen Organisationen und wissenschaftlichen Gesellschaften in der DDR distanzierten sich wegen der Rolle der technisch-wissenschaftlichen Vereine im NS-Regime sehr früh von ihren Vorläufern, auch wenn – wie im Westen – häufig schon im „Dritten Reich“ aktive Persönlichkeiten die Geschäfte fortführten.6) Im Kontext des Ost-West-Konfliktes diente die Auseinandersetzung mit der Geschichte des „Dritten Reiches“ als politisches Instrument, mit dem die DDR den Nachweis der bruchlosen Kontinuität im Westen zu führen suchte. Schon 1947 erschien die erste kritische Studie über die technischwissenschaftlichen Vereine mit eben dieser Stoßrichtung.7) Im Westen kam es mit der Festschrift des Chemiehistorikers Walter Ruske8) erst im Zuge des 100. Gründungsjubiläums der DChG im Jahre 1967 zur ersten fundierten Auseinandersetzung der Chemiker mit der Zeit des Nationalsozialismus9) – allerdings noch unter maßgeblicher Beteiligung von Schlüsselfiguren der NS-Zeit wie dem ehemaligen Präsidenten der DChG, Richard Kuhn (1900–1967),10) oder dem ehemaligen Vorsitzenden des VDCh, Heiner Ramstetter (1896–1986).11)

Während die NS-Geschichte der chemischen Industrie von vielen Autoren thematisiert wurde,12) blieb die Untersuchung der berufsständischen Organisationen der Chemiker ein Desiderat. Das 100. Gründungsjubiläum 1994 bildete den Anlaß für die Bunsen-Gesellschaft, ihre Geschichte aufzuarbeiten.13) Bereits die Initiativen der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gegen Ende der 1990er Jahre ließen das Defizit deutlich werden, daß die Geschichte der Vorläufer der GDCh nicht bearbeitet war. Die Öffnung von Archiven in den neuen Bundesländern und in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, der Ablauf von Sperrfristen in deutschen Archiven, vor allem aber die gewachsene Bereitschaft der in den Institutionen Verantwortlichen haben zu weiteren Initiativen zur Erforschung der NS-Geschichte geführt.14) Häufig genug mußten tradierte Vorstellungen über das Ausmaß der Verstrickung der eigenen Institution in den NS-Herrschaftsapparat revidiert werden. Die Ergebnisse der neueren Forschung – vor allem die grundlegende Studie von Ute Deichmann15) – eröffnen die Möglichkeit, das Verhalten der Verantwortlichen nunmehr historisch fundiert beurteilen zu können.

Gegenstand der vorliegenden Studie sind die Vorläuferorganisationen der GDCh, also die Deutsche Chemische Gesellschaft und der Verein Deutscher Chemiker. Mit ihrem Forschungsvorhaben zur NS-Geschichte hat sich die GDCh in eine Reihe mit den oben genannten Institutionen gestellt. Dem Historiker obliegt die nach den geschichtswissenschaftlichen Methoden gebotene kontextualisierte Analyse der verfügbaren Quellen, weshalb die Ergebnisse der vorgelegten Studie – wie die jeder Forschungsarbeit – vorläufig sind. Gerade im Fall der NS-Forschung steht die Frage der Mitverantwortung der Institutionen und ihrer führenden Persönlichkeiten im Zentrum der Bewertung.16) Die hierzu notwendige Interpretation der Befunde bildet den zweiten maßgeblichen Bereich historischer Forschung, die zwar als methodisch rückgebunden verstanden werden muß, gleichwohl immer den Ausgangspunkt für weiterführende Diskussionen bilden wird. Die vorliegende Studie bezieht sich hierbei auf die aktuellen und historisch einschlägigen Studien.17)

1.1 Gründerzeiten der Chemie (1850–1900)

„Der Zeitpunkt für die Bildung einer chemischen Gesellschaft in Berlin sei ein besonders günstiger. Zu keiner Periode seien Theorie und Praxis in ähnlicher Weise Hand in Hand gegangen, und wenn es früher vorzugsweise die Industrie gewesen sei, welche aus der Entfaltung der Wissenschaft Vortheile gezogen habe, so liefere jetzt der wunderbare Aufschwung der Industrie nicht selten der Wissenschaft die Mittel für ihren weiteren Ausbau.“18)

Die Vorläuferorganisationen der GDCh wurden im 19. Jahrhundert gegründet. Sie repräsentierten die Entfaltung und gesellschaftliche Aufwertung der exakten Naturwissenschaften nicht nur im Gefolge der Humboldtschen Bildungsreform und der anschließenden Herausbildung eines Wissenschaftssystems. In ihnen versammelte sich eine neue bildungsbürgerliche Elite, die ihren Status einer akademischen Bildung verdankte. Einen zweiten mächtigen Schub erfuhren die Vereine durch die ab den 1850er Jahren in Deutschland einsetzende Industrialisierung und die damit einhergehende Herausbildung neuer Branchen und Berufsbilder. Anders als noch während der Frühindustrialisierung avancierten technisch-wissenschaftliche Experten angesichts der Komplexität der Produktionsverfahren nun zu Garanten der wirtschaftlichen Konkurrenzfähigkeit. Bei der Herstellung von Alkalien, Mineralsäuren und Bleichmitteln war England durch die Textilindustrie, dem Leitsektor der Industriellen Revolution, zunächst führend. Ab den 1840er Jahren wurden in Deutschland zahlreiche Fabriken für Schwerchemikalien gegründet, und ab 1845 wurde der Deutsche Zollverein zum Nettoexporteur z. B. von Schwefelsäure.19)

Mit den Erfolgen der Teerchemie ab den 1840er Jahren, der es gelang, Farbstoffe zu synthetisieren, begann der Aufstieg der organischen Chemie. Die Farbenindustrie substituierte die kostspieligen Pflanzenfarbstoffe durch die Veredelung des Steinkohlenteers – eigentlich lästiges Abfallprodukt der Gas- und Koksgewinnung. Auf der legendären Londoner Weltausstellung von 1862 machten die neuen Anilinfarbstoffe Furore.20) Schlüsselfigur dieser Entwicklung war der zu dieser Zeit in England wirkende deutsche Chemiker August Wilhelm Hofmann,21) der dadurch als Mitbegründer der englischen Teerfarbenindustrie gilt. Hofmann, Professor am Royal College of Chemistry in London, kehrte 1865 nach Deutschland zurück und wurde Professor an der Universität Berlin. Dort und in Bonn sorgte er durch die Gründung neuer Laboratorien für den Ausbau der chemischen Forschung.

Ebenso wie in der Industrialisierung hinkte Deutschland bei den wissenschaftlichen Gesellschaften hinterher (Tab. 1.1). So waren 1841 die Chemical Society of London – ab 1862 mit A. W. Hofmann als Präsidenten – und 1857 die Société Chimique de Paris gegründet worden.22) Die Chemiker aus den deutschen Ländern hatten sich ab 1822 in der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte (GDNÄ) versammelt, die sich angesichts der beschleunigten Ausdifferenzierung der Disziplinen einer „zentrifugalen Tendenz“ ausgesetzt sah. Gleichwohl bildeten die Sektionen der Naturforschergesellschaft wie im Fall der DeutschenPhysikalischen Gesellschaft zu Berlin 1845 die Keimzellen der Gründung zahlreicher weiterer wissenschaftlicher Vereinigungen.23)

Tabelle 1.1 Gründungsdaten und Umbenennungen technisch-wissenschaftlicher Vereine und Gesellschaften im 19. Jahrhundert

1822

Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte

1841

Chemical Society of London

1845

Deutsche Physikalische Gesellschaft zu Berlin

1856

Verein Deutscher Ingenieure

1857

Société Chimique de Paris

1867

Deutsche Chemische Gesellschaft

1877

Verein zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie (VzW)

a)

Verein analytischer Chemiker

1883

Freie Vereinigung bayerischer Vertreter der angewandten Chemie

1887

Deutsche Gesellschaft für angewandte Chemie (vormals Verein analytischer Chemiker)

1894

Deutsche Elektrochemische Gesellschaft (ab 1902 Deutsche Bunsen-Gesellschaft für angewandte physikalische Chemie)

1896

Verein deutscher Chemiker (vormals Deutsche Gesellschaft für angewandte Chemie)

Verband selbständiger öffentlicher Chemiker Deutschlands

Deutsche Sektion der internationalen Vereinigung der Lederindustrie-Chemiker

b)

1897

Verband der Laboratoriumsvorstände an Deutschen Hochschulen

a) Felix Ehrmann: Hundert Jahre – wie ein Tag. Der Verband der Chemischen Industrie – Geschichte – Aufgaben – Leistungen, in: Die Chemische Industrie (ChInd) 29 (1977), S. 584–601.

b) Berthold Rassow: Geschichte des Vereins Deutscher Chemiker in den ersten fünfundzwanzig Jahren seines Bestehens, Leipzig 1912, S. 11.

Als Gründungsdatum der DChG gilt der 11. November 1867. Der Leiter der „Constituierenden Versammlung“, der Organiker und spätere Nobelpreisträger Adolf von Baeyer,24) hielt den Zeitpunkt für günstig, da die Berliner Universität im gleichen Jahr ihr erstes chemisches Unterrichtslaboratorium erhalten hatte. Der zu Anfang dieses Abschnitts zitierte A. W. Hofmann wurde als Gründungspräsident bestätigt. Die Statuten der DChG wurden dem großen Londoner Vorbild nachempfunden. Sie zielte darauf ab, „den Vertretern der speculativen und der angewandten Chemie Gelegenheit zum gegenseitigen Ideenaustausche zu geben, um auf diese Weise die Allianz zwischen Wissenschaft und Industrie aufs Neue zu besiegeln.“25) Ab 1876 verzichtete man auf den Zusatz „zu Berlin“, da sich die DChG inzwischen zu einer internationalen Chemikervereinigung entwickelt hatte.26)

Ab den 1840er Jahren weiteten sich die beruflichen Betätigungsmöglichkeiten rasant aus. Zum einen expandierte der staatliche Bereich, in dem Chemiker an Universitäten, Polytechnischen und Gewerbeschulen im Lehramt tätig werden konnten. Nicht zuletzt die Propaganda eines Justus von Liebig27) ab den 1850er Jahren, durch die Agriculturchemie ließe sich das Ernährungsproblem des Bevölkerungswachstums lösen, verbesserte das gesellschaftliche Ansehen der Chemie erheblich. Der Industriechemiker, der in Produktion, Versuchslaboratorien und Qualitätsprüfung tätig wurde, trat als Berufsbild hinzu.28) Als Folge des neuen Patentgesetzes von 1876 setzte auf breiter Front die Gründung von unternehmenseigenen wissenschaftlichen Zentrallaboratorien ein. Diese Entwicklung steht für den endgültigen Abschied von der schmutzigen Hinterhofchemie der Frühindustrialisierung.29) Bis 1886 hatten sich alle größeren chemischen Unternehmen derartige Einrichtungen zugelegt, die dem Vorbild von Hochschulinstituten und -laboren nachempfunden waren.30)

Bereits im Laufe des 19. Jahrhunderts war es zu Neugründungen von kleineren, fachspezifischen Vereinen gekommen (Tab. 1.1), die ihre Interessen in den Großvereinen nicht mehr gewahrt sahen. Im Fall wissenschaftlicher Gesellschaften betraf dies die disziplinäre Ausdifferenzierung, die mit der Herausbildung neuer Berufsbilder einherging. Daher wurden auch dezidiert berufsständisch aktive Vereine – trotz ihres Anspruchs der Vertretung aller Angehörigen ihrer Berufsgruppe – von Neugründungen beeinträchtigt, da diese ihr Gewicht als Standesorganisation in Frage stellten. Die Neugründungen betrafen darüber hinaus allgemein-übergreifende Aufgaben oder Spezialfragen im Rahmen der Hochschulbildung. Herausragendes Beispiel für die zugleich disziplinär wie berufsständisch bedingte Neugründung ist die Gründung der Deutschen Elektrochemischen Gesellschaft von 1894, die sich vor dem Hintergrund der vehement einsetzenden Nutzung der Elektrizität in der chemischen Industrie vollzog.31) Parallel dazu gewann die physikalische Chemie an den Hochschulen an Bedeutung, die die von Organikern dominierte DChG nicht entsprechend zu würdigen verstand. Ab 1902 firmierten die Elektrochemiker als Deutsche Bunsen-Gesellschaft für angewandte physikalische Chemie.32)

Das Abitur und ein einheitlicher akademischer Abschluß bildeten die Schlüssel im Kampf um die soziale Gleichstellung der neuen Professionen gegenüber den etablierten Bildungsberufen, denen Chemiker und Ingenieure in Staat und Verwaltung Positionen streitig machten. Analog zum „Regierungs-Baumeister“ sollte ein „Regierungs-Chemiker“ geschaffen werden.33) In den 1890er Jahren machten sich Carl Duisberg34) und Emil Fischer35) dafür stark, die Emanzipation der Chemiker durch die Reform der chemischen Bildung voranzubringen, wobei ihnen ein Staatsexamen für Chemiker vorschwebte. Im Jahre 1897 schlossen sich führende Vertreter der DChG und der Elektrochemischen Gesellschaft zum Verband der Laboratoriumsvorstände an Deutschen Hochschulen zusammen. In Eigenregie praktizierten seine Mitglieder eine Vorprüfung für Promotionskandidaten.36) Dadurch waren in der Chemikerausbildung zur Jahrhundertwende einheitliche Bildungsstandards erreicht, da 90 % der Chemiestudenten promovierten. Mit der Einführung des Diplom-Ingenieurs an den Technischen Hochschulen Preußens im Jahre 1899, der auch den Chemikern verliehen wurde, wurde die Initiative des VDCh für ein Staatsexamen obsolet. Der Diplom-Chemiker wurde im Zuge der Reform der Studien- und Prüfungsordnung von 1939 auch an den Universitäten eingeführt und das Verbandsexamen abgeschafft (Abb. 1.1).37) Der Verband der Laboratoriumsvorstände an Deutschen Hochschulen wurde aufgelöst.38)

Abb. 1.1 Bestandene Prüfungen Chemie, Verbandsexamen und Diplom, 1898–1941.*

* Janßen, Chemie, 2008, S. 279.

Mit den neuen Karrieren der Industrieberufe wurde der Ruf nach einer standespolitischen Vertretung laut, die die Interessen der Chemiker in Bildung, Staat, Normung und allgemein gesellschaftlich wahrzunehmen hätte. Die DChG, die diese Rolle partiell ausfüllte, war von Gelehrten und Industriellen dominiert, wogegen der ‚kleine angestellte Industriechemiker‘ über keine eigene Vertretung verfügte. Hier ging es um betriebsinterne Fragen der Abgrenzung zu den Meistern oder um die fachgerechte Entlohnung. Vorbild für die in diesem Sinne standespolitischen Vereine, die sich wohlgemerkt nicht als Gewerkschaften verstanden, war der 1856 gegründete Verein Deutscher Ingenieure (VDI). Der VDI erhob den Anspruch, die Interessen der gesamten Technik – also auch der technischen Chemie – zu vertreten, mußte jedoch im Zuge der Herausbildung neuer technischer Branchen – ähnlich wie die Naturforschergesellschaft bei den wissenschaftlichen Disziplinen – die Ausgründung von eigenständigen Fachgesellschaften hinnehmen.39)

Kleinere örtliche Vereinigungen von Chemikern nahmen eine Entwicklung vorweg, die in die Gründung des später mitgliederstärksten Chemikervereins münden sollte. 1877 war in Frankfurt am Main der Verein analytischer Chemiker gegründet worden, der jedoch nicht in Lage war, eine wirksame Standespolitik zu entfalten. Nach zehnjährigem Bestehen umfaßte der Verein lediglich 180 Mitglieder.40) Ange sichts der unerfreulichen Lage ergriff der ehemalige Realschul-Lehrer und Herausgeber des „Jahresberichts über die Leistungen der chemischen Technologie“, Ferdinand Fischer,41) die Initiative. Vermutlich sah Fischer, selbst Vorsitzender VDI-Bezirksvereins Hannover, weder in der DChG noch im VDI die geeignete Interessenvertretung der technischen Chemie. Am 27. November 1887 wandelte sich der Verein analytischer Chemiker in die Deutsche Gesellschaft für angewandte Chemie um. Die von Fischer 1887 begründete „Zeitschrift für angewandte Chemie“ wurde zum Vereinsorgan bestimmt und Fischer die Redaktion übertragen.42)

Die erste Hauptversammlung der Deutschen Gesellschaft für angewandte Chemie im Mai 1888 förderte die divergierenden Positionen bei der Abgrenzung zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen zu Tage. Der Vorschlag, die Gesellschaft dem 1877 gegründeten Verein zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie (VzW) anzugliedern, wurde abgelehnt.43) Ebenso scheiterte die Zusammenlegung der Vereinszeitschriften. Tatsächlich versammelte die Deutsche Gesellschaft für angewandte Chemie jene Chemiker, die weder der DChG noch dem Industrieverein angehörten, weshalb sie „bei manchen Fabrikleitern in den Verdacht [geriet,] eine Art Gewerkschaft von angestellten Chemikern darzustellen“. Dagegen verrät der Blick auf die Zusammensetzung der Vorstände, daß hier Gelehrte, Unternehmer und Direktoren chemischer Fabriken versammelt waren.44) Die Handschrift Ferdinand Fischers wird auch in der Struktur der Deutschen Gesellschaft für angewandte Chemie sichtbar. Nach dem Vorbild des VDI wurden Bezirksvereine gegründet und damit die dauerhafte Präsenz in der Fläche geschaffen – der entscheidende Vorteil gegenüber der DChG, auch um den Nachwuchs an sich zu binden.45) In einigen Fällen konnten vor Ort schon länger existierende Chemikervereine angegliedert werden.46)

Das Bedürfnis der Vereinigung trat naturgemäß in jeden Regionen besonders hervor, in denen die chemische Industrie expandierte. So wurde im Jahre 1889 der Kölner Bezirksverein gegründet, der ab 1891 als Rheinischer Bezirksverein firmierte.47) Er zählte seitdem zu den mitgliedsstärksten Bezirksvereinen. In seinen Reihen wurde ein junger Chemiker aktiv, der später zu einem der einflußreichsten Standespolitiker avancieren sollte. Carl Duisberg war seit 1884 in der Azofarben-Abteilung der Firma Bayer tätig und gilt als Schöpfer der Bayer-Werke in Leverkusen.48) Duisberg übernahm 1896 den Vorsitz des Rheinischen Bezirks vereins und verfügte damit über weiterreichenden Einfluß auch auf den Zentralvorstand. Auf seinen Antrag hin beschloß die Hauptversammlung der Deutschen Gesellschaft für angewandte Chemie im Jahre 1896 in Halle ihre Umbenennung in Verein deutscher Chemiker. Sein erster Vorsitzender war der jüdische Professor Karl von Marx.49) Die Satzungsänderungen hatten zur Folge, daß die Vereinsführung – auch auf Bezirksebene – ab 1890 ausschließlich in Händen einflußreicher Industriechemiker oder Direktoren lag. Bis 1907 stieg der Anteil der kleineren und mittleren Angestellten unter den VDCh-Mitgliedern auf 90 %.50)

Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts führten überwiegend gewerbliche Laboratorien im Auftrag von Behörden und Unternehmen unhängige chemische Untersuchungen durch. Als Gründervater gilt Remigius Fresenius,51) der sein Laboratorium 1848 in Wiesbaden begründete. Die selbständigen öffentlichen Chemiker etablierten damit ein weiteres Berufsfeld, das sich allerdings zwischen den klassischen Interessen liegend definierte. Waren die Nahrungsmittel- und Handelschemiker einerseits freie Unternehmer, sahen sie sich andererseits einem strengen wissenschaftlichen Ethos und dem Gemeinwohl verpflichtet, um dem Verdacht zu begegnen, in erster Linie die Interessen der Auftraggeber zu bedienen.52) Im Jahre 1896 kam es zur Gründung des Verbandes selbständiger öffentlicher Chemiker Deutschlands, der die standespolitischen Interessen gegenüber Behörden, Industrie und Handel zu bündeln suchte. Bis 1907 verfügte der Verband über 240 Mitglieder.53) Im Jahre 1923 schloß sich der Verband dem VDCh an und erlangte „die gesetzliche Anerkennung der öffentlichen Chemiker (Handelschemiker) als freier Beruf.“54)

Damit läßt sich für den ersten Abschnitt der Vorgeschichte festhalten, daß die mit der Hochindustrialisierung rasant steigende Zahl auch von technischen Chemikern im Angestelltenverhältnis ihre Anbindung im VDCh suchte. Dessen Standespolitik war erfolgreicher als die des VDI, da die „durchschnittlichen Einkommenschancen [der Chemiker] im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert rund 30 Prozent über denjenigen der Ingenieure“ lagen. Allerdings war die chemische Industrie in ihrer dynamischsten Expansionsphase alternativlos auf die akademisch gebildeten Chemiker angewiesen und stellte daher das Monopol der kostspieligen Hochschulabsolventen auch nicht in Frage.55) Nicht zuletzt liegt hier eine Wurzel des standespolitischen Eigensinns der Chemikervereine, mit dem die nationalsozialistische Gleichschaltungspolitik noch in den 1930er Jahren in erheblichem Maße zu kämpfen haben sollte.56) Die DChG bediente die Interessen der Wissenschaft und festigte ihren Charakter als Gesellschaft der Gelehrten. Damit formierte sich um die Jahrhundertwende jenes Spektrum an Chemikervereinen, das für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmend werden sollte.

Abb. 1.2 Mitgliederbestand des VDCh, 1887/88 bis 1912.*

* Rassow, Geschichte, 1912, S. 63.

1.2 Die Chemiker des Kaisers (1900–1919)57)

„Es ist in der Tat furchtbar, mehrere Söhne in so kurzer Zeit verlieren zu müssen als Opfer eines wahnsinnigen Krieges, der Deutschland und ganz Europa in Trauer und Not bringt. Die Folge ist bei mir wie bei den Millionen anderer Väter und Mütter eine furchtbare Verbitterung gegen die verrückten Verhältnisse und Personen, die dieses große Unglück verschuldet haben.“58)

Die industrielle und die disziplinäre Entwicklung der Chemie im Deutschen Reich standen bereits zu Zeiten der Reichsgründung 1871 in engem Verhältnis zueinander. Die bis 1900 erlangte vielzitierte „Weltgeltung“ war kein Sublimat selbstverliebter Jubiläumsprosa, sondern manifestierte sich in harten ökonomischen Zahlen. Das Gros der weltweiten Farbenproduktion stammte aus deutschen Fabriken (1913: 86 %) – die lingua franca der Chemie war die deutsche Sprache. Um organische Chemie zu studieren, kamen zahlreiche Ausländer nach Deutschland. Dieser glanzvollen Stellung standen Defizite in der anorganischen, technischen und der Elektrochemie gegenüber.59) Die politische Einstellung der Industriellen wie der Gelehrten entsprach der zeittypischen national-konservativen bis chauvinistischen Haltung der Eliten des Wilhelminischen Kaiserreichs. Als „Flottenprofessoren“ – unter ihnen Ferdinand Fischer – verliehen sie ihrer politischen Haltung Ausdruck.60) Nach wie vor waren jüdische Wissenschaftler im universitären Raum benachteiligt.61) Im Ersten Weltkrieg gelang es der noch jungen physikalischen Chemie – personifiziert durch Fritz Haber und den Ingenieur Carl Bosch62) –, die Salpeter-Importe aus Chile durch synthetische Stickstoffverbindungen zu ersetzen. Tragischerweise ermöglichte die Chemie dem Kaiserreich, den Ersten Weltkrieg bis 1918 durchzuhalten. Im Jahr 1919, in dem die Chemie mit Emil Fischer einen ihrer bedeutendsten Gelehrten und zugleich Wissenschaftspolitiker verlor, trat der Versailler Vertrag in Kraft.

In den 1890er Jahren wurden die Sitzungen der DChG in den verschiedenen Berliner chemischen Instituten abgehalten. Deren räumliche Kapazitäten stießen auch durch den steigenden Umfang der literarischen Unternehmen der Gesellschaft an ihre Grenzen.63) Bereits 1892 diskutierte der Vorstand die Idee, der DChG mit einem eigenen Gebäude nicht nur eine dauerhafte Heimstatt zu verschaffen, sondern mit einem Hofmannhaus auch „das Andenken des verklärten Meisters hochzuhalten.“64) Da die erforderlichen Mittel die Möglichkeiten der DChG überstiegen, wurde die Hofmannhaus-Gesellschaft GmbH gegründet. Mit Unterstützung der chemischen Industrie gelang es, den Bau zu realisieren.65) Im Jahre 1900 bezog die DChG ihr Hofmannhaus in der Sigismund-Straße in Berlin, in dem auch der Verein zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie (VzW) eine Etage belegte.66)

Im Jahre 1885 war der VzW als Träger der Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie bestätigt worden. Wie in anderen Branchen wurde hier die chemische Industrie im Rahmen der Bismarckschen Sozialreformen für die Unfallversicherung ihrer Arbeiter mitverantwortlich. Den Vorsitz der Berufsgenossenschaft übernahmen führende Industrielle. Der enge Schulterschluß der Industrieverbände und der wissenschaftlichen Gesellschaften, die ihre führenden Funktionsträger häufig auf höchster Ebene in die jeweils andere Organisation entsandten,67) fand hier auch in der räumlichen Nähe im Hofmannhaus seinen Ausdruck. Dieses Prinzip blieb erhalten, nachdem VzW und Berufsgenossenschaft 1908 in ihren Neubau direkt neben dem Hofmannhaus umgezogen waren.68)

Mit der Übernahme des Ordinariats für Chemie an der Universität Berlin im Jahre 1892 durch Emil Fischer begann auch für die DChG eine neue Epoche des institutionellen Wachstums und neuer publizistischer Unternehmungen.69) Fischer übernahm das Amt des Präsidenten in den Jahren 1894, 1895, 1902 und 1906 und war längere Zeit auch Vizepräsident der DChG. Auch wenn Fischer nicht als großer Festredner und Repräsentant in Erscheinung trat, entfaltete er als Politiker im wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und politischen Zentrum des Deutschen Reiches große Wirkung. Gemeinsam mit Walther Nernst70) und Wilhelm Ostwald71) verfaßte er im Jahre 1905 eine Denkschrift zur Gründung der Chemischen Reichsanstalt nach dem Vorbild der bereits 1887 gegründeten Physikalisch-Technischen Reichsanstalt (PTR). Die Chemische Reichsanstalt sollte solche Vorhaben in Angriff nehmen, die von den mit der Lehre überlasteten Ordinarien nicht zu realisieren waren. Der Vorstand der DChG unterstützte diese Pläne, für deren Realisierung im Jahre 1908 der Verein Chemische Reichsanstalt gegründet wurde.72)

Wie schon die Vorgänge um die Gründung der PTR gezeigt hatten, handelte es sich auch bei der Chemischen Reichsanstalt um ein hochpolitisches Unterfangen. Der Reichsfinanzminister stellte einen Bauplatz in Berlin-Dahlem in Aussicht, lehnte die dauerhafte staatliche Finanzierung jedoch ab. Seinen wichtigsten Verbündeten fand der Verein Chemische Reichsanstalt zunächst in dem Ministerialdirektor im preußischen Unterrichtsministerium, Friedrich Althoff,73) und in seinem Nachfolger, dem Vortragenden Rat Friedrich Schmidt-Ott.74) Mit der Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (KWG) 1911 wurde zwar das ursprüngliche Ziel der DChG nicht erreicht, doch konzentrierte sich die KWG in den ersten Jahren ihres Bestehens in erster Linie auf die Förderung der Chemie. 1912 wurde das Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für Chemie im Beisein des Kaisers eingeweiht und durch Emil Fischer dem Präsidenten der KWG, Adolf von Harnack75) – auch ein „Flottenprofessor“ – übergeben. Am gleichen Tage erfolgte die Einweihung des KWI für physikalische Chemie und Elektrochemie.76) Das dritte KWG-Institut – ebenfalls der chemischen Forschung gewidmet – war das KWI für Kohlenforschung in Mülheim an der Ruhr, das noch im Juli 1914 übergeben wurde.77)

Tabelle 1.2 Gründungsdaten und Umbenennungen technisch-wissenschaftlicher Vereine und Gesellschaften ab 1900

1900

Verein weiblicher Chemiker

1901

Freie Vereinigung Deutscher Nahrungsmittelchemiker (vormals Freie Vereinigung bayerischer Vertreter der angewandten Chemie)

1902

Deutsche Bunsen-Gesellschaft für angewandte physikalische Chemie

1904

Bund der technisch-industriellen Beamten (Butib)

1905

Verein der Zellstoff- und Papier-Chemiker und -Ingenieure

a)

1906

Ausschuß zur Wahrung der gemeinsamen Interessen des Chemikerstandes

1908

Verein Chemische Reichsanstalt

1911

Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften Association internationale des Sociétés Chimiques Chemikerkommission beim Verein Deutscher Eisenhüttenleute (VDEh)

b)

1913

Verein deutscher Kalichemiker

1916

Kaiser Wilhelm-Stiftung für kriegstechnische Wissenschaft (KWKW)

1919

Bund der technischen Angestellten und Beamten (Butab) Bund angestellter Chemiker und Ingenieure (Budaci), ab 1925 Bund angestellter Akademiker technisch-naturwissenschaftlicher Berufe International Union of Pure and Applied Chemistry (IUPAC)

c)

1920

Adolf-Baeyer-Gesellschaft zur Förderung der chemischen Literatur Justus-Liebig-Gesellschaft zur Förderung des chemischen Unterrichts Emil Fischer-Gesellschaft zur Förderung der chemischen Forschung Chemiker-Fachausschuß der Gesellschaft Deutscher Metallhütten- und Bergleute

d)

1922

Kolloid-Gesellschaft

e)

1931

Kampfbund Deutscher Architekten und Ingenieure (KDAI)

1936

Bund Deutscher Chemiker (BDCh)

f)

1934

Fachgruppe Chemie in der Reichsgemeinschaft technisch-wissenschaftlicher Arbeit (RTA)

g)

1941

Reichsfachgruppe Chemie im NS Bund Deutscher Technik (NSBDT)

h)

1949

Gesellschaft Deutscher Chemiker (auf Bundesebene)

Verband angestellter Akademiker in der chemischen Industrie (VAA)

a) Gründungsjahr nach Josef Wallich: Deutsche Forschungsstätten technischer Arbeit, Berlin 1919, S. 169 f.

b) Ab 1919 Chemikerausschuß beim VDEh; Horst Wünsch: 50 Jahre Chemikerausschuß beim [VDEh], in: Stahl und Eisen (StE) 82 (1962), S. 1054–1056.

c) Rudolf Morf: Internationale Union für Reine und Angewandte Chemie IUPAC. Ein geschichtlicher Überblick über die Entwicklung der Zusammenarbeit der Chemiker auf internationaler Basis, in: Chemiker-Zeitung (CZ) 85 (1961), S. 639–643.

d) Gesellschaft Deutscher Metallhütten- und Bergleute e. V.: Geschichte des Chemiker-Ausschusses der [GDMB] von seiner Gründung bis zum Jahre 1956, Clausthal-Zellerfeld 1956.

e) Klaus Beneke: Über 70 Jahre Kolloid-Gesellschaft. Gründung, Geschichte, Tagungen (Mitt. der Kolloid-Gesellschaft, 1996. Beiträge zur Geschichte der Kolloidwissenschaften, V).

f) Vgl. Abschnitt 3.3 „Es fehlt noch das NS“: VDCh und DChG als Hauptvereine des BDCh.

g) Vgl. Abschnitt 2.4 Reichs-Chemiker-Kammer, „Bilderstürmer“ und „Burgfrieden“.

h) Vgl. Abschnitt 6.3 Reichsstellennachweis, Militärchemiker und territoriale Expansion.

Abb. 1.3 Chemotechniker und Chemotechnikerinnen, Deutsches Reich, 1907–1937.*

* Janßen, Chemie, 2008, S. 280.

Einer der wenigen reichsweit regulierten Chemikerberufe entstand in der Nahrungsmittelchemie.78) Die Nahrungsmittelchemiker galten zunächst als Gewerbetreibende. Als Teil der staatlichen Gewerbeaufsicht und Gesundheitsvorsorge fiel den „geprüften Nahrungsmittelchemikern“ die Aufgabe zu, chemische Analysen vorzunehmen und gerichtliche Gutachten zu erstellen. Um ihre Neutralität und allgemein gültige Untersuchungsstandards zu garantieren, mußte als Voraussetzung für die Einstellung als Gewerbeaufsichtsbeamter eine Nahrungsmittelchemiker- Prüfung abgelegt werden. Die ab 1897 gültige Ordnung sah ein dreijähriges Referendariat mit anschließender zweiter Prüfung vor, nach der die Amtsbezeichnung „Gewerbeassessor“ verliehen wurde.79) Daß sich die Nahrungsmittelchemiker weder in der DChG noch im VDCh adäquat repräsentiert fühlen würden, war zu erwarten. Ab 1901 organisierten sie sich in der Freien Vereinigung Deutscher Nahrungsmittelchemiker mit rund 400 Mitgliedern im Jahre 1908.80)

Die Ausdifferenzierung der Disziplinen, Berufsbilder und Vereine – ob als Gelehrtengesellschaft oder dezidiert standespolitisch aufgestellte Organisation – führte zu einer Zersplitterung, die der Durchsetzung eigener Interessen gegenüber Behörden und Industrie nicht zuträglich war. Bis 1907 stieg der Anteil der abhängig beschäftigten Chemiker auf 86 %. Fragen der Angestelltenerfindung, aber auch die Dominanz der chemischen Großunternehmen riefen eine Verunsicherung vor allem unter den jüngeren Chemikern hervor. Die traditionell vom Bildungsabschluß abhängige Hierarchie der Chemikerberufe, die den innerbetrieblichen Status und damit das Einkommen bestimmte, wurde von den Verhältnissen in der Industrie überholt. In wachsendem Umfang übernahmen Chemotechniker beim Entwurf, Bau und Betrieb technisch komplexer Anlagen höhere Positionen in den Unternehmen (Abb. 1.3). Trotz ihres niedrigeren Bildungsabschlusses erreichten die Chemotechniker nicht selten die Einkommen und den Status der akademischen Industriechemiker. Vor diesem Hintergrund kam es 1906 zur Bildung des Ausschusses zur Wahrung der gemeinsamen Interessen des Chemikerstandes. Treibende Kraft waren der VDCh und sein Vorstandsmitglied Carl Duisberg, der damit den VDCh, die Bunsen-Gesellschaft, die öffentlichen Chemiker und die Nahrungsmittelchemiker in einer losen Standesorganisation zusammenführte. Daß die DChG dem Ausschuß erst 1907 beitrat,81) verweist erneut auf die dort gepflegte Zurückhaltung in Standesfragen.

Die von Carl Duisberg maßgeblich vorangetriebene Initiative zur Bildung des vereinsübergreifenden standespolitischen Ausschusses stand in Zusammenhang mit der Gründung einer weiteren Organisation, die den Anspruch der Gesamtvertretung des Chemikerstandes durch den VDCh herausforderte. Mit dem Ziel, alle abhängig Beschäftigten technischer Berufe zu vertreten, hatte sich 1904 der Bund der technisch-industriellen Beamten (Butib) gegründet. Dieser beklagte die relativ geringen Verdienstmöglichkeiten der Angestellten und ihre „intellektuelle Leibeigenschaft“.82) Er besaß einen quasi-gewerkschaftlichen Charakter und erreichte bis 1913 einen Mitgliederstand von 22.000 – darunter ca. 10 % Chemiker –, rekrutierte sich allerdings überwiegend aus nicht-akademischen Mittelschulingenieuren.83) Trotz einiger Fälle der Kooperation mit den freien Gewerkschaften hielten die Angestellten aus Angst vor ökonomischer Nivellierung gegenüber dem Proletariat an „ihrer kleinbürgerlichen Sonderstellung“ fest.84) Als Duisberg im Jahre 1907 den Vorsitz des VDCh übernahm, unterstellte er dem Butib Gewerkschaftsmethoden und rief die Chemiker dazu auf, sich nicht durch Grabenkämpfe zwischen Unternehmern und Angestellten von der Einheit der Standesvertretung abbringen zu lassen.85) Der VDCh konnte auf seine schon 1900 ins Leben gerufene Stellen-Börse sowie die Hilfskasse von 1903 verweisen. Als zusätzliche Maßnahme gegen den Butib gründete der VDCh 1907 seinen sozialen Ausschuß.86)

Unter Carl Duisberg kam es zu weiteren organisatorischen Veränderungen im VDCh. Das Amt eines Generalsekretärs wurde Professor Dr. Berthold Rassow87) übertragen und die Geschäfte durch ein eigenes „Vereinsbureau“ in Leipzig geführt. 1909 übernahm Dr. Fritz Scharf88) die stellvertretende Geschäftsführung, die durch weiteres Personal unterstützt wurde. Neben dem Schriftverkehr mit den Mitgliedern oblag dem Büro die redaktionelle Verantwortung der Zeitschrift für angewandte Chemie.89) Gegen die Zentrifugalkräfte, denen sich der Einheitsverein der Chemiker ausgesetzt sah, kam ein probates Mittel zur Anwendung. Zusätzlich zu den bereits genannten spezialisierten Chemikervereinen hatten sich bereits 1896 die Lederchemiker zur Deutschen Sektion der internationalen Vereinigung der Lederindustrie-Chemiker zusammengetan (Tab. 1.1). 1906 folgte der Verein der Zellstoff- und Papier-Chemiker und -Ingenieure.90) Um der weiteren Zersplitterung des VDCh vorzubeugen, wurden daher neben den Bezirksvereinen ab 1907 gleichrangige Fachgruppen ins Leben gerufen. Den Auftakt machten die Fachgruppen für Technologischen Unterricht und die Gärungschemie.91) Im Jahre 1912 verfügte der VDCh über zwölf Fachgruppen. Auch wenn sich trotz der Einrichtung einer Fachgruppe für die Kaliindustrie 1913 ein Verein deutscher Kalichemiker gründete, avancierte doch der VDCh zur größten und bestimmenden Standesvertretung der Chemiker.92) Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs konnte Duisberg reklamieren, mit seinem durch Industrielle dominierten Modell der Professionalisierung gegenüber dem Butib triumphiert zu haben.93) Auch gegenüber der DChG mit rund 3400 Mitgliedern im Jahre 1913 hob sich der VDCh mit über 5200 Mitgliedern deutlich ab (Tab. 1.3).94)

Das im Kaiserreich vorherrschende Rollenbild beschränkte die Tätigkeit von Frauen in der Chemie weitestgehend. Frauen wurden allenfalls für niedere Laborarbeiten eingesetzt. Ab etwa 1900 absolvierten Frauen Ausbildungen an Chemie- Schulen und konnten z. B. in der Zucker-Industrie tätig werden. Der Berliner Lette-Verein ermöglichte ab 1905 die Ausbildung zur Metallographin.95) Der VDCh sprach sich dagegen aus, diesen Frauen die Berufsbezeichnung „Chemikerin“ zu verleihen.96) Der Mangel einer angemessenen Standesvertretung führte um 1900 zur Gründung des Vereins weiblicher Chemiker, der ersten Berufsorganisation für Frauen in der Chemie – mit rund 50 Mitgliedern im Jahre 1908 – überhaupt.97) Mit der Öffnung des Chemiestudiums für Frauen ab der Jahrhundertwende wurde die Frauenfrage zunehmend zur Herausforderung für alle chemischen Vereinigungen. Emil Fischer mag hier stellvertretend für die gesamte Gelehrtenelite zitiert werden: Er bezeichnete „das Studium weiblicher Praktikanten als vertanen Aufwand“ und sah „nach wie vor den wahren Beruf der Frau im häuslichen Walten und Segenbringen“.98) Erneut trat nun der Butib innovativ in Erscheinung, da er nicht nur Frauen als Mitglieder akzeptierte, sondern auch in seinem Organ über den Chemikerinnenverein berichtete. Auf besondere Intervention von Carl Duisburg wurde 1910 erstmals und als Ausnahme eine Chemikerin als Mitglied im VDCh akzeptiert – die Tochter seines Freundes Dr. phil. Emanuel A. Merck.99) Bis 1910 stieg der Anteil von Frauen bei den Verbandsexamen auf rund 3 % und erreichte bis zum Ende des Ersten Weltkrieges über 35 %. Bei den Dissertationen war ein ähnlicher Anstieg des Frauenanteils zu verzeichnen. Während der Anteil 1913/14 lediglich 1,8 % betrug, wurden infolge des Kriegsdienstes der Männer 1918/19 über 17 % erreicht.100)

Tabelle 1.3 Mitgliederentwicklung der DChG und des VDCh 1890 bis 1933

DChG

VDCh

a)

1890

3440

429

1895

3208

1120

1900

3410

2096

1905

3624

3118

1910

3393

4131

1913

3400

5200

1915

3324

5410

1916

–/–

5333

1917

–/–

5317

1918

–/–

5367

1919

–/–

5549

1920

3505

6001

1921

> 5000

5568

1922

ca. 6600

6444

1923

ca. 6600

7828

1924

5087

8225

1925

5239

7369

1926

5194

7727

1927

5153

7916

1928

5265

8262

1929

5207

8668

1930

4940

8798

1931

4482

8760

1932

4157

8241

1933

3944

7620

a) Geschäftsbericht des Vorstandes des [VDCh] für das Jahr 1929, in: AC 43 (1930), S. 532– 546, hier S. 532; Geschäftsbericht des Vorstandes des [VDCh] für das Jahr 1933, in: AC 47 (1934), S. 385–402, hier S. 385.

Abb. 1.4 Rohstoff- und Verfahrenssubstitution in der Stickstoffindustrie der Welt seit dem Ersten Weltkrieg.*

* Abb. 4.14 aus Herbert Kölbel; Joachim Schulze: Der Absatz in der Chemischen Industrie, Berlin 1970, S. 292.

Der Erste Weltkrieg hatte auf vielen Ebenen gravierende Auswirkungen auf die Chemikervereine, die Industrie und die disziplinäre Entwicklung der chemischen Wissenschaft. Obwohl die deutschen Armeen die Neutralität Belgiens und das Kriegsvölkerrecht verletzten, unterzeichneten führende Exponenten der deutschen Chemie den „Aufruf an die Kulturwelt“, mit dem 93 Vertreter aus Kunst und Wissenschaft den deutschen Überfall verteidigten.101) Emil Fischer zählte zu den fünf Initiatoren dieses „Manifests der 93“. Während er sich durch einen Krieg eine Verbesserung der deutschen Zukunft erhoffte, äußerte sich Carl Duisberg – sogar für den Fall glanzvoller Siege – äußerst skeptisch, nicht zuletzt da die exportabhängige chemische Industrie umgehend ihre Rohstoffquellen und Absatzmärkte einbüßte.102)

Durch die Abschnürung der Zufuhr von Chile-Salpeter wurde schon nach wenigen Wochen klar, daß mit dem Ende der Pulver- und Sprengstoffproduktion jegliche militärischen Operationen auf Seiten der Mittelmächte zusammenbrechen würden. Anfang September 1914 nahmen die Kriegsrohstoffabteilung (KRA) und die BASF Verhandlungen über die Errichtung von Syntheseanlagen auf. Emil Fischer unterstützte darüber hinaus die Bemühungen, neben Ammoniak weitere Nebenprodukte der Koksherstellung nach dem Ostwald-Kontakt- Verfahren zur Gewinnung von Treibstoffen und Toluol zu nutzen. Im Auftrag des Kriegsministeriums verhandelte er mit den Schwerindustriellen der Ruhr und avancierte zum Leiter der einflußreichen Kommission zur Beschaffung von Kokereiprodukten. Schließlich organisierten sich ab Januar 1917 führende Naturund Technikwissenschaftler mit Militärs und Industriellen in der Kaiser-Wilhelm- Stiftung für kriegstechnische Wissenschaft (KWKW). Emil Fischer und Fritz Haber vertraten im Kuratorium die Chemie.103) Dies und die Initiativen aus der chemischen Industrie und Wissenschaft, die die Fortsetzung des Krieges überhaupt ermöglichten, steigerten nicht nur das Selbstbewußtsein der Chemiker,104) sondern veränderten das Bild über die Bedeutung der Chemie in militärischen und politischen Kreisen – vor allem auch für die folgenden Jahrzehnte – nachhaltig. Bis 1918 waren Chemiker bei der Entwicklung einer Fülle von Ersatzstoffen beteiligt,105) die ab 1933 die Grundlage der nationalsozialistischen Autarkiepolitik bildeten.

Nicht erst seit Kriegsbeginn waren Chemiker in militärischen Diensten tätig. Sowohl das Militärversuchsamt als auch die Militärtechnische Akademie verfügten über chemische Labors.106) Doch weit über die Erprobung von Explosivstoffen oder die Gewinnung von Surrogaten hinaus definierte ein Chemiker das bis 1914 vorherrschende Kriegsbild neu. Gleichzeitig mit dem Menschheitsgeschenk der Synthetisierung von Stickstoffverbindungen aus der Luft, die den Engpaß der für die Nahrungsmittelproduktion entscheidenden Düngerversorgung beseitigte, sorgte Fritz Haber für die Entwicklung und den erstmaligen Einsatz von unterschiedslosen Massenvernichtungsmitteln im Ersten Weltkrieg.107) Die Kampfstoff-Forschung etablierte ein neues Feld in der Chemie und wurde Teil von Forschung und Lehre an Hochschulen ebenso wie an militärischen Institutionen. Das Berufsbild des Chemikers, das ab den 1920er Jahren Bestand hatte, muß daher um das des Militärchemikers erweitert werden (Tab. 1.4).

Tabelle 1.4 Fachliche Differenzierung und Berufsbild der Chemikerinnen und Chemiker ab den 1920er Jahren nach Janßen 2008a)

1. Farbstoffchemiker

Forschungslaboratorien und Produktion

2. Hüttenchemiker

Betriebs- und Qualitätskontrolle, Werkslaboratorium

3. Metallindustrie und Maschinenbau

Werkstoff-Forschung, Apparatebau für die chemische Industrie, Patentabteilung

4. Textil-, Papier-, Gerbereichemiker

Veredlung von Textilfasern, Färben, Betriebsüberwachung

5. Agrikulturchemiker

Landwirtschaft, Versuchsstationen, Dünger-/Bodenlehre

6. Kolloidchemiker

Photoindustrie, Entwicklung, Qualitätskontrolle

7. Handelschemiker

Produktanalyse und Nutzwert, Sachverständigenwesen

8. Militärchemiker

b)

Versuchsstationen (staatlich/privatwirtschaftlich), Militärakademien, Explosivstoffe und Gasschutz

a) Bei Janßen ohne Militärchemiker; Janßen, Chemie, 2008, S. 268 f.

b) Vgl. zu den Aufgabenfeldern ab der Jahrhundertwende „2. Kontinuitäten der Rüstungsforschung bis in die Weimarar Republik 1900/1921“, in: Maier, Forschung als Waffe, 2007, S. 85–196.

1.3 Weimarer Krisenjahre (1919–1933)

„Die literarische Tätigkeit der [DChG] bildet einen der Grundpfeiler, auf denen das Gebäude unserer Wissenschaft und Industrie beruht; sie befördert die Fortschritte der Wissenschaft durch rasche und zuverlässige Vermittlung des bisher Erforschten, und sie ermöglicht der Industrie die technische Verwertung der entdeckten Verbindungen und Verfahren. Sie ist eine Lebensbedingung für den Fortbestand der Deutschen Chemie.“108)

Mit dem Verbot der Rüstungsproduktion und jeglicher militärischer Betätigung außerhalb der stark verkleinerten Reichswehr bedrohte der Versailler Vertrag 1919 die chemische Industrie und die militärische Forschung. Die KWKW mußte ebenso aufgelöst werden wie die Militärtechnische Akademie. Die beträchtlichen Kapazitäten der Stickstoffproduktion lieferten ein weiteres Exportprodukt der deutschen Chemie, den Kunstdünger. Da der Krieg der Zukunft, so die zeitgenössischen Erwartungen, neben dem Luftkrieg vor allem die Anwendung der Kampfstoffe bringen würde, wurde die Kampfstoff-Forschung an den Hochschulen und anderen öffentlichen Einrichtungen verdeckt weiter betrieben. An die Stelle des Groß-Mäzenatentums in der Wissenschaftsförderung des Kaiserreichs traten der Staat und die Industrie. Die Generation der Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs strömte zusätzlich an Universitäten und Technische Hochschulen, was in der vehement steigenden Zahl der Promotionen zu Ausdruck kommt (Abb. 1.5). Die junge Weimarer Republik wurde durch heftige politische Auseinandersetzungen extremistischer Parteien und Bewegungen erschüttert. Trotzdem etablierte sich mit der Währungsstabilisierung ab 1924 ein einigermaßen stabiles politisches System. Die bürgerlich-konservativen Eliten standen der Republik skeptisch gegenüber; ihre Exponenten mutierten häufig zu sogenannten Vernunftrepublikanern, darunter Emil Fischer, Walther Nernst, Fritz Haber und Carl Duisberg.109) Diese Reserviertheit gegenüber der neuen Staatsform trug dazu bei, daß sich der Übergang ins „Dritte Reich“ ohne Gegenwehr vollziehen konnte.

Abb. 1.5 Promotionen Chemie, Deutsches Reich, 1886–1938.*

* Janßen, Chemie, 2008, S. 279.

Die Weimarer Verfassung regelte das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit auf betrieblicher Ebene durch das Betriebsrätegesetz von 1920 und die Organisationspflicht der abhängig Beschäftigten.110) Als paritätisch organisierte Standesvertretung schied der VDCh hier als Vertretung der Angestellten aus. Daher gewann der Butib mit der Anerkennung als tariffähige Organisation zunächst erheblich an Attraktivität. In der Folge wurde jedoch das über den sozialen Status entscheidende Kriterium des akademischen Abschlusses bestimmend. Die Arbeitnehmervertretungen der Chemiker gliederten sich in:

1904–1919:

Bund der technisch-industriellen Beamten

(Butib);

1919–1933:

Bund der technischen Angestellten und Beamten

(Butab), als Zusammenschluß aus dem Butib und dem

Deutschen Technikerverband

(DTV);

1919–1933:

Bund angestellter Chemiker und Ingenieure

(Budaci), der sich 1925 Naturwissenschaftlern öffnete und sich in

Bund angestellter Akademiker technisch-naturwissenschaftlicher Berufe

umbenannte.

111)

Bereits im Kaiserreich hatte sich der Butib unter den Chemikern nicht durchzusetzen vermocht. Nach dem Zusammenschluß mit dem DTV handelte der Butab Tarifverträge aus, bei denen das formale Bildungsniveau unberücksichtigt blieb.112) Dieses Manko führte sehr schnell zum Zusammenschluß der statusbewußten akademischen Chemiker, die sich als „betriebliche Oberschicht“ verstanden – zum Bund angestellter Chemiker und Ingenieure (Budaci). Damit kam es 1919 zur „Gründung der ersten und einzigen Akademikergewerkschaft im Deutschen Reich“ überhaupt.113) Der Budaci legte „großen Wert auf gute Beziehungen zu den Unternehmerverbänden“.114) „Bereits im Oktober 1919 bestätigte der Arbeitgeberverband der chemischen Industrie dem Bund anläßlich von Tarifverhandlungen seine Stellung als alleinlegitimierte Berufsgewerkschaft“.115) Auch wenn der VDCh diese Entwicklung erneut mit dem Hinweis auf die Zersplitterung kommentierte, schloß er mit dem Budaci Ende 1919 doch ein Abkommen, das dem Bund „die ausschließliche Vertretung der wirtschaftlichen und sozialen Interessen angestellter Chemiker zuerkannte.“116) Diese Regelungen bildeten in der ersten Phase des „Dritten Reiches“ die Ursache dafür, das der VDCh seinen Alleinvertretungsanspruch nur durch die Schaffung entsprechender „berufsständischer Stellen“ aufrechterhalten konnte.117)

Während der VDCh das Gros der deutschen Chemiker repräsentierte, hatte die DChG bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs mit 37 % an ausländischen Mitgliedern den Charakter einer internationalen wissenschaftlichen Gesellschaft angenommen.118) Im Jahre 1911 hatten sich die Société Chimiques, die Chemical Society und die DChG zur Association internationale des Sociétés Chimiques zusammengeschlossen, die allerdings den Krieg nicht überdauerte.119) Nach dem Krieg schlug den Deutschen in den internationalen Wissenschaftsorganisationen eisige Ablehnung entgegen. Besonders rächte sich nun der unselige „Aufruf an die Kulturwelt“ von 1914. Emil Fischer, der den Aufruf nach dem Krieg „öffentlich als eine Fehlentscheidung“ bezeichnete, scheiterte mit dem Versuch, „die Unterzeichner zu einer Gegenerklärung zu bewegen.“120) Im Jahre 1919 konstituierte sich die International Union of Pure and Applied Chemistry (IUPAC),121) von der die Deutschen ausgeschlossen blieben. Dies und andere Ausschlüsse von Deutschen trugen dazu bei, daß die deutsche Sprache als internationale Wissenschaftssprache ihre Stellung zugunsten des Englischen einbüßte.122)

Vor allem Fritz Haber, der als Kriegsverbrecher und zugleich als Nobelpreisträger die Extreme der Nachkriegszeit personifizierte, bemühte sich intensiv um die Wiederherstellung der internationalen Beziehungen der deutschen Chemikervereine. Aber nicht nur im Ausland stießen diese Pläne auf Widerstand, mußte doch „der Kampf an der inneren Front gegen die Bedenken der politisch rechtsorientierten Wissenschaftler in Deutschland geführt werden.“123) Tatsächlich verschrieben sich nicht wenige Gelehrte einem „ultra-nationalistischen Isolationismus“, was am Ende – neben dem latenten Antisemitismus – den Nationalsozialisten in die Hände spielte.124) Durch die Bemühungen des Utrechter Physikochemikers Ernst Cohen125) wurde im Jahre 1926 der Paragraph gestrichen, der den Beitritt der Deutschen zur IUPAC verhindert hatte.126) Ein Jahr später widmete ihm die Zeitschrift für Physikalische Chemie einen Festband, um seinen Einsatz für die „Wiederherstellung friedlicher Beziehungen zwischen den Gelehrten der durch den Krieg getrennten Völker“ zu würdigen. Der Jude Ernst Cohen wurde 1944 in Auschwitz ermordet.127)

Schließlich ergriff Professor Dr. Alfred Stock,128) TH Karlsruhe, die Initiative zur Gründung eines nationalen Dachverbandes. Im Oktober 1928 schlossen sich die Bunsen-Gesellschaft, die DChG und der VDCh zum Verband deutscher chemischer Vereine (VdcV) zusammen, der sich die „einheitliche Vertretung der deutschen Chemie gegenüber dem Auslande“ zur Aufgabe setzte. Den Vorsitz übernahm Fritz Haber. Der Beitritt des Verbandes zur IUPAC stieß unter deutschen Chemikern auf heftigen Widerstand, der ausgerechnet vom Präsidenten der DChG, Professor Dr. Heinrich Wieland,129) angeführt wurde. Nach lang wierigen Verhandlungen wurde der Beitritt des Verbandes in die Union zum 1. Januar 1930 vollzogen.130) Im Oktober 1932 wurde beschlossen, den VzW zum Beitritt zu bewegen, um die durch die Weltwirtschaftskrise schwierige Finanzierung der Beiträge sicherzustellen.131) Der Verband blieb nach dem Machtwechsel 1933 zunächst unangetastet.132)

Die Entmilitarisierungsbestimmungen des Versailler Vertrages untersagten den Fortbestand militärischer Forschungseinrichtungen. Damit war auch das Schicksal des Militärversuchsamts ungewiß. Sein Direktor, der Chemiker und Explosivstoffexperte Emil Bergmann133) wandte sich Anfang 1919 an das preußische Kriegsministerium. Es liege im Staatsinteresse, die „Fortschritte der Militärtechnik“ weiterverfolgen zu können. Außerdem könne das Militärversuchsamt für zivile Aufgaben wie den Arbeitsschutz eingesetzt werden. Es kam zu einer einhelligen Reaktion der verantwortlichen Stellen. Ab April 1920 wurde das Amt als Chemisch-Technische Reichsanstalt (CTR) fortgeführt und war dem Reichsministerium des Innern unterstellt. Nach dem Vorschlag von Fritz Haber wurde nach dem Vorbild der PTR ein Kuratorium einberufen. Gelehrte und Industrielle von Rang – neben Haber wiederum Walther Nernst, Franz Fischer (KWI für Kohlenforschung),134) Nikodem Caro135) und Emil Warburg136) – sollten der CTR „die gewünschte Aura“ verleihen. Die Exponenten der chemischen Industrie, darunter Carl Bosch und Carl Duisberg, sollten Spenden einwerben.137) Außerdem war die Inspektion für Waffen und Gerät – Keimzelle des späteren Heereswaffenamtes – im Kuratorium vertreten.138)

Wie der zu Anfang dieses Abschnittes zitierte Generalsekretär Bernhard Lepsius139) deutlich machte, bildete die Förderung der chemischen Literatur eines der zentralen Tätigkeitsfelder der DChG. Die DChG gab nicht nur das von Leopold Gmelin140) begründete „Handbuch der anorganischen Chemie“ heraus,141) sondern auch „Beilsteins Handbuch der organischen Chemie“,142) beide ambitiöse Unternehmen mit überragender internationaler Reichweite.143) Hinzu kamen an Zeitschriften die „Berichte der deutschen chemischen Gesellschaft“ und das „Chemische Zentralblatt“. Im Jahre 1919 einigten sich VDCh und DChG darauf, die technischen Referate der Zeitschrift für angewandte Chemie auf das Zentralblatt zu übertragen. Die Ausweitung der literarischen Unternehmen, aber auch das damit verbundene wirtschaftliche Risiko, führten zur Gründung der Verlag Chemie GmbH im Jahre 1921. Sie erhielt den Auftrag, die Veröffentlichungen der DChG, des VDCh und des VzW verlegerisch zu betreuen, die Vereinszeitschriften und andere chemische Veröffentlichungen herauszubringen. Auch andere chemische Vereine und Institutionen ließen ihre Organe vom Verlag Chemie publizieren, der schließlich zwölf der wichtigsten Fachzeitschriften verlegte.144)

Die chemische Industrie litt in den frühen 1920er Jahren unter einer Absatzkrise und den kriegsbedingten Überkapazitäten. 1924 wurden 20.000 Beschäftigte freigesetzt. Im Jahre 1925 fusionierten großen deutschen Chemieunternehmen zur „Interessengemeinschaft Farbenindustrie AG“ (IG Farben), die sich nicht nur zum größten europäischen, sondern auch zum weltweit größten Chemiekonzern entwickelte: „Die Unternehmen der I.G. produzierten fast 100 % der deutschen Farbstoffe, zwei Drittel des Stickstoffdüngers und des Sprengstoffs sowie den größten Teil der Photo- und Pharmaprodukte.“ Der Konzern gliederte sich in die Betriebsgemeinschaften Mitteldeutschland, Mittelrhein, Niederrhein und Oberrhein. Im Kontext der Weltwirtschaftskrise wurden drei Sparten geschaffen:

Sparte I: Stickstoff, Mineralölsynthese;

Sparte II: Anorganika, Zwischenprodukte, Lösungsmittel, Farbstoffe, Pharma und Pflanzenschutz;

Sparte III: Photo und Kunstfasern.

145)

Infolge dieser Großfusion veränderten sich zwangsläufig auch die Verhältnisse in den technisch-wissenschaftlichen Vereinen. Ein Großteil ihrer Mitglieder rekrutierte sich nun ab Mitte der 1920er Jahre aus dem IG Farben-Konzern. So war es nicht mehr möglich, Vorstandsposten der Vereine mit Kandidaten zu besetzen, die den Exponenten der IG Farben nicht genehm waren. Zwischen den Betriebsgemeinschaften der IG Farben kursierten im Vorfeld von Vorstandswahlen Kandidatenlisten, um durch eine einheitliche Stimmabgabe das gewünschte Ergebnis zu erzielen.146)

Die Vorstandsmitglieder und Spartenleiter der IG Farben besetzten zentrale Positionen in den Vereinen, die ihrerseits nicht selten von der Finanzkraft des Konzerns profitierten. Dies galt für die literarischen Unternehmen ebenso wie für das soziale Engagement, die Förderung der Wissenschaften bis hin zur Unterstützung der Kopierstelle der DChG im Hofmannhaus. So war z. B.

Carl Bosch Vorsitzender der 1920 gegründeten

Adolf-Baeyer-Gesellschaft zur Förderung der chemischen Literatur

,

Carl Duisberg Vorsitzender der im gleichen Jahr gegründeten

Justus-Liebig- Gesellschaft zur Förderung des chemischen Unterrichts

und

Arthur von Weinberg

147)

(IG Aufsichtsrat) Vorsitzender

Emil Fischer-Gesellschaft zur Förderung der chemischen Forschung

, die das KWI für Chemie maßgeblich mitfinanzierte.

148)

Das herausragende Produktionsverfahren der deutschen chemischen Industrie im Ersten Weltkrieg, die Hochdrucksynthese, wurde in den 1920er Jahren weiterentwickelt und die Palette der Produkte erweitert. Der Nobelpreis für die Väter der Ammoniaksynthese, Fritz Haber und Carl Bosch, bestärkte die deutsche Chemie in dem Glauben, hier den für die Zukunft maßgeblichen Technologiepfad zu beschreiten.149) Bereits 1923 wurde bei der BASF in Ludwigshafen die Produktion synthetischen Methanols in großem Stil aufgenommen. Die wachsende Bedeutung der Motorisierung hatte sich während des Ersten Weltkriegs abgezeichnet, und die Ausweitung der Automobilproduktion rief eine nachhaltige Nachfrage nach Treibstoffen hervor. Parallel wurde über die Erschöpfung der Erdöllagerstätten diskutiert. Das Deutsche Reich, das auf Mineralölimporte angewiesen war, verfügte über reiche Braun- und Steinkohlevorkommen. Als naheliegende Lösung und verbunden mit der Hoffnung auf lukrative Absatzmärkte im In- und Ausland nahm die IG Farben die Entwicklung der Kohlehydrierung in Angriff. Die erste Anlage ging 1924 in Oppau in Betrieb. Nach den Patenten von Friedrich Bergius150) und durch die Katalysatorentwicklung von Matthias Pier151) konnte auf der Basis der mitteldeutschen Braunkohle ab 1927 das „Leuna-Benzin“ produziert und in den Handel gebracht werden. Auch in England und den USA kam die katalytische Druckhydrierung zum Einsatz.152)

Mitte der 1920er Jahre wurde am KWI für Kohlenforschung in Mülheim an der Ruhr ein weiteres Verfahren zur Treibstoff-Synthese entwickelt, das zusammen mit dem Braunkohlenbenzin während des „Dritten Reiches“ Bedeutung erlangen sollte. Das Fischer-Tropsch-Verfahren – entwickelt von Franz Fischer und seinem Mitarbeiter Hans Tropsch153) – nutzte Steinkohlengas als Ausgangsprodukt, so daß sich die Rohstoffbasis auf die reichen Steinkohlenvorräte ausweitete. Die FT-Synthese hatte gegenüber dem Bergius-Pier-Verfahren den Vorteil, bei erheblich geringerem Druck und niedrigeren Temperaturen zu funktionieren. Ab 1933 erfuhren beide Verfahren massive Unterstützung durch das NS-Regime. Nach dem Benzin-Vertrag vom Dezember 1933,154) mit dem staatliche Preis- und Absatzgarantien festgelegt wurden, kam es 1934 zur Gründung der Braunkohle- Benzin AG. Die erste großtechnische FT-Anlage wurde 1935 in Castrop-Rauxel errichtet.155)

Die während des Ersten Weltkriegs durchgeführten Versuche zur Herstellung von künstlichem Gummi, dem Methyl-Kautschuk, wurden in den 1920er Jahren weitergeführt und für die Chemie im „Dritten Reich“ bestimmend. Bereits 1909 war die Synthese und Polymerisation von Methylbutadien bei Bayer in Elberfeld gelungen. Nachdem die Produktion bei Kriegsende eingestellt worden war, nahm die IG Farben die Forschungs- und Entwicklungsarbeiten im Jahre 1926 wieder auf. Auch hier versprach die Motorisierung lukrativen Absatz. 1930 konnte Nitrilkautschuk patentiert werden. Ab 1933 drückte die NS-Regierung auf die Autarkisierung der Gummiversorgung. Doch anders als bei der Treibstoffgewinnung gelang es der IG, die Gummiversorgung bis Kriegsende sicherzustellen. Im Jahre 1940 fiel die Entscheidung für den Bau des „Buna-IV-Werkes“, das erstmals die „synthetische Erzeugung von Treibstoff und Kautschuk“ kombinierte. Es erlangte später als „IG Auschwitz“ als „Synonym für die Verstrickung der IG mit dem NS-System“ traurige Berühmtheit.156) Die Kohlebasis der deutschen Chemie war nicht nur bei den Treibstoffen maßgeblich, sondern auch für die Kautschuksynthese. Diese ruhte auf der Acetylenchemie, die sich zum Ausgangspunkt zahlreicher weiterer Verfahren und Produkte entfaltete.157)

Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise verschlechterten ab 1930 die Verhältnisse in der chemischen Industrie, in der Wissenschaftsförderung und bei den chemischen Vereinen. Die Zahl der arbeitslosen Industriechemiker stieg von rund 750 (1929) auf fast 1900 (1934) an. Die Gesamtzahl der berufstätigen Chemiker sank nicht nur in der Industrie, sondern auch im öffentlichen Dienst, und erreichte ihr Minimum 1934 (Tab. 1.5). Infolge der Beschäftigungskrise sank auch die Mitgliederzahl des VDCh. Von 6000 Mitgliedern im Jahre 1920 ausgehend wurde zehn Jahre später mit annähernd 8800 das Maximum erreicht. Bis 1933 fiel die Zahl auf ihr Minimum mit rund 7600,158) um bis 1936 auf über 9600 anzusteigen.159)

Schon vor der Machtübergabe übte die NSDAP auf einige Chemiker einige Anziehungskraft aus. Mindestens 21 Mitglieder des VDCh verfügten über eine in der NSDAP hoch angesehene Mitgliedsnummer unter 100.000 und trugen als „Alte Kämpfer“ das „Goldene Parteiabzeichen“(Tab. 1.6).160) Auch in der Kaiserzeit sozialisierte Gelehrte standen dem Nationalsozialismus, wie die folgenden Abschnitte zeigen werden, nicht ablehnend gegenüber. So ist von Franz Fischer, dem Direktor des KWI für Kohlenforschung, überliefert, daß er – politisch an sich „liberal“, aber „großdeutsch“ denkend – von Hitlers Äußerungen im Düsseldorfer Industrieclub im Jahre 1932 „sehr beeindruckt“ gewesen sei.161) Der Inhaber der Zwickauer Schmelzfarbenfabrik, Dr. phil. Richard Möckel,162) hatte Hitler bei seinen Besuchen Zwickaus vor 1933 mehrfach beherbergt und wurde 1939 mit dem „Goldenen Ehrenzeichen der Partei“ ausgezeichnet.

Tabelle 1.5 Gesamtzahl der berufstätigen deutschen Chemiker, 1928, 1932 bis 1936a)

Im Jahre 1931 kam es zur Gründung des Kampfbundes Deutscher Architekten und Ingenieure (KDAI), der nicht nur die berufsständische Vertretung der Architekten und Ingenieure, sondern auch die der Volkswirte, Chemiker und Physiker für sich beanspruchte.163) Da jedoch sowohl den NS-Aktivisten unter den Chemikern als auch ihrer bürgerlich-konservativen Mehrheit die Vorstellung widerstrebte, sich einem Ingenieurverband anzuschließen, markiert der Kampf um einen eigenständigen NS-Chemikerverband das die folgenden Abschnitte dominierende Thema.

Tabelle 1.6 Mitglieder des VDCh mit Goldenem Parteiabzeichen, September 1935/Partei-Mitgliedsnummera)

[Dipl.-Chem.] Gustav Eckerlin, Wiesbaden

b)

95.876

Prof. Dr. Wilhelm Jander, Frankfurt

c)

2.866

Dr. Ad. Krieger, Frankfurt

d)

34.673

Apotheker Leonhard Middendorf, Frankfurt-Hoechst

e)

63.177

Prof. Dr. Gerhart Jander, Greifswald

f)

2.970

Dr. Kurt Stantien, Berlin (

Tab. 2.3

)

69.245

Chemiker Hans-Joachim von Nabell, Leipzig

g)

1.166

Dr. F. Falco, Mannheim

h)

1.766

Dr. Wilhelm Kälberer, Mannheim

i)

21.996

cand. chem. Eugen Ocklitz, Greifswald/Berlin

j)

41.966

Dr. rer. nat. G. Mauthe, Köln

k)

13.515

Dr. phil. Werner Bolzani, Wuppertal-Elberfeld

l)

7.176

Dipl.-Ing. Paul Starck, Leverkusen

m)

31.186

Dr. Ottomar Wahl, Leverkusen

13.512

Dr. phil. Helmut Meis, Leverkusen

n)

13.284

Chemiker August Backhaus, Bochum

o)

16.074

Direktor Dr. Hühn, Osnabrück

p)

16.213

Dr.-Ing. Wilhelm Wenzel, Leuna-Merseburg

q)

30.899

Dr. Otto Schliephake, Stuttgart

r)

1.847

Dr. Erich Gollner, Chemnitz

s)

12.107

Dipl.-Ing. Wolfgang Howaldt, Eberbach [handschriftlich ergänzt]

92.271

a) Mitglieder des [VDCh] EV mit goldenem Parteiabzeichen, 21.9.1935; GDCh-A, 00016.

b) Gustav Eckerlin (ca. 1875–1940), Chemiker am Flußuntersuchungsamt Wiesbaden; Gestorben, in: AC 53 (1940), S. 460.

c) Wilhelm Jander (1898–1942) übernahm 1934 die Anorganische Chemie in Frankfurt, dort 1936/38 Dozentenbundführer; 1941/42 o. Professor der Reichsuniversität Straßburg; Michael Grüttner: Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik, Heidelberg 2004; Dominik Groß; Gertrude Cepl-Kaufmann; Gereon Schäfer (Hg.): Die Konstruktion von Wissenschaft, Kassel 2008, S. 244.

d) (Andreas) Adolf Krieger (1903–1981), 1929 Diss. Frankfurt („Studien über Katalyse und Adsorption“), zuletzt bei Baerle & Co., Chemische Fabrik, Gernsheim, Mitglied der GDCh; Gestorben, in: NCTL 29 (1981), S. 505.

e) Leonhard Middendorf (1905-1964), zuletzt „Leiter Abteilung Pharma-Qualitätskontrolle der Farbwerke Hoechst AG“; Todesfälle, in: CZ 88 (1964), S. 752.

f) Gerhart Jander (1892–1961)