Chiemsee-Verschwörung - Heinz von Wilk - E-Book

Chiemsee-Verschwörung E-Book

Heinz von Wilk

4,6

Beschreibung

Eigentlich will Albin Stocker bloß in seiner Kneipe Musik machen und lecker kochen. Doch auf einmal taucht ein verhängnisvolles Notizbuch auf mit lauter Zahlen und Namen mächtiger Banken und Männer. Dann noch diese hübsche Blondine, deren Mann spurlos verschwunden ist und die Stocker um Hilfe bittet. Was bleibt ihm also anderes übrig, als sich eigenhändig um die Sache zu kümmern?

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Der Rosenheimer Heinz von Wilk war schon vieles in seinem Leben: Musiker, Weltreisender, Künstleragent und später viele Jahre Immobilienhändler in Spanien. Nach langer Zeit im Ausland lebt er nun wieder in seiner Heimat im Chiemgau und schreibt hier seine »etwas anderen« Chiemsee-Krimis. Der vorliegende Band erzählt Stockers dritten Fall.www.heinz-von-wilk.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Copyright © 2014 by Heinz von Wilk Copyright Deutsche Erstausgabe © 2014 by Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: iStockphoto.com/fotoblanko40 Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-633-1 Oberbayern Krimi Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons: Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de   Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Irgendwo, unten in einer abgelegenen Chiemsee-Bucht

Ganz hinten im Mund, da hatte er den Geschmack von Blut und Brackwasser. Und der Geruch, hier in der engen unad dunklen Kiste, der war irgendwie … sumpfig.

Bewegen konnte er sich nicht, aber er spürte, wie das Blut langsam und mit jedem Herzschlag aus seinem Körper floss: aus der tiefen Schnittwunde an der Schulter und aus der Schusswunde am Bauch. Undeutlich und gedämpft hörte er die Kerle da draußen lachen und reden. Einer, wahrscheinlich der Große, der mit dem rasierten Schädel und der Tätowierung am Hals, der sagte: »Hier, du, schlaf nicht ein. Grab jetzt. Ja, genau da, wo du stehst. Da findet ihn so schnell keiner. Ich halte die Lampe. Und du gehst da rüber und beobachtest die Straße. Und ihr zwei legt die scheiß Kiste solange da hin und helft ihm hier graben. Los, Freunde, vorwärts, die Uhr tickt.«

Die Kiste wurde auf den Boden geworfen, und eine gelbe blitzende Schmerzwelle fegte durch den gefesselten Mann. Hinter dem grellen Schmerz kam ein dichter, dunkler Nebel durch den geschundenen Körper gekrochen, der, von den Beinen ausgehend, sich schnell nach oben ausbreitete. Aus dem Nebel erklang ein Flüsterchor. Stimmen, erst ganz leise und unverständlich.

Dann verstand er sie.

Komm, gib auf, sagten sie. Lass dich einfach fallen. Dann nehmen wir die Schmerzen mit, und da, wo du dann hingehst, da gibt es keine Schmerzen mehr. Gib einfach auf und ruh dich aus.

Aufgeben, dachte er, das kann vielleicht auch ein gutes Gefühl sein. Jetzt nicht aufgeben und davonlaufen, sondern aufgeben und schauen, was dann kommt. Nur mal schauen.

Nur ein bisschen ausruhen. Sterben kann ich, wenn ich tot bin.

Donnerstag, in Atzdorf bei Prien. Musikkneipe »Endstation«, 09.48Uhr

»Jetzt halt doch mal die Zeitung ruhig, Albin. Hier, der da, der Kerl in der zweiten Reihe. Der auf dem Foto, da auf der Titelseite. Der blasse Typ in der zweiten Reihe. In dem grauen Anzug. Den hab ich schon mal gesehen, aber wo?«

Zeno nimmt seine Butterbreze, beißt ein Stück ab und schaut gedankenverloren auf die Zeitung, die der Stocker auf der anderen Seite des Tisches vor dem Gesicht hat.

Es hätte so ein schöner Tag werden können: Gestern war Mittwoch. Und jeden zweiten Mittwoch ist Rock'n'Roll angesagt in der »Endstation«. Live und laut. So war’s auch gestern. Der Laden war rappelvoll, die Stimmung perfekt. Der Umsatz wie immer super, und jetzt, beim Frühstück unter den Kastanienbäumen im Biergarten vor der Wirtschaft, die früher mal ein Bahnhof war, sind Stocker, Zeno, die Nellie und Josef, der hauptberufliche Dackel, versammelt. Auf dem Tisch: Kaffee, Brot, Semmeln, Butterbrezen, gekochte Eier, Schinken, verschiedene Marmeladen und Honig.

Stocker, der eine schmerzhafte Wasserblase zwischen Daumen und Zeigefinger hat, wahrscheinlich von der vielen Trommelei gestern Nacht, schaut über den Zeitungsrand und sagt: »Von was zum Teufel sprichst du?«

»Na, der auf dem Foto da. Unter der Schlagzeile. Hast du das überhaupt gelesen?«

»Nein. Und weißt du was? Das interessiert mich auch nicht. Hier, lies lieber mal das: Schweinsteiger hat eine Muskelzerrung. Und Lahm laboriert an irgendwas. Der Boss ist verurteilt und muss ins Gefängnis. Und das hier, da unten: Guardiola lernt heimlich Chinesisch. Warum macht der das? Weißt du, was das heißt? Bei den Bayern läuft schon wieder was ganz böse unrund. Und das alles ausgerechnet jetzt? Über so was sollte man mal nachdenken. So was ist wichtig.«

Weiter kommt er nicht, denn Zeno schnippt mit den Fingern und sagt: »Ja, genau. Damals in München. Da war ich noch bei der OK, der Abteilung für organisierte Kriminalität. Jetzt weiß ich es wieder. Auf den ist damals geschossen worden. Der kam aus diesem Nobelhotel am Platzl. Da, wo der Schubert, oder wie der heißt, sein Restaurant hat. Auf den ist geschossen worden. Und wir waren auf der anderen Straßenseite und sollten die überwachen, die ganze Banker-Truppe. Genau, so war das.«

»Der Koch? Der aus Waging? Der heißt nicht Schubert, sondern … Na, wie auch immer. Und auf den berühmten Fernsehkoch ist geschossen worden? Also, ich hab da auch mal gegessen, in seinem Laden am Platzl, und das war toll. Ich würd nicht auf den schießen.«

»Blödsinn.« Zeno reicht dem Josef ein Stück Butterbreze unter den Tisch und sagt: »Nein, auf den Typ da auf dem Foto ist geschossen worden. Weiß ich noch ganz genau.«

»Und? War es was Ernstes?« Stocker blättert seine Zeitungsseiten um und studiert jetzt die aktuelle Bundesligatabelle. Bayern führt so was von leger, da kann die neue Saison ruhig kommen.

»Was Ernstes? Keine Ahnung. Der war sofort tot, der Typ. Mit dem konnte keiner mehr so richtig sprechen.«

Zeno streichelt Josef unter dem Tisch über seine dicke Dackelmähne und sagt zur Nellie: »Das waren lauter Banker und Hedgefonds-Manager, die haben sich da in dem Nobelschuppen getroffen. Wir haben die beschattet, weil’s um irgendein Geldwäsche-Dingens ging. Mit britischen und amerikanischen Banken. Und der Typ da, Friedberg hieß er, den hätten wir wahrscheinlich mit einem Zeugenschutz-Deal umdrehen können, sodass er aussagt. Dann ist er uns aber blöderweise vor der Nase biologisch entsorgt worden. Dumm gelaufen. Und ich bin kurze Zeit drauf versetzt worden. Keine Ahnung, wie das damals weiterging. Ist ja auch egal. Und du, Nellie, ziehst du bald um? Du hast mir doch was von einer neuen Wohnung erzählt, oder?«

»Ja, schon, ich hab da einen Tipp vom Primelmeier bekommen. Über ihm wird bald eine Kellerwohnung frei, sagt er. Im Souterrain. Da kann ich im Sommer aber nicht mit offenen Fenstern schlafen, meint er.«

»Warum nicht?«

»Weil mir da in warmen Nächten die Hunde beim Fenster reinpieseln. Außerdem hat der Vermieter gehört, dass ich lesbisch bin, und der denkt, so was ist ansteckend. So sind die eben, hier auf den Dörfern, sagt der Primelmeier. Wenn du nicht von hier bist, dann bist du auch in der Fremde ewig ein Fremder. Ist von Karl Valentin, der Spruch, aber zeitlos gut. Wisst ihr was? Ich glaub, der Primo, der will mich bloß verarschen.«

Stocker faltet seine Zeitung zusammen, legt sie auf die Tischplatte und sagt: »Kann man jetzt hier in Ruhe frühstücken oder nicht? Ich will eigentlich nichts von ansteckenden Krankheiten und verpieselten Hunden und toten Bankmanagern hören, wenn’s geht. Ich bin nämlich sensibel, ja? Speziell morgens.«

Und um das zu unterstreichen, klopft er mit der Hand auf die Rosenheimer Zeitung, genau auf die Schlagzeile über dem Foto:

»Skandale um Banken reißen nicht ab«.

Und darunter, etwas kleiner:

»Der nächste saftige Bankenskandal steht an. Atemberaubende Vorwürfe werden laut: Amerikanische, britische und deutsche Banken, darunter mindestens eine Landesbank, sind in Geldwäsche für Drogendealer und Terroristen verwickelt. Spuren führen auch nach München, Salzburg und Tirol. Wo war die politische Aufsicht? Wo rollen wann die ersten Köpfe?« Und so weiter und so fort.

»Sag einmal, Zeno, kann der Josef jetzt außer freundlich sein und fressen auch irgendwas Vernünftiges? Ihr wart doch in der Hundeschule, da am Simssee, zu so einem Schnupperkurs, oder?«, fragt die Nellie und schaut auf den Rauhaardackel, der unter dem Tisch sehr ernsthaft nach Essbarem sucht.

»Klar, pass auf: Josef … schau mich an … und … sitz!« Zeno schielt zwischen den Stühlen nach unten und sieht, wie der Josef die Augen verdreht, langsam nach rechts kippt und auf dem Rücken zum Liegen kommt. Die Ohren des Dackels liegen flach auf dem Boden auf, die vier kurzen Beine zeigen zum Himmel, und der Hund wirkt, als ob er grinsen würde. Jedenfalls sieht man zwischen den schmalen schwarzen Lippen die kleinen Zähne. Außerdem wackelt er mit dem Schwanz.

»Mit ›Sitz!‹ hat das in meinen Augen aber wenig zu tun«, sagt der Stocker. »Vielleicht ist er mit einer so direkten Ansprache doch noch etwas überfordert, hm?«

»Nein, nein. Dieser Hund ist einfach nur genial. Denkt doch mal mit, alle beide«, sagt Zeno, bückt sich und streichelt über Josefs hellen Bauch. »Sitz, hab ich zu ihm gesagt. Jeder normale Hund würde sich jetzt hinsetzen und blöd nach oben gucken. Josef nicht. Der denkt eben weiter, clever, wie er ist. Die Steigerung von ›Sitz!‹, das ist Liegen. Dieser Hund macht sich Gedanken und arbeitet mit, denkt den Befehl konsequent bis zum logischen Ende weiter und variiert ihn selbstständig. Ein Genie. Ehrlich. Für die Hundeschule ist Josef eindeutig überqualifiziert. Das haben wir sofort gemerkt. Nur der Besitzer der Hundeschule natürlich nicht, aber der will ja bloß schnelles Geld verdienen. Ruf doch mal den Premm an, der ist doch mittlerweile Polizeihund-Psychologe. Der wird dir meine Worte gerne bestätigen.«

»Der Premm?« Stocker nimmt einen Schluck von seinem Kaffee und sagt: »Der ist doch irgendwie auf Umschulung oder so. Hat mir unser spezieller Freund, der Kommissar Zuckerhahn neulich erzählt. Da hat sich wohl eine Hunde-Allergie aufgetan. Hast du das nicht mitgekriegt?«

»Der Premm ist allergisch gegen Hunde?« Zeno kann es nicht fassen.

»Nein, die Hunde reagieren allergisch auf ihn. Besonders die großen. Der Zuckerhahn wollte aber sowieso morgen oder am Samstag vorbeikommen, dann kannst du ihn ja danach fragen.«

»Ihr seid’s irgendwie nicht von dieser Welt, und der Hund da unten auch nicht. Demnächst erzählt mir einer von euch, dass wenn man den armen Jesus vor zweitausend Jahren nicht ans Kreuz genagelt, sondern stattdessen im See Genezareth ersäuft hätte, dass wir dann statt einem Kreuz ein Aquarium an der Wand hängen hätten, oder? Also ich bin reif für den ersten Gin Tonic des Tages«, sagt die Nellie und verschwindet in Richtung Gaststube.

Zeitgleich in München, in der Bayerischen Staatskanzlei am Franz-Josef-Strauß-Ring 1, irgendwo in einem pompösen Minister-Vorzimmer im ersten Stock

»Ja, grüß Sie, Herr Oberstaatsanwalt, ich mein, Herr Dr.Wimmer. Gut schaun S’ aus. Sie haben einen Termin beim Herrn Minister, gell? Setzen Sie sich doch hier ein bisserl hin, ich bring Ihnen einen Kaffee, und dem Herrn Minister sag ich auch gleich Bescheid, gell?«

Der Dr.Wimmer seufzt, schaut sich hilfesuchend in dem großen Raum um, der ganz in bayerischem Barock eingerichtet ist. Die Sekretärin, eine gut aussehende Endvierzigerin, die rauscht um ihren Schreibtisch herum und verschwindet hüftwackelnd hinter einer raumhohen, mit Blattgold verzierten Doppeltüre.

Gleich darauf kommt sie wieder angestöckelt, ohne Kaffee, und flötet: »Wenn Sie so freundlich sein wollen, Herr Oberstaatsanwalt? Der Herr Minister erwartet Sie schon. Da hinein, bitte sehr, Sie kennen sich ja aus, gell?«

Dr.Wimmer nimmt seine Aktentasche vom Boden auf und geht in das riesige, mit üppigem Luxus ausgestattete Büro.

Nahe an den bodenhohen Glaswänden sitzt hinter seinem Schreibtisch der Minister, klappt eine Akte zu und sagt: »Wimmerl, grüß dich, komm rein, komm rein. Ist ja ewig her, dass wir uns zuletzt gesehen haben. Wie geht’s denn deiner Frau? Was macht sie so?«

»Schwer zu sagen«, meint der Oberstaatsanwalt, lässt sich in den samtenen Ohrensessel fallen und stellt seine Aktentasche auf den sündteuren antiken Perserteppich, »sie ist nämlich seit drei Jahren tot.«

»Ah so, ja. Was du nicht sagst. Also, mein Beileid. Wie die Zeit vergeht. Aber schön, dass du so schnell kommen konntest. Stellen Sie den Kaffee da hin, Ernie, wir machen das dann selber, ja?«

»Wenn Sie noch was brauchen, vielleicht ein paar Kekse oder so? Einfach sagen, Herr Minister, gell?«

»Wenn die noch einmal ›gell‹ sagt, dann schmeiß ich sie aus dem Fenster«, sagt der Minister, nachdem die Sekretärin mit einem eleganten Schwung den Raum verlassen hat. »Aber für ihr Alter strahlt sie schon noch eine beachtliche Rest-Erotik auf hohem Kilometerstand aus, oder was meinst du? Ich hab sie erst seit ein paar Monaten. Die war Chefsekretärin bei diesem Professor Dingsda, der in diesen Organspende-Skandal in unserer Landesklinik verwickelt ist. Ist natürlich alles Blödsinn, was die Zeitungen da geschrieben haben. Bloß weil der Professor ein Schwippschwager von unserem Oberstaatssekretär ist, deswegen wird das so aufgebauscht. Fakt ist doch: Warum soll ein Pakistani nicht mit einer bayerischen Leber rumlaufen können, da in der Wüste, zwischen seinen ganzen Kamelen und Burka-Mädels? Das muss der doch mit sich selber und seinem Glauben ausmachen, ob er eine Leber verantworten kann, durch die unser Bier geflossen ist, oder? Auf jeden Fall: Der ist jetzt in Ulan Bator am Goethe-Institut, der Professor. Dahin haben sie ihn mit einem Forschungsauftrag abgeschoben. Er soll die Zusammenhänge zwischen moderner Nuklearmedizin und dem mongolischen Heilgrunzen erforschen. Tja, und die Ernie, die ist mir zugeteilt worden. Hätt sie auch schlechter treffen können, oder?«

»Was willst du von mir?«

»Wimmerl, ich hab dir die letzten zwei Beförderungen verschafft, obwohl du turnusmäßig noch gar nicht dran gewesen wärst. Schau dich an, du bist Oberstaatsanwalt, und das in deinem Alter. Respekt. Und in ein oder zwei Jahren könnt ich dafür sorgen, dass du Generalstaatsanwalt wirst. Dann geht’s zügig weiter nach oben mit dir. In den bayerischen weiß-blauen Karrierehimmel. Nur, jetzt hab ich einen Gefallen einzufordern. Hast du heute schon die Zeitungen gelesen? Der Bankenskandal und dieser ganze Blödsinn, dieses dumme Geschmiere?«

»Ja, hab ich. Was hat das mit dir zu tun?«

»Ach, nicht viel.« Eins der vier Telefone auf dem Tisch des Ministers summt. Er nimmt den Hörer ab und brüllt: »Nicht jetzt. Nein. Auch für den bin ich nicht zu sprechen. Haben Sie was an den Ohren? Danke. Geht doch, oder?« Und zu Dr.Wimmer: »Entschuldige. Ich bin doch wohl ein bisschen nervöser, als ich dachte, mit dem ganzen Stress hier. Heute ist das schon wieder in aller Frühe losgegangen. Wo war ich? Ja, die Bankensache, richtig. Pass auf, Wimmerl. Ich bin da doch bei ein oder zwei Banken im Aufsichtsrat. Nichts Großes, alles rein politisch, das Ganze. Aber ich kann mich doch nicht um alles selber kümmern, oder? So was machen meine Leute. Ich selber, ich bin für das Land da. Fürs Volk, für das Allgemeinwohl, sozusagen. Für mein geliebtes Bayern. Für das Globale eben, das verstehst du doch, oder? Und dann ist da noch diese blöde Sache mit dem Seegrundstück in Prien, das ich vor ein paar Jahren günstig über eine Landesbank aus irgendeiner Konkursmasse gekriegt habe. Gut, das hätten wir anders machen sollen. Ist aber so gelaufen. Punkt und amen. Fünftausend Quadratmeter, mit eigenem Bootshaus und einer Traumvilla. In bester Chiemsee-Lage. Ich muss dich mal einladen, wir müssen uns sowieso öfters sehen.« Der Minister fährt sich mit dem Zeigefinger in den weißen Hemdkragen und legt mit verzerrtem Mund den Kopf schief.

»Du kannst doch in deiner Position und mit deinem Einkommen keine Millionenvilla am Chiemsee kaufen. Mit was denn, bitte? So was muss doch irgendwann hochkochen, Markus. Und was soll ich da jetzt machen?«

»Wimmerl, von der Villa weiß doch keiner was, und das muss auch so bleiben. Die gehört offiziell einer Stiftung, und die sitzt in Salzburg. Natürlich ist das meine Stiftung, darum geht’s aber nicht. Noch nicht. Du übernimmst die Untersuchungen mit dem Banken-Dings. Das könnte nämlich ziemlich brisant werden. Und Brisanz brauch ich jetzt gar keine, weil ich wahrscheinlich nach Brüssel berufen werde. In ein hohes Amt bei der EU. Das hat mir der Ministerpräsident neulich nach ein paar Gläsern erzählt. Alles ganz vertraulich, natürlich. Also setz ein paar Leute ein, die nicht allzu tief graben, sitz das aus, und in ein paar Wochen treiben die Zeitungen wieder eine andere Sau durch das Dorf. Und die Opposition, die ist sowieso mit sich selber beschäftigt. Das will ich von dir.«

»Aber da ist vor zwei Jahren einer dieser Fonds-Manager erschossen worden, steht da. In München, nach so einer internationalen Finanzkonferenz. Und ein anderer, der auch mit auf dem Foto ist, nämlich dieser Österreicher-Banker, der ist jetzt seit ein paar Tagen spurlos verschwunden. Und ich habe gestern einen Vierunddreißig-Seiten-Bericht von einem US-Senatsausschuss erhalten, mit der Bitte um Amtshilfe. Da steht unter anderem drin, dass allein aus Mexiko ein paar Milliarden Dollar über die USA und Österreich auf diese besagten Banken verschoben worden sind. Mit verdeckten Überweisungen, ohne dass es die üblichen Prüfungen gegeben hätte. Was erwartest du da von mir?«

»Siehst du, was sag ich denn die ganze Zeit? Die Amis sind da schon dran. Lass die das mal machen, das sind flotte Burschen. Mit dem Irak haben die auch nicht lange gefackelt. Du sollst hier an die Sache nur ein paar Flachdenker dransetzen. Die loben wir in der Presse hoch, du reichst mir die entsprechenden Berichte weiter, wir geben ein paar Pressekonferenzen und lassen das ganze Ding so langsam leerlaufen. Die Amis, die werden das da drüben auf ihrer Seite schon schaukeln, glaub mir das. Wen von deinen Leuten kannst du denn nehmen für so eine Soko, eine Ermittlertruppe, meine ich? Drei Pappnasen, mehr will ich gar nicht. Also, was machen wir?«

»Du weißt, dass du mich erpresst? Ja, das weißt du. Natürlich. Immer noch wegen der blöden Sache, bei der ich dir damals geholfen habe, ich Idiot. Aber warte mal: Der verschwundene Österreicher, der ist doch im Vorstand von der Salzburger KFB-Bank, oder? Hat das was mit deiner Stiftung zu tun, Markus?«

Der Minister streicht sich über das Revers seines grauen Maßanzugs und fährt sich dann nervös mit der Hand über den fast kahlen Kopf. »Ja. Nein. Also, ein bisschen schon. Die haben mir die Stiftung eingerichtet und auch das Grundstück über einen Mittelsmann gekauft. Offiziell zahle ich ein paar Euro Miete, und den eigentlichen Kaufpreis, den wollen wir über Beraterverträge oder so was Ähnliches aufbringen. Dafür hab ich den Salzburgern ein paar Kontakte gemacht. Und dafür gesorgt, dass auf ausländischen Partnerbanken Konten eröffnet worden sind. Von Leuten, die nicht so sehr penibel hinterfragt werden. Ich kenn da einen Berater in Luxemburg und einen, der macht so was über Singapur und Neuseeland. So Zeug eben. Rein politisch, nicht wahr? Eine Hand wäscht die andere. Das kennst du doch, Mann. Und wenn der Österreicher wieder auftaucht und vernommen wird oder, um Himmels willen, gar in U-Haft kommt, dann singt der wie einst Pavarotti. Und dann bin ich mit dran. Das ist jetzt alles ein bisserl kompliziert. Aber deswegen hab ich ja dich kommen lassen. Wir müssen den finden und mit dem vernünftig reden, bevor ihn wer anders in die Finger kriegt. Also, was machen wir?«

»Ich lass mich da nicht mit reinziehen, Markus.«

Der Minister lacht bitter und beugt sich über seinen Barock-Schreibtisch. »Wenn ich falle, dann fällst du mit. Du hast damals einen Autounfall mit Todesfolge verschleiert. Für mich. Gut, dafür bist du jetzt der jüngste Oberstaatsanwalt Münchens und so weiter. Das kann sich aber schnell ändern. Ich frag dich jetzt nur noch ein Mal, Wimmerl. Was machen wir?«

»Ich selber kann da gar nichts machen. Das fällt auf. Und uns beide darf man auch in dieser Sache nicht miteinander in Verbindung bringen können. Ich setz einen meiner Staatsanwälte drauf an. Den Reimers. Der hat so viel Dreck am Stecken wegen der Sache mit seinem Schwager und so, mit dem will im Moment keiner arbeiten.«

»Mit dem Schwager?«

»Nein, der ist doch umgelegt worden. Mitten auf dem Chiemsee, gar nicht so weit weg von deiner Villa, übrigens. Das war ein Ding, sag ich dir: Drogen, illegales Glücksspiel, Prostitution, alles, was du willst. Dem Reimers konnte man aber keine Verbindung zu seinem Schwager und auch sonst nichts nachweisen. Und Sippenhaft ist ja bei uns hier im Lande dummerweise abgeschafft worden. Nein, der Reimers ist noch Staatsanwalt. Aber im Moment einer ohne Arbeitsbereich. Was heißt, der hat zurzeit so gute Connections wie ein amputiertes Bein. So, und dem stell ich noch ein oder zwei Beamte zur Seite, dann hast du deine Soko. Ich hab da noch einen Kommissar, diesen Zuckerhahn, der ist suspendiert, auch wegen dieser Chiemsee-Sache. Den hol ich wieder in den Dienst. Der ist richtig gut im Leute-Finden. Und noch so einen Nachtwächter hab ich da im Kopf. Lass mich das nur machen. Aber, Markus, nach dem Ding hier, da sind wir dann quitt. Und ich will Generalstaatsanwalt werden. Das wird dein Abschiedsgeschenk an mich, bevor du uns Richtung Brüssel verlässt. Haben wir einen Deal?«

»Wimmerl, Wimmerl, ich hab’s ja gewusst. Auf dich kann ich mich immer verlassen. Weißt du, ich versteh dich ja. Aber sogar du solltest doch so langsam auch kapiert haben, dass unser Rechtssystem nicht dem Recht dient, sondern dem System. Und das System, das sind immer noch Leute wie du und ich. Das verstehen die da draußen auf der Straße doch gar nicht. So, und jetzt komm her und lass dich drücken.«

Freitag, 16.58Uhr, in der Küche der »Endstation« in Atzdorf bei Prien

Jetzt, wer den EKHK (Erster Kriminalhauptkommissar) Zuckerhahn schon mal gesehen hat, der erschrickt, weil er sofort denkt, dass er den toten Volksschauspieler Walter Sedlmayr vor sich hat. Aber der ist ja im Juli 1990 in seiner Wohnung in München in der Elisabethstraße umgebracht worden. Und zwar mit mehreren Messerstichen in Hals und Nieren. Zusätzlich hat man ihm noch mit einem Hammer auf den Kopf geschlagen. Und da muss man sich als normaler Mensch schon mal ernsthaft fragen, wer macht denn so was, mitten im Sommer?

Egal, wie er also da so steht, der Zuckerhahn, in der Küche der »Endstation«, an den alten Kühlschrank gelehnt und mit einem Teller mit Steinpilzen und Tagliatelle in der Hand, da hört man ihn sagen: »Ehrlich, irgendwie bin ich schon froh, dass ich wieder Dienst schieben kann. Weil mir vor lauter Langeweile schon so langsam die Motten aus der Hose geflogen sind. Aber das, was ich jetzt machen soll, das ist echt ein bisserl merkwürdig. Und meine neuen Mitarbeiter sind das auch, merkwürdig, meine ich. Ein Déjà-vu, das Ganze, sozusagen.«

»Meinst du damit uns?« Stocker flambiert ein Steak auf der Gasflamme am Herd, und Zeno rührt an dem verschrammten Holztisch auf der anderen Seite der Küche an irgendeiner Salatsoße.

»Nein. Ihr seid ja keine Mitarbeiter. Außer dem Zeno hier, der war mal einer. Mein bester Mann. Wenn ich bloß dran denke, was das für ein harter Hund war, und jetzt steht der hier in der Küche und macht Essen für andere Leute. Unfassbar.« Damit nimmt er einen gebratenen Steinpilz auf die Gabel, zeigt damit auf Zeno und spricht weiter: »Der Typ in der Bank in Harlaching, Zeno, weißt du das noch? Der Geiselnehmer. Weißt du noch, wie wir beide am versammelten SEK vorbei und unter der Absperrung durch direkt in die Bank marschiert sind? Nur du und ich? Und der Typ da drinnen hat seine Pistole sofort von der Geisel weg auf dich gerichtet und gesagt: ›Für dich, Bulle, da hab ich einen schönen Platz im Paradies. Mit unverbaubarer Aussicht. Adios, Amigo.‹ Und du? Du hast zu dem Kerl gesagt: ›Nett von dir, aber ich verreise nicht mehr so gerne.‹ Und hast ihm ins linke Bein geschossen.«

Zeno probiert seine Salatsoße und sagt zu Dackel Josef, der neben dem Kühlschrank sitzt und die Szene interessiert beobachtet: »Seppo, altes Floh-Taxi, hör dem Onkel einfach nicht zu, sonst kannst du wieder nicht einschlafen.«

Aber der Zuckerhahn, unsensibel, wie er ist, der spricht einfach weiter. Sogar mit vollem Mund, was den Stocker dazu bringt, dass er sich mit der Pfanne in der Hand umdreht, weil er so was nicht sehen kann. »Ja, und dann liegt der auf dem Boden in der Bank da, der Geiselnehmer. Heiß war das da drinnen, bestimmt so um die fünfunddreißig bis vierzig Grad. Weil die Deppen vom SEK den Strom gekappt haben. Der liegt also da, schaut auf sein Bein und das ganze Blut zwischen seinen Fingern und sagt zum Zeno: ›Mann, tut das scheißweh, das tut so unfassbar weh, Alter. Warum hast du das gemacht, Mann?‹ Und Zeno, der beugt sich zu dem Typen runter und sagt: ›Dicker, wer hat dir erzählt, dass so was nicht wehtut?‹ Tja, so war der.«

»Und du«, sagt Stocker zum Zuckerhahn und dekoriert das Steak auf dem großen, quadratischen Teller mit Petersilie und Trockenblüten, »du hast im letzten Jahr im Fernsehen Reklame gemacht. Für Tütensuppen. Hab ich selber gesehen. Auf TV-36 oder so, nach Mitternacht, zwischen all den Botox-Ludern mit Weißwurst-Lippen und Leberkäs-Möpsen. Hast du eigentlich gar kein Schamgefühl mehr, so wie du jetzt dastehst und unsere frischen Steinpilze isst?«

»Ich wollt halt auch mal ins Fernsehen, und suspendiert war ich zu der Zeit sowieso. Und einer von den Grünwalder Fuzzis, der hat zu mir gesagt: ›Sie sehen aus wie der selige Sedlmayr, da könnten wir gut was draus machen.‹ Aber weißt du was, Stocker? Träume, die sollen Träume bleiben. Denn wenn sie plötzlich Wirklichkeit werden, dann sind sie keine Träume mehr, sondern Realität. Und in der Realität kann dein Traum schnell zum Alptraum werden. Aber zu meinem neuen Job: Ich bin wieder aktiv bei der Kripo in München, und die Bosse haben mir eine Soko um den Hals gewickelt. Und als Assistenten hab ich den Premm. Ausgerechnet den. Den mag ich, so wie Jan Ullrich Hämorrhoiden gemocht hat. Dabei hab ich gedacht, dass der als Hunde-Psychologe erst mal weg von meiner Umlaufbahn ist. War aber nix. Im Moment, da hat der so ein Internet-Dings am Laufen. Habt ihr das gewusst?«

»Was? Der Premm? Im Internet?« Stocker und Zeno drehen sich fast synchron zum Zuckerhahn um.

»Klar, der Laden heißt ›www.lass-die-sau-raus.com‹. Das ist seine Website. Da kann man online gehen und den Premm im Live-Chat beschimpfen. Shitstorm, für eins achtzig die Minute. Plus Mehrwertsteuer natürlich. Dafür hört der sich jede Beleidigung live an. Und für die Verwandtschaft macht er es gratis, hab ich gehört. Kommt übrigens aus Amerika, diese Geschäftsidee.«

»Das ist jetzt aber nicht wahr, oder?« Zeno stellt seine Soße ab.

»Doch, das stimmt.« Zuckerhahn nimmt sich noch ein paar Steinpilze aus der Pfanne und sagt: »Dazu muss man im Vorfeld wissen: Der Premm, der ist gebürtig aus Niederbayern. Und die sind alle ein bisschen anders veranlagt, das ist bei denen genetisch bedingt, denke ich mal. Die Niederbayern glauben ja, dass sie die reinen Bayern sind, also: Bayern unplugged und ohne Make-up.«

»Schon, aber der Premm, das war doch immer so ein ganz harter Schimanski-Fan, das passt für mich jetzt irgendwie alles nicht so recht zusammen«, meint der Stocker.

»Der Premm? Der hat doch immer geglaubt, dass der Schimanski schwul war und ein Verhältnis mit Dirty Harry hatte«, sagt der Zuckerhahn und wischt mit einem Stück Weißbrot die letzten Soßenreste von seinem Teller, bevor er weiterspricht. »Ist ja auch egal. Auf jeden Fall hab ich jetzt den Premm als Assi an der Backe, und den Ringo, unseren alten Gitarrenquäler, als örtlichen Verbindungsmann bei der Priener Polizei.«

»Den hättest du am Mittwoch hier erleben sollen«, meint Stocker, »der hat die Bude wieder zum Kochen gebracht. Er ist zwar wie immer erst auf den letzten Drücker angerauscht gekommen, in Uniform und voll gestresst. Weil die auf der Autobahn bei Felden noch einen Unfall aufnehmen mussten. Sein Kollege hat ihn mit dem Streifenwagen kurz vor acht hier angekarrt. Aber unser Ringo, der zieht die Lederjacke aus, schmeißt die Krawatte in die Ecke und schnappt sich die Gitarre. Ich war schon am Schlagzeug, und der Bassist war noch am Stimmen. Aber um zwanzig Uhr fünf ging hier die Post ab. Alle Knöpfe nach rechts und: ›Smoke on the Water‹. Deine Soko, was genau soll die machen?«

»Um was es eigentlich geht, das weiß ich selber noch nicht so genau«, sagt der Zuckerhahn, »aber der zuständige Staatsanwalt, der Reimers, der sagt, ich soll einen vermissten Österreicher finden. Natürlich nur, falls der hier bei uns in Bayern sein sollte. Und dann, wenn’s geht, noch so nebenbei einen zwei Jahre alten Mord aufklären. Alles sehr diskret-unauffällig und Berichte bitte nur an ihn persönlich. Kommt von ganz oben, die Anweisung, direkt von einem Minister, sagt der Herr Staatsanwalt. Irgendwas stinkt da gewaltig an dieser Sache, das sag ich euch. Das sehe ich schon an den paar Akten, die ich bis jetzt hab. Ich weiß bloß noch nicht, was da faul ist. Und der Reimers, der hasst mich von ganzem Herzen. Warum soll der ausgerechnet mir so einen Fall geben? Egal, morgen früh haben wir eine erste Teambesprechung, dann krieg ich die restlichen Unterlagen vom Reimers, und dann schauen wir mal. Aber jetzt was ganz anderes: So eine leckere Schwammerl-Sache hab ich schon lange nicht mehr gegessen. Wer hat das gekocht?«

»Hier, dein ehemals bester Mann, der Zeno. Unterstützt von seinem Assistenten Josef«, sagt der Stocker. »Und gemacht wird das so:

Seeoner Steinpilze in Weißwein-Soße mit Tagliatelle (für 4Personen)

400g Steinpilze, 3Knoblauchzehen, 1 kleine Zwiebel, Weißwein, Butter, Pilzfond, Zitrone, Schlagsahne, Petersilie, Salz und Pfeffer.

Man nimmt (wenn’s geht) nur frische Steinpilze aus der Gegend, putzt sie und schneidet sie in Scheiben, aber nicht zu dünn.

Zwiebel und Knoblauch klein schneiden, einen Esslöffel Butter in die Pfanne und glasig anbraten. Jetzt die Pilze dazu.

Nach ca. 1–2Minuten mit einem kräftigen Schluck Weißwein ablöschen. Sahne und etwas Pilzfond drauf, und alles ca. 7–8Minuten köcheln lassen.

Jetzt einen Spritzer Zitronensaft und die Hälfte der klein gehackten Petersilie dazugeben. Salzen und pfeffern.

Alles in die Tagliatelle mischen und die restliche Petersilie drüberstreuen.

Einfach und schnell, schmeckt aber perfekt«, sagt der Zeno, und Josef, der Chefdackel, der nickt. Jedenfalls sieht es so aus.

»Endstation«, 17.20Uhr

»Nellie, das Steak ist fertig«, ruft der Stocker in Richtung Gaststube, und keine zehn Sekunden später schwingt die alte dunkelbraune Holztür mit dem Schiffsbullauge auf, und Nellie kommt kopfschüttelnd in die Küche.

»Dass der Primelmeier um die Zeit schon ein Steak isst, das ist schon mal nicht normal. Jetzt will er aber einen Bogen Papier und einen Kuli, wo haben wir so was?«

»Draußen, in der zweiten Schublade, rechts unter der Theke. Was will der mit Papier und Kuli, vielleicht das Steak vor dem Essen zeichnen, oder was?«

»Nein, der liest doch seit einiger Zeit die Heiratsanzeigen in der Zeitung. Und heute, da hat er was gefunden. Da steht doch tatsächlich: ›Frau mit sechs Richtigen sucht Mann mit einem Richtigen‹, Zuschriften unter Chiffre und so weiter. Da will er hinschreiben. Also, wenn ich im Lotto gewinnen tät, dann würd ich die gesamte Sippe der Primelmeiers, und zwar ratzeputz alle hier aus der Gegend, nach Neuguinea schicken. Erster Klasse und ohne Rückflug.« Damit schnappt sie sich den heißen Teller mit einem gelben Handtuch und eilt aus der Küche.

Die Schwingtür pendelt noch, als Zeno zum Zuckerhahn sagt: »Unser Personal ist einfach super. Immer mit einer innovativen Idee auf den Lippen. Aber sag mal, warum erzählst du uns dieses ganze Zeug? Wo ist dein Problem?«

»Mein Problem? Fangen wir doch gleich mit dem Mord von vor zwei Jahren an. Du, mein lieber Zeno, du warst damals noch bei der Bullerei, eigentlich in meiner Abteilung, und an besagtem Tag als Personenschützer zu einem Sechs-Mann-Team in die Sparkassenstraße in München abkommandiert. Die haben dich von mir ausgeliehen, sozusagen. Und der Typ, auf den ihr aufpassen solltet, der ist vor euren Augen erschossen worden. Patsch und weg. Schon vergessen?«

»Nein, hab ich nicht. Aber ich bin ja dann am nächsten Tag von dir wieder auf Undercover-Tour in eine andere Sache gesteckt worden. Wie ist denn das damals weitergegangen? Nach der Befragung hab ich auf dem Präsidium ein Protokoll unterschrieben, und das war’s dann für mich und die anderen Kollegen. Hast du dir wenigstens die alten Akten angesehen, bevor du hier rummeckerst?«

»Hab ich«, sagt der Zuckerhahn und schneidet sich ein Stück von dem Heublumenkäse ab, den er sich mit spitzen Fingern aus dem Kühlschrank geholt hat. »Und da fängt die Stinkerei schon an. Pass auf: Dieser Typ, einer von der Sorte, die jeden Tag ein paar hundert Millionen Euro um den Globus schicken, der geht einfach aus dem Hotel raus und wird erschossen. Trotz der ganzen Sicherheitsmaßnahmen. An dem Tag waren ja ein paar dutzend Finanz-Cracks aus aller Welt da, zu dieser Dings-Tagung. Egal. Also, die Polizei sperrt gleich alles ab, die Spurensicherung rückt mit dreißig Mann an. Und dann, dann ist plötzlich Nachrichtensperre. Und in den Akten, die übrigens bis jetzt unter Verschluss waren, da steht, dass der Manager von einem Hausdach schräg gegenüber aus erschossen wurde. Profihafter Blattschuss. Und hinter einem Schornstein auf dem Dach von dem Eckhaus an der Pfisterstraße, da hat man wohl nur ein paar minimalste Spuren gefunden. Eigentlich so gut wie nichts. Und natürlich keinerlei DNA oder so was. Der Kerl hat ein Boattail-Hohlspitz-Geschoss verwendet, so viel ist sicher. Diese Dinger haben eine Geschwindigkeit von achthundertfünfzehn Metern in der Sekunde und sind im Handel kaum erhältlich. Die Stelle, von der aus der Kerl geschossen hat, die hat man auch nur über die Einschusswinkel-Analyse und Flugbahnberechnung rausgekriegt. Der Schütze wurde natürlich nie identifiziert und so weiter und so fort. Nach zwei Wochen wurden die Nachforschungen eingestellt. Klappe zu, Affe tot. Aber jede Menge Fragen wären da noch gewesen. Zum Beispiel: Woher hat der Schütze gewusst, wann seine Zielperson rauskommt, aus dem besagten Hotel? Der Killer kann ja nicht den ganzen Tag auf dem Dach liegen und warten, ob sein Mann auftaucht oder auch nicht. Dann weiter im Text: Hat einer der Hausbewohner in dem Block in der Pfisterstraße was gesehen oder bemerkt? Da kann doch nicht irgendein Kerl mit einem Geigenkoffer in der Hand beim Hausmeister läuten und sagen: ›Sie, entschuldigen S’ bitte, ich hätt da schnell einen zum Erschießen. Darf ich das von Ihrem Dach aus machen, mir pressiert’s nämlich? Stört Sie doch nicht, wenn’s gleich ein bisserl kracht, oder?‹«

»Na ja«, sagt der Zeno, »das heißt doch im Klartext: Da war ein Profi dran. Und solche Leute fasst man so gut wie nie, das weißt du doch selber. So einer kommt eingeflogen und findet am Flughafenparkplatz an der ausgemachten Stelle sein Auto. Die Schlüssel liegen auf dem Hinterrad, die Instruktionen und die Fotos von der Zielperson sind im Handschuhfach. Die Waffe, die der Profi bestellt hat, und auch nur genau die, die er haben will, die liegt im Kofferraum, ebenso ein paar Schuss Munition. Alles genau nach den Vorgaben des Killers. Bestimmt war da noch ein Handy dabei, da hat ihn dann später einer angerufen und gesagt, in ein paar Minuten oder dann und dann kommt unser Mann wahrscheinlich raus aus der Tür. Jetzt macht der Killer seinen Job, Peng, packt dann alles wieder in den Kofferraum und stellt den Wagen am Flughafen am Langzeitparkplatz ab. Alles genau wie ausgemacht, und dann fliegt er mit einem neuen Pass und einem neuen Ticket wieder aus. Und sein Geld, das kommt auf ein Konto auf den Caymans oder auf den Bahamas oder in der Schweiz. So läuft das. Das weißt du doch, oder?«

»Ja«, sagt der Zuckerhahn, »da krieg ich auch nichts mehr raus aus der Sache. Es sei denn, das Geld von dem Killer wäre wirklich in der Schweiz. Aber der Schütze ist bestimmt schlauer als ein hiesiger Fußball-Boss und hat sich die Kohle mindestens nach Singapur überweisen lassen. Aber egal. Es ist ja so, der andere, der, der jetzt seit einer Woche verschwunden ist, das ist schon interessanter. Seine Frau hat scheinbar erst nach acht Tagen bemerkt, dass ihr Mann weg ist. Da erst hat sie nämlich seinen Partner in der Bank angerufen, und der hat ihr geraten, zur Polizei zu gehen. Das hat sie dann auch getan. In Salzburg natürlich. Deswegen sind nach meinem Verständnis ja auch die Kollegen von da drüben für den Fall zuständig.«

»Und weiter?«, fragt Stocker, während er mit einem ziemlich großen und scharfen Messer ziemlich große und dünne Scheiben Kalbsschnitzel aus einem Stück Oberschale (in Österreich auch gerne »Bürgermeisterstück« genannt) schneidet. Das hat mittlerweile auch der Josef bemerkt, der von Zuckerhahn zu Stocker getrabt ist und nun eifrig auf zwei Beinen tanzt, was einem angetrunkenen Erdmännchen sehr ähnlich sieht.

»Was, und?«, sagt Zuckerhahn. »Die Frau Leitner, so heißt die, die hat ihren Mann also als abgängig gemeldet. Allerdings war der, also der Herr Dr.Leitner, wohl vorher noch an seinem Bankschließfach. Aus dem fehlen nun ein paar tausend Euro, dann noch ein paar tausend englische Pfund, außerdem fehlt ein Stapel Dollarnoten und, jetzt wird’s ganz herzig, ein Beutel mit Diamanten im Wert von ungefähr ein oder zwei Millionen Euro, sagt seine Frau. Kann auch wesentlich mehr sein, das mit den Diamanten, so genau weiß sie das jetzt auf die Schnelle nicht. Woher denn auch? Gut, warum hat jemand einen Beutel mit Diamanten, fragt sich jetzt der unbedarfte Amateur? Weil das so ist, meine Herren: Diamanten lassen sich leicht ins Flugzeug schmuggeln. Die haben keine Seriennummern und können auch nicht von Spürhunden entdeckt werden. Tja, Leute, mit Diamanten kommt man überallhin, und Diamanten kann man auf der ganzen Welt relativ leicht zu Bargeld machen.«

»Da fallen mir nur zwei Möglichkeiten ein«, meint der Zeno, »entweder der Dr.Leitner hat sich mit seiner Geliebten abgesetzt, so er denn eine hat. Oder er ist abgehauen, weil ihm der Hintern wegen irgendwas auf Grundeis geht. Wegen irgendwas, das mit den Zeitungsschlagzeilen und dem Foto zu tun hat. Alles schön und gut, aber was willst du jetzt von uns? Du bist doch nicht wirklich zum Schwammerlessen von München extra hier rausgefahren, oder? Und außerdem, mein Lieber, wenn du morgen früh erst deine erste Teambesprechung hast, wie du ja selber sagst, woher bist du dann so verdammt gut informiert?«

»Einmal Bulle, immer Bulle, was, Zeno?« Der Zuckerhahn putzt sich die Finger an einem der Küchenhandtücher ab und sagt: »Wie wir alle hier drin wissen, ist einer meiner guten alten Freunde ein gewisser Major Schmittel vom Wiener BK, und den hab ich angerufen. Die Frau Dr.Leitner, die hat ja bei den Österreichern ihren Mann als vermisst gemeldet und nicht bei uns hier in Bayern. So weit klar, ja? Gut, dann weiter: Der Schmittel, der hat mir erzählt, dass die Leitner gesagt hat, die Diamanten, die gehören eigentlich gar nicht ihrem Mann. Die hat er für jemanden aufgehoben oder so, und dieser Jemand, der ist wohl vor zwei Tagen auf die Frau Leitner zugegangen und hat ihr charmant ins Ohr geflüstert, dass er ihr die frisch gefärbte Rübe abschneidet, wenn sie die Diamanten nicht rausrückt. Da hat sie Panik geschoben und ist zu den Kieberern gegangen. Ansonsten hätte sie ihren heiß geliebten Mann wahrscheinlich bis heute nicht als abgängig gemeldet. So wird’s wohl in Wahrheit gewesen sein, das glaube ich persönlich. Der Schmittel sagt, der Leitner hat ihr die Steine gezeigt und gesagt: ›Bald gehören sie dir.‹ Also ihr, meinte er. Da war ein Deal im Gange, sagt der Schmittel, mehr weiß er aber auch noch nicht. Nur, dass gegen den Leitner und seine Bank schon seit einiger Zeit verdeckte Ermittlungen laufen. Wegen Geldwäsche. Für Waffendealer und eine ultrarechte Organisation und ein paar Saudis. Der Schmittel, der ermittelt offiziell auf halber Kraft, weil ihm sein zuständiger Staatssekretär das so verordnet hat. Im Wiener Ministerium, da haben die Politiker was am Laufen, da geht’s um saudische Königsfamilien oder so was, die in Österreich und hier in Bayern im großen Stil Privatbanken aufkaufen wollen. Da kommt schnell mal die eine oder andere Milliarde auf den Tisch. Das will keiner gefährden, denn es geht ja um Arbeitsplätze, und nächstes Jahr stehen wieder Wahlen an, nicht wahr? Genaueres wollt ihr hier in eurer Provinzküche aber auch gar nicht erst wissen, oder?«

»Ultra rechts in Österreich? Kennst du die Geschichte? Da ist doch neulich ein Ultrarechter mit einer verletzten Hand ins Krankenhaus in Wien eingeliefert worden. Und der Arzt hat ihn gefragt: ›Ja jetzt sagen S’ doch einmal, wie ist denn das mit Ihrer Hand passiert, mein Verehrtester? Das sieht ja schlimm aus.‹ Und der Typ sagt: ›Keine Ahnung, Herr Professor, ehrlich, I wollt doch bloß meine Briefbombe per Fax schicken, und dann hat’s auch schon gekracht‹«, sagt der Stocker. »Aber jetzt mal unter uns, Zuckerhahn, was ist Sache? Du willst doch was von uns, oder?«

»Ja. Nein. Also jein. Das ist mehr so eine Gefälligkeit, die ihr mir eigentlich sowieso noch schuldig seid, und das nicht erst seit dem letzten Fall, bei dem ihr ja wohl auch ganz gut verdient habt, oder? Da brauchst du jetzt gar nicht so zu schauen, Stocker. Wer hat dich denn aus unserer ersten Sache heil rausgeholt? Hm? Und als Dank dafür hast du mir meinen besten Mann weggeschnappt. Der brät jetzt hier Schnitzel, anstatt mit mir die Bösen zu jagen. Aber ich bin ja nicht nachtragend. Was wollte ich eigentlich sagen? Ah ja: Der Schmittel, der hat die Witwe in spe, also die Frau Leitner, unter Observation.«

»Warum Witwe in spe? Ihr wisst doch noch gar nicht, ob der alte Leitner im Paradies jungfräuliche Ziegen knutscht oder noch fröhlich hier irgendwo rumtanzt, oder?«

»Nein, aber am Tag drauf, also, nachdem die Frau Leitner in Salzburg bei der Polizei war, da war wohl noch irgendwas zum Nachfragen. Da haben die dann einen Streifen-Schani zu der Leitner geschickt. Der hat geläutet, sie hat aufgemacht, und er hat gesagt: ›Sind Sie die Witwe Leitner?‹ Und sie hat gesagt: ›Witwe? Noch bin ich keine Witwe, ja?‹ Und der Polizist sagt: ›Gnä’ Frau, wollen S’ wetten?‹ Gut, was? Aber zurück zum Schmittel: Die Gnädigste, sagt er, die macht im Moment ein Seminar mit, hier am Chiemsee. Auf der Fraueninsel. Im Kloster Frauenchiemsee, genauer gesagt. Da läuft irgendwas Indianisches ab. Klangschalen-Stöhnen in Kleingruppen oder so was. Ich hab’s nicht so recht verstanden. Aber die Frau Leitner, die geht in der Seminarpause, das ist so um drei am Nachmittag, da geht sie immer runter an den Seglersteg. Kennt ihr bestimmt, oder? Da gibt’s eine Bank, und da sitzt sie dann, so für eine Stunde. Sitzt da, schaut in die Sonne und füttert die Möwen.«

»Ja und?« Zeno wirft dem Josef ein Stück Möhre hin, das der Hund aber mit Verachtung straft. Beleidigt schaut er zu den Männern hoch.

»Nichts ja und. Meine Idee ist: Dein Spezi hier, der Stocker, der wird morgen um drei rein zufällig am Seglersteg auf der Fraueninsel auftauchen. Lasst euch was einfallen, das muss nämlich wirklich absolut zufällig aussehen. Dann, Albin Stocker, quatschst du die Frau an und siehst mal zu, ob du was rauskriegst aus der Dame. Der Schmittel hat mich gebeten, da mal nachzuhaken, weil er sich von der absolut verarscht fühlt, und ich komm mir in dieser Sache auch vor wie ein Depp. Wenn’s für euch dabei was zu verdienen oder was abzustauben gibt, dann nur zu. Von mir habt ihr jegliche Rückendeckung, wie immer. Aber ich will wissen, was da läuft. Haben wir einen Deal?«

»Was abzustauben? Was zu verdienen? Vergreifst du dich da mal nicht ein bisschen im Ton, mein Lieber?« Zeno schaut ehrlich entrüstet über seine Schüsseln gebeugt zum Zuckerhahn rüber.

Der nimmt sich eine hauchdünne Scheibe Serrano-Schinken von einem der Teller und sagt: »Nein, eigentlich gar nicht. Wenn ich mir bloß überlege, dass bei der letzten Sache nachts um eins Geldscheine auf dem Chiemsee rumgeschwommen sind, und mindestens einer von euch zweien war in der Nähe des Tatorts … Also nein, ehrlich, ich meine, wenn euch einer da was Böses will, der könnte sich ja weiß Gott was dabei denken, oder? Und ich habe euch ja noch gar nichts von dem folgenden Klops hier erzählt. Ist ja auch nicht so wichtig, aber den Sperber, unseren Ex-BND-Mann, den kennt ihr ja wohl auch noch, oder? Jetzt stellt euch mal vor, der ist neulich auf dem Luxemburger Flughafen unter einer Überwachungskamera durchmarschiert. Mit zwei kleinen Alukoffern in der Hand und einem ziemlich blöden Grinsen im Gesicht. Die Luxemburger Kollegen haben mir die Aufnahmen gemailt, zusammen mit der Bitte um Amtshilfe. Ich hab sie aber blöderweise gelöscht, die Mail. Dumm von mir, aber technisch bin ich nicht so gut drauf, das wisst ihr ja. Nur, diese jungen Computergenies, die kriegen fast alles wieder hin, sogar gelöschte Mails, gell, Stocker?«

»Ich kann dir jetzt ehrlich nicht folgen, Zuckerl«, sagt der Stocker und wischt sich mit dem Handtuch das Gesicht ab.

»Nein? Nicht?« Zuckerhahn grinst und sagt: »Für mich passt das alles gut zusammen. Euer nächtlicher Ausflug auf den See damals, zwei tote Männer, dann die mysteriöse Explosion. Das mit der Explosion, das trägt für mich übrigens eindeutig die Handschrift vom Sperber. Ach ja, und dann natürlich dieses Kajak, das am Priener Seeufer gefunden wurde. Wisst ihr eigentlich, dass der Sperber in jungen Jahren in der Polizeisportstaffel war? Der ist sogar mal deutscher Meister im Kajak-was-auch-immer gewesen. Also, ich will ja nichts sagen, aber wenn da einer die Akten genau durchgeht und eins und eins zusammenzählt … Mein lieber Scholli. Was meinst du, Stocker? Was kann da rauskommen?«

Samstag, 15.08Uhr, am Seglersteg auf der Fraueninsel

Stocker, am Steuer einer Corsiva 550Classic, versucht, die Leinen am Poller festzumachen. Gar nicht so einfach, obwohl das Elektroboot nur fünfeinhalb Meter lang ist. Aber irgendwie klappt es dann doch.

Die Sonne steht schräg am Himmel, und der Chiemsee ist voll mit Segelbooten. Die Schiffe der Feßler-Flotte ziehen ihre Bahnen vom Festland zu den Inseln, und die Touristen steuern mit ihren Tretbooten und Elektroschiffen quer in die Dampferwellen und lachen und rufen und freuen sich wie Kinder.

Stocker springt auf den Steg und geht, die Sonne hoch im Rücken, auf die Bank zu, die unter den Bäumen auf dem frisch gemähten Rasen vor den Klostermauern steht.

Eine zierliche, aber gut gebaute Frau um die vierzig in einem engen hellblauen Hosenanzug sitzt mit einem Buch in der Hand auf der Bank. Die kurz geschnittenen goldblonden Haare leuchten in der Sonne.

Wenn mir der Zuckerhahn gesagt hätte, wie hübsch die ist, dann hätte ich mich freiwillig gemeldet, denkt sich der Stocker.

Weiter hinten, auf dem Kiesweg vor dem Kloster, da sind Gruppen von Tagestouristen mit Kindern und Hunden und fotografieren die unfassbar schöne Aussicht über den See zur Alpenkette hin. Im Süden, auf dem Gipfel der Kampenwand, erkennt man, wenn man ganz genau hinschaut, das Kreuz auf dem höchsten Felsen.

Die Frau auf der Bank sieht das alles nicht. Sie liest in einem Taschenbuch. Blauer Einband, mit zwei Möwen unter der Titelzeile. Sie ist so sehr in ihr Buch vertieft, dass sie erst aufschaut, als der Schatten von Stocker über sie fällt.

»Entschuldigung«, sagt er, »ich wollte Sie nicht stören. Ich geh auch gleich weiter. Ich hab mich nur gewundert, dass jemand hier, auf der Fraueninsel, ein Buch von der Nordsee liest. Das passt doch nicht so recht in die Landschaft, oder?«

Die Frau hält die flache Hand über ihre Augen und blinzelt zu Stocker hoch. »Haben Sie mich jetzt erschreckt. Puh, mein lieber Mann. Nein, das hier ist kein Buch von der Nordsee, sondern eins von hier. Die ›Inselgschicht’n‹. Das handelt von Möwen wie denen hier drüben. Aber ehrlich, ich hab Sie nicht kommen gehört. Ich war so vertieft in das hier.«

»Noch mal Entschuldigung, ehrlich. Ich bin mit dem Boot da, ich warte auf die Familie eines Freundes. Die soll ich rüberbringen nach Gstadt. Darf ich mich ein paar Minuten zu Ihnen setzen, bis die kommen? Ich selber bin absolut harmlos, ich bin eigentlich mehr so der Typ, von dem die meisten Frauen sagen: Der will doch bloß spielen.«

Die blonde Frau lacht und zeigt auf den Platz neben sich. »Bitte. Ich muss dann sowieso wieder rein.«

»Wo rein?«