Ich bin hier bloß der Mörder - Heinz von Wilk - E-Book

Ich bin hier bloß der Mörder E-Book

Heinz von Wilk

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Beschreibung

Chiemsee-Crime mit viel Humor und Lokalkolorit. Irgendwer stirbt immer. Niemand weiß das besser als Albin Stocker. Doch dass ausgerechnet sein Partner getötet wurde, lässt ihm keine Ruhe. Als ein Münchner Clan-Chef anbietet, ihm die Namen der Mörder zu liefern, wenn er seinen Sohn versteckt, ist Stocker sofort dabei – und gerät in ein Netzwerk von korrupten Politikern, bestechlichen Polizisten und mächtigen Unterweltbossen. Der Mann, der im Hintergrund die Fäden zieht, scheint unangreifbar zu sein. Aber eine Schwachstelle hat jeder. Und mit genau dieser will ihm Stocker eine Falle stellen.

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Der Rosenheimer Heinz von Wilk war schon vieles in seinem Leben: Weltreisender, Musiker, Manager und Immobilienhändler. Nach langen Jahren in vielen Ländern lebt er mit seiner Frau im Chiemgau und schreibt dort seine Bücher.www.heinz-von-wilk.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind zum Teil frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen, insbesondere mit hohen Staatsbeamten, auch wenn diese vom rechten Pfad der Tugend abkamen, sind nicht gewollt und deshalb rein zufällig. Nicht erfunden sind unter anderem der Bäcker Bergmeister mit der charmanten Marianne und ihren dunklen Brezen sowie dem Sizilianischen Zitronenkuchen.

© 2021 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Westend61/Franz Faltermaier

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Carlos Westerkamp

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-748-4

Oberbayern Krimi

Originalausgabe

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Ich glaube, man gibt den Menschen Gesetze und Regeln, damit sie dann auch die Möglichkeit haben, diese zu brechen.

1

Stell dir den kleinen Park vor der Rosenheimer Stadthalle vor. Es wird langsam dämmrig. Die Konturen der Büsche und Bäume verbinden sich. Die kleine Kugel über den Toiletten, hinten, beim Kiosk, wirft einen schummrigen Lichtkreis. Daneben, bei den Bänken, da sitzen und stehen sie.

Nie alle zusammen, sondern verteilt in kleine Zweier- oder Dreiergruppen. Etwa zehn bis zwölf dünne, dunkelhäutige Männer in Gangster-Rapper-Klamotten, mit Goldketten um den Hals und neuen weißen iPhones in den Händen.

Ein paar andere sind weiter oben, sitzen an den Treppen und bei dem runden Wasserbecken mit dem meterhohen Edelstahl-Mühlrad. Die am Wasser rauchen, unterhalten sich lachend in einem fremden, afrikanischen Dialekt und zeigen sich gegenseitig YouTube-Videos auf ihren Handys.

»Sind sie das? Die Kerle da drüben?« Nellie beugte sich in ihrem Sitz vor, um an Stocker vorbei besser sehen zu können.

»Wer? Die?« Stocker fuhr langsam die Münchener Straße hoch und lenkte den alten Benz vor dem H&M an den Straßenrand. »Nein. Das ist seine Armee. Er selber wird wohl kaum noch auf der Straße sein. Pass auf, ich zeig dir was.«

Stocker kurbelte das Fenster auf der Fahrerseite runter und deutete auf die Raucher am Wasserbecken: »Das sind die Kassierer und Aufpasser.« Sein Zeigefinger wanderte zu der Gruppe an der Bank. »Die da drüben, die haben den Stoff. Nicht am Körper, sondern irgendwo bei den Toiletten oder unter den Büschen versteckt. Der Große, der auf der Banklehne sitzt und kaut, das ist der Springer. Es läuft so: Du müsstest da rübergehen und nahe an der Bank vorbeischlendern. Entweder sie reden dich an, oder du sagst was: ›Hey, Mann, hast du Proxis? Versed? Purple Drank? Speed? So was in der Art?‹ Die taxieren dich und nennen einen Preis. Du sagst ›okay‹ und gehst zu den Kerlen am Wasserbecken rüber. Dort zahlst du. Einer von denen schickt dem Springer eine SMS oder so. Der läuft und holt die bezahlte Menge. Jetzt sagt dir der Kerl am Wasser, wo du hingehen sollst. Vor zum Blumenkiosk oder so. Der Springer folgt dir und schiebt dir unauffällig deine Ware zu. So funktioniert das.«

Nellie beugte sich an Stockers Schulter weiter vor, um besser sehen zu können. Er roch das blumige Gel, das sie in ihre stoppelkurzen, fast weißblond gefärbten Haare eingekämmt hatte. »Woher weißt du das? Hast du hier den Friends-and-Family-Tarif?«

Stocker lachte auf. »Nein. Moses war vorher in München tätig. Da ist es ihm zu heiß geworden. Die Albaner haben dort schnell und brutal den Markt übernommen. Seit einem Jahr oder so ist er hier bei uns.«

»Und die Bullerei?«

»Was glaubst du wohl? Wenn die diese Jungs jetzt hochnehmen, sind die in zwei Stunden wieder hier. Wenn sie ein Platzverbot bekommen, dann gehen die in den Riedergarten oder an die Loretowiese oder was weiß ich. Schau mal da vor. Siehst du den schwarzen BMW, den M3er da vorne?«

»Die tiefergelegte Disco-Schüssel mit dem Spoiler auf dem Kofferraumdeckel? Igitt. Was ist mit der Kiste?«

»In der sitzt der Leutnant. Immer wenn eine größere Geldmenge zusammenkommt, tausend oder so, dann geht der Springer zum BMW und liefert die Kohle ab. In einer Schicht geht der Lange so um die zehnmal. Zeno hat sich die Sache mal angesehen, nur so als Fingerübung, meinte er. Damit er im Fluss bleibt. Mit seinen Techniken und so, du weißt schon.«

»Du denkst noch viel an ihn, was?«

Stocker nickte langsam und sah im Rückspiegel, wie ein Streifenwagen im Schritttempo in ihre Richtung fuhr. Die beiden jungen Polizisten starrten Stocker und Nellie kurz an und fuhren weiter. Stocker würdigte sie keines Blickes.

Zu den Männern im Park sah keiner der Polizisten rüber.

»Was habe ich gesagt? Die machen gar nix. Die haben nicht mal geguckt, was die Jungs da treiben.«

An Nellies linker Schläfe trat eine Ader hervor, wie immer, wenn sie sich aufregte.

Stocker zuckte mit den Schultern, schob sie sacht in Richtung Beifahrersitz zurück und legte den ersten Gang ein. Der Benz rollte vom Bordstein, fuhr die Straße hoch und bog in die Bahnhofstraße ein. Vor dem C&A-Haus lenkte Stocker den Wagen in die Papinstraße und schaute sich suchend um.

»Was ist?«

»Ich würde gerne hier parken. Aber wo?«

»Da vorne, vor der Kurve. Wo genau müssen wir hin?«

»Passt schon. Sag mal, hast du deinen Kung-Fu-Scheiß noch drauf?«

Nellie lehnte sich im Sitz zurück und starrte ihn an. »Was wird das jetzt? Wir gehen nur zu einer Besprechung, hast du gesagt.«

»Eben. Mit Moses und einem Kerl aus München, den ich nicht kenne. Und wir treffen uns auf unsicherem Boden. In dem Puff gleich um die Ecke, an der Hauptstraße.«

»Na super. So was Ähnliches hätte ich mir eigentlich denken können. Sagst du mir jetzt, um was genau es geht? Du hast gesagt, um Zeno. Und deswegen bin ich hier. Also, hau die Infos raus.«

Sie griff unter den Sitz, holte einen flachen, zweischüssigen Neun-Millimeter-Derringer hervor und schob ihn unter dem rechten Knöchel in ihre schwarzen Nikes. »Weißt du, was ich an diesen Schwarzen immer eigenartig finde? Die Namen. Die heißen Tyreen, Akeem, Leymon, so was eben. Das klingt wie … ich weiß auch nicht … Babypuder oder so. Findest du nicht auch?«

Stocker kreiste langsam mit dem Kopf, sodass das Knirschen der Halswirbel zu hören war. »Kann schon sein. Andererseits kenne ich keinen einzigen Schwarzen, der Hans heißt. Und du?«

»Hans Sarpei, Mann. Ehemaliger Mittelfeldspieler. War für den VfL Wolfsburg in der Bundesliga. Hat in einem Halbfinale gegen den FC Bayern gespielt. Der Mann ist Kult. Und heißt Hans. Noch Fragen?«

»Nein.« Stocker parkte ein, zog den Zündschlüssel ab und schaute Nellie an. »Wie genau das jetzt abläuft, weiß ich selber nicht. Moses hat mich angerufen. Er meinte, ein Kumpel von ihm hätte Ärger wegen seines Sohnes. Der sitzt in München im Knast. Moses sagt, der Sohn soll umgelegt werden, weil er zu viel weiß. Unter anderem über eine Sache, die mit dem Mord an Zeno zusammenhängt. Deswegen sind wir hier.«

»Wie kommt der heilige Moses auf dich?«

Stocker seufzte. »Der Zuckerhahn hat das angeleiert. Weißt du schon, dass sie unseren KHK Zuckerhahn neuerdings im Münchner Bullengehege ›Zorro‹ nennen? Nein? Weil er manisch davon besessen ist, rauszufinden, wer seinen ehemals besten Mann umgebracht hat. Verziehen hat er mir das nie so richtig, dass der Zeno vom SEK weg und zu mir in die ›Endstation‹ gekommen ist. Noch dazu als Koch.«

Stocker schüttelte den Kopf. »Egal. Zwischen dem Zorro und unserem Zeno bestand so ein Vater-Sohn-Dings, du weißt schon. Und jetzt will er denjenigen tot sehen, der seinen Ziehsohn umgebracht hat. Das geht in der gesamten Münchner Unterwelt rum wie ein Lauffeuer. Jeder ist sauer, weil das nervt. Die Jungs wollen in Ruhe ihre Geschäfte machen. Und keinen amoklaufenden Killerbullen im Revier haben. Also ruft ein Münchner Obergangster den Zuckerhahn-Zorro an und steckt ihm, dass sein Sohn was wissen könnte. Hintermänner und so. Weil sein Sohn was mit denen oder für die gemacht hat. Er ist jetzt wegen einer Drogen-Sache erwischt worden, in U-Haft, und wartet auf das, was da kommt.«

»Und? Wo ist der Deal?«

»Weiß ich noch nicht. Zorro hat Moses angerufen, der hat mich hierherbestellt, und sein Kumpel aus München ist auch da.«

»Hast du mit Zuckerhahn gesprochen?«

»Nein. Warum auch? Wir hören uns das hier an, und dann schauen wir weiter.«

»Und was soll die Scheißfrage nach meinen Kampfkünsten?«

»Na ja, das ist ein Puff, da sind manchmal richtig böse Jungs drin. Du bist vom anderen Ufer, das sieht man, und –«

Nellie schlug ihm mit der Faust hart an die Schulter, grinste aber dabei. »Das sieht man, ja? Was genau? Dass ich Fischbrötchen mag?«

2

Jetzt muss ich sagen, wenn du der Nellie auf der Straße oder in ihrer Kneipe begegnest, dann fällt dir schon eine gewisse Männlichkeit an ihr auf. Sie ist nicht groß, vielleicht eins sechzig, aber kompakt, ohne dick zu sein. Kräftige Beine, muskulöse Arme, Schultern wie eine Profischwimmerin und zentimeterkurze Haare. Und sie bewegt sich auch nicht gerade wie Heidi Klum, wenn du weißt, was ich meine.

Nellie O. wuchs mit drei größeren Brüdern auf einem Bauernhof hinter Bad Endorf auf. Die Brüder waren allesamt gefürchtete Raufbolde, und auch die kleine Nellie langte früh und gerne hin, wenn ihr was nicht passte.

»Ich sag dir mal was, Albin, man braucht keinen Bruce-Lee-Scheiß oder so was. Du musst dir nur drei oder vier gute Techniken draufschaffen und die ab und zu üben. Dann passt das.«

»Wie du meinst. Willst du meinen Plan hören, bevor wir da jetzt reingehen?«

»Aber gerne.«

»Der Plan ist: Es gibt keinen Plan. Wir marschieren rein, fragen nach Moses und schauen, was passiert. Wir hören seinem Kumpel zu, und dann entscheiden wir beide, ob wir in der Sache tätig werden oder nicht. Als gleichberechtigte Partner. Einverstanden?«

»Ja. Hast du mit Anne drüber gesprochen? Ich meine, weiß sie, wo wir beide gerade sind?«

Stocker schloss die Augen. »Wir reden nicht mehr besonders viel. Aber das ist eine andere Geschichte. Das heißt, sie redet schon. Aber ich merke, dass ich nicht mehr richtig zuhöre. Können wir?«

Ohne zu antworten, stieg Nellie aus dem Benz und strich sich das hellblaue, weit sitzende Hemd über dem Bund glatt. Stocker schloss den Wagen ab und schlug mit der flachen Hand auf das braune Blech des Daches. »Ich glaube nicht, dass wir Stress kriegen. Wenn dich wer anmacht, halte dich bitte zurück. Aber wenn mich wer anmacht, dann hau ihm ruhig eine rein. Okay?«

Sie schüttelte lächelnd den Kopf, kam um den Wagen herum und hakte sich bei ihm unter. »Habe ich dir eigentlich schon mal gesagt, dass du mein Traummann wärst, wenn ich auf Männer stehen würde?«

Stocker küsste sie auf die Schläfe und drückte ihren Arm. »Das sagst du andauernd, aber ich höre es immer wieder gerne.«

3

Sie gingen auf das Haus zu. Es lag an der Ecke der Kreuzung, der Bordellbetrieb belegte alle drei Stockwerke, die Fassade sah schon ein bisschen schäbig aus, muss ich sagen. Die graue Farbe blätterte an vielen Stellen ab wie Herbstlaub, und in der Hauswand waren lange Risse zu sehen.

Aber das war nicht immer so gewesen. In den Sechzigern hatte Rosenheim die größte Ferrari-Dichte Deutschlands. Und das Rosenheimer Ferrari-Haus lag damals genau gegenüber dem Puff, auf der anderen Straßenseite. Oft stand ich davor und drückte mir die Nase an der dicken, raumhohen Glasscheibe platt, denn dort drinnen, auf edlen Marmorfliesen, da waren sie: die Testa Rossas, Dinos, der eine oder andere 365 GT4 BB, alle in Rot. Strahlend, glänzend, unglaublich schön.

Damals war dann auch die entsprechende Klientel vor Ort, und das Bordell hatte seine hohe Zeit. Die Freier kamen aus München und Salzburg, manche sogar den weiten Weg über den Brenner aus Italien, denn das Haus an der Ecke war berühmt für sein Ambiente, die ausgefallenen Live-Shows auf der Bühne und vieles mehr. Die Programme wechselten alle zwei Wochen. Die Damen alle zwei Monate.

Ich weiß noch, dass da mal ein Pärchen aus Frankreich gastierte, und so eine Show hatte Rosenheim noch nie gesehen. Pass auf: Die Bühne ist dunkel, die Bar rappelvoll und nur von wenigen roten Tischlampen und der schummrigen blauen Thekenbeleuchtung erhellt. Unterhaltungen werden leiser, und man sieht durch den Rauch der vielen Zigaretten und Zigarren kaum vor bis zur Bühne.

Aus den Lautsprechern ertönen Urwaldgeräusche. Löwen brüllen, Papageien stoßen schrille Schreie aus, und irgendwo im Hintergrund tröten Elefanten. Der Urwaldsound wird leiser gedreht. Dafür ertönt Zwanziger-Jahre-Big-Band-Jazz mit viel Trommeln, wie bei einer Josephine-Baker-Show.

Ein schmaler Scheinwerferkegel von oben beleuchtet einen bunt bemalten Marterpfahl. An den ist ein großer Schwarzer gefesselt, die muskulösen Arme so straff nach hinten gebunden, dass er sich nicht bewegen kann. Er ist nackt, sein Körper von oben bis unten mit Öl eingerieben und schimmert, als würde er in seinem eigenen Schweiß baden. Das überproportional lange Glied hängt schlaff nach unten.

Ein zweiter Scheinwerferkegel, der von einem großen Verfolger-Spot hinter der Theke kommt, gleitet rechts an den Bühnenrand. Von da tritt eine schöne Rothaarige in einem hellbraunen Tropenanzug in den Lichtkegel. Die Musik wird lauter. Die Schöne sieht den Kerl am Marterpfahl, schlägt die Hand vor den Mund und erschrickt. Sie reißt die Augen weit auf, schaut übertrieben verwirrt ins Publikum, macht einen Knicks und deutet mit einem lautlosen »Ohhh« auf den Lippen auf das mächtige schlaffe Glied. Der Schwarze starrt sie wortlos an. Sie dreht ihm den Rücken zu, beginnt lasziv zu tanzen und zieht sich aus. Nach zwei Minuten steht sie, splitternackt, immer noch mit dem Rücken zu ihm und erstarrt.

Dann dreht sie sich langsam um und beginnt, ihre Brüste zu massieren. Eine Hand gleitet über ihren flachen Bauch nach unten und streichelt das rote Dreieck zwischen ihren Beinen. Dabei sieht sie den Mann am Marterpfahl direkt in die Augen.

Und plötzlich geschieht es: Wie eine Kobra stellt sich das Glied des Schwarzen auf und steht, hart und zitternd, wie ein Fahnenmast in leichter Meeresbrise.

Die Rothaarige tanzt einmal um den Marterpfahl herum, steckt sich den Zeigefinger, der eben noch zwischen ihren Beinen war, in den Mund und fährt dann damit leicht am Glied des Mannes entlang. Dann tanzt sie weg, der Verfolger geht aus, der Schwarze am Pfahl ist noch ein paar Sekunden zu sehen, dann wird die Bühne dunkel, der Vorhang schließt sich. Der Applaus war jedes Mal so heftig, dass sich sogar die schweren, zähen Rauchschwaden so schnell verzogen, wie wenn ein plötzlicher Windstoß durch den Raum gezogen wäre.

Diese Nummer lief zwei Wochen lang, jede Nacht, einmal um Mitternacht und das zweite Mal gegen drei Uhr früh. Und nie hat der Mann am Marterpfahl die Erektion nicht gebracht. Der Laden war immer voll, und der Barkeeper sagte mir mal, der Schwarze und die Rote seien seit Jahren ein Paar, hätten aber noch nie miteinander geschlafen, wie ihm der Mann erzählte. Denn dann wäre der Zauber weg, und er würde auf sein eigenes Kommando keinen mehr hochkriegen.

Der Champagner floss damals in Strömen, wie du dir denken kannst. Die schönsten Frauen und sogar die Rote aus der Marterpfahl-Nummer waren zu haben, wenn man genug auf den Tisch legte. Und in den oberen Zimmern spielte man Roulette, Siebzehn und Vier, Poker, das ganze Programm.

Einmal hat ein total durchgeknallter Wirt, vom ehemaligen Traberhof, glaube ich, unbedingt eine Runde Russisch Roulette spielen wollen. Die anderen beiden am Pokertisch im zweiten Stock waren der Chinese, der mal die Reinigung mit Änderungsschneiderei in der Innstraße hatte, du weißt schon. Und der andere, das war ein indonesischer Holländer auf der Durchreise, den keiner kannte.

Auf jeden Fall, der Wirt, zugekokst und stinkbesoffen, zieht einen kleinen alten Trommelrevolver aus der Hosentasche, klappt ihn auf, nimmt bis auf eine Patrone alle raus und stellt die fünf glänzenden Messingdinger wie Soldaten vor sich auf den Tisch.

Der Chinese, der ja rein von der Genetik her schon ein ziemlich bleiches Wesen war, wurde noch blasser, und der indonesische Holländer lachte und sagte: »Verdomte shit.«

Der Wirt klappte die Trommel wieder zu, drehte sie schnell, indem er mit dem Daumen draufschlug, und hielt sich den Revolver zwischen die Augen. Dann schaute er in die Runde und meinte: »Um den Pot auf dem Tisch.« Da lagen so um die hunderttausend Mark, hat man mir erzählt.

Die anderen beiden nickten. Der Wirt auch, dann zog er den Abzug, und die Hälfte seines Hinterkopfes spritzte gegen die rot-goldene Stofftapete. Der Chinese und der Holländer teilten sich den Pot. Wobei der abergläubische Chinese die Scheine, die mit Blut besprenkelt waren, nicht anfasste.

Das Loch von der Kugel, die sich auch von einem hiesigen Wirtsschädel nicht groß aufhalten ließ, ist heute noch in der Wand zu bestaunen.

Das waren noch Zeiten.

Wer sich mit der Frau seiner Träume nicht in den plüschigen Zimmern vergnügen wollte, der nahm sich ein Salonzimmer in der kleinen Pension zweihundert Meter links die Straße hoch. Dort standen Tische und Palmen in einem Glas-Wintergarten, die Weihnachtsbeleuchtung hing das ganze Jahr über in den Wedeln, und neben dem offenen Kamin lagen immer duftende Holzscheite.

Jetzt, nach all den Jahren, hat die äußere Münchener Straße den Charme einer verwitterten, obdachlosen alten Frau, die in ihren Tagträumen längst vergangenen Zeiten und Liebhabern nachhängt und die Erinnerungen ihres einstigen Lebens samt ihrem momentanen Besitz in einem Supermarkt-Einkaufswagen vor sich herschiebt.

Das Bordell war früher ein Familienbetrieb. Seit einigen Jahren gehört das Haus aber dem Moses-Clan. Die Zimmer sind schäbig, die Fenster von innen mit rotem Papier beklebt, auf einigen sieht man gemalte rote Herzen, und über dem Eingang hängt ein abgeblättertes schwarzes Blechschild mit der Aufschrift »Bar-Club. Nur für Mitglieder«. Und mitten auf der Bühne ist neuerdings eine Messingstange.

Links und rechts neben der braunen, verschrammten Eisentür standen zwei Typen. Beide mit kahl rasierten Köpfen, Bärten und Steroid-aufgepumpten Oberkörpern. Der Kleinere von beiden stieß sich mit dem Fuß von der Wand ab und zeigte auf Nellie. »Tussen kommen hier nicht rein. Wir sind kein Swingerclub, wa?«

Stocker öffnete den Mund, aber Nellie war schneller. »Kollege, du bist eine lebende Werbung für präventive Familienplanung. Kompliment. Geil finde ich ja, dass ihr Typen auf der Rübe ausseht wie Holzfäller, dabei habt ihr doch alle rasierte Säcke, oder?«

Jetzt kam auch der Größere auf sie zu, klopfte sich den Staub vom Hintern und grunzte: »Isch hab keine Ahnung, was du meinst, Torte, aber eine wie du sollte nur den Mund aufmachen, wenn sie einen strammen Schwanz vor der Nase hat, yo?«

Der Große grinste, und der Kleine griff sich nickend in den Schritt.

»Aber immer doch«, sagte Nellie, »und wer ist der Schwanz von euch beiden? Du? Pass mal auf, du Brüller, wir sind geschäftlich hier. Und falls ich mal einen Rat von einem Arschloch brauche, dann frage ich mein eigenes, klaro?«

Stocker hob beschwichtigend die Hände und stellte sich vor den Großen. »Moses wartet auf uns. Wir können uns später weiter amüsieren, aber jetzt bring uns erst zu deinem Boss.«

Der Große funkelte Stocker wütend an und knurrte über die Schulter zu dem Kleinen: »Ahmad, ruf oben an.« Und zu Stocker: »Und wer bist du, Mann?«

»Albin Stocker. Schicker Anzug, übrigens. Gab’s den auch in sauber und fleckenfrei?«

Der Kleine schaute auf sein Handy, tippte eine kurze Nummer und hob es ans Ohr. »Ja, ich bin’s. Da ist ein Kerl mit seiner Keule. Heißt Stocker. Will zu dir, sagt er. Was? Okay. Ende.« Und zu dem Großen: »Lass sie rein.«

Hinter der Bar stand eine dünne Frau um die dreißig, mit blau gefärbten Haaren, und schnitt Limetten. Die Theke verlief an der ganzen Wand entlang bis zur Treppe. Ein älterer Mann mit einer kurzen, schmierigen, ehemals weißen Schürze um die Hüften verteilte Papieruntersetzer auf den dunklen Holztischen. Es waren nicht viele Tische, und um diese Zeit waren natürlich nur wenige Gäste in der Bar und schauten auf die Bühne, auf der sich eine nackte und heftig gepiercte Schwarzhaarige lustlos an der Stange abquälte. Aus den Lautsprechern an der Decke ertönte »Private Dancer« von Tina Turner.

»Jetzt schau dir bloß das ganze Altmetall an, das in der Schwester da oben steckt«, sagte Nellie. »Die stirbt nicht wie du und ich, die verrostet einfach.«

Ein kräftiger Mann Anfang dreißig kam leichtfüßig die Treppe runter und winkte den beiden zu. »Hier lang. Kommt rauf.«

Sie folgten ihm in den ersten Stock und durch einen muffig riechenden, halbdunklen Gang bis zur letzten Tür links. Eine schwarze, doppelflügelige, massive Eichenholztür mit dicken Beschlägen. Der Kerl im Anzug klopfte, wartete ein paar Sekunden und öffnete einen Flügel. »Da rein.« Er trat zur Seite, ließ sie vorgehen und glitt hinter ihnen in das Zimmer.

In dem Raum war alles in Gold- und Blautönen. Vergoldete Tische, die Stühle mit Blattgoldauflage und dunkelblauen Samtsitzkissen, goldene Bilderrahmen mit kitschigen Gemälden, goldene Heiligenfiguren, hellblauer Teppichboden mit goldenen Sternen. »Das volle Zigeuner-Programm«, flüsterte Nellie an Stockers Ohr. »Hast du ›Suburra‹ gesehen? Die Serie?«

Moses, der Mann am mattgoldenen Schreibtisch, lehnte sich kurz in seinem Stuhl zurück. Er war mittelgroß und dünn. Seine stahlgrauen Haare waren sehr kurz geschnitten. Er hatte scharfe Züge, Narben um die Augen, die blau strahlten.

Sein schwarzer Anzug war von Armani oder Ermenegildo Zegna, das dunkelblaue, goldbestickte Hemd von Versace und bis obenhin zugeknöpft. Die blaue Versace-Krawatte mit den goldenen Löwen drauf hing auf halbmast. An den Fingern beider Hände glänzten schwere Goldringe mit bunten Edelsteinen. Vor ihm, auf der goldenen Tischplatte, stand ein dampfender viereckiger Pappbecher mit asiatischen Schriftzeichen.

»Was hast du dich hübsch gemacht für uns, Moses. Das hätte es jetzt echt nicht gebraucht.«

»Stocker, mein Freund, lange nicht gesehen. Was hat dir die Frau da gerade ins Ohr geflüstert? Darf ich das auch hören?«

»Aber ja, Moses. Sie hat mich gefragt, ob ich diese Fernsehserie aus Italien gesehen habe. ›Suburra‹. Hab ich aber nicht. Kennst du die?«

Jetzt strahlte Moses und klatschte in die Hände. »Klar doch. Schau dich mal um. Ich hab versucht, das Wohnzimmer im Stil von dem Anacleti-Zigeuner-Clan, du weißt schon, in dem Haus mit den Hundezwingern, nachzubilden.« Und zu Nellie: »Und Sie, meine Schönste, Sie haben Geschmack. Was meinen Sie, ist mir das Ambiente gelungen?«

»Aber so was von. Ich hab grade gedacht, hier drinnen könnte man die dritte Staffel drehen.«

Moses schaute sich freudestrahlend um. »Ja, ne? Haben Sie Beziehungen zum Film?«

»Nein, leider nicht. Aber ich hab die Serie geliebt. Besonders Spadino.«

»Der war schwul.«

»Schon, aber er hat seiner Frau ein Kind gemacht, oder? Ich meine, selbst als Schwuler ist er immer noch der Obermacho.«

»Na ja, obwohl, das mit dem Kindermachen … Ich weiß nicht. Er nackt auf dem Bett, und sie hat sich ja auf ihn draufgesetzt und gesagt, er soll die Augen zumachen, und dann hat sie ihm mit der Hand –«

Stocker hüstelte. »Ich störe euch beiden Cineasten ja wirklich ungern, aber könnten wir vielleicht zur Sache kommen?«

Moses legte die Unterarme auf die Tischplatte und lachte. »Logisch. Entschuldige, mein Freund. Stört es dich, wenn ich schnell meine Nudeln fertig esse? Setzt euch inzwischen. Und du, Stocker, schau dir mal an, was in dem Ordner da vor dir ist. Das ist wichtig für das Gespräch, das wir gleich führen werden.«

Die beiden setzten sich. Moses warf sich die Krawatte über die Schulter. »Ich saue mich immer zu bei dicken Nudeln, aber ich liebe dieses Japan-Zeugs.« Das Gericht in dem Pappbecher bestand aus Ramennudeln, Brühe, Fleisch, Paprika und Ingwer. Außerdem wehte der Duft von Minze und Knoblauch über den Tisch.

Moses schlürfte die glitschigen, bleichen Dinger mit Hilfe von hölzernen Einwegstäbchen und sagte mit vollem Mund, während er sich den Becher unter das Kinn hielt: »Das Schwarz-Weiß-Bild da. Nicht das. Das andere. Siehst du den grauhaarigen Kerl mit der offenen Bonbontüte in der Hand?«

Stocker starrte auf das Foto und spürte, wie ihm von innen kalt wurde. Moses deutete mit den Stäbchen auf ein anderes Foto: »Da ist er noch einmal, und auch sein Gesicht ist besser zu sehen. Sagt dir das was?«

Aber in Stockers Kopf lief längst ein Film ab. Er sah die Szene wieder, so klar und deutlich, als hätte ihn eine Zeitmaschine um ein paar Monate zurückversetzt: ein grauer Nachmittag. Sie waren auf der Rückfahrt vom Treffen an der Raststätte. Dann, nächste Szene: zwei schwarze Mercedes-Vito-Busse auf dem Standstreifen der A8, kurz vor der Ausfahrt Holzkirchen. Dazwischen sein alter Benz. Er steigt in den zweiten Bus, der zwanzig oder dreißig Meter hinter seinem Achtziger-Jahre-Mercedes mit eingeschalteter Warnblinkanlage wartet. Die seitlichen Scheiben des Vito sind abgedunkelt. Dünne Stimmen quäken aus dem Funkgerät, das vorne neben dem Fahrer auf dem Beifahrersitz liegt. Gegenüber von KHK Zuckerhahn sitzen zwei blasse Männer in dunklen Anzügen. Der Wagen fährt los, der Jüngere beugt sich vor und sagt: »Gleich zur Sache. Sie stellen ab sofort alle Aktivitäten ein, die mit dem tragischen Tod Ihres Partners zu tun haben. Das ist keine Bitte. Wir möchten das so.«

»Wer ist ›wir‹?«

Der Ältere, der uninteressiert aus dem Fenster auf die überholenden Autos schaut und knirschend auf einem Lakritzbonbon kaut, blickt kurz zu Stocker: »Staatsschutz. Wir regeln das ab jetzt selber. Fragen Sie Ihren Freund neben Ihnen.«

Und jetzt der Zuckerhahn, der nur mühsam seinen Zorn unterdrückt, mit hochrotem Gesicht: »Ist so. Ich kann nichts machen. Die übernehmen jetzt.«

Dann schiebt sich der Ältere ein weiteres schwarzes Bonbon in den Mund und schaut wieder teilnahmslos aus dem Fenster.

Es war der Mann auf den Fotos, die vor Stocker auf dem Schreibtisch lagen. Auf beiden Fotos, Irrtum unmöglich.

Stocker schüttelte den Kopf, um in die Gegenwart zurückzukommen, und hörte wie durch einen Nebel die Stimme von Moses: »So, und wenn du willst, können wir jetzt mit unserem Freund aus München sprechen.«

Nellie schaute sich um. »Wo ist er?«

Moses seufzte und holte einen flachen Laptop aus einer der Schubladen seines goldenen Schreibtisches. »Skype. Er ist in München, kann uns aber sehen und wir ihn. Ich hasse dieses scheißmoderne Technik-Zeugs. Hey, mein Neffe, der ist neulich sechs Jahre alt geworden. Seine Mutter hat ihm ein Handy geschenkt, und der kleine Scheißer sagt zu mir: ›Hattet ihr so was damals auch schon, Onkel Moses?‹ Und ich: ›Na klar, mein Kleiner, nur waren die viel größer. Man konnte reingehen, die Tür hinter sich zumachen, und der Hörer hing an einem Kabel. Ein Handy zum Reinschlüpfen, sozusagen. Die Häuschen standen damals an fast jeder Straßenecke.‹ ›Cool‹, sagt der Zwerg, ›und wo war das Internet, und warum gibt es diese krassen Reinschlüpf-Handys nicht mehr?‹ ›Das Internet‹, sage ich, ›das hat man damals noch nicht gebraucht. Weil die Menschen damals noch bei Bedarf miteinander reden konnten. Und die Reinschlüpf-Handys wurden abgeschafft, weil manche Leute in die kleinen Häuschen reingepisst haben und alte Omas dann in den Pfützen ausgerutscht sind und sich die Knochen brachen.‹ Da schaut mich der kleine Mistkerl an und sagt –«

»Entschuldige, Moses, aber können wir jetzt so langsam? Ich will wissen, um was es geht. Wieso ist der Mann nicht hier?«

Moses zuckte mit den Schultern. »Hey, ich mach nur, um was man mich gebeten hat.« Er zog einen kleinen Zettel aus der Jackentasche, blickte mit halb zugekniffenen Augen drauf und gab eine lange Nummernfolge ein. Langsam, im Ein-Finger-System. Dann drehte er den Laptop so, dass Stocker, Nellie und er den Bildschirm sehen konnten.

Nach kurzer Zeit baute sich ein Bild auf, sie sahen den Oberkörper eines Mannes. Er trug einen schwarzen Rollkragenpulli, hatte dunkelbraunes Haar, große, braune Augen und war etwa fünfundvierzig oder fünfzig Jahre alt. Seine Lippen bewegten sich, aber man hörte keinen Ton.

Der Mann an der Tür kam mit schnellen Schritten zum Tisch und drückte eine Taste am Laptop, und plötzlich war der Ton da, mitten im Satz: »… schon, und Sie sind es leid, über Gräber zu laufen. Aber ein Grab ist noch offen, und ich kann Ihnen helfen, es zu schließen.«

Stocker beugte sich vor: »Guten Tag. Wir haben den Anfang nicht verstanden. Ich bin Albin Stocker. Wer sind Sie?«

Der Mann lächelte. »Ivo Gregorian. Auch einen guten Tag. Ich sagte, ich kann Ihnen helfen, die Mörder Ihres Partners zu schnappen. Das wollen Sie doch, oder?«

»Ja.«

»Gut. Moses hat Ihnen die Fotos gegeben?«

»Ja.«

Gregorian fuhr sich mit dem Zeigefinger der linken Hand in den Rollkragen, als würde ihn da was kratzen. »Der Ältere, der mit den grauen Haaren, der weiß, wer Ihren Partner umgelegt hat. Nein, anders: Er weiß, von wem der Auftrag kam und warum.«

»Ich weiß, wer das ist. Ich habe mit ihm gesprochen. Er ist so was wie ein Polizist.«

»Herr Stocker, Menschen sind das, was sie tun. Sie sind nicht das, was sie sagen. Oder was andere erzählen. Sie sind die Summe dessen, was sie getan haben, für sich oder andere. Daraus wiederum lässt sich schließen, was sie tun werden.«

Stocker klopfte auf die Fotos. »Er ist beim Staatsschutz, hat man mir gesagt.«

Gregorian drehte den Kopf und blickte verstört hoch, so als ob noch eine andere Person bei ihm im Raum wäre. Dann schaute er wieder in die Kamera seines Computers: »Das ist er offiziell, stimmt. Aber der Mann regelt mit seiner speziellen Abteilung schmutzige Dinge für ein paar Leute ganz oben. Das mit Ihrem Partner soll vertuscht werden, weil sonst mächtige Kreise viel Ärger kriegen.«

»Und Sie sind einer von diesen mächtigen Leuten?«

Gregorian setzte ein trauriges Lächeln auf. »Nein, ich bin eher auf der anderen Seite des Zaunes. Aber jemand aus meiner Familie droht zum Kollateralschaden zu werden. Weil er Dinge gesehen und gehört hat, von denen er besser nichts gewusst hätte.«

»Was habe ich damit zu tun?«

»Sie? Man hat mir von Ihnen erzählt. Und von Ihren Verbindungen. Bringen Sie meinen Jungen eine Zeit lang in Sicherheit, und ich sage Ihnen, wie Sie an den Mann herankommen, der die Mörder Ihres Partners deckt.«

Stocker verzog das Gesicht. »An den Kerl komme ich auch ohne Ihre Hilfe ran, wenn ich das will. Was haben Sie zu bieten, und warum sprechen Sie jetzt mit mir?«

»Ein Bekannter, einer von der Kripo, der jetzt einen ganz merkwürdigen Straßennamen hat, der meinte, Sie wären mein Mann. Er wird demnächst in den Ruhestand versetzt, bei vollem Gehalt. Gegen seinen Willen. Man will ihn loswerden. Und er glaubt, nach einer gewissen Zeit wird man ihn auch umlegen. Einfach deswegen, weil er zu viel erzählen könnte.«

»Ich weiß, wen Sie meinen. Warum ruft er mich nicht selber an?«

»Weil er überwacht und abgehört wird.«

»Was hat er rausgefunden?«

Der Mann in München griff nach einem Glas, das neben dem Computer stand, trank und schloss kurz die Augen. »Ich habe selber nur wenig Einblick in diese Dinge. Aber es geht hier auch um meinen Sohn. Drago. Er, wie soll ich sagen, ist nicht nur an Frauen interessiert. Zusammen mit einer Handvoll Freunde hat er in Rosenheim einen Callboy-Ring aufgezogen: Chiemsee-Callboys. Sie haben eine Villa in der Nähe von Prien gemietet, dort finden spezielle Partys statt. Der Mann auf dem Foto ist Gast gewesen, ein paarmal. Mein Sohn hat gehört, wie er sich mit einem anderen Mann darüber unterhalten hat, wie er mit Hilfe einer Bombe jemanden beseitigen ließ, der einigen Leuten im Wege war. An dem Abend waren alle sturzbesoffen und mit Gras zugedröhnt, um vier Uhr morgens im Saunabereich. Es wurde viel gelacht bei der Geschichte.«

»Wann war das?«

»Vor ein paar Monaten.«

»Und warum kommt das jetzt hoch?«

»Nichts kommt hoch, Herr Stocker. Mein Junge ist wegen einer Drogensache in München hopsgenommen worden. Der Hauptkommissar Zuckerhahn war in dieser Nacht im Kriminaldauerdienst-Team. Drago hat schon einiges auf dem Zettel, und wegen dieser Sache hätten sie ihn für einige Zeit eingenäht. Also hat er dem Kripo-Mann über den Schreibtisch hinweg zugeflüstert, dass er was von einem hochrangigen Polizeikollegen weiß, das diesen die Laufbahn kosten kann. Er kann einen Deal anbieten: Er erzählt, was er über einen Bombenmord in Rosenheim gehört hat, und der Zuckerhahn lässt ihn dafür laufen.«

»Von welchem Polizisten reden Sie?«

Gregorian seufzte. »Mann, mein Sohn hat geglaubt, der Grauhaarige, um den es geht, ist ein hohes Tier bei der Münchner Kripo oder so was. Mehr wusste er auch nicht. Lassen Sie mich weiterreden, ja? Der Kommissar Zuckerhahn sagte, er könne ihn nicht laufen lassen, einfach schon deswegen, weil der Rest der Truppe ja auch mitgekriegt hat, um was es ging. Er könne meinem Drago aber helfen, schnell aus der Sache rauszukommen. Sie haben ihn ein paar Stunden nach der Vernehmung laufen gelassen. Fester Wohnsitz, guter Anwalt und so. Irgendwas muss aber von dem Gespräch der beiden durchgesickert sein, vielleicht hat am Schreibtisch daneben wer was mitgekriegt, keine Ahnung. Auf jeden Fall, mein Sohn ruft mich an und sagt, er wird beschattet.«

»Von wem?«

»Das ist es ja. Ich habe sofort ein paar meiner besten Leute losgeschickt, die haben das Umfeld meines Sohnes überwacht. Und festgestellt, dass da tatsächlich was dran ist. Aber die Schatten sind so was von professionell und gut ausgerüstet, die müssen von einer Behörde gewesen sein. Also hab ich mit dem Zuckerhahn gesprochen. Der konnte nichts rausfinden, hat aber gemeint, mein Sohn soll für ein paar Wochen verschwinden. Das wäre normalerweise kein Problem für mich. Aber wenn da irgendwelche Cracks von einem der Geheimdienste dahinterstecken …«

»Und jetzt?«

Moses stocherte mit einem abgebrochenen Essstäbchen in seinen Zähnen herum, Nellie starrte fassungslos auf den Bildschirm, und Gregorian beugte sich näher zum Computer, sodass sein Gesicht fast den gesamten Bildschirm einnahm. »Der Zuckerhahn sagte, Sie könnten mir helfen, wenn Sie das wollten. Geld interessiert Sie in diesem Fall nicht, sagte er. Weil er und Sie das gleiche Ziel haben: die wegzuräumen, die Ihren Partner ermordet haben. Also, hier meine Bitte: Schützen Sie meinen Sohn. Er wird Ihnen alles haarklein erzählen, was er weiß. Da sind bestimmt Dinge dabei, die er auf dem Revier nicht erzählt hat, Sie wissen schon. Im Gegenzug dafür haben Sie bei mir einen Gefallen gut, den ich nicht abschlagen werde. Egal, was es ist. Der Kommissar kommt morgen Abend zu Ihnen, sagt er. In den Bahnhof, Sie wüssten schon, was damit gemeint ist. Er würde Ihnen auch noch einiges erzählen, dann würden Sie mit dem Deal einverstanden sein. Haben wir einen Deal, wenn Sie mit dem Kommissar gesprochen haben?«

Stockers Gesichtshaut war grau, als hätte er einen Gefrierbrand. »Sie hören morgen Nacht noch von mir. Wie kann ich Sie erreichen?«

»Sie bekommen von Moses eine Nummer. Die ist nicht rückverfolgbar. Haben Sie auch eine sichere Verbindung für unser Gespräch?«

»Ja. Ich melde mich.«

»Gut. Moses gibt Ihnen einen USB-Stick, da sind noch ein paar Fotos von dem Kerl drauf.«

Gregorian nickte zum Abschied, und der Bildschirm wurde dunkel.

Moses sagte: »Ich kenne ihn schon lange. Wenn er was sagt, dann ist das so. Das mit seinem einzigen Sohn hat ihn schwer getroffen. Dass er schwul ist, meine ich. Er liebt ihn aber trotzdem über alles, weil er eben nur den einen hat. Das ist doch fast so wie bei den Anacletis, was meint ihr?«

Stocker erhob sich. »Mach keine Witze über das, was gerade gesprochen wurde, Moses. Wir gehen jetzt. Übrigens: Deine zwei Wachhunde da unten, die sollten mehr auf das achten, was sie zu einer Dame sagen. Sonst leg ich sie mal kurz ins Koma. Gibst du das so weiter?«

»Klar, Mann. Aber weißt du, wie schwer es ist, in diesem Gewerbe gutes, qualifiziertes Personal zu finden? Ich würde sogar einen einbeinigen Kickboxer als Türsteher nehmen, wenn ich denn einen bekäme.«

Er breitete theatralisch die Arme aus. »Solche Nachwuchssorgen wie ich haben nicht mal die Bäcker und Metzger zusammen. Kann es sein, dass sich in dieser Republik immer nur die falschen Menschen fortpflanzen? Der Große von unten, der ist blind wie ein Maulwurf. Ist aber zu eitel, um eine Brille zu tragen. Ich sag dir was: Nimm einen braunen VW-Käfer, male dem einen dicken Schnurrbart zwischen die Scheinwerfer und lass ihn langsam vor dem Haus entlangfahren. Ich wette, dass keine Minute später der Blödmann hochgerannt kommt und sagt: ›Chef, unten ist grade der Omar Sharif vorbeigelaufen. Mitten auf der Straße.‹«

Sie gingen aus dem Raum, und draußen im Flur fragte Nellie den Stocker, während sie sich am Kopf kratzte: »Ich weiß, dass dich das jetzt nervt, aber wer zur Hölle ist Omar Sharif?«

4

Ich meine, du kennst das ja: Man verliert einen Menschen, den man geliebt hat, den besten Freund oder den alten Dackel, von dem man geglaubt hat, er macht es noch ein paar Jahre, weil er trotz seines Alters putzmunter war.

Es gibt viele Leute, die trauern um ihren Wellensittich, die Goldfische, was weiß ich.

Dann träumst du natürlich oft von dem, was du vermisst. Da gibt es gute Träume, in denen du mit deinem Mann oder deiner Frau am Wasser entlanggehst. Hand in Hand, und ihr sagt euch vieles, worüber ihr im richtigen Leben nie gesprochen habt. Das sind schöne, oft zärtliche Träume. Irgendwo tief in deinem Kopf weißt du, dass du träumst. Aber es ist alles um dich rum so herzerwärmend und real, dass du nie mehr wach werden willst.

Und es gibt die Alpträume, aus denen du mit einem rasenden Herzklopfen und schweißnass in feuchter Bettwäsche hochfährst und mit weit aufgerissenen Augen erst mal schauen musst, in welcher Welt du jetzt bist.

»Du entkommst denen nicht«, hat mir der Stocker vor vielen Jahren mal erzählt, »wohin du auch reist, sie sind schon da. Es ist immer das Gleiche. Wenn du die Augen zum Einschlafen zumachst, kommt der Vorspann. Und dann die Werbung, die dir eine ruhige Nacht verspricht. Aber irgendwann, in den Stunden nach Mitternacht, beginnt dein Hauptfilm. Du kennst ihn gut, auch wenn der Ablauf nicht immer derselbe ist.«

Es war eine kühle Nacht, die beiden Fenster seines Schlafzimmers waren offen. Der Wind bewegte die bodenlangen, braunen Gardinen, und die Schatten der Laubbäume draußen an der Allee tanzten wie Riesen im trüben Licht der Straßenlaternen über die Schlafzimmerdecke. Die Sterne versteckten sich hinter stahlgrauen Wolken, denn es hatte kurz zuvor geregnet. Die Luft war feucht und ein bisschen stickig, und die paar Autos, die um diese Zeit noch auf der Rosenheimer Prinzregentenstraße unterwegs waren, glitten vorbei, und die Reifen sangen vor Nässe.

Im Halbschlaf hörte Stocker eine Kirchenglocke schlagen: drei Uhr. Er drehte sich unruhig auf den Rücken, die Gespräche des Nachmittags hallten in seinen Gedanken nach. Plötzlich stieg ihm, ganz zart und fast nicht wahrnehmbar, der Duft von Zigarillorauch in die Nase. Der typische Mix aus Vanille, Holz und Früchten dieser holländischen Dannemann-Stäbchen, die Zeno ab und zu paffte. Das war vor einigen Jahren, als er vom Undercoverleben wegwollte. Und auch nicht zurück zum SEK, wie es sein damaliger Vorgesetzter, der KHK Zuckerhahn, gerne gesehen hätte. Zeno war zerrissen, innen und außen. Sein Blick war leer damals, seine Bewegungen fahrig, und in seinem Gesicht zuckte ständig ein Mundwinkel oder ein Augenlid. Das war die Zeit, als sie sich nach der Schießerei oben in der Halle auf dem Mürzberg ein paar Tage später in der »Endstation« betranken.

Stocker öffnete die Augen, ohne sich zu bewegen. Dann glitt seine Hand langsam unter das Kopfkissen und umfasste den Griff des Revolvers. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, und er hatte dieses Gefühl, als würde seine Kopfhaut schrumpfen. Das ist ein Schmerz, wie wenn einem winzige Glassplitter durch die Adern im Kopf strömen, das kannst du mir glauben.

Er hielt den Atem an und spannte langsam den Hahn der Waffe, die er immer noch unter dem Kissen umklammerte.

Aus der linken Zimmerecke, dort, wo es am dunkelsten war, kam ein schabendes, schleifendes Geräusch, das ihn an den Gang von Zeno erinnerte, der seit dem Oberschenkel-Durchschuss ein Bein nachzog, das bei jedem Schritt kurz über den Boden schlurfte, bevor er es anhob.

»Du kannst mich nicht erschießen, Alter. Wie du weißt, bin ich bereits ziemlich tot.«

Zeno kam näher und setzte sich ans Fußende des Doppelbettes. Seine Hautfarbe war wie Schimmel an einer Kellerwand, und Stocker sah im fahlen Licht der Straßenlaternen seine braunen Augen. Eines davon hatte einen kleinen Defekt, als wäre ein Eissplitter nahe der Linse.

»Sterben ist nichts Nettes. Lass dir da bloß nichts anderes einreden, Albin. Es war auch noch keiner da, der mir das Leben nach dem Tod erklären wollte. Genau genommen war überhaupt noch niemand bei mir. Kein Empfangskomitee, nichts. Ich meine, hey, wenn das so weitergeht, hau ich wieder ab von hier.«

Stocker schluckte trocken und versuchte, was zu sagen, aber Zeno hob die Hand. »Du hast eine Scheißangst, aber das ist okay. Wer keine Angst kennt, lebt nicht lange. Weil er ein Idiot ist. Audie Murphy, erinnerst du dich? Der war der höchstdekorierte amerikanische Soldat des Zweiten Weltkriegs. Jeden verdammten Orden, den die Amis zu vergeben hatten, den hat er sich umgehängt. Dreiunddreißig Orden. Mann, stell dir bloß das Gewicht von dem ganzen Blech vor.« Zeno schüttelte lächelnd den Kopf.

»Warum erzählst du mir das?«

»Na ja, der hat auch immer mit seinem Colt unter dem Kopfkissen geschlafen. Weil er im Dunkeln Angst hatte. Auch im Krieg hatte er immer Schiss. Vor jedem Einsatz hat er sich fast nass gemacht. Und er war der tapferste, mutigste amerikanische Soldat, den es jemals gab. Von ihm stammt der Ausspruch ›Nur Idioten haben keine Angst‹. Und weißt du, wie er gestorben ist? Er ist abgestürzt, mit einem Privatflugzeug. Heilige Scheiße.«

Ein weiterer Windhauch streifte durch das Zimmer, und der Mond glänzte stumpf in den Farben alter, ausgebleichter Fischgräten, während die Wolken aussahen wie riesige, zerrissene Pflaumen.

Zenos Hände lagen auf seinen Oberschenkeln und waren von einem Narbengeflecht überzogen, das an eine schnell hingezeichnete Landkarte erinnerte oder an winzige Stückchen dünner, weißer Schnüre.

Stockers Atem rauschte in seiner Brust, und plötzlich bekamen Zenos Augen die Farbe des Mondes. Sein Gesicht fiel in sich zusammen, und auf seinen Wangen tauchten Falten auf, während sich sein Mund öffnete: »Der kleine Mann. Er wird dich töten wollen.«