Chimärenjagd - Gerd Hoffmann - E-Book
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Chimärenjagd E-Book

Gerd Hoffmann

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Beschreibung

Bryson und Chloe sehen aus wie zwei gewöhnliche Menschen, gehören aber zu Mischwesen, Chimären genannt. Sie leben innerhalb der menschlichen Gemeinschaft, ohne dass diese von ihrer Existenz eine Ahnung hat. Nur eine kleine Geheimorganisation namens NESOM und deren Mitglieder wissen von den Chimären und machen unbarmherzig Jagd auf sie, die nur noch über wenige Rückzugsgebiete verfügen. Obwohl Bryson und Chloe zu verfeindeten Untergruppen gehören, müssen sie sich zusammenraufen, um ihr eigenes Überleben und das ihrer gesamten Art zu sichern.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Chimärenjagd

 

Impressum:

Gerd HoffmannSt. Vither Str. 1150933 Köln

Cover: www.magicalcover.de

Das Werk aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten, einschließlich der Verviel­fältigung, Übersetzung, Mikro­verfilmung sowie Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und sind nicht beabsichtigt.

 

 

Inhalt

Title Page

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Epilog

Alle Bücher

Kapitel 1

Chloe

Zufrieden betrachtete ich den aufgeschichteten Holzstapel direkt neben dem offenen Kamin und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Die nächsten Tage würde ich die vorhergesagte Kaltfront neben einem prasselnden Feuer verbringen können, eingemummelt in einer warmen Decke. Dazu eine schöne heiße Tasse Tee und etwas zu lesen ... ich konnte es kaum erwarten.

Überhaupt war es mir im letzten Jahr gelungen, aus der heruntergekommenen Blockhütte ein behagliches Heim zu schaffen. Es war harte Arbeit gewesen und ich hatte viele Stunden im benachbarten Dorf Handlangertätigkeiten durchgeführt, um notwendige Einrichtungsgegenstände zu kaufen, die ich nicht in Eigenregie herstellen konnte. Doch nun war alles so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Die Vorratskammer war ebenfalls gut gefüllt und ich würde für eine recht lange Zeit nicht mehr in das Dorf fahren müssen. Selbst die wenigen Menschen, denen ich dort begegnete, verursachten mir Unbehagen. Das lag natürlich an dem Wesen meiner Art, die von der Veranlagung her Einzelgänger waren. Ich suchte nur dann die Nähe von Artgenossen, wenn es Zeit zur Paarung war. Aber diese spezielle Zeit des Jahres lag noch in weiter Ferne. Ich erinnerte mich auch nicht gerne an die zurückliegenden Ereignisse, weil mein ganzes Denken dann nur noch darauf gerichtet gewesen war, ein passendes Gegenstück zu finden. Jedes Mal nahm ich mir danach vor, mich nicht mehr von den Hormonen zu etwas zwingen zu lassen, aber jede Gegenwehr war hoffnungslos. Möglicherweise gab es eine medizinische Behandlung dagegen, aber wie sollte ich so etwas einem menschlichen Arzt begreiflich machen?

Ich verscheuchte die Gedanken an die Zukunft, weil ich es doch nicht verhindern konnte, und strich lieber durch das gemütliche Heim. Mit den Fingerspitzen liebkoste ich die weiche, warme Decke auf dem Sofa und hätte beinahe zu schnurren begonnen - eine weitere Eigenheit meiner Art. Aus der Ferne drangen mir Motorengeräusche an die Ohren. Zunächst ignorierte ich sie. Die Straße war weit entfernt und ein normaler Mensch hätte kein Geräusch vernommen, aber schließlich wurde ich unruhig, als sich die Fahrzeuge näherten. Es führte nur ein kleiner Waldweg zur Hütte, in der ich untergeschlüpft war. Ich hatte sie vor einigen Monaten bezogen und seitdem hatte sich niemand hier blicken lassen, von ein paar Wanderern abgesehen.

Ich huschte ans Fenster und spähte nach draußen. Noch konnte ich nichts sehen, aber die Geräusche waren eindeutig lauter geworden. Mittlerweile war ich mir sicher, dass sich die ungebetenen Gäste meinem Standort näherten. Für einen Moment versuchte ich mir einzureden, dass es harmlos sein würde und die Typen sich nur verfahren hätten, aber schon schüttelte ich den Kopf über mich selbst. Zu oft hatte ich nun schon Berichte über eine Gruppe gehört, die Jagd auf meinesgleichen machte. Vielleicht war ich während der Arbeit im Dorf unvorsichtig gewesen oder jemandem aufgefallen. Jedenfalls musste ich hier verschwinden. Sofort!

Ich raffte ein paar Vorräte zusammen und stopfte sie in einen kleinen Rucksack. Nachdem ich in eine dicke Jacke geschlüpft war, sah ich mich noch einmal in der Hütte um, auf deren Instandsetzung ich so viel Mühe verwandt hatte. Es widerstrebte mir, einfach so von hier zu verschwinden. Erneut fragte ich mich, ob ich mir zu viel Sorgen machte, und lauschte nach draußen. Die Geräusche waren nun in unmittelbarer Nähe und es gab keinen Grund, mein Glück herauszufordern. Ich öffnete die Tür und verließ die Hütte.

Bemüht, keine Spuren zu hinterlassen, schlich ich in den Wald hinein und verbarg mich im Dickicht hinter einem Baumriesen. Von dort hatte ich einen guten Blick auf die Blockhütte und den Waldweg. Insgeheim hoffte ich noch immer, dass es blinder Alarm war, doch diese Hoffnung zerstob sofort, als ich die drei offenen Transporter erblickte. Es waren mehr als ein Dutzend Männer, bewaffnet und in meinen Augen nicht sehr vertrauenserweckend. Das allein wäre schon schlimm genug gewesen, doch erschrocken registrierte ich, dass die Kerle drei oder vier Hunde mit sich führten. Sie wussten also, wen sie hier anzutreffen hofften.

Tränen der Wut schossen mir in die Augen, als ich mich von der Hütte abwandte und tiefer in den Wald hineineilte. Vor wenigen Minuten hatte ich mich noch auf Winterabende vor einem prasselnden Kaminfeuer gefreut und nun stand mir wieder eine Flucht bevor.

Ich hatte noch keine Meile zurückgelegt, als es mir kalt über den Rücken lief. Es lag nicht nur an dem Kläffen der Hunde, das ich hinter mir hörte. Ich traute mir durchaus zu, diese dummen Tiere in die Irre zu führen. Schließlich kannte ich mich in dem Waldgebiet sehr gut aus. Was mich aber erschreckte, war die Erkenntnis, dass ich auch zu meiner linken Seite lautes Gebell hörte. Kreiste man mich ein? Waren sich die Schweinehunde ihrer Sache so sicher gewesen, dass sie mich nicht nur mit einer Gruppe jagten? Wo und wann hatte ich einen Fehler begangen?

Ich wandte mich nach rechts und verdoppelte meine Anstrengung, während ich nach einem Ausweg suchte. Den Versuch, die Köter mittels des nahe gelegenen Flusses abzuschütteln, konnte ich vergessen. Ich benötigte einen Alternativplan, und zwar schnell. Doch als ich auch noch von rechts infernalisches Kläffen hörte, da wurde mir bewusst, dass ich in der Falle saß. Sie hatten mich tatsächlich eingekreist. Unerbittlich näherten sich meine Verfolger, und als das Bellen in unmittelbarer Nähe ertönte, stoppte ich ab und riss mein Jagdmesser aus der Gürtelschlaufe. Ich fand gerade noch die Zeit, mich mit dem Rücken an einen großen Baum zu stellen, als auch schon die ersten beiden kalbsgroßen Hunde aus dem Dickicht brachen. Eigentlich sollte diese Rasse das Jagdwild aufspüren, verbellen und am Platz halten, aber diese Exemplare schienen daran kein Interesse zu haben. Vielleicht lag es an dem, was sie an mir witterten, möglicherweise waren sie vom Jagdfieber gepackt und wollten ihre Beute zur Strecke bringen - jedenfalls griffen sie an.

Auch in mir ging eine Veränderung vonstatten, die ich nur zu gut kannte. Meine menschliche Hülle, die mein inneres Wesen abschirmte, fiel von mir ab und ließ meine Urinstinkte an die Oberfläche dringen. Es war fast so, als würde alles um mich herum in Zeitlupe ablaufen. Die Hunde sprangen mich an, ich wich dem ersten Angreifer aus und zog dem anderen Köter das Messer quer über die Flanke. Mit einem Winseln fiel er zu Boden und leckte seine Wunde. Der erste Hund hatte sich herumgeworfen und schoss erneut auf mich zu, während zwei weitere Artgenossen von der linken Seite auf mich zustürmten.

Einem konnte ich ausweichen, stich nach dem Zweiten, aber der Dritte biss mir in den Oberschenkel. Es war das Letzte, was er in diesem Leben tun würde, denn ich jagte ihm mein Messer zielsicher ins Herz, sodass er zuckend zu Boden fiel. Immerhin hielt ich damit die Angreifer auf Abstand, aber der Schmerz im Bein sagte mir nur zu deutlich, dass meine Flucht hier beendet war. Es war nur eine Frage der Zeit, bis mich die Bestien in Stücke reißen würden. Die Mistkerle, von denen sie abgerichtet worden waren, hatten sie in Killer verwandelt. Schon brachen drei weitere Hunde aus dem Dickicht hervor, bellten und winselten, hochgradig erregt und berauscht vom Blutgeruch.

Bei mir fielen die letzten menschlichen Wesenszüge. Ich fauchte und zischte wie eine in die Enge getriebene Raubkatze, bevor mir der Instinkt den einzig möglichen Fluchtweg zu nutzen befahl, der mir noch offen stand: nach oben. Ich drehte den Hunden für Sekundenbruchteile den Rücken zu, sprang mit dem gesunden Bein ab und bekam so eben den untersten Ast zu fassen. Ich zog mich gerade nach oben, als einer der Angreifer vorschoss und nach meinem Bein schnappte. Er verbiss sich in meiner Hose, doch bevor sich seine Artgenossen ihm anschließen konnten, trat ich ihm mit dem freien Fuß zielsicher auf die Nase. Aufjaulend fiel er auf den Boden zurück und ich nutzte die Gelegenheit, um mich nach oben zu ziehen.

Das Messer war mir bei der Kletterei entfallen und lag nun auf dem Boden, direkt neben dem Baumstamm. Zitternd klammerte ich mich an den dicken Ast und versuchte schließlich, mich weiter nach oben zu arbeiten. Vergeblich. Schmerzen und Erschöpfung machten es mir unmöglich, mich auf einen höheren Ast zu ziehen. Unter mir war die Meute auf ein gutes Dutzend Exemplare angewachsen, die um ihren toten Artgenossen herumliefen und mich dabei nicht aus den Augen ließen. Hin und wieder sprang einer von ihnen in die Höhe und ich hörte das Klicken seiner Kiefer, als er nach mir schnappte und mich nur knapp verfehlte. Aber ich war in Sicherheit - vorerst.

Wie lange klammerte ich mich am Ast fest? Zehn Minuten? Fünfzehn? Noch länger? In Armen und Beinen spürte ich die ersten Krämpfe und die Wunde blutete auch immer noch, schwächte mich weiter.

»Platz! Ruhig!«, hörte ich nach einer gefühlten Ewigkeit menschliche Stimmen rufen.

Wie durch dichten Nebel sah ich ein halbes Dutzend Männer aus dem Wald kommen. Die Hunde zogen sich etwas vom Baum zurück, behielten mich aber immer noch im Auge und winselten vor Erregung.

»Schaut euch nur an, was das Miststück getan hat!«, rief einer der Kerle empört aus, derweil er dem Hund, den ich getötet hatte, einen verächtlichen Tritt verpasste.

»Reg dich nicht künstlich auf, Jason«, sagte einer der Männer, während er umständlich ein Gewehr vom Rücken nahm. »Wenn wir die Belohnung haben, kauf ich dir einen neuen Köter.«

Der Angesprochene knurrte nur etwas Unverständliches, bevor er zum Baum hintrat und mich ergreifen wollte. Ich fauchte laut und biss ihm in die Hand, als sie in meine Reichweite kam.

»Verdammt! Elendes Dreckstück!«, rief er aus und hielt die Hand an seinen Körper gepresst. »Mach schon, Doug! Schieß sie endlich von dort runter!«

»Immer mit der Ruhe.«

Ich sah, wie der Mann das Gewehr auf mich anlegte, und noch einmal kehrte das Leben in mir zurück, als mein Gehirn die Gefahr registrierte. Ich griff nach einem Ast über mir, wollte mich trotz der Schwäche und des Blutverlustes hochziehen, als ich einen scharfen Schmerz im Rücken fühlte. Zischend versuchte ich die Stelle zu erreichen, doch nach wenigen Augenblicken wurden meine Glieder so schwer wie Blei. Die ganze Welt begann sich zu drehen und ich verlor den Halt. Hart schlug ich auf dem Boden auf und spürte, wie warmes Blut über mein Gesicht rann. Ich merkte kaum noch, wie mich schwielige Hände vom Boden hochrissen.

»Miss Cramer wird sich freuen«, hörte ich eine raue Stimme sagen, gefolgt von einem heiseren Lachen. Danach hörte und sah ich nichts mehr.

 

Kapitel 2

Bryson

Genüsslich setzte ich das Glas an die Lippen und trank durstig das kühle Bier. Den ganzen Tag hatte ich mich schon auf den Moment gefreut. Es war wieder einer der Arbeitstage gewesen, an denen ich es bereute, diese Laufbahn eingeschlagen zu haben. Aber die Anführerin meines Clans - wenn man sie so nennen wollte - hatte mich nun einmal für diese Arbeit bestimmt und an ihren Entscheidungen gab es nichts zu kritisieren. Was sie sagte, war für uns Gesetz. Sie hatte ja auch nicht unrecht. Als Cop war ich in der Lage, dem Rudel zu helfen und Gefahren bereits in der Entstehung zu erkennen. Wahrscheinlich könnte ich diese Aufgabe noch effektiver erledigen, wenn ich mich besser auf die menschlichen Gepflogenheiten verstehen würde. Aber ich fühlte mich nach Feierabend nicht zu ihnen hingezogen und hatte kein Interesse an den abendlichen Beschäftigungen, denen sie sich hingaben. Deswegen hatte ich bereits die Bezeichnung »Einsamer Wolf« verpasst bekommen. Sie ahnten gar nicht, wie sehr es einerseits zutraf und andererseits auch völlig verkehrt war. Ich war keineswegs darauf erpicht, meine Abende alleine zu verbringen, aber wenn ich Gesellschaft suchte, dann bestimmt nicht die von Kollegen.

Ich bestellte mir gerade ein zweites Glas, als ich einen der wenigen Menschen zur Tür hereinkommen sah, deren Gegenwart ich ertragen konnte. Stephen Tremper war nicht nur der Mediziner, der uns im Morddezernat mit seiner Expertise aushalf, er war auch einer aus der überschaubaren Anzahl von Menschen, die wussten, was ich war. Dadurch war er auch für das Rudel sehr wertvoll, denn Ärzte gab es in unserem Kreis keine, sodass wir ihn heranzogen, wenn sich jemand von uns schwerere Verletzungen zuzog.

Mit einer Handbewegung orderte er ein Bier, zog einen Barhocker heran und setzte sich neben mich.

»Wusste ich doch, dass ich dich hier finde«, sagte er.

»Das war jetzt aber auch nicht schwer herauszufinden. Schließlich komme ich jeden Tag hierher.«

»Sei mal nicht so knurrig und bell mich nicht direkt an.«

»Wölfe bellen nicht!«, ging ich auf seinen kleinen Insiderwitz ein. »Hast du schon eine Spur?«

Er nickte, während er sein Bier in Empfang nahm. »Ich fürchte nur, es wird dir nicht gefallen. Mein Kollege meint, er wäre spät abends zu einem Patienten gerufen worden, der dem Mann ähnelt, den du suchst.«

So etwas hatte ich schon befürchtet. »Da stecken wahrscheinlich unsere speziellen Freunde dahinter.«

»Vermutlich«, erwiderte Stephen und trank sein Glas halb aus. »Sie haben sich nicht mit Name und Ausweis vorgestellt.«

»Wer sollte es sonst sein?«

Es war eine rein rhetorische Frage und ich dachte an meine erste Begegnung mit dieser Gruppe zurück, damals, als ich noch jung und völlig ahnungslos gewesen war. Necamus somnia - wir töten die Chimären. Oder abgekürzt: NESOM. Es war ein Zusammenschluss von Männern und Frauen, die es sich zum Ziel gesetzt hatten, jeden von uns zu töten. Und das betraf nicht nur mein Rudel, denn es gab viele verschiedene Mischwesen, die so waren wie ich, nur eben in anderer Kombination. Zudem waren sich viele Gruppierungen von uns spinnefeind - als ob wir nicht schon genug Probleme hätten. Oft genug hatte ich die Unsinnigkeit dieser Zwistigkeiten angesprochen, aber mit Vernunft konnte man leider keine tiefgehenden Feindschaften bekämpfen.

Stephen legte ein Blatt Papier vor mich hin. »Ich habe dir mal seine Telefonnummer aufgeschrieben, falls du mit ihm sprechen willst. Er weiß nur, dass du Polizist bist und dich um vermisste Personen kümmerst.«

Ich bedankte mich und sprach noch ein paar Minuten mit ihm, bevor er austrank, seine Rechnung zahlte und die Bar verließ. Nachdenklich schob ich den Zettel in meine Jackentasche. Irgendwie brachte ich in die Geschichte keinen Sinn hinein. Wie der Name unserer Feinde schon sagte, wollten sie uns eigentlich töten. Warum riefen sie dann einen Arzt, um jemanden von uns behandeln zu lassen?

Ich trank noch zwei weitere Gläser und war im Begriff, aufzubrechen, als sich eine Frau neben mich setzte. Selbst ohne meinen besonders gut entwickelten Geruchssinn hätte ich bemerkt, dass sie ziemlich stark angetrunken war. Im nächsten Moment fuhr sie mir mit ihren langen Fingernägeln sanft über die Wange und blickte mich mit glasigen Augen an.

»Wo kommst du denn her, mein Großer?«

»Ohio«, erwiderte ich unbestimmt. »Wenn Sie mich nun entschuldigen würden ...«

»Wohin so eilig?«, fragte sie und versuchte dabei, möglichst viel Timbre in ihre Stimme zu legen, scheiterte damit aber kläglich. Sie packte mir an den Oberschenkel und ließ ihre Hand langsam nach oben wandern. »Wir könnten doch noch sehr viel Spaß miteinander haben.«

'Und ich würde mir höchstwahrscheinlich etwas einfangen', dachte ich nur und brachte ein verkniffenes Lächeln zustande. »Tut mir leid, Miss, aber ich habe eine Verabredung, die ich nicht verschieben kann!«

Ihre Gesichtszüge verzerrten sich und ich sah die Verwüstungen, die der Alkohol und das Leben bei ihr hinterlassen hatten. Warum nur taten sich Menschen ein solches Leben an? Ich wollte mich gerade ein weiteres Mal entschuldigen, als sich ein vierschrötiger, ungeschlachter Kerl zu uns heranschob. Breitbeinig pflanzte er sich vor mir auf und blickte mich herausfordernd an.

»Du bittest die Lady gefälligst um Verzeihung!«

Ich war nicht in der Stimmung, einen Streit vom Zaun zu brechen. »Tut mir wirklich leid, Miss!«, sagte ich daher und wollte zur Tür gehen.

Der Kerl packte mich am Arm und brachte mich dazu, ihm in die Augen zu blicken. Obwohl ich noch verhältnismäßig ruhig war, hatten sich meine Pupillen wohl schon verändert. Jedenfalls sah ich die Verwirrung auf seinem Gesicht und er löste den Griff um meinen Arm. »Das war keine Entschuldigung! Wir sprechen uns noch«, brabbelte er kaum verständlich, drehte sich um und zerrte die Frau hinter sich her.

Ich nutzte die Gelegenheit, wandte mich ab und verließ die Bar.

*****

Während der Zeit als Cop hatte ich viele Geschichten von Menschen gehört, die man nach einem Besuch in einer Bar aufgelauert und ausgeraubt hatte. Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, selbst mal in eine solche Situation zu geraten. Ich sah nicht wie das übliche Opfer aus, und wenn ich auf der Straße meinem Dienst nachging, überlegte es sich auch der übelste Schläger mehrmals, sich mit mir anzulegen. Doch nun, auf dem dunklen Parkplatz hinter der Bar, wirkte ich wohl nicht so einschüchternd. Jedenfalls lungerten auf dem schlecht ausgeleuchteten Platz zwei Gestalten herum, die kaum etwas Gutes im Schilde führten. Es war mir auch nicht entgangen, dass der Verteidiger der betrunkenen Frau kurz nach mir die Bar verlassen hatte und nun in meinem Rücken auftauchte. Er stieß einen Pfiff aus, der die beiden Kerle dazu veranlasste, sich mir zu nähern.

Etwas in mir drängte an die Oberfläche, freute sich auf die bevorstehende Auseinandersetzung, während ich den Schaden in Grenzen halten wollte. Ich hatte kein Interesse an dem Papierkram, der auf mich wartete, wenn ich die Kerle ins Krankenhaus beförderte.

»Ich sagte doch, dass wir uns noch sprechen werden!«, sagte der Typ aus der Bar und grinste dabei schmierig.

»Und was willst du von mir?«

Er rieb Mittelfinger und Daumen aneinander. »Dreimal darfst du raten. Ich habe gesehen, dass du ganz schön viel Papier in der Brieftasche mit dir rumschleppst. Von dem Ballast würde ich dich gerne befreien!«

Hinter mir hörte ich ein leises Schnappen, das typische Geräusch, wenn ein Messer aufgeklappt wird. In mir brodelte es immer stärker und ich wusste nicht, wie lange ich noch die Kontrolle behalten würde.

»Ihr solltet lieber verschwinden!«, stieß ich hervor, während ich auf einmal die ganze Umgebung viel deutlicher wahrnahm, so als ob meine Sinne um ein Vielfaches geschärft wurden. »Letzte Chance für euch!«

Es war eine Ahnung, vielleicht auch nur das Pfeifen in der Luft, was mich herumwirbeln und dem eisernen Feuerhaken ausweichen ließ, mit dem einer der Kerle auf meinen Kopf gezielt hatte. Er schrie überrascht auf, als er nur Luft traf. Im gleichen Moment riss ich ihm das Schlaggerät aus der Hand und wich dem Messer aus, mit dem der dritte Typ nach mir stach. In einer fließenden Bewegung holte ich mit dem Feuerhaken aus und schlug ihm damit mit voller Wucht ins Gesicht. Ein hässliches Knacken ertönte, als der Kiefer des Mannes brach und es klang wie reife Popcornkörner, als seine Zähne auf das Pflaster fielen. Dem ersten Angreifer, der das Gleichgewicht nach dem fehlgeschlagenen Versuch noch nicht wiedererlangt hatte, trat ich so heftig in die Seite, dass ich die Rippen brechen hören konnte. Nun stand nur noch der Kerl aus der Bar, aber der hatte genug gesehen und lief wie von allen Höllenhunden gehetzt die Gasse entlang. Schon wollte ich dem Mann nachlaufen, den Instinkten nachgeben und ihn hetzen, bis er halbtot vor mir lag, aber allmählich erlangte ich die Kontrolle über meine Handlungen zurück. Daher zog ich nur das Handy aus der Tasche und alarmierte die Kollegen und einen Rettungswagen.

*****

Die Formalitäten waren schnell erledigt, zumal die Typen bei den Cops bereits eine dicke Akte hatten und ich ein Arbeitskollege war. So verlor ich kaum mehr als eine halbe Stunde, bevor ich mich auf den Weg machen konnte. Unser Rudel hatte in den letzten Jahren einiges an Geld beschaffen können und wir waren somit in der Lage gewesen, ein geräumiges Wohnhaus am Rande der Stadt zu kaufen. Wahrscheinlich war es dabei nicht ganz legal zugegangen, aber trotz meines Jobs interessierte ich mich nicht für die Details. Wir benötigten einen Unterschlupf, einen Treffpunkt, wo wir ungestört sein konnten. Unangemeldet und unbemerkt drang hier niemand ein. Sollte es jemand versuchen, so würde er sein blaues Wunder erleben. Mit meinen Kameraden war nicht zu spaßen. Selbst die Angehörigen des NESOM würden sich hier die Zähne ausbeißen - zumindest war das meine Hoffnung. Keiner von uns wusste genau, wer hinter der Organisation steckte, doch es war an der Zeit, Gegenmaßnahmen zu ergreifen - besonders nach dem letzten Vorfall.

Ich nickte dem Pförtner zu, als ich das Gebäude betrat. Er wirkte reichlich verschlafen, aber falls sich das irgendein Einbrecher zunutze machen wollte, käme der lebensmüde Kerl nicht sehr weit. Ich stieg in den Fahrstuhl, drückte den Knopf für die obere Etage und fuhr in den achten Stock, wo Luna residierte. Vor der Eingangstür zum geräumigen Penthouse standen zwei meiner Kameraden Wache. Sollte jemand am Pförtner vorbeikommen - hier wäre spätestens für ihn Endstation. Mir schenkten sie aber nur ein kurzes Kopfnicken, bevor einer von ihnen die Tür für mich öffnete. Luna wusste, dass ich sie besuchen wollte.

Das Penthouse war außerordentlich geräumig und ein Inneneinrichter mit Geschmack und großem Budget hätte hier Wunder gewirkt. Da sich aber niemand von uns viel aus Luxus machte, war die Wohnung eher zweckmäßig eingerichtet. Luna stand am Fenster und blickte auf die Dachterrasse. In der Stadt würde sie jetzt auf die Fassaden von Wolkenkratzern blicken, aber hier am Stadtrand war dieses Haus das höchste in der näheren Umgebung. Das war mit ein Grund, warum wir uns entschieden hatten, es zu kaufen.

»Du kommst spät, Bryson«, sagte sie und drehte sich zu mir um. Ihre Gestalt konnte ihr hohes Alter nicht verbergen, aber in den Augen lag immer noch die kühle Härte, die ihr ganzes Wesen widerspiegelte. Sie war die Anführerin des Rudels und keiner von uns wäre je auf die Idee gekommen, es infrage zu stellen.

»Tut mir leid, Luna. Ich hatte noch eine kleinere Diskussion auf dem Parkplatz und musste ...«

Sie winkte nur ab und gab mir damit zu verstehen, dass es nicht so wichtig sei. »Wie weit bist du mit den Nachforschungen? Gibt es eine Spur von Gaiden?«

Sie sprach über unseren Kameraden, der vermutlich entführt worden war und dessen einzige Spur ein Zettel war, den mir Stephen vorhin in der Bar gegeben hatte. Ich zeigte ihn Luna und teilte ihr auch meine Befürchtungen mit.

Sie wiegte bekümmert den Kopf hin und her. »Es war mir klar, dass so etwas passieren musste. Warum hat er nicht auf mich gehört? Sein Platz ist bei uns, im Rudel, nicht in einer anderen Stadt!«

Sie hatte mehr zu sich selbst als zu mir gesprochen, daher blieb ich nur respektvoll im Raum stehen und schwieg. Schließlich sah sie mich an.

»Wie willst du weiter vorgehen?«

Es wunderte mich, dass sie meinen Rat hören wollte. Normalerweise entschied sie ganz allein über unsere Vorgehensweise.

»Ich werde einen meiner Vorgesetzten um Erlaubnis bitten, die dortige Dienststelle zu kontaktieren, um Näheres herauszufinden. Außerdem spreche ich mit Stephens Kollegen.«

Luna verzog ihr Gesicht. »Menschen!«, stieß sie hervor, als ob sie eine Beleidigung aussprechen würde. »Von denen haben wir kaum etwas Gutes zu erwarten.«

»Wir leben mitten unter ihnen«, erwiderte ich vorsichtig. »Es spricht nichts dagegen, sich deren Hilfe zu bedienen.«

»Ich weiß ... aber damals war noch eine andere Zeit, als wir ...«

Ihre Stimme brach ab und sie blickte versonnen an mir vorbei, als ob sie gar nicht mehr im Raum wäre.

»Kümmer dich weiter darum«, sagte sie schließlich. »Ich möchte wissen, ob Gaiden etwas zugestoßen ist. Sollten diese menschlichen Jäger dahinterstecken, werden sie dafür bezahlen! Bitter bezahlen!«

Mit einer herrischen Handbewegung bedeutete sie mir, dass ich mich entfernen durfte. Ich verließ das Penthouse mit gemischten Gefühlen. Luna war die unbestrittene Anführerin des Rudels, aber sie verstand die Welt um sich herum nicht mehr. Sie lebte noch in der Vergangenheit, als wir die Herren der weiten Steppen und für die Ureinwohner die Geister der Savannen waren. Unsere Lebensspanne betrug mehr als fünfhundert Jahre und Luna war mit Abstand die Älteste von uns. Zu alt, um zu begreifen, dass wir uns nicht mit den Menschen anlegen, sondern lieber unter dem Radar bleiben sollten.

Nachdenklich betrachtete ich Stephens Notiz, während ich mit dem Aufzug ins Erdgeschoss fuhr. Ich würde mich heute noch mit dem Mann in Verbindung setzen. Vermutlich musste ich mich selbst dorthin begeben, um nach Gaiden zu suchen.

 

Kapitel 3

Chloe

In meinem Kopf hämmerte es und die Zunge klebte mir am Gaumen. Geronnenes Blut verklebte mir die Augenlider, und als ich die Hände benutzen wollte, um sie zu säubern, merkte ich, dass man mich an irgendeinen Gegenstand angebunden hatte. Mit einem ärgerlichen Zischen trat ich sinnloserweise mit den Beinen um mich, so weit es die Fesseln zuließen.

»Bleib gefälligst liegen, du Miststück!«, hörte ich die raue Stimme eines Mannes sagen.

Also war ich nicht alleine im Raum. Das eröffnete mir ganz neue Möglichkeiten und ich war gewillt, diese Chance zu nutzen.

»Könntest du mir bitte die Augen säubern, damit ich sie öffnen kann?«, fragte ich und legte all den sanften Schmelz in die Stimme, von dem ich wusste, dass er auf Männer anziehend wirkte.

»Und warum sollte ich das tun?«

»Weil ich gerne den Mann sehen würde, der so unglaublich gut riecht!« Ich sog die Luft in meine Nase und bäumte mich etwas auf, als ob mich der Geruch um den Verstand bringen würde.

»Willst du mich veralbern?«

»Du weißt doch, dass jemand wie ich weitaus bessere Geruchssinne hat als ein Mensch ... und außerdem ist es diese besondere Zeit im Jahr ... du verstehst ... bitte!«

Ich bewegte mich weiter wie in Ekstase und gab Geräusche von mir, als wäre ich eine rollige Katze. Gleichzeitig spitzte ich die Ohren und hoffte, dass meine schauspielerische Leistung einen durchschlagenden Erfolg auf ihn haben würde. Ich musste nicht lange warten und hörte zufrieden mit an, wie ein Stuhl zurückgeschoben und eine Wasserflasche geöffnet wurde. Schritte näherten sich meinem Lager und nun roch ich die Ausdünstungen des Kerls nur zu deutlich. Sie sagten mir, dass die Vorstellung ihren Zweck erfüllt hatte. Sein Blut war wohl bereits aus dem Gehirn in den Unterleib geflossen.

Grob rieb er mir mit einem feuchten Tuch über die Augenlider, und auch wenn ich mir eine sanftere Behandlung gewünscht hätte, so war es doch wirkungsvoll. Ich konnte nun die Augen öffnen und sah über mir das unrasierte Gesicht eines Mannes, der seinen Blick ungeniert über meinen Körper wandern ließ. Ich zog alle Register, um seine Erregung weiter anzuheizen, leckte mir über die Lippen und sah ihn an, als ob er Apollo und Adonis in einer Person wäre.

»Danke!«, flüsterte ich. »Was hältst du davon, wenn ich mich für die Hilfe erkenntlich zeige?« Ich spreizte meine Beine und hob den Hintern etwas an. »Wenn du jemanden wie mich gehabt hast, wirst du es niemals im ganzen Leben vergessen!«

Die erste Stufe des Plans hatte schon funktioniert, denn der Kerl vergaß alles um sich herum. Er löste die Fesseln um meine Knöchel, öffnete gierig den Gürtel meiner Hose und zog sie hastig nach unten.

»Ja ... beeil dich ... zieh sie mir aus!«, heizte ich ihn weiter an und wand mich auf dem Bett, als könnte ich es kaum erwarten, seinen schwitzenden Körper auf meinem zu spüren.

Ohne lange nachzudenken befolgte er die Bitte und warf die Hose achtlos vom Bett herunter. Er legte sich mit dem vollen Körpergewicht auf mich drauf, zwischen meine gespreizten Beine - genau dorthin, wo ich ihn haben wollte. Damit saß er in der Falle, und als er gerade begann, an dem Gürtel seiner Hose herumzunesteln, schnappte die Falle zu. Ich schlang ihm die Beine um die Hüfte und drückte zu. Zuerst blickte er mich nur überrascht an, doch als die erste Rippe knackste, wimmerte er vor Schmerzen. Ich zerrte an den Handschellen, mit denen ich am Bett gefesselt war, um seine Aufmerksamkeit darauf zu lenken.

»Du wirst mich jetzt losbinden, hast du verstanden?«

Er versuchte immer noch, sich aus der Umklammerung zu befreien, also verstärkte ich den Druck noch etwas und hörte eine zweite Rippe brechen.

»Wenn du mich nicht schleunigst befreist, werde ich dir deine sämtlichen Knochen entzweibrechen, sodass sie sich in deine Lunge bohren und du hier krepierst.«

Immerhin schien er nun zu begreifen, dass es mir ernst war. Trotz der Qualen, die er bestimmt verspürte, gelang es ihm, die Schlüssel für die Handschellen zu benutzen. Erleichtert zog ich die Hände aus den Fesseln, lächelte den Mann über mir freundlich an und schlug ihm mit voller Wucht eine Faust an das Kinn. Ich stieß den halb bewusstlosen Kerl von mir herunter, legte ihm einen Arm um den Hals und presste so die Luftzufuhr zum Gehirn ab. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis er sich nicht mehr rührte.

Hastig schlüpfte ich in die Hose und lauschte gleichzeitig ins Haus hinein. Waren noch mehr von diesen Kerlen anwesend? Es war eigentlich anzunehmen, denn bei der Hetzjagd im Wald waren es mindestens sechs Typen gewesen - von den Hunden mal abgesehen.

Ich eilte zum Fenster und warf einen vorsichtigen Blick hinaus. Das Zimmer lag im ersten Stock und ich erkannte in kaum dreihundert Yards Entfernung eine schmale Straße, die sich am Grundstück vorbeischlängelte. Weiter links führte eine Brücke über einen breiten Fluss und selbst von meinem Standort aus sah ich, wie wild das Gewässer war. Offensichtlich hatte man mich nicht in eine Großstadt verschleppt. Leider sah ich keinerlei Fahrzeuge im Innenhof parken, die ich mir hätte ausleihen können.

Ein leises Stöhnen vom Bett her rief mir den Ernst der Situation ins Bewusstsein zurück. Ich musste hier schleunigst verschwinden. Der Weg durch das Haus schien mir gefährlicher zu sein als ein Sprung aus dem ersten Stock. Mit etwas Glück würde es niemand mitbekommen.

Also öffnete ich so leise wie möglich das Fenster und spähte hinaus. Auch jetzt konnte ich keine Menschenseele sehen.

Ein Klopfen an der Tür ließ mich herumfahren. »Ist alles in Ordnung da drin? Jason? Alles klar?«

Ich konnte nicht mehr warten und sprang über das Fensterbrett hinweg ins Freie, während beinahe gleichzeitig in meinem Rücken die Zimmertür aufschwang. Federnd kam ich im Hof auf, als auch schon ein warnender Ruf aus dem ersten Stock alle im Haus alarmierte. Ich drehte mich nicht um und verlor keine Zeit mehr, sondern rannte, so schnell ich konnte, in Richtung der Straße. Dank meines ausgezeichneten Gehörs vernahm ich die Flüche hinter mir und hörte den ersten Schuss krachen. Es versetzte mir einen Schock, denn anscheinend wollte man mich nicht unter allen Umständen lebend einfangen. Ich hatte gerade die Landstraße erreicht, als ich Motoren aufheulen hörte. Meine Chancen waren damit rapide gesunken. Ich konnte kaum darauf hoffen, sie zu Fuß abzuhängen. Die Flucht über die Brücke war sinnlos geworden, dort hätten mich die Kerle im Nu eingeholt. Wie all meine Artgenossen war ich kein Freund von Wasser, schon gar nicht von einem so reißenden Strom, wie er sich vor mir erstreckte. Aber ich hatte keine andere Wahl mehr. Ich eilte die Böschung hinunter und wollte gerade in den Fluss springen, als erneut ein Schuss krachte und ich wie von einer unsichtbaren Keule getroffen nach vorne gestoßen wurde.

Meine ganze Seite war wie gelähmt und ein unheimlicher Schmerz zog sich von der rechten Schulter abwärts durch den gesamten Körper. Ich wurde unter die Wasseroberfläche gezogen, das brackige Flusswasser drang mir in die Lungen und löste einen krampfartigen Hustenreflex aus. Irgendwie gelang es mir, mich zurück an die Oberfläche zu kämpfen. Die Geschwindigkeit des Wassers war unheimlich hoch und die Strömung riss mich unbarmherzig mit sich fort. Ich sah noch vier Gestalten in großer Entfernung am Ufer stehen, als ich auch schon um eine Biegung gezogen wurde. Mir war eiskalt und allmählich schwanden mir die Sinne. Ich kämpfte dagegen an, denn mir war klar, dass ich sterben würde, wenn ich dieser Schwäche nachgab.

Stromschnellen! Die hatten mir gerade noch gefehlt. Wie eine Puppe wurde mein Körper hin- und hergeschleudert und prallte gegen aus dem Wasser ragende Felsen. Äste peitschten mir ins Gesicht, wenn ich in die Nähe des Ufers getrieben wurde, und rissen meine Haut auf. Immer weiter ging die Reise und ich hätte nicht sagen können, wie lange mich die Strömung im Griff hielt. Erst allmählich ließ das Brausen nach und mein zerschundener Leib prallte ein letztes Mal auf einen blank gewaschenen Felsen, der nun die Endstation der wilden Fahrt markierte. Es war der letzte Rest Überlebenswille, der noch in mir steckte und der bewirkte, dass ich mich mit dem halbwegs einsatzfähigem linken Arm ein Stück die Böschung hochzog. Dort brach ich zu Tode erschöpft zusammen.

*****

Mein gequälter Körper rief mir zu, dass er Ruhe brauchte und nicht mehr in der Lage wäre, sich auch nur einen Meter weit zu bewegen. Dagegen forderte mich das Unterbewusstsein auf, den faulen Arsch hochzubekommen und die Flucht fortzusetzen. Also stemmte ich mich mühsam in die Höhe und kletterte die Böschung hinauf. Bunte Punkte tanzten mir vor den Augen und mehr als einmal stöhnte ich auf, als ich den rechten Arm bewegte. Die Kugel, die mir die Schweinehunde verpasst hatten, war wohl am Knochen entlanggeschrammt.

Ich verdrängte die Frage, wie ich in dem Zustand eigentlich irgendwohin gehen wollte. Außerdem hatte ich keine Ahnung, wohin ich mich wenden sollte. Für einen Moment sah ich die gemütliche Blockhütte vor mir, die von mir so sorgfältig eingerichtet worden war und wo ich ursprünglich hatte überwintern wollen. Aber ich schob den Gedanken beiseite. Wenn die Kerle auf der Suche nach mir waren - und davon musste ich ausgehen - dann würden sie dort zuerst nachsehen.

Endlich hatte ich den Straßenrand erreicht, warf noch einen Blick zum Fluss hinunter und wunderte mich, dass ich es in meinem Zustand bis hierhin geschafft hatte. Ich durfte mich aber nicht allzu lange an der Straße aufhalten, doch viel weiter würde ich nicht mehr gehen können. Irgendwo verstecken? Ohne ein Dach über dem Kopf würde ich die kalte Nacht kaum überstehen. Schon jetzt machte sich das Fieber bemerkbar und in der Schusswunde pochte und hämmerte es. Nein, hier in dem Waldstück durfte ich nicht bleiben. Außerdem würden mich die Hunde aufspüren, falls sie hier nach mir suchten.

Als Anhalter mitfahren? Kam auch kaum in Betracht. Selbst wenn mich jemand trotz meines wenig vertrauenserweckenden Aussehens mitnehmen würde, konnte ich ihm kaum vertrauen. Zu schlechte Erfahrungen hatte ich in dieser Hinsicht gemacht. Von Menschen sollte ich mich fernhalten. Zudem war während der ganzen Zeit kein einziges Auto vorbeigefahren. Wahrscheinlich könnte ich lange auf eine Mitfahrgelegenheit warten.

Ein Fieberschauer schüttelte mich und ich wischte mir den kalten Schweiß von der Stirn. In einiger Entfernung sah ich einen Rastplatz - zumindest glaubte ich einen solchen zu erkennen. Die Sehkraft schien durch das Fieber, was in meinem Körper tobte, zu leiden. Ich biss die Zähne zusammen und schleppte mich in Richtung der Lastwagen, die dort parkten. Ich nutzte auf dem Weg die Deckung durch das Dickicht am Straßenrand aus, falls mich die Feinde suchen sollten. Doch zu viel Zeit durfte ich auch nicht verlieren, sodass ich einen Kompromiss zwischen Sicherheit und Schnelligkeit eingehen musste.

Der Weg zum Parkplatz hatte meine restliche Kraft komplett aufgebraucht und mein Verstand arbeitete nur noch auf Sparflamme. Die verletzte Schulter schmerzte höllisch und blutete immer noch. Ich achtete nicht auf die Nummernschilder der Lastwagen, sondern kroch unter die Plane des erstbesten Fahrzeugs und schleppte mich in eine Ecke, wo ich vor neugierigen Blicken geschützt sein würde. Dort wollte ich mich um die Wunde kümmern, sie mit irgendwas verbinden, aber ich kam nicht mehr dazu. Ich spürte nur noch die aufsteigende Übelkeit, bevor die Welt um mich herum dunkel wurde.

 

Kapitel 4

Bryson

Ich hatte die halbe Nacht wachgelegen und überlegt, ob ich nicht einfach der Spur folgen und auf die Suche nach Gaiden gehen soll. Aber das hätte unter Umständen meine Suspendierung zur Folge haben können und das wollte ich nicht riskieren. Also war ich den vorschriftsmäßigen Weg gegangen und hatte am Morgen beim Leutnant einen Urlaubsantrag eingereicht. Ab übermorgen hatte ich nun eine Woche Zeit, Gaiden aufzuspüren, oder wenigstens dem Geheimnis seines Verschwindens auf den Grund zu gehen.

Stephens Anruf kurz vor der Mittagspause und sein dringender Wunsch, mich in der Pathologie zu sehen, überraschte mich. Ich bearbeitete derzeit keinen Fall - zumindest keinen, der eine frische Leiche beinhaltete. Dennoch folgte ich der Aufforderung und beeilte mich, um es so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. Die medizinische Abteilung war kein Ort, an dem ich mich gerne aufhielt.

Ich hatte kaum die Tür zur Pathologie geöffnet, als mir auch schon klar wurde, warum Stephen mich so dringend zu sich gebeten hatte. Die Frau, die vor ihm auf dem Tisch lag, war nur rein äußerlich ein Mensch. Sie war zwar auch nicht von meiner Art, aber mir war trotzdem klar, um was es sich dabei handelte.

»Ich wette, du hast ein paar Dinge in ihr gefunden, die in einem menschlichen Körper eigentlich nicht vorhanden sind«, sagte ich anstelle einer Begrüßung.

»Bist du Hellseher?«, fragte Stephen und reichte mir den Obduktionsbericht.

Während ich das Papier studierte, glitt mein Blick immer wieder über das tote Wesen.

»Was hältst du davon?«, fragte er mich schließlich. »Ist dir so jemand schon mal begegnet?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, zumindest habe ich es nicht bemerkt. Allerdings haben unsere verschiedenen ... Arten auch keinen engen Kontakt zueinander.« Ich gab ihm das Papier zurück. »Sie ist also halb Mensch, halb Vogel. Den Bericht kannst du unmöglich abgeben!«

»Hatte ich auch nicht vor.« Er deutete auf einen zweiten Ausdruck. »Dies wird der offizielle Obduktionsbericht. Niemand wird eine tiefergehende Untersuchung fordern. Es war ja nur eine arme, obdachlose Unbekannte, die keiner vermisst.«

»Und warum wolltest du mich sehen?«

»Weil es mir sonderbar erscheint, dass eine Chimäre aus Mensch und Vogel das unbändige Verlangen verspürt, mitten in der Nacht aus dem sechsten Stockwerk zu springen. Zudem habe ich etwas in ihrem Körper gefunden, was da ebenfalls nicht hingehört.« Stephen zeigte mir eine kleine Kapsel.

»Und was bedeutet das? Wurde sie angeschossen?«

»Nein. Ich würde eher sagen, dass man ihr dieses winzige Spielzeug implantiert hat. Ich vermute, es war irgendeine Substanz drin enthalten, die über einen gewissen Zeitraum hinweg in ihr Blut gelangt ist.«

Ich strich mir durch die Haare. »Worauf willst du eigentlich hinaus?«

»Meine Schlussfolgerung ist, dass es eine Organisation gibt, die mit Wesen wie euch herumexperimentiert. Dafür spricht auch das Verschwinden deines Freundes.«

»Die Annahme scheint mir ziemlich weit hergeholt zu sein.«

Er zuckte mit den Schultern. »Möglich. Du hast mir doch von der Gruppe erzählt, die hinter euch her ist. Vielleicht wollen sie euch nicht mehr einfach nur töten, sondern ... irgendwie benutzen.«

*****

Ich fand seine Theorie absurd, dennoch ging sie mir den ganzen restlichen Tag nicht mehr aus dem Kopf. Daher war ich froh, als ich mich am frühen Nachmittag bei meinem Vorgesetzten abmelden und mich auf die Fahrt zu Stephens Kollegen Dr. Horten machen konnte. Die Autofahrt dauerte kaum mehr als eine Stunde und die Praxis des Arztes war noch geöffnet. Ich meldete mich bei der Sprechstundenhilfe an, setzte mich ins Wartezimmer und vertrieb mir die Zeit, indem ich sämtliche Illustrierten durchlas. Nach zwei langweiligen Stunden war endlich auch der letzte Patient aus der Praxis verschwunden und ich saß Horten gegenüber. Das Gespräch mit dem Mann war nicht sonderlich ergiebig. Wahrscheinlich lag es an seiner Angst vor den Typen, die ihn an das Bett des Verletzten gerufen hatten. Falls es sich dabei tatsächlich um Gaiden gehandelt hatte und die Männer zu NESOM gehörten, war die Furcht auch berechtigt. Zumindest gab er mir - wenn auch zögerlich - die Adresse heraus, zu der man ihn bestellt hatte. Die recht säuerliche Laune, mit der er mich verabschiedete, deutete darauf hin, dass er Stephen wohl nicht mehr anrufen würde, wenn er mit jemandem über merkwürdige Dinge reden wollte.

Das Haus, zu dem mich Horten geschickt hatte, war ein unscheinbarer Backsteinbau aus den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Es lag in keiner besonders guten Gegend der Stadt und ich konnte mir lebhaft vorstellen, wieso sich der Arzt hier in der Nacht nicht gerade wohlgefühlt hatte. Am Klingelschild, die zu der Wohnung im zweiten Stock gehörte, war kein Name angebracht - aber das hatte ich auch nicht erwartet. Unschlüssig sah ich mich um, bevor ich auf irgendeine Türklingel drückte. Nur wenige Augenblicke später ertönte ein Summen und ich konnte den Hausflur betreten. Unwillkürlich musste ich an die Belehrung denken, die ich einem Mieter vor nicht allzu langer Zeit hatte zuteilwerden lassen: Öffnen sie niemandem die Haustür, wenn sie nicht wissen, wer eigentlich ins Haus will. In dem Fall kam es mir zugute, dass sich der betreffende Wohnungsbesitzer nicht daran hielt.

Ich wartete ab, ob sich mein freundlicher Türöffner noch zeigen würde, bevor ich die Treppen nach oben stieg. Im Hausflur des zweiten Stocks schloss ich die Augen und konzentrierte mich, nutzte dabei vor allem den Geruchssinn, der mir schon so oft eine große Hilfe gewesen war. Auch diesmal ließ er mich nicht im Stich und führte mich zielsicher zu einer der Wohnungstüren. Um Sicherzugehen drückte ich auf die Türklingel und klopfte noch gegen das Holz, als sich nichts tat. Anscheinend hatte ich damit aber eine neugierige Nachbarin aufgescheucht, denn schräg hinter mir öffnete sich eine Tür und eine Frau um die vierzig schaute heraus.

»Da werden Sie kein Glück haben, Mister«, sagte sie. »Die Wohnung steht leer. Falls Sie sie mieten wollen, sollten Sie sich an die Hausverwaltung wenden.«

Ich lächelte freundlich und bedankte mich für die Auskunft. »Man hat mir aber gesagt, dass zumindest in den letzten Tagen mehrere Personen hier gewohnt haben.«

Ihr Blick wurde um einige Grade misstrauischer. »Wer sind Sie eigentlich? Woher wollen Sie das überhaupt wissen?«

Ich zeigte ihr meinen Dienstausweis, doch wenn ich gehofft hatte, ihre Auskunftsfreude zu vergrößern, so wurde ich schnell eines Besseren belehrt.

»Sie sind nicht von hier!«, sagte sie, nachdem sie den Ausweis studiert hatte. »Ich weiß nichts und ich habe auch keine Ahnung, ob was passiert ist. Tut mir leid.«

Sie wollte die Tür ins Schloss werfen, doch es gelang mir nach alter Vertretersitte einen Fuß in den Türspalt zu stellen.

»Was soll das?«, fragte sie verunsichert. »Ich habe nichts getan!«

»Das weiß ich und Sie stecken auch nicht in Schwierigkeiten - vorerst.

---ENDE DER LESEPROBE---