Christmas, Love and other Disasters - Anja Tatlisu - E-Book

Christmas, Love and other Disasters E-Book

Anja Tatlisu

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Beschreibung

Big Love im Big Apple Elle kann ihr Pech kaum fassen: Trotz tadelloser Planung verspätet sie sich im verschneiten New York zum Vorstellungsgespräch. Damit kann sie ihren Traumjob bei einer Top-Eventagentur vergessen. Doch ausgerechnet Keane, Elles geplatztes Abschlussball-Date, ist mittlerweile CEO der Agentur. Er unterbreitet ihr ein Angebot: Sie hat einen Monat Zeit, um als Eventplanerin die Christmas-Party für einen besonderen Kunden zu organisieren. Wenn ihr das gelingt, bekommt sie die Leitung einer Abteilung in Keanes Agentur. Was Elle nicht ahnt: Bei dem Kunden handelt es sich um niemand anderen als den smarten CEO selbst. Was steckt hinter seinem Auftrag? Und weshalb bringt nicht nur die heiße Schokolade während der Partyvorbereitungen, sondern auch seine Nähe Elles Herz zum Schmelzen? Christmas, Love and other Disasters: Eine Christmas Romance mit cozy vibes - Weihnachten in New York: Knisternde RomCom über eine Eventplanerin und ihren smarten Auftraggeber im verschneiten New York. - Spice, Spannung und Schneegestöber: Die aufstrebende Eventplanerin Elle soll für den erfolgreichen CEO Keane Waters eine spektakuläre Weihnachtsparty organisieren. - Herzklopfen pur: Bei der Zusammenarbeit zwischen Elle und Keane fliegen nicht nur die Fetzen, sondern auch die Funken. - Voll im Trend: Ein New Adult-Buch mit den beliebten Tropes "Haters to Lovers", "Second Chance" und "Stuck together". - Für Fans von Lena Kiefer und Lilly Lucas: Die spicy Romance im atemberaubenden New York-Setting lässt die Herzen von New Adult-Leser*innen wie heiße Schokolade dahinschmelzen.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch

BIG LOVE IM BIG APPLE

 

Trotz tadelloser Planung verspätet sich Elle im verschneiten New York zum Vorstellungsgespräch und der Job ist weg. Deshalb kann sie ihr Glück kaum fassen, als ihr ausgerechnet der smarte CEO Keane Waters ein ungewöhnliches Angebot unterbreitet. Sie hat einen Monat Zeit, die Christmas-Party für einen besonderen Testkunden zu organisieren. Erledigt sie alles zu seiner Zufriedenheit, bekommt sie die Leitung einer neuen Abteilung. Elle ahnt nicht, dass sie und Keane sich dabei viel näherkommen, als es auf ihrer Checkliste steht. Zwischen Mistelzweigen, heißer Schokolade und bittersüßen Erinnerungen, läuft sie Gefahr, zum zweiten Mal ihr Herz an ihr geplatztes Abschlussball-Date zu verlieren, obwohl sie sich fragt, was wirklich hinter seinem verlockenden Angebot steckt.

Anja Tatlisu

Christmas, Love and other Disasters

Playlist

Let it Snow – Dean Martin

Sleigh Ride – The Ronettes

Wonderful Dream (Holidays Are Coming) – Melanie Thornton

Something Stupid – Robbie Williams/Nicole Kidman

Where Are You Christmas? – Faith Hill

Blue Christmas – Elvis Presley

Santa Baby – Eartha Kitt

Mrs Santa Claus – Nat King Cole

Jingle Bells – Frank Sinatra

Santa, Can’t You Hear Me – Ariana Grande/Kelly Clarkson

Rudolph, The Red-Nosed Reindeer – Dean Martin

Hallelujah – Pentatonix

Don’t Feel Like Christmas – Tyler Hilton

Jingle Bell Rock – Bobby Helms

Santa Tell Me – Ariana Grande

Please Santa Please – Pentatonix

My Only Wish (This Year) – Britney Spears

Mistletoe – Justin Bieber

Naughty List – Liam Payne/Dixie D’Amelio

Santa Claus Is Coming to Town – Michael Bublé

Rockin’ Around The Christmas Tree – Brenda Lee

Come out and play – Billie Eilish

It’s the Most Wonderful Time of the Year – Andy Williams

Last Christmas – Wham!

It’s Beginning to Look a Lot Like Christmas – Michael Bublé

Winter Wonderland – Bing Crosby

White Christmas – Frank Sinatra

Have Yourself a Merry Little Christmas – Lauren Daigle

All I Want for Christmas Is You – Mariah Carey

Für alle,

die Weihnachten,

Schneeflocken,

heißen Kakao

und Bücher lieben.

Let It Snow, Let It Snow, Let It Snow Oder: Murphys Gesetz – Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen

»Jingle Bells ring – der Countdown läuft. An alle Überlebenden des Black Friday Weekend da draußen: Nur noch dreißig Tage bis Weihnachten, dem Fest der Liebe, an dem bekanntlich immer wieder kleine und große Wunder geschehen«, drang die Stimme des Moderators blechern aus dem Radiowecker an mein Ohr. Parallel dazu startete der Alarm meines Smartphones – nicht schön, dafür effektiv.

Gähnend schaltete ich den nervigen Signalton aus und lauschte den deutlich angenehmeren Tönen des oldschool Geräts, das mich bereits seit meiner Kindheit relativ sanft aus dem Schlaf holte.

Normalerweise hätte ich auf die Schlummertaste gedrückt und wäre noch mindestens zehn Minuten liegen geblieben. Aber nicht heute. Ob ich überhaupt richtig geschlafen hatte, war mir nicht ganz klar. Irgendwie ja und nein. Unglaublich, was ein wichtiger Vorstellungstermin alles auslösen konnte.

Während ich aus meinem Boxspringbett kletterte, forderte der Moderator die Frühaufsteher unter seinen Zuhörern auf, beim Sender anzurufen, wenn sie zu den Glücklichen zählten, die bereits ein Weihnachtswunder erlebt hätten. Danach spielte er die instrumentale Version von Sleigh Ride ab.

Auf dem kurzen Weg zur Küchenzeile durch den recht überschaubaren Raum meines Einzimmerapartments knipste ich das Licht an und schaltete die am Vorabend bereits von mir befüllte Kaffeemaschine ein. Anschließend widmete ich mich ausgiebig meiner Morgenhygiene, obwohl ich mangels Schlafbereitschaft meines Körpers schon nachts um zwei heiß geduscht hatte.

In frischer Unterwäsche unter meinem flauschig-weichen Plüschbademantel schlappte ich über die hellen Holzdielen durch mein Wohn-Schlaf-Arbeits-Koch-Zimmer zur schlichten Küchenzeile mit den kunterbunten Türgriffen und -knöpfen. Ich schenkte mir eine Tasse frisch aufgebrühten Kaffee ein und lehnte mich an die Arbeitsplatte.

Derweil meldeten sich die ersten Radiohörer beim Sender WANR. Begleitet von begeisterten Zwischenfragen des Moderators gaben sie ihre persönlichen Weihnachtswunder zum Besten. Alison aus Trenton, New Jersey machte den Anfang. Überemotional berichtete sie davon, wie sie an Weihnachten vor fünf Jahren auf dem Weg zu ihrer Familie von der Straße abgekommen und mit ihrem Wagen in einem Flussbett gelandet war. Dort hatte sie geschlagene zwei Stunden festgehangen, da sich ihr Sicherheitsgurt verkantet hatte und sie mangels Mobilfunkempfang nicht in der Lage gewesen war, Hilfe herbeizurufen. Dann aber – oh, Weihnachtswunder – ausgerechnet von ihrer ersten großen Liebe entdeckt und gerettet worden war.

»Na klar, Alison«, murmelte ich vor mich hin, während ich augenrollend an meinem Kaffee nippte. »Mittlerweile seid ihr wahrscheinlich sogar glücklich verheiratet und lebt mit zwei entzückenden Kindern in einem idyllischen Vorort, der durch seine baugleichen Häuser und identisch gestalteten Gärten besticht …«

Mit dem idyllischen Vorort lag ich falsch. Mit allem anderen nicht. Das kitschtriefende Gerede von der einzig wahren, wundersamen und vor allem schicksalhaften Liebe am frühen Morgen war definitiv zu viel für mich. Alison musste eine überaus blühende Fantasie haben. Womöglich war sie sogar Liebesroman- oder Drehbuchautorin. Ich war es nicht und zählte eindeutig zu den entromantisierten Realistikerinnen.

Seufzend nahm ich einen weiteren Schluck aus der Tasse. Dabei schweifte mein Blick rüber zum Kleiderschrank, an dem ein komplettes Business-Outfit hing. Der neue hellgraue Hosenanzug mit der cremefarbenen Bluse und den farblich dazu passenden hohen Schuhen hatte mich trotz des Sonderangebots ein kleines Vermögen gekostet. Für den New Yorker-Durchschnittbürger wäre es sicherlich ein Megaschnäppchen gewesen. Meinen eher bescheidenen finanziellen Möglichkeiten hingegen hatte die Investition richtig, richtig wehgetan. Und das war nur einer von vielen Gründen, warum ich dringend einen vernünftig bezahlten Job brauchte.

Ich hoffte inständig, der Winter möge sich auch an diesem Tag weiterhin von seiner zwar klirrend kalten, jedoch trockenen Seite zeigen, damit ich die eigens für mein Vorstellungsgespräch gekauften Sachen tragen konnte, um den bestmöglichen Eindruck zu hinterlassen. Nach 92 Bewerbungen, 14 Direktabsagen, 78 Online-Erstgesprächen mit diversen Human-Resources-Abteilungen, nochmaligen 53 Absagen, 25 Zweitgesprächen sowie den darauffolgenden weiteren 24 Absagen mangels Berufserfahrung musste ich unbedingt diese bisher einzige reelle Chance auf eine Stelle als Assistentin der Geschäftsleitung nutzen und die Personalabteilung der Waters Corporation restlos von mir überzeugen. Denn gerade gab es keinen Plan B. Dafür aber Aufstiegsmöglichkeiten, die mich über Umwege vielleicht zu meinem eigentlichen Traumjob führten. Womöglich sogar direkt ins Event-Management.

Das Display des Radioweckers sprang auf 7:15 Uhr. Ich atmete tief durch, trank den restlichen Kaffee aus und stellte meine Tasse in die Spüle. Wenn mein Zeitplan entspannt aufgehen sollte, damit ich idealerweise schon eine halbe Stunde vor dem Termin im Waters Tower eintreffen würde, musste ich langsam loslegen und vor allem vorher das Wetter checken.

Die Weihnachtswundergeschichten der Zuhörer bei WANR endeten im Hintergrund mit einem Heiratsantrag, der zwar das Thema verfehlte, den Moderator jedoch in totales Entzücken versetzte und mich abermals die Augen verdrehen ließ. Beim gekreischten »Ja, ich will!« aus dem Off war ich dann gänzlich raus. Warum hatte der Typ das Radio für seinen Antrag gewählt, wenn er sich offenkundig im selben Raum mit seiner Traumfrau befand?

Tzzz …

Kitschüberladen ging ich zur Fensterfront meines Apartments und zog die blickdichten Vorhänge auf. Im selben Moment ertönte, untermalt vom fröhlich-weihnachtlichen Flöten-Intro eines weltbekannten Weihnachtssongs, die Stimme des Moderators. »Let It Snow! Let It Snow! Let It Snow! Zieht euch warm an, wenn ihr rausmüsst. Oder – noch besser – bleibt einfach wie Dean Martin zu Hause am Kaminfeuer«, gab er amüsiert zum Besten.

»Holy Shit!«, stieß ich beim Anblick des dichten Schneetreibens aus und konnte kaum fassen, was ich da vor mir sah. Dächer, Bäume, Autos, Straßen. Alles weiß. Über Nacht und ohne Vorankündigung war Inwood von einer gut zehn Zentimeter dicken Schneeschicht bedeckt worden. Mit zunehmend steigender Tendenz. Ich liebte Schnee. Und er war hübsch anzusehen. Keine Frage. Aber dieses Szenario hatte ich bei meiner akribischen Planung nicht auf dem Schirm gehabt, weil sich sämtliche Meteorologen des Landes einig gewesen waren, New York samt all seiner Stadtbezirke würde wegen der vorherrschenden Polarluft vorerst schneefrei bleiben.

Ich brauchte einen Moment, um mich aus meiner Starre zu lösen. Dann flitzte ich zum Kleiderschrank, warf das daran hängende Outfit achtlos aufs Bett, meinen Bademantel gleich hinterher und suchte hektisch nach einigermaßen schneetauglichen Klamotten, die zumindest ein klitzekleines bisschen nach Business-Look aussahen und zu denen gefütterte Boots oder Stiefel passten. Totale Fehlanzeige.

»Shit! Shit! Shit!«

Aber egal. Mich aufregen und sämtliche Meteorologen des Landes verklagen konnte ich auch noch, nachdem ich den Arbeitsvertrag unterschrieben hatte. Bei meiner bescheidenen Finanzlage war ein Anwalt gerade ohnehin nicht drin.

Notgedrungen zog ich dicke Socken an, zwängte mich in meine am wenigsten verwaschene Jeans und schlüpfte in den nächstbesten blassrosa Rollkragenpullover, den ich auf die Schnelle fand. Ein kurzer Blick in den Spiegel bestätigte meine Vermutung. Zum Schlittschuhlaufen mit Freunden perfekt geeignet. Für ein wichtiges Vorstellungsgespräch bei einem Big Player in Midtown Manhattan absolut nicht. Doch auch für den kleinen Zusammenbruch, der sich in meinem Inneren anbahnte, blieb mir keine Zeit mehr. Der musste wie alles andere warten, bis ich wieder zu Hause war.

Fokus, Elle, Fokus!

Stiefel mit Profilsohlen vs. Fellboots. Um nicht komplett nach unbeschwertem Freizeitspaß auszusehen, entschied ich mich für die kniehohen Winterstiefel. Fertig.

Atemlos flitzte ich ins Miniaturbad. Für die superseriöse Hochsteckfrisur, die ich in einem Reel gesehen und so oft ausprobiert hatte, dass ich die einzelnen Schritte im Schlaf beherrschte, fehlte mir gerade die Ruhe. Jede Sekunde zählte. Denn Schnee in New York wirkte sich grundsätzlich katastrophal auf den ohnehin chaotischen Straßenverkehr und sämtliche öffentliche Verkehrsmittel aus. Meine Haare bei dem Wetter einfach offen zu tragen, war allerdings auch keine Option. Das gäbe nur Frizz, Frizz und noch mehr Frizz, der selbst die besten Anti-Sprays ausknockte. Da half auf die Schnelle bloß ein simpler Zopf. Rasch kämmte ich das hellblonde Wirrwarr auf meinem Kopf streng zurück und band es mit einem Gummi zusammen.

Das mehrfach geprobte dezente Tages-Make-up fiel ebenfalls dem akuten Zeitmangel zum Opfer. Heillos überfordert und extrem ratlos starrten mich meine blauen Augen im Spiegel an, während ich mir wenigstens noch im Rekordtempo die Wimpern tuschte.

Tief ein- und wieder ausatmend, verließ ich das Bad und kehrte zurück in den Wohnraum. Ein flüchtiger Blick aus dem Fenster verriet, dass der Schneefall entgegen meiner Hoffnung noch stärker geworden war.

Shit!

Im Radio verklangen die letzten Töne von Dean Martin und gingen nahtlos in Bing Crosbys Winter Wonderland über.

Ernsthaft?

Der Moderator hatte gut lachen. Keine Frage. Und das war deutlich zu hören. Er saß trocken im warmen Studio und wurde wahrscheinlich extrem gut dafür bezahlt, während sich halb New York auf dem Weg zur Arbeit durch den dichten Schneefall kämpfte und sich dabei den Hintern abfror.

Sobald ich wieder zu Hause war, würde ich den Sender wechseln; dieser Punkt rückte sogar auf Platz eins meiner heutigen To-do-Liste. Abermals tief durchatmend, zog ich einen Wollmantel über, schulterte meine Tasche und stopfte das Smartphone hinein. Danach ergriff ich hochgradig angespannt meinen Schlüsselbund und klemmte mir die Dokumentenmappe unter den Arm.

Schirm, Schirm, Schirm …

Kurz gesucht. Schnell gefunden. Obwohl ich mir sicher war, nichts vergessen zu haben, schaute ich mich sicherheitshalber noch mal im Apartment um und warf final einen letzten Blick in den Spiegel neben dem Kleiderschrank.

Yay!

Was für eine Katastrophe. Ich sah genauso beschissen aus, wie ich mich gerade fühlte. Vielleicht zeigte die Personalabteilung ja wegen des unerwarteten Wetterumschwungs Verständnis für mein unprofessionelles Auftreten. Zumindest mit etwas Glück. Das brauchte schließlich jeder dann und wann. Warum sollte es mich ausgerechnet heute mit ausgestrecktem Mittelfinger ignorieren?

Okay, ganz ruhig. Denk gar nicht erst an Murphys Gesetz. Du bist bestens vorbereitet und in jeder Hinsicht qualifiziert für diesen Job. Alles andere ist nebensächlich. Es besteht also keinerlei Grund zur Panik. Du liebst Schnee. Und jetzt beweg dich endlich. Auf ins Winter Wonderland, Elle!

Sleigh Ride Oder: Schlitterfahrt durch New York

Als ich den ersten Fuß vor die Tür des fünfstöckigen Wohnhauses setzte, knirschte der frisch gefallene Pappschnee unter den Profilsohlen meiner Stiefel. Ein kurzer Blick gen Himmel genügte, um meine Vermutung zu bestätigen. Frau Holle schüttelte ihre Betten verdammt gut aus, und allem Anschein nach hatte sie auch nicht vor, so schnell wieder damit aufzuhören.

Warum ausgerechnet heute? Warum nicht morgen? Oder übermorgen?

Frustriert in mich hineinseufzend, straffte ich die Schultern und öffnete umständlich den Schirm, um zumindest einen Teil der großen Flocken davon abzuhalten, meine Klamotten komplett zu durchnässen.

So schnell es der rutschige Bürgersteig erlaubte, lief ich die Straße entlang. Halb Inwood war damit beschäftigt, Autos vom Schnee zu befreien. Die andere Hälfte befand sich fraglos genau wie ich auf dem Weg zur U-Bahn oder den diversen anderen öffentlichen Verkehrsmitteln.

Ich legte noch einen Zahn zu und schob mich im Slalom an den Fußgängern vorbei, darauf bedacht, niemanden mit meinem Schirm zu berühren oder gar anzurempeln. Als ich in der Ferne endlich die bunt blinkende Weihnachtsbeleuchtung vom Gossip Square entdeckte, fiel zumindest ein winziger Teil des aufgestauten Drucks von mir ab. Auch wenn mir gerade keine Zeit blieb, einen Zwischenstopp bei Ernest, dem urigen Zeitungs- und Coffeeshop-Besitzer, einzulegen und einen Becher des mit Abstand besten Kaffees in ganz Inwood für den Weg mitzunehmen, verkörperte der kleine Shop wenigstens ein bisschen allmorgendliche Normalität an diesem unnormalen Tag.

»Guten Morgen, Ernest«, rief ich im Vorbeigehen und winkte dem bärtigen Grauhaarigen mit der rot-grün karierten Schiebermütze zu.

Er grinste bis zu den Ohren und winkte zurück. »Viel Glück für dein Vorstellungsgespräch, Elle«, hörte ich ihn rufen. »Die U-Bahn ist total überfüllt«, teilte er mir gleich danach mit. »Nimm lieber ein Taxi, solange die noch fahren.«

Ich nickte ihm lächelnd zu, steuerte jedoch trotz seines gut gemeinten Rats die Treppe zur Haltestelle an. Mangels ausreichendem Monatsbudgets musste ich es wenigstens versuchen. Und zeitlich betrachtet machte es keinen wesentlichen Unterschied.

Relativ leichtfüßig nahm ich die Stufen nach unten, klappte den völlig eingeschneiten Schirm zu und quetschte mich an den ungewöhnlich vielen Menschen vorbei zum Bahnsteig, dessen Schienen nach Midtown Manhattan führten.

Doch egal, wie sehr ich mich auch bemühte, ich schaffte es lediglich auf die Rolltreppe. Danach ging absolut nichts mehr. Ohne spontane Planänderung würde ich definitiv zu spät kommen.

Okay, ganz ruhig, Elle …

Budget hin oder her – mir blieb keine andere Wahl. Ich musste versuchen, irgendwo ein Taxi zu erwischen.

Obwohl ich praktisch gegen den Strom schwamm, gestaltete sich der Rückweg wesentlich leichter. Oben angekommen, spannte ich den Schirm wieder auf und sah mich nach allen Seiten um. Nichts. Kein Yellow Cab weit und breit. Stattdessen entdeckte ich Ernest im Schneegestöber, der mich energisch zu sich winkte. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was er von mir wollte, aber es schien wichtig zu sein.

Da ich es nicht übers Herz brachte, ihn zu ignorieren, eilte ich ihm gestresst entgegen. »Du weißt doch, dass ich dringend hier wegmuss, Ernest«, erinnerte ich ihn einen Hauch zu vorwurfsvoll und bekam sofort ein schlechtes Gewissen, weil er mich stets an meinen geliebten Großvater aus Connecticut erinnerte.

»Deswegen habe ich dich ja auch rübergewunken.« Er zwinkerte mir schelmisch zu und zog mich ins Trockene unter den schmalen Dachüberstand des Shops. »Nick würde dich fahren«, erklärte er mit einem breiten Grinsen und klopfte einem Kaffee schlürfenden Mann auf die Schulter, der im ersten Moment wie ein gerade erst aus dem Bett gekletterter, extrem unausgeschlafener Basketballer wirkte. »Offiziell beginnt sein Dienst zwar erst in einer halben Stunde, aber für dich würde er eine Ausnahme machen.«

Ich konnte mein plötzliches Glück in all dem Pech kaum fassen. »Wirklich?«

»Na klar, Miss, ist ja schließlich für ’ne gute Sache«, antwortete Nick überaus höflich, trank seinen Kaffee aus und setzte sich, beide Hände tief in den Jackentaschen vergraben, in Bewegung.

»Tausend Dank, Ernest!« Ich umarmte den liebenswürdigsten Menschen, den ich – abgesehen von meinen beiden Nachbarinnen Carli und Lin – bisher in Inwood kennengelernt hatte, und eilte der einzigen Chance hinterher, vielleicht doch noch pünktlich zu meinem Vorstellungsgespräch zu kommen.

Nach wenigen Metern bogen wir um die Ecke. Ganz vorne in der Parkreihe stand das Taxi, und ehe ich richtig begriff, wie mir geschah, saß ich bereits hinter Nick auf der Rückbank. Er betätigte ein paar Knöpfe und fuhr langsam los. »Wohin soll’s gehen?«

»Midtown Manhattan. Waters Tower.«

»Wann müssen Sie da sein, Miss?«

»Kurz vor neun.«

»Könnte echt knapp werden.«

»Ja …« Angespannt blickte ich aus dem Seitenfenster. Die Hauptstraße schien einigermaßen frei zu sein, und es hätte mich auch gewundert, wenn dem nicht so gewesen wäre, weil gefühlt alle arbeitenden Menschen Inwoods gerade auf die öffentlichen Verkehrsmittel auswichen. »Wäre es eventuell möglich, ein bisschen schneller zu fahren?«, fragte ich.

»Sind Sie angeschnallt, Miss?«

»Selbstverständlich.«

Prompt gab Nick Vollgas, was zur Folge hatte, dass der Wagen im Schlitterdrift die nächste Kurve nahm und ich panisch meine Hände in das Polster der Rückbank krallte.

»Haben Sie Winterreifen drauf?«

»Nein.«

»Das ist hoffentlich ein Scherz.«

»Nein.«

»Sind Sie lebensmüde?«

»Nein. Nur kundenorientiert. Sie wollten, dass ich bei dem mörderischen Wetter schneller fahre, und genau das mache ich gerade. Vielleicht sollten Sie vor dem nächsten wichtigen Termin einfach früher aufstehen.«

»Witzig.«

»Danke, Miss, ich gebe mein Bestes, um meine Fahrgäste zu unterhalten. Bevor ich den Job als Taxifahrer angenommen habe, wollte ich eigentlich Komiker werden. Hat leider nicht geklappt.«

»Wundert mich nicht.«

»Uh, der war fies. Richtig fies.«

»’tschuldigung«, murmelte ich zerknirscht.

»Schon gut«, sagte er. »Wer austeilt, muss auch einstecken können. Lehnen Sie sich einfach entspannt zurück und genießen die Fahrt.«

»Ohne Winterreifen?«

»War nur ein schlechter Scherz. Natürlich habe ich Winterreifen drauf.« Im Rückspiegel konnte ich sehen, wie er lächelte.

Erleichtert atmete ich auf. Nicht auszudenken, wenn er eine Vollbremsung gemacht und mich kurzerhand aus dem Wagen geworfen hätte, nur weil ich gefrustet war. »Tut mir wirklich leid. Heute ist einfach nicht mein Tag«, entschuldigte ich mich noch mal. »Ich heiße übrigens nicht Miss, sondern Elle.«

Nick lachte. »Elle passt auch viel besser zu dir.«

»Habe ich mich eigentlich schon bei dir bedankt?«

»Musst du nicht. Ich mache das wirklich gerne.«

»Trotzdem danke.«

»Noch sind wir nicht da, und so wie es aussieht«, sagte er mit konzentriertem Blick auf den Verkehr, »kommen wir da vorne an der Kreuzung nicht weiter.«

Die Hauptverkehrsader Richtung Manhattan war komplett verstopft. Einige Autos standen quer auf der Straße. Andere veranstalteten ein sinnloses Hupkonzert. So viel zu den einigermaßen freien Hauptstraßen. Uns blieb bloß eine knappe Stunde für eine Strecke von dreißig Minuten unter normalen Wetterbedingungen.

»Und was jetzt?«, fragte ich in einem weiteren Anflug von Panik.

»Keine Sorge«, beruhigte er mich. »Ein paar Tricks habe ich noch auf Lager.«

Gesagt, getan. Nick gab restlos alles, um mich pünktlich am Waters Tower abzusetzen. Wir fuhren über Straßen, von denen ich bisher nie gehört hatte, und er nahm Wege, die ich selbst niemals befahren hätte. Auf diese Weise umging er Rückstau um Rückstau, während es weiter schneite, die Uhr am Armaturenbrett unaufhaltsam tickte und ich Stoßgebet um Stoßgebet gen Himmel schickte. Doch in Midtown Manhattan stießen wir an Grenzen, die sich selbst von Nick nicht umfahren ließen.

8:39 Uhr. Sämtliche Nebenstraßen waren genauso verstopft wie die Hauptstraße. Der Verkehr wirkte wie eingefroren. Absolut nichts rührte sich mehr.

»Hör zu, Elle«, sagte Nick unvermittelt. »Die Situation ist total beschissen, keine Frage, aber nicht ausweglos. Wir stehen gerade mitten auf dem Times Square. Du musst zur 5th Avenue. Da drüben ist die 45th Street. Siehst du sie?«

Mein Blick folgte seinem ausgestreckten Zeigefinger durch die herunterfahrende Seitenscheibe. Dicke Schneeflocken schwebten in den Wagen.

»Ja.«

»Lauf einfach die 45th entlang bis zur zweiten Querstraße, und du landest direkt auf der 5th Avenue. Da biegst du links ab, und nach etwa hundert Metern stehst du vorm Waters Tower.«

»Okay. Gut …«, murmelte ich überfordert. Murphys Gesetz – alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen – hatte mich immer noch voll im Würgegriff. Wohl oder übel musste ich aus dem Taxi steigen und zu Fuß weiterlaufen. Auf dem Weg dorthin würde hoffentlich Yhprums Gesetz – alles, was funktionieren kann, wird auch funktionieren – die Oberhand gewinnen und dafür sorgen, dass ich pünktlich in der Personalabteilung ankam.

»Was bekommst du von mir?«

»Na, so was. Da habe ich doch glatt vergessen, das Taxameter einzuschalten.«

»Aber –«

»Willst du mit mir über den Fahrpreis diskutieren oder pünktlich zu deinem Vorstellungsgespräch kommen?«, unterbrach er mich mit einem Augenzwinkern.

»Na, was wohl?« Ich vergewisserte mich kurz, ob ich noch all meine Sachen beisammenhatte. »Bis zum Jahresende gehen alle Kaffees, die du bei Ernest trinkst, auf mich.«

»Ich bin fast jeden Tag bei Ernest. Das könnte ziemlich teuer für dich werden.«

Zum ersten Mal an diesem Morgen verzogen sich meine Lippen zu einem Lächeln. »Du bist mein Superheld des Tages.« Ich stieg aus, spannte den Schirm auf und eilte davon.

»Viel Glück, Elle«, hörte ich Nick durch das dichte Schneetreiben rufen. »Falls du noch mal einen Superheldenfahrer brauchst, frag einfach nach Schlitten 838. Codename: Santa!«

Ich drehte mich nicht mehr nach ihm um, musste aber trotz des kalten Windes und der dicken Schneeflocken, die mir entgegenwehten, zum zweiten Mal an diesem Morgen lächeln.

Wonderful Dream (Holidays are coming) Oder: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben

Punkt 8:54 Uhr betrat ich durchgefroren, atemlos und weitaus mehr schneepaniert, als ich gehofft hatte, den Waters Tower. Das beeindruckende Design des zweistöckigen Foyers mit der gläsernen Galerie, die zwischen üppigen Grünpflanzen, Wasserspielen und Kunstwerken zum Verweilen einlud, wirkte sich im ersten Moment suboptimal auf meine ohnehin schon blank liegenden Nerven aus. Völlig reizüberflutet schaute ich mich der Orientierung halber nach allen Seiten um und entdeckte schließlich den großen, halbmondförmigen Anmeldebereich.

Glücklicherweise war dort, trotz des regen Treibens in der Lobby, gerade nichts los, und ich bekam umgehend eine Chip-Karte ausgehändigt, die mich als Besucherin auswies. Nachdem ich problemlos den Sicherheitscheck hinter mir gelassen hatte, eilte ich zu den Aufzügen.

8:55 Uhr.

Mein Herzschlag beschleunigte sich aus einer Vielzahl von Gründen drastisch. Nervös tippelte ich mit einem Fuß auf und ab. Zweiundvierzig Stockwerke in fünf Minuten. Theoretisch möglich. Würden die Aufzüge – oder zumindest einer der sechs, die sich vor mir befanden – denn endlich unten ankommen. Doch den Anzeigen nach bewegten sich die Fahrstühle alle zwischen der fünfundzwanzigsten und der fünfzigsten Etage.

Shit! Shit! Shit!

Notgedrungen sah ich mich um, überlegte kurz, ob ich die Feuertreppe nehmen sollte, und verwarf den Gedanken gleich wieder, weil ich, gemessen an meinem aktuellen Fitnessstand, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit spätestens im fünften Stock ein Sauerstoffzelt gebraucht hätte.

Auf den dritten Blick entdeckte ich sie dann. Meine Rettung. Versteckt hinter üppigen Grünpflanzen. Zwei weitere Aufzüge. Einer trieb sich wie alle anderen zwischen den Etagen rum. Der andere wartete mit geöffneten Türen auf neue Fahrgäste und schrie förmlich meinen Namen. Freudestrahlend lief ich auf ihn zu und stieg ein, wurde aber sofort von einem in der Nähe stehenden Security aufgefordert, den Fahrstuhl wieder zu verlassen.

»Sie müssen einen der anderen Aufzüge nehmen, Ma’am. Diese hier stehen nur Mitarbeitern in Führungspositionen zur Verfügung«, klärte er mich auf.

8:56 Uhr.

Mein Puls raste. »Können Sie keine Ausnahme machen, Sir? In vier Minuten habe ich einen Vorstellungstermin im zweiundvierzigsten Stock. Der Wetterumschwung hat meine komplette Planung über den Haufen geworfen. Trotz aller Hindernisse habe ich es auf den allerletzten Drücker unter extrem beschiss…scheidenen Bedingungen gerade noch rechtzeitig ins Gebäude geschafft. Und jetzt soll es an einem leeren Aufzug scheitern, der gerade nichts zu tun hat, außer blöd rumzustehen, und den niemand dringender benötigt als ich? Bitte, Sir, bald ist Weihnachten, und ich brauche diesen Job! Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr ich ihn brauche …«

»Tut mir leid, Ma’am. Vorschrift ist Vorschrift.«

8:58 Uhr.

Ich kramte mein Smartphone aus der Tasche und wählte die Nummer der Personalabteilung – besetzt. Ausgerechnet jetzt. So ärgerlich, dass ich wegen der ganzen Hektik nicht schon vom Taxi aus versucht hatte, dort anzurufen. Den Tränen nahe, verlor ich das letzte Fünkchen Hoffnung, vielleicht doch noch pünktlich anzukommen, und trottete zurück zur immer größer werdenden Menschentraube vor den anderen Aufzügen.

9:01 Uhr.

Pling. Fahrstuhltüren schoben sich auf. Wartende strömten hinein. Für mich und eine Handvoll anderer war kein Platz mehr. Die Türen schlossen sich vor meiner Nase.

9:03 Uhr.

Pling. Diesmal nahm ich keine Rücksicht auf irgendwen. Noch bevor sich die Kabine vollständig geleert hatte, drängte ich mich gegen den Strom ins Innere des Aufzugs und drückte auf den Knopf für die zweiundvierzigste Etage.

9:04 Uhr.

Ein kurzer Ruck. Dann ging es erst mal abwärts ins Archiv.

Aus meiner Kehle löste sich ein leises, verzweifeltes Lachen, als ich die unschöne Bescherung auf der Anzeigentafel bemerkte. Mit mir waren sechzehn weitere Personen eingestiegen, und jeder, wirklich absolut jeder, hatte einen anderen Etagenknopf gedrückt.

Das kann doch alles nicht wahr sein …

War es aber.

Finde dich damit ab, Elle, du kannst es sowieso nicht ändern …

Und genau das tat ich. Wohl oder übel.

9:11 Uhr.

Zweiundvierzigste Etage. Jede Sekunde, die ich früher zu spät kam, zählte. Sobald sich die Türen einen Spalt geöffnet hatten, quetschte ich mich hindurch, verschaffte mir rasch einen Überblick und steuerte im Eilschritt auf den Empfang der Personalabteilung zu.

»Guten Morgen«, begrüßte mich eine junge Frau meines Alters. »Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie freundlich.

»Guten Morgen«, erwiderte ich ihren Gruß. »Mein Name ist Elle Barnes. Ich habe um 9:00 Uhr einen Termin bei A.J. Mayflower.«

Die akkurat gezupften Augenbrauen der Empfangsassistentin schoben sich nach oben, ehe sie einen schnellen Blick auf die unübersehbar große Uhr hinter sich warf. »Ich korrigiere Sie nur ungern, Miss Barnes, aber Sie meinen bestimmt, Sie hätten um 9:00 Uhr einen Termin mit Miss Mayflower gehabt.«

»Mein Fehler«, entschuldigte ich mich. Offensichtlich hatte meine Altersgenossin Klugscheißercornflakes gefrühstückt und war nun gerade dabei, sie wieder auszukotzen. Schön der Reihe nach. Vor mir auf die Theke. Großartig! »Das Wetter hat mich total überrascht und –«

»Wie uns alle«, ergänzte sie beiläufig.

Fokus, Elle, Fokus. Du willst was von ihr. Sie nicht von dir. Egal, wie schwer es dir auch fällt: Bleib freundlich!

Mit letzter Kraft zwang ich meine zunehmend stärker werdende Frustration, die kurz davor stand, auf äußerst unschöne Weise aus mir herauszubrechen, zurück. Innerlich atmete ich mehrfach tief und konzentriert durch. Äußerlich setzte ich das netteste Lächeln auf, das unter diesen Umständen möglich war.

»Ja, genau, das Wetter hat uns alle überrascht. Wahrscheinlich haben Sie wie alle anderen mitten im Verkehrschaos festgesteckt und sind völlig durchgefroren zur Arbeit gekommen. Deshalb hoffe ich sehr auf Ihr Verständnis für meine Verspätung.«

Zu meiner Verwunderung beugte sie sich über den schwarz glänzenden Granittresen des Empfangs zu mir. »Offen gestanden bin ich heute auch zwei Minuten zu spät dran gewesen«, flüsterte sie verschwörerisch. »An mir soll es also nicht liegen. Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann.«

Woher der plötzliche Sinneswandel kam, blieb mir ein Rätsel, dennoch freute ich mich, dass sie diese überraschende Kehrtwende hingelegt hatte.

»Danke!«

Die Empfangsassistentin richtete sich auf, griff zum Telefon und wählte eine Nummer. »Hi, A.J., ich bin’s, Melissa. Miss Baker –«

»Barnes«, flüsterte ich ihr zu.

»Miss Barnes ist soeben eingetroffen. Kann ich sie noch zu dir schicken? … Ah, gut, okay, dann weiß ich Bescheid.« Melissa legte auf und wandte sich mir zu. »Miss Mayflower kommt sofort«, gab sie mir zu verstehen, bevor sie mit einem unverbindlichen Nicken davonstöckelte und um die nächste Ecke verschwand.

Ähnlich verloren, wie ich mich in diesem Augenblick fühlte, stand ich allein vor dem schwarz-weißen Empfangsbereich der Personalabteilung. Mein Herz schlug vor lauter Aufregung immer noch viel zu schnell. Zur Ablenkung ließ ich meinen Blick durch die weitestgehend offen gestaltete Etage schweifen. Lediglich fünf Büroräume mit geschlossenen Türen konnte ich von meiner Position aus erkennen. Schwarz und weiß. So weit das Auge reichte. Selbst die Weihnachtsdekoration und der Christbaumschmuck waren auf das vorherrschende Farbschema abgestimmt. Bloß einige üppige Grünpflanzen unterbrachen das stylish klare, jedoch auch klinisch kühle Design, das mehr an eine hippe Beautyklinik erinnerte als an eine national wie international erfolgreiche Event-Agentur.

In einer Nische entdeckte ich eine mit verschiedenen Sitz- und Stehmöglichkeiten bestückte Wartezone. Ein Anzug tragender Mitdreißiger saß entspannt auf einer schwarzen Ledercouch und fixierte sein Smartphone. Am Fenster lehnte eine Frau in ähnlichem Look und schaute hinaus.

Ich überlegte, ob ich mich zu ihnen gesellen sollte, doch das gleichmäßige Klackern herannahender Absätze zog meine Aufmerksamkeit auf sich.

Dann sah ich sie. Groß, dunkelhaarig, blaugrauäugig, mit der aufrechten Haltung einer Tänzerin und einem Blick, der die Titanic ohne das Zutun eines Eisbergs in den Untergang gezwungen hätte. Obwohl ich inständig hoffte, sie wäre nicht Miss Mayflower, lachte mein Verstand mich laut schallend aus. Natürlich war sie es, und tief in meinem Innern wusste ich es bereits, seit ich die energischen Geräusche ihrer hohen Schuhe vernommen hatte.

Shit!

Eine Armlänge von mir entfernt blieb sie stehen und musterte mich. Am Ausdruck ihrer Augen konnte ich erkennen, wie sehr ihr missfiel, was verfroren, von geschmolzenem Schnee durchnässt und mit tropfendem Schirm vor ihr stand. »Sie müssen Elle Baker sein«, stellte sie emotionslos fest.

»Barnes, Elle Barnes«, murmelte ich kleinlaut und schob ein noch leiseres »Miss Mayflower« hinterher. Ich streckte ihr meine eiskalte Hand entgegen.

Meine Begrüßungsgeste ignorierend, fuhr sie fort. »Ihnen ist hoffentlich klar, dass Ihr Slot vorbei ist und Sie mich fünfzehn Minuten meiner knapp bemessenen Zeit gekostet haben.«

Ich nickte, ließ meine Hand sinken, wollte ihr antworten, doch dazu kam ich nicht.

»Aufgrund Ihrer tadellosen Abschlussnoten sowie des hervorragenden Feedbacks meines Human-Resources-Teams waren Sie meine Nummer eins unter den letzten drei Bewerbern, die es von insgesamt 578 bis hierher geschafft haben, Miss Baker.«

Konzentriert atmete ich durch und räusperte mich leise. »Mein Name ist Barnes, Miss Mayflower, Elle Barnes«, erwiderte ich mit deutlicher Stimme. »Und es tut mir schrecklich leid, dass ich zu spät gekommen bin. Wissen Sie, ich bin bestens auf alles vorbereitet gewesen, aber nicht auf den heftigen Wetterumschwung u–«

»Wären Sie bestens auf alles vorbereitet gewesen, Miss Baker, dann wären Sie pünktlich zu Ihrem Termin in unserer überaus renommierten Event-Agentur erschienen, und ich hätte Sie höchstwahrscheinlich gebeten, einen außerordentlich gut bezahlten Arbeitsvertrag mit Benefits, die es bei keinem anderen Großunternehmen in ganz Manhattan gibt, zu unterschreiben.«

»Sind Sie noch nie zu spät gekommen?«, fragte ich aus dem Bauch heraus.

»Nein!«, gab sie knapp zurück. »Unpünktlichkeit ist absolut inakzeptabel in diesem Business!«

Es gab Frauen, die sahen in allen Lebenslagen gut aus, und sie wussten genau, wie gut sie aussahen. Auch wenn sie, wie Miss Mayflower in diesem Moment, not amused waren. Perfektionierter Teint, manikürte Fingernägel, Kleidung und Frisur bildeten nahezu eine Symbiose. Den ganzen Tag über wirkte das Make-up wie gerade erst frisch aufgetragen. Der farblich zum Gesamtbild abgestimmte Nagellack ebenfalls. Alles, was sie trugen, schien ihnen maßgerecht auf den Körper geschneidert zu sein. Und jede, aber auch wirklich jede einzelne Haarsträhne blieb bei Wind und Wetter an der richtigen Stelle.

Ich zählte nicht zu diesen Frauen.

Unabhängig davon, dass ich die Vorstellung, zwei volle Tage und Nächte mit 48-h-Make-up durch die Gegend zu laufen, irgendwie eklig fand, hielt das Zeug bei mir ohnehin maximal sechs Stunden. Long-Lasting-Nagellack verabschiedete sich entweder bereits kurz nach dem Auftragen wieder von den Spitzen, oder ich schaffte es während der Trockenzeit, an irgendeiner Stelle einen Lackschaden zu verursachen. Außerdem saß meine Kleidung meistens nicht tadellos und nicht mal ansatzweise wie maßgeschneidert, weil ich weder schlank noch curvy und auch nicht klein oder groß, sondern irgendetwas Undefinierbares dazwischen war, für das es kaum bis gar keine optimal passende Konfektionsgröße gab. Und mindestens fünf bis zehn Haarsträhnen machten grundsätzlich, was sie wollten. Selbst wenn ich sie bei windstillem Bilderbuchwetter mit einer ganzen Flasche Haarspray fixierte.

Perfekt unperfekt traf es ziemlich genau. Und so fühlte ich mich meistens. Nicht genug zu sein, nirgendwo richtig reinzupassen, waren immer wiederkehrende Gedanken, die mich schon seit der Schulzeit beschäftigten.

»Und kommen Sie mir nicht mit dem Wetter«, fuhr Miss Mayflower fort. »Ihre beiden Konkurrenten hinter uns haben sich überpünktlich im Wartebereich eingefunden, Miss Baker.«

»Barnes«, korrigierte ich zum x-ten Mal, doch das interessierte sie genauso wenig wie beim ersten Mal.

»Kennen Sie die Weisheit ›Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben‹? Falls nicht, sollten Sie sich das für Ihre Zukunft merken, denn genau das ist Ihnen gerade passiert. Ich wünsche Ihnen noch einen guten Tag, Miss Baker, und frohe Festtage.« Und weg war sie.

Ausgeträumt, Elle …

Something stupid Oder: Der Dirty-Dancing-Wassermelonen-Effekt mit John Wicks vermeintlichem Sohn im Aufzug

Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, äffte ich die unterkühlte Brünette gedanklich nach und wünschte ihr eine böse Millisekunde lang, ihr enger, perfekt sitzender Bleistiftrock würde an der Po-Naht aufreißen und einen echt schäbigen, verwaschenen Baumwollschlüpfer preisgeben. Aber der hochwertige Stoff gab natürlich nicht nach. So etwas passierte, wenn überhaupt, nur Menschen wie mir.

Frustriert aufseufzend, trat ich den Rückzug an.

Im Flurbereich zu den Fahrstühlen rauschte ein großer, breitschultriger Mann an mir vorbei durch den Gang. Schwarzer Anzug. Schwarze Schuhe. Schwarzes, schulterlanges Haar. Von hinten sah er ein bisschen aus wie … John Wick. Nur jünger. Praktisch wie sein Sohn. Wenn er denn einen gehabt hätte.

Da ich in dieselbe Richtung musste, folgte ich dem Hauch seiner ledrig-vanilligen Duftspur und stieg zu ihm in den Aufzug, der eigentlich zu den beiden zählte, die allein der Führungsriege vorbehalten waren. Doch was spielte das jetzt noch für eine Rolle?

Beiläufig registrierte ich, dass er bereits den Knopf fürs Erdgeschoss gedrückt hatte, und lehnte mich mit dem Rücken an die Wand gegenüber der Anzeigetafel.

In irgendwelche Unterlagen vertieft, nahm der Schwarzhaarige keinerlei Notiz von mir, brachte jedoch immerhin ein »Guten Morgen« über die Lippen, bevor sich der Aufzug in Bewegung setzte.

»Was an dem Morgen gut sein soll, weiß ich zwar nicht, und ob in diesem Tower überhaupt jemals jemand einen wirklich guten Morgen hat, auch nicht, aber dito«, erwiderte ich, ehe sich ein frustrierter Seufzer aus meiner Kehle stahl. Ich war komplett so was von im Arsch. Und das alles nur wegen einer fünfzehnminütigen Verspätung, die es trotz aller widrigen Umstände gar nicht erst gegeben hätte, würden in diesem schwarz-weißen Gebäude nicht lauter engstirnige Vorschriftenverfechter beschäftigt sein. Schattierungen von Grau existierten bei der Waters Corporation anscheinend nicht.

In mir brodelte es gewaltig. Ungerechtigkeit hasste ich wie die Pest. Ich musste dringend Dampf ablassen. Sofort. Da kam mir der unbekannte Führungsmitarbeiter gerade recht. Sollte er sich ruhig anhören, in was für einer sozial inkompetenten Kloake er sein Geld verdiente.

»Wissen Sie – nicht dass es Sie interessieren würde –, aber ich erzähle es Ihnen trotzdem, weil ich sonst platze und gerade niemand anderes da ist.« Schnaubend unterbrach ich mein Monolog-Intro und betrachtete den Inhalt der scheißteuren, angeblich wasserabweisenden Mappe. Sämtliche Dokumente darin waren klamm geworden und sahen aus, als hätten sie mindestens ein Jahr offen in einem feuchten Kellerraum gelegen. »Wahrscheinlich haben Sie diese Erfahrung nie machen müssen und sind bereits mit einem Schlips um den Hals und einem goldenen Löffel im Mund geboren worden. Aber können Sie sich vielleicht auch nur ansatzweise vorstellen, wie hart es ist, nach unzähligen Absagen wegen mangelnder Berufserfahrung endlich eine Chance zu bekommen und dann von einer scheißarroganten Personalmanagerin mit eiskaltem Todesengellächeln abgekanzelt zu werden, obwohl ich für diesen Job dermaßen qualifiziert bin, dass ich beinahe schon überqualifiziert bin? Und das einfach nur, weil das Wetter binnen kürzester Zeit totales Verkehrschaos ausgelöst hat? Wobei das längst nicht alles ist. Denn anscheinend zähle ich auch zur falschen Sorte Mensch, für die gewisse Aufzüge in dieser Firma, die es mir übrigens ermöglicht hätten, trotz der Umstände noch pünktlich zu meinem Vorstellungstermin zu erscheinen, schlichtweg tabu sind. Vorschrift ist Vorschrift? So ein Bullshit!«

Ich schnappte nach Luft. »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben«, ahmte ich abermals augenrollend die Bleistiftrockträgerin nach, für deren Job ich zwar niemanden ermordet hätte, jedoch garantiert bei minus zwanzig Grad eine halbe Stunde splitterfasernackt über den Times Square gerannt wäre. »Geht man so mit halb erfrorenen Menschen um? Und in dem Zusammenhang bestellen Sie doch gleich der Chefetage einen richtig unschönen Gruß von mir mit dem dezenten Hinweis, dass sie ihre Mitarbeiter zwingend in einen Wie-geht-man-freundlich-mit-Menschen-um-Workshop stecken sollten. Alternativ ginge natürlich auch ein Freundlichkeit-schadet-niemandem-Seminar. Oder eine simple Sei-kein-Arschloch-Maßnahme.«

Genervt von allem und jedem, wrang ich mit einer Hand umständlich meinen tropfenden Mantelsaum aus. Die kleine Pfütze auf dem Boden des Fahrstuhls um mich herum vergrößerte sich, während ich die Anzeigetafel fokussierte. Zehn Etagen blieben mir noch, um dem stocksteifen Anzugträger meinen Frust vor die Füße zu spucken.

»Verraten Sie mir eins – falls Sie mir überhaupt zuhören –: Wie bitte soll jemand mit einem hervorragenden Studienabschluss in der Tasche Berufserfahrung sammeln, wenn sämtliche Unternehmen in ganz fucking New York und Umgebung nur Menschen mit Berufserfahrung einstellen und Praktika nicht als solche bewertet werden, obwohl alle wissen, dass die Praktikanten von heute nicht mehr Kaffee kochend rumstehen, sondern blitzschnell ins eiskalte Wasser geworfen werden und spätestens nach einer Woche vollwertige Mitarbeiter sind, die unter aller Sau bezahlt werden?«

Zischend wischte ich mir die störenden Wassertropfen von der Stirn, die sich unangenehm kitzelnd aus meinem Haaransatz lösten. »Sie könnten wenigstens so tun, als würden Sie meinen Ärger verstehen. Oder hindert Sie der Stock in Ihrem Arsch am Sprechen?«

»Nein, der Stock in meinem Arsch hindert mich nicht am Sprechen«, erklang plötzlich die halbdunkle Stimme des Anzugträgers. So schwer es mir auch bei dem angenehmen Timbre fiel, weiter auf die Anzeigetafel zu starren, schaffte ich es, meinen Blick stoisch nach vorne gerichtet zu halten. »Ich wollte dir lediglich die Möglichkeit geben, zweiundvierzig Etagen lang deinen Frust rauszulassen, Elle.«

»Mich einfach mit meinem Vornamen anzusprechen, als wären wir zusammen zur Schule gegangen oder so, ist wirklich … tzzz. Aber offen gestanden wundert mich Ihre Respektlosigkeit kein Stück. Bei den unfreundlichen Mitarbeitern in diesem Scheißschuppen habe ich nichts anderes erwartet.«

Moment, Elle, da ist ein Fehler in der Matrix. Woher soll er wissen, wie du heißt, wenn er dich nicht …

»Auf der Madison High sind wir uns drei Jahre lang täglich über den Weg gelaufen, haben zu fünfundneunzig Prozent dieselben Kurse besucht und in einer verdammt kalten Winternacht im Schnee getanzt. Wir sind also zusammen zur Schule gegangen, Elle. Hättest du dir die Mühe gemacht, mich während unserer wirklich netten Aufzugfahrt auch nur ein einziges Mal anzusehen, anstatt die Anzeigetafel zu hypnotisieren, wäre dir womöglich aufgefallen, dass wir uns kennen.«

Spätestens jetzt hatte er meine volle Aufmerksamkeit, und ich starrte ihn an. Wie ein Schreckgespenst.

Oh. Mein. Gott.

Pechschwarzes, kinnlanges Haar. Zartbitterschokoladenbraune Augen mit bernsteinfarbenen Sprenkeln. Highschool-Traum und -Albtraum meines Jahrgangs. Unumstrittener Sammler gebrochener Herzen. Upperclass-Hottie. Hochintelligent. Cooler Alleskönner. Und … mein geplatztes Abschlussball-Date.

Keane Waters.

Mir wurde heiß und kalt. Ich schluckte hart. Mein Herzschlag hämmerte mir bis in die Stirn. Das war unmöglich. Und auch wieder nicht. Ich wusste, dass die Firma seinem Vater gehörte, doch mit Keane hätte ich an diesem Ort niemals gerechnet, weil es stets ein offenes Geheimnis gewesen war, dass er Profifootballer werden und sich nicht in den Familienbetrieb einspannen lassen wollte.

Pling.

Die Türen des Aufzugs schoben sich auf.

»Ich dachte, du wärst wie damals immer noch ›Einfach Elle‹, aber da habe ich mich wohl getäuscht. Frohe Festtage, Miss Barnes«, sagte er tonlos im Vorbeigehen und verließ den Fahrstuhl.

Where Are You Christmas Oder: Der Geist der Vergangenheit

New Jersey

Madison Highschool

10. Klasse

Es war immer wieder das Gleiche. Am ersten Schultag nach den Sommerferien herrschte übereuphorische Wiedersehensfreude, und die Frischlinge wurden genauestens abgecheckt.

Erst vergangenes Jahr war ich von der Madison Junior School auf die Madison High gewechselt und hatte zu den Freshmen gehört. Nun zählte ich zu den Sophomores, denen glücklicherweise deutlich weniger Aufmerksamkeit zuteilwurde. Praktisch unsichtbar durch die Flure in die weit verteilten Kursräume zu gelangen, war deutlich angenehmer für mich, als an jeder Ecke visuell vermessen, gewogen und in imaginäre Hot-oder-Schrott-Schubladen gesteckt zu werden.

Unbemerkt schob ich mich an den kleinen wie großen aufgeregt plaudernden Gruppierungen vorbei ins Schulsekretariat, um wie alle anderen betroffenen Schüler meinen kurzfristig geänderten Kursplan für das erste Halbjahr abzuholen. Dort herrschte ein ähnliches Chaos wie in den Gängen, bloß deutlich geordneter.

Ich stellte mich hinten an und wartete, bis ich an der Reihe war.

»Name und Klassenstufe?«, fragte Mrs Snyder, ohne mich anzusehen. Normalerweise war sie sehr aufmerksam und superfreundlich, aber heute schien sie dafür viel zu gestresst zu sein.

»Elle Barnes. Sophomore.«

»Ah, das trifft sich gut, Elle«, murmelte sie beschäftigt, hob kurz den Kopf, schenkte mir ein Lächeln und blätterte sich durch den zweiten von insgesamt vier Blätterstapeln. »Da habe ich dich ja«, stellte sie fest und gab mir meinen aktualisierten Kursplan. »Amerikanische Geschichte bei Mrs Meyer fällt aus, bis wir eine Vertretung für sie gefunden haben«, teilte sie mir mit. »Die Ärmste hat sich vorgestern ein Bein gebrochen. Das neue Schuljahr beginnt also nicht nur turbulent, sondern auch mit einer Freistunde für dich. Theoretisch.«

»Theoretisch?«

»Du darfst einen der Neuzugänge durch die Schulanlagen führen«, trällerte sie fröhlich, als würde sie mir damit einen lang gehegten Wunsch erfüllen.

»Sollten sich die Seniors nicht um die Freshmen kümmern?«, fragte ich verwundert.

»Ja, das tun sie auch«, erklärte Mrs Snyder. »Aber wir haben dieses Jahr zwei Schulwechsler. Einen Junior aus Minnesota und einen Sophomore aus New York City. Die Direktorin und ich dachten, du könntest dich um den Sophomore kümmern.« Sie schenkte mir ein weiteres Lächeln. »Er ist übrigens ein A+-Schüler und ein äußerst talentierter Footballspieler.«

»Yay!«, jubelte ich gequält. »Das wollte ich schon immer mal am ersten Schultag machen.«

»Ich wusste, dass ich dir eine Freude damit bereite.« Mrs Snyder drückte mir zwei weitere Zettel in die Hand. Auf einem standen sämtliche Kurse des neuen Mitschülers, der andere zeigte einen frisch ausgedruckten Lageplan des Schulgeländes inklusive der Sportanlagen. Was zumindest die berechtigte Frage aufwarf, ob A+-Schüler trotz detaillierter Lagepläne pauschal an totaler Orientierungslosigkeit litten und deshalb auf persönliche Führungen angewiesen waren.

»Er sitzt im Wartebereich des Büros der Direktorin«, erklärte Mrs Snyder, bevor sie sich wieder dem Durchblättern der Papierstapel widmete.

Frustriert in mich hinein stöhnend, fügte ich mich meinem Schicksal. Mit einer Freistunde ins neue Schuljahr zu starten, wäre doch total in Ordnung gewesen.

Ich wandte mich nach links, um in den von dunklem Holz und Glasscheiben abgegrenzten Vorraum zwischen Sekretariat und Direktorinnenbüro zu gelangen. Auf welcher Höhe ich A+ finden würde, ahnte ich bereits, ehe ich die Schwelle übertrat, da sich eine kleine Menschen- bzw. Mädchentraube an einer der Scheiben versammelt hatte und unverhohlen über die optischen Vorzüge von ihm sprach. Es schien, als hätte der begehrteste Madison-High-Hottie und Herzensbrecher, Warren Caulfield, ernsthafte Konkurrenz bekommen. Doppelt yay!