Ciao bis zu den schönen Tagen - Roberta Recchia - E-Book
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Ciao bis zu den schönen Tagen E-Book

Roberta Recchia

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Beschreibung

Vom Wagnis, sich mit dem Leben zu versöhnen Was passiert mit einer Familie, in der einer etwas Schlimmes tut? Luca Nardulli wächst behütet auf in Torre Domizia, einem kleinen Ferienort an der italienischen Küste. Im Sommer verliebt er sich zum ersten Mal, in Betta. Und er bewundert seinen großen Bruder Maurizio über alles. Doch dann erfährt er, dass ausgerechnet Maurizio schuld ist am Tod von Betta. Lucas Welt bricht auseinander. Wem kann er noch vertrauen? Darf er je wieder das Wagnis eingehen zu lieben? Nur dann, das spürt er, wird es wieder schöne Tage geben – für ihn und die ganze Familie.  Der bewegende Roman der italienischen Bestsellerautorin - mit dem Flair eines italienischen Spätsommerabends. Ein Wiedersehen mit dem schönen Setting des Erfolgsromans »Endlich das ganze Leben« und völlig eigenständig zu lesen.

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Seitenzahl: 462

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Roberta Recchia

Ciao bis zu den schönen Tagen

Roman

 

Aus dem Italienischen von Christiane Burkhardt

 

Über dieses Buch

 

 

Luca ist zum ersten Mal verliebt - in die drei Jahre ältere Betta, die jedes Jahr in den Ferien nach Torre Domizia kommt. Schon in den letzten zwei Sommern hat Luca sich jeden Mittag ein Eis in der Bar gekauft, in der Betta regelmäßig die Jukebox füttert, nur um ihr zu begegnen. Jetzt hat er ein Freundschaftsarmband für Becca an der Jukebox versteckt, denn es ist wieder Ferienanfang. Stolz erzählt er seinem Bruder Maurizio, was er getan hat, auch wenn der ihn auslacht. Als er Becca am nächsten Tag trifft, sieht er, dass sie das Armband trägt. Er ist glücklich.

Und dann wird alles anders …

 

Roberta Recchia erzählt bewegend vom Erwachsenwerden, vom Zusammenhalt in der Familie, auch wenn sie vom Schicksal getroffen wird. Sie nimmt uns mit ans Meer, in die Melancholie eines Spätsommerabends und in ein Italien der einfachen Leute, der kleinen Cafés – und der Liebe.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Roberta Recchia stammt aus Rom, wo sie Literatur und interkulturelle Beziehungen studierte. Nach Stationen in Großkonzernen lehrt sie heute an einer römischen Schule Englisch und lebt an der Küste von Latium. Ihr Roman »Endlich das ganze Leben« wurde auf Anhieb in Italien zum Bestseller und fand auch bei uns große Anerkennung. Nun erscheint ihr zweiter Roman »Ciao bis zu den schönen Tagen«.

Impressum

 

 

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Die italienische Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel »Io che ti ho voluto così bene« im Verlag Rizzoli/Mondadori, Mailand.

Die Ausgabe wurde vermittelt durch die Laura Ceccacci Agency.

© Roberta Recchia 2025

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2025 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt am Main

 

Covergestaltung und -abbildung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung von Motiven von Unsplash und Shutterstock

ISBN 978-3-10-491913-3

 

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Inhalt

[Widmung]

1 Leb wohl, Mädchen, ciao

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

2 Unsere Wege trennen sich

I

II

III

IV

V

VI

VII

3 Wo auch immer du sein wirst, wo auch immer ich sein werde

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

Epilog

Nachwort

Dank

Für Sara, die jetzt woanders strahlt

1Leb wohl, Mädchen, ciao

I

Im Sommer, als er zehn war, wurde Luca Nardulli vom Blitz getroffen.

Unter der sengenden Nachmittagssonne blieb er mit dem Rad stehen, um zuzusehen, wie Betta den Platz überquerte. Den Lenker fest in den verschwitzten Händen, einen Fuß am Boden und den anderen auf dem Pedal, starrte er sie unverwandt an. Der Mund stand ihm offen vor lauter Bewunderung.

Sie trug Zöpfe, Armbändchen um Handgelenk und Fesseln sowie ein kurzes Fransenkleid. Noch war sie nicht gebräunt, denn sie war gerade erst aus Rom für die Ferien hergekommen. Ihre Flipflops schnalzten, als sie mit raschen Schritten zum Brunnen lief.

Luca konnte den Blick einfach nicht abwenden. Nicht, weil sie so schön war – das fanden mittlerweile alle. Sondern weil er genau in dem Moment begriffen hatte, dass er Betta liebte.

Die lief weiter und unterhielt sich mit Marina Luzi, mit der er auf die Grundschule gegangen war. Als Marina ihn erkannte, winkte sie, und auch Betta drehte sich zu ihm um. Da zuckte Luca zusammen. Ohne den Gruß zu erwidern, nahm er den Fuß vom Boden und raste tief über den Lenker gebeugt nach Hause. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er trat in die Pedale, ohne weiter auf die Eier zu achten, die in einer Tüte am Lenker baumelten. Obwohl sie in Zeitung eingeschlagen waren, gingen alle kaputt, sodass ihn seine Mutter schimpfte und zum Laden zurückschickte: Sein wöchentliches Taschengeld würde entsprechend gekürzt werden.

Nach dem Abendessen überlegte er, dem älteren Bruder sein Gefühlschaos anzuvertrauen. Maurizio war fast sechzehn: Er hatte Betta schon oft erlebt und kannte sich bestimmt mit solchen Dingen aus.

Sie saßen allein im Wohnzimmer, der Vater, ein Maresciallo, ein Inspektor bei den Carabinieri, war wegen einer Streiterei auf dem Revier, während die Mutter in der Küche den Abwasch machte.

»Und Betta?«, sagte er, als wäre das Erklärung genug. Nicht einmal er selbst wusste, was er damit eigentlich meinte, hatte aber das dringende Bedürfnis, seinen Emotionen irgendwie Ausdruck zu verleihen.

»Eine Schlampe«, meinte Maurizio schulterzuckend, während er kaugummikauend seinen Comic las und den Mund zu einem selbstgefälligen Grinsen verzog. Dem auf der Sessellehne sitzenden Luca verschlug diese Antwort dermaßen die Sprache, dass er sich gleich wieder in sein Mickymaus-Heft vertiefte. Aus der Küche kamen das Klappern von Geschirr und die Stimme der Mutter, die alte Schlager mitträllerte.

Von da an war Betta wieder seine heimliche Liebe: Sein Bruder hatte wirklich keine Ahnung, was Betta betraf.

 

Nach der Begegnung auf der Piazza himmelte er sie aus der Ferne an, als wäre sie die Madonna. Man konnte so einiges über sie sagen, aber an die Jungfrau Maria erinnerte sie eher weniger. Nicht, dass er jetzt Maurizios Meinung teilte, aber eine Heilige war Betta gewiss nicht. Doch ein seliges Gemüt, das hatte sie!

Und das gefiel ihm ausgezeichnet. Denn so war Betta nun mal. Oder Elisa-Tetta, wie sie wegen ihrer großen Brüste von gewissen Typen genannt wurde. Soweit er das beurteilen könnte, nannte sie niemand bei ihrem richtigen Namen: Elisabetta.

In dem Sommer, als er sechs war, hatte Luca sie zum ersten Mal gesehen.

Eine nächtliche Flutwelle hatte das Strandbad Miami Beach beschädigt, wo die Nardullis einen Gratisplatz in der ersten Reihe hatten, weil der Vater Maresciallo war. Am nächsten Morgen war das Wetter wieder schön, doch hatten die Mutter, sein Bruder und er an jenem Tag deswegen einen Schirm im Lido Pirata nehmen müssen, ganz hinten in der vierten Reihe. Am öffentlichen Strand nebenan tollte Betta herum. Blond und stets strahlend, eine Handbreit größer als die anderen Kinder. Sie war achteinhalb, spielte mit Jungs wie mit Mädchen und trug kein Bikinioberteil. Luca wusste noch, wie ihre Mutter unterm Sonnenschirm mit einem blauen Bandeau-Top gewedelt, laut nach ihr gerufen und geschimpft hatte: Gleich werde der Vater kommen, dann würde sie schon sehen!

Luca verfolgte das Geschehen ganz genau, nicht ohne Betta für ihre Sturheit zu bewundern.

Irgendwann kam dann der Vater, doch das änderte rein gar nichts.

Am nächsten Tag ging er wie immer ins Strandbad Miami Beach und sah sie nur noch selten.

Jedes Jahr traf sie Anfang August ein und reiste Ende des Monats wieder ab. Manchmal tauchte sie auch im Frühling auf, an Feiertagen: in der Kirche und auf dem Jahrmarkt. Es konnte passieren, dass er ihr zusammen mit anderen Kindern oder den Eltern in Torre Domizia begegnete. Dann grüßten sich die Väter, die im August stets zusammen Boccia spielten.

Luca musterte sie neugierig, ohne wirklich zu wissen, warum. Damals konnte er mit Mädchen noch nichts anfangen. Und sie nahm ihn ohnehin nicht wahr: Ständig quatschte sie mit irgendeiner Freundin, dem großen Bruder, ihrer Mutter. Ihr Mund stand nie still. Im Sommer, als er acht war, begann sich Luca Nardulli ohne ersichtlichen Grund zu fragen, ob Betta eigentlich inzwischen ein Bikinioberteil trug. Ein Jahr nach dem Nachmittag mit den zerbrochenen Eiern brachte ihn Betta dazu, zum ersten Mal wirklich zu rebellieren.

Mitte August, Luca Nardulli war mittlerweile elf, kaufte er sich im Strandbad Le Dune ein Wassereis, auch wenn seine Mutter das den Betreibern des Strandbads Miami gegenüber unhöflich fand. Er hatte entdeckt, dass Betta nach dem Mittagessen immer in den Lido Le Dune ging um sich dort mit einer Freundin, die an der Bar jobbte, zu unterhalten. Dabei ließ sie in der Jukebox ununterbrochen Figli delle stelle laufen. Luca betrat die Bar, nahm sich das Eis aus der Kühltruhe, zahlte und tat so, als bewunderte er einen Typen, der wie besessen flipperte und die Finger keine Sekunde von den Tasten ließ. Er aß sein Wassereis in Regenbogenfarben, und unterdessen beobachtete er sie und prägte sich sogar die Farben ihres Perlenarmbands ein. Auch wenn er ganz wehmütig davon wurde, weil seine Liebe bestimmt nie erhört würde, genoss er das. Wenigstens durfte er sie anschauen, schon bald würde er es wieder ein ganzes Jahr ohne sie aushalten müssen.

Eines Nachmittags sah er, dass sie völlig auf eine Partie Tischfußball konzentriert war. Sie spielte mit einem, der bestimmt sechzehn war, gegen zwei andere Jungs. Und schoss wie ein Profi. Die Gegner protestierten und stöhnten laut auf, gleichzeitig verschlangen sie sie mit ihren Blicken. Betta lachte und blieb konzentriert, den Blick auf den Ball gerichtet und jederzeit bereit, die Stange zu drehen: Ein gezielter Schuss und schon verschwand der Ball wieder im roten Tor. So oft, dass sich ihr Mitspieler beschwerte, weil er gar nichts zu tun hatte. Irgendwann schlug er sogar wütend gegen das Gestänge und verwünschte sie. Betta beachtete ihn nicht weiter und setzte ihr Spiel fort. Daraufhin wurde der andere dermaßen sauer, dass er sie mitten im Spiel sitzen ließ, woraufhin ihn die anderen beiden wortreich verfluchten. Betta ließ sich davon nicht beeindrucken und schaute sich lächelnd um. Da fiel ihr Blick auf ihn, ausgerechnet auf ihn, der neben dem Flipperautomaten an seinem Holzstiel lutschte, der noch nach Minze schmeckte.

»Willst du die Partie mit mir zu Ende spielen?«, schlug sie fröhlich vor.

Luca sah sie wie gelähmt an.

»Ach komm schon, nur fünf Minuten!« Sie flehte ihn förmlich an.

Zögernd ging er zum Kickertisch, den Holzstiel zwischen den Lippen, und umklammerte mit feuchten Händen die Griffe. Der Ball prallte laut klackernd auf, während eine der feindlichen Stangen ihn fast einlochte. Darauf streckte er, der immer schmächtig gewesen war, die Brust raus und griff an wie ein Stier. Fast immer verfehlte er den Ball, gleichzeitig verspürte er eine seltsame Erregung. Sie, in nächster Nähe, mit ihrem drallen Busen, der bei jedem Schuss in ihrem Dreiecksoberteil schaukelte, mit ihrem straffen Po, von dem man, wenn sie sich bewegte, mehr sah als schicklich war, nämlich auch nicht gebräunte Haut. Und dann diese goldblonden, verschwitzten Locken, die sich aus dem dicken Pferdeschwanz gelöst hatten und an ihrem Nacken klebten.

Er zerbiss den Holzstiel und schoss den Ball mit einer Kraft ins Tor, die ihm selbst fremd war.

Betta warf die Arme in die Luft, jubelte und klatschte.

Luca witterte den Duft ihrer feuchten Achseln, der sich mit dem des Meeres und der Kokos-Sonnenmilch vermischte. Vor seinen Augen drohte alles zu verschwimmen.

Nach dem Spiel verschwand er ohne ein Wort des Abschieds, kehrte ins Strandbad Miami zurück und ließ seine Mutter unter irgendeinem Vorwand unterm Sonnenschirm sitzen. Dann radelte er wie verrückt nach Hause, sein Körper brannte lichterloh.

Ganz außer Atem kam er dort an und begrüßte beim Heimkommen nicht einmal seinen Vater.

Er ging sofort nach oben, schloss sich im Bad ein, und stellte sich, noch in der Badehose, unter die Dusche. Mit geschlossenen Augen und stockendem Atem lehnte er die glühend heiße Stirn an die Fliesen. An diesem Tag, die Melodie von Figli delle Stelle im Ohr und Bettas Duft in der Nase, begriff er, was das heißt: »fleischliche Freuden«.

 

Er blieb ihr immer treu, auch als ihm Vanessa Abate, eine Klassenkameradin, ausrichtete, eine aus der Fünften würde mit ihm gehen wollen. Als sie sah, dass er zögerte, wollte sie ihm die Sache sogar mit einem Zungenkuss schmackhaft machen. Luca zeigte sich angemessen beeindruckt, lehnte aber dankend ab. Die aus der Fünften rächte sich, indem sie überall herumerzählte, dass er schwul sei. Weil er nicht wusste, wie er sich bei einer Frau revanchieren sollte, schwieg er und verzichtete darauf, es ihr heimzuzahlen.

Weil Torre Domizia so klein war, sprach sich die Sache bis zu Maurizio herum, der bei der Vorbereitung aufs österliche Grillen nachhakte.

»Es heißt, du bist schwul, Luca, stimmt das?« Väterlich legte er ihm den Arm um die Schultern und wendete die Würste.

»Ach, Quatsch«, wiegelte er mit gesenktem Blick ab und leckte sich das Fett von den Fingern. »Das erzählt eine rum, die sauer auf mich ist.«

Im Vergleich zu ihm war Maurizio riesig. Doch das machte Luca nichts aus – noch nicht, schließlich war sein Bruder auch erst klein gewesen, um dann wie verrückt in die Höhe zu schießen. Ansonsten glichen sie sich sehr, hatten beide blondes, glattes Haar und blaue Augen.

»Und warum ist die sauer auf dich?« Maurizio grinste.

»Weil ich nicht mit ihr zusammen sein will.« Genervt verzog er das Gesicht.

»Ist sie hässlich?«, stichelte der große Bruder.

»Ach … keine Ahnung«, meinte er nur. »Ich steh auf jemand anders.«

»Auf wen denn?« Maurizio trat beiseite, um dem Vater Platz zu machen, der Brot zum Rösten brachte. Er nahm seinen Bruder in den Schwitzkasten und lachte, »Auf wen stehst du?« Er tat so, als würde er ihm die Luft abdrücken, um den Namen herauszubekommen.

Auch Luca lachte. Er zappelte und streckte die Zunge heraus, als würde er gleich ersticken und packte den Arm des Bruders. »Jemand halt«, sagte er heiser.

»Ist es eine Sie oder ein Er?« Maurizio drückte zu und ließ nicht locker.

Mit der Autorität eines Maresciallo mischte sich Tommaso Nardulli ein, um das Verhör zu beenden. »Jetzt hört schon auf mit dem Blödsinn und holt das Bier aus dem Kühlschrank, das Essen ist gleich fertig«, befahl er.

Er sah seinen Söhnen nach, die sich gegenseitig anrempelten, und lächelte.

 

Zu Beginn des Sommers, als er zwölf war, machte Luca Nardulli Betta ein Geschenk.

Im Juli fand jedes Wochenende unweit der Piazza ein Kunsthandwerkermarkt statt. Luca kaufte sich dann ein Eis und lief mit den anderen Jungs zwischen den Ständen umher, auch wenn es ihn nervte, dass manche als Mutprobe klauten. Da waren Afrikaner mit Holzskulpturen, Peruaner mit Ponchos und Musikinstrumenten, ältere Damen aus Allumiere mit Häkelarbeiten und solche mit Tolfa-Ledertaschen.

Eines Samstagnachmittags hielt er sich länger als sonst an einem Stand auf: Er hatte etwas Interessantes entdeckt.

Eine runzlige, alte Frau, die mit ihrem dunklen Teint und den langen weißen Haaren aussah wie ein Hexe, verkaufte kleine Bilder, Teller, bemalte Becher, aber auch Halsketten und Armbänder aus Perlen in allen möglichen Formen und Farben. Luca sah zu, dass seine Clique weit genug weg war, aß sein Eis auf, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und dann beide Hände am T-Shirt ab, um anschließend einen Schritt vorzutreten.

»Schön, was?«, sagte die Alte einschmeichelnd.

Er schwieg unentschlossen. Würde er ja sagen, könnte die Frau denken, dass die aus der Mittelstufe recht hatten und er tatsächlich schwul war. Nichts zu sagen war allerdings unhöflich. Er suchte nach einem Mittelweg.

»Wie viel kostet das?« Er zeigte auf ein Armband aus blauen Perlen mit einem weißen geometrischen Muster. Als Anhänger einer gewissen Fußballmannschaft gefiel ihm das besonders gut.

»Hm …« Die Alte schloss seltsam zufrieden die Augen.

Da zog Luca die Hand sicherheitshalber wieder zurück und wartete.

»Die werden ausnahmslos in Choluteca hergestellt«, erklärte sie mit heiserer Stimme.

Er wagte eine Bemerkung: »Aha.«

Die Alte seufzte, fast wehmütig. »Wunderschön.«

Es folgte eine längere Pause, und ihm wurde zunehmend unwohl. Er wollte schon gehen, doch die Alte schien Gedanken lesen zu können und nannte ihm eine Zahl.

»Aha«, wiederholte er. Er trat beiseite, damit sie begriff, dass er sich das nicht leisten konnte.

»Wie viel Geld hast du denn?«, hakte sie sofort nach.

Nach kurzem Zögern zog Luca drei Hundertlire-Münzen aus der Tasche seiner kurzen Hose, mehr war nach dem Eis nicht übrig geblieben. Er öffnete die Hand, um sie ihr zu zeigen.

Die Alte seufzte erneut, diesmal genervt. »Du kannst dir eines von denen nehmen.« Sie zeigte auf bunte, geflochtene Armbänder, die in groben Fäden ausliefen. »Ich mach dir einen Spezialpreis.«

Unschlüssig presste er die Lippen zusammen.

»Die sind schön«, versuchte sie ihn zu überreden.

Schön, aber eben nicht wunderschön, dachte er wehmütig.

»Die werden in Santa Clara hergestellt.«

Im Vergleich dazu hörte sich Choluteca deutlich anders an. Er machte Anstalten, den Stand zu verlassen, um ihr zu zeigen, dass er nicht überzeugt war.

»Das sind Glücksarmbänder. Die kennst du doch, oder?«

Mit plötzlichem Interesse musterte er sie und schüttelte den Kopf.

Die Alte hob das knochige Handgelenk, um ihm zu zeigen, dass sie sie ebenfalls trug, zusammen mit anderen Armbändern, von denen Federn, Samen, Münzen und irgendwelcher Tand baumelte. »Du legst es ganz eng an, wünschst dir was, knotest es gut zu und nimmst es nie mehr ab.« Sie zog an einem der Armbänder, um zu demonstrieren, dass es nicht mehr aufging. »Wenn es reißt, geht dein Wunsch in Erfüllung«, verkündete sie feierlich.

Luca musste grinsen. Nicht, dass er daran glaubte, aber die Vorstellung gefiel ihm.

»Komm schon, da freut sie sich bestimmt«, ermutigte sie ihn verschwörerisch.

Er spürte, wie er rot wurde, betrachtete die nebeneinanderliegenden Armbänder mit den vielen verschiedenen Farben. Er zögerte immer noch. »Gibt es denn keines in Blauweiß?«, fragte er schließlich.

Wieder seufzte die Alte. »Wieso denn das? Ist sie Lazio-Fan?«, fragte sie im Dialekt, wodurch klar wurde, dass sie eindeutig nicht Peruanerin war.

Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung«, gestand er schüchtern.

»Also warum dann? Es gibt so viele Farben, mein Lieber …«

Er schaute sich alle aufmerksam an und suchte dann eines mit Blautönen aus. Als er zahlte, lächelte ihn die Alte an.

»Sie wird sich bestimmt freuen«, versicherte sie ihm.

Er steckte das Armband in die Hosentasche, verabschiedete sich und ging wieder zu den anderen, vor lauter Aufregung hatte er Herzklopfen bekommen.

Die Alte sah ihm zärtlich nach, für einen Moment verlor ihr Blick jede Bitterkeit.

 

Da sich Betta in diesem Sommer mit Rocco, dem Sohn der Bäckerin, zusammentat, kam sie nachmittags nur noch selten in die Bar des Strandbads Le Dune. Und wenn sie dort auftauchte, blieb sie nur kurz und hatte stets ihn im Schlepptau, der ihr den Arm um die Taille legte, als hätte er Angst, man könnte sie ihm wegnehmen.

Luca ging trotzdem täglich hin und hoffte, sie zu sehen. Statt sich ein Eis zu kaufen, steckte er sein Geld lieber in den Flipperautomaten, so konnte er auch gleich seine schlechte Laune abreagieren.

Das Glücksarmband ließ er zu Hause, denn er hatte gemerkt, dass es zwar schön war, sie aber das Wunderschöne mit den Perlen aus Choluteca trug. Außerdem hätte er ohnehin nicht gewusst, wie er es ihr überreichen sollte. Er hatte ganze Abende darüber nachgedacht, sich alles Mögliche ausgemalt und verworfen, weil es nicht realistisch war. Er hatte ohnehin nicht den Mut, mehr als nur Hallo zu ihr zu sagen, so wie damals, als sie zusammen gekickert hatten. Zu allem Überfluss war Betta auch noch unglaublich in die Höhe geschossen, und da er nach wie vor bloß einsfünfundfünfzig groß war, brachte ihn die Vorstellung, auf sie zuzugehen, schier um. Im Gegensatz zu ihm war Rocco zu allem Überfluss eine Bohnenstange.

Resigniert verbrachte er den Sommer wie sonst am Strand, beim Eisessen auf der Piazza und fuhr mit seinen Freunden bis um zehn Uhr abends auf dem Fahrrad durch die Gegend, schließlich wurde er bald dreizehn. Manchmal konnte er Maurizio zu einem Kartenspiel überreden, aber der war jetzt fast die ganze Zeit weg oder in seinem Zimmer, wo er seine Ruhe haben wollte und amerikanische Platten hörte. Sein Vater merkte, dass er sich einsam fühlte. Um ihm eine Freude zu machen, spielte er hin und wieder Rubamazzo oder Scopa mit ihm, oder aber sie schauten sich gemeinsam einen Samurai-Film an.

Kurz nach Ferragosto, dem 15. August, war Betta nicht mehr mit Rocco zusammen und kehrte zum Plaudern wieder in die Bar des Strandbads Le Dune zurück und hörte Songs aus der Jukebox. Luca gab das Flippern auf und aß wieder Eis. Es gefiel ihm, sie heimlich zu beobachten und zu belauschen. Betta war witzig, wissbegierig und nie vulgär. Bei allem Übermut übertrieb sie es nie. Sie stellte ihren atemberaubenden Körper schamlos zur Schau und man konnte sich einbilden, dass das eigene Begehren eigentlich gar nichts Unanständiges hatte. Er hatte gehört, wie sie der Barfrau erzählte, dass sie in einem Reisebüro arbeiten oder aber Stewardess werden wollte. Immer wenn er sie sich in Uniform vorstellte, wurden ihm die Knie weich. Betta machte ihn so glücklich, dass es ihm schon genügte, sie sich in all ihrer Pracht vorzustellen.

Doch als er eines Abends allein in seinem Zimmer war, begriff er, dass er etwas unternehmen musste.

Er riss eine Seite aus einem Heft, verwandelte sie mit Klebstoff in einen Umschlag, so wie er das vor ewigen Zeiten im Kindergarten gelernt hatte, und steckte das sorgfältig zusammengerollte Armband hinein. Bevor er den Umschlag verschloss, betrachtete er es lange: Nach all der Zeit hing er daran und fragte sich, ob er es je wiedersehen, ja was wohl aus ihm werden würde. Dann klebte er den Umschlag sorgfältig zu und schrieb nur Für Betta darauf.

Am nächsten Tag ging er früher als sonst in die Bar, kaufte sein Wassereis und steckte den Umschlag heimlich in den Metallrahmen der Jukebox, auf Höhe der Schildchen mit ihren Lieblingssongs. Er kontrollierte, ob die Barfrau was mitbekommen hatte, atmete tief durch und verließ das Café, denn er wollte auf keinen Fall mitbekommen, wie sie den Umschlag fand. Voller Scham und Reue ging er weder am nächsten noch am übernächsten Nachmittag dorthin. Am Freitag fiel ihm ein, dass sich der Monat seinem Ende zuneigte und Betta bald abreisen würde, vielleicht bereits an diesem Wochenende. Also zwang er sich hinzugehen.

Er fand sie auf dem üblichen Barhocker vor, die Ellbogen auf den Tresen gestützt. Sie erzählte der Barfrau gerade von einem Lagerfeuer, dass die Jungs aus Torre Domizia am Vorabend am Strand von Torre del Fratino gemacht hatten. Sie machte sich über einen Typen lustig, der im Suff beinahe ertrunken wäre und gerade noch gerettet werden konnte, währenddessen knabberte sie an einem Wassereis in allen Regenbogenfarben. Er kaufte für sich ebenfalls ein Wassereis und schielte beim Zahlen erwartungsvoll zu ihrem Handgelenk hinüber. Er war dermaßen darin vertieft, dass er gar nicht merkte, wie sie verstummte und ihn beobachtete.

Luca entdeckte das Glücksarmband. Am linken Handgelenk, zwischen den Perlenarmbändern. Weil es so dünn war, war es fast unsichtbar. Auf ihrer gebräunten Haut sah es wunderschön aus. Vor lauter Freude bekam er einen Kloß in der Kehle und verzog den Mund zu einem ungläubigen Grinsen.

Daraufhin schüttelte Betta kaum merklich das Handgelenk, als wollte sie gleich einen Bauchtanz hinlegen. Er zuckte zusammen. Als er wieder aufschaute, trafen sich ihre Blicke, ihre Augen funkelten wie eine Piratenschatzkiste.

Er sah, wie ihre Lippen das Wort »Danke« formten, wie sie ihn verschwörerisch anlächelte.

Luca sah Gold in ihren Augen, Diamanten, die Verheißung einer Liebe, die sich irgendwann durchsetzen und die drei Jahre Alters- sowie den Größenunterschied überwinden würde, die sie jetzt noch voneinander trennten. Er war bereit, für immer in Torre Domizia auf sie zu warten, wo in ihrer Abwesenheit nie etwas los war. In diesem perfekten Moment begriff er, was Glück ist: Er nahm den Sommer wahr, die laute Musik, das in der Sonne glitzernde Meer.

Überwältigt von seinen Gefühlen ergriff er die Flucht.

Das Eis fest in der Hand, ging er zum Strand, eilte an den langen Reihen mit Sonnenschirmen vorbei und wappnete sich innerlich gegen die sengende Hitze. Bevor er das Wasser erreichte, kam er an dem blauen Zaun vorbei, der das Strandbad begrenzte.

Genau dort, im Sand, in den er soeben seine Füße gesetzt hatte, direkt neben dem Zaun des Lido Le Dune, sollte im Jahr darauf Bettas Leiche gefunden werden.

An diesem Tag im Sommer, als er zwölf war, sollte er Betta zum letzten Mal sehen.

II

Dass Betta nicht mehr nach Torre Domizia zurückkehren könnte – darauf war Luca Nardulli nie gekommen.

Der Gedanke kam ihm erst, als er sie nach dem ersten Augustwochenende nirgendwo entdecken konnte. Er wusste nicht genau, wo sie eigentlich wohnte, deshalb ging er jeden Tag zum öffentlichen Strand, hielt nervös nach ihr Ausschau und spähte durch die Scheibe der Bar Le Dune. Nur um dann enttäuscht unter seinen Schirm im Strandbad Miami Beach zurückzukehren: Mit jedem weiteren Tag, der verging, schwand seine Gewissheit, dass sie bald eintreffen würde.

Er wurde mürrisch, lethargisch und in sich gekehrt. Er litt unter ihrer Abwesenheit, fühlte sich betrogen und war schlecht gelaunt. Ausgerechnet jetzt, wo er fast eins sechzig groß war, die Mittelstufe bravourös abgeschlossen hatte und im September auf das naturwissenschaftliche Gymnasium nach Santa Marinella wechseln würde, war sie nicht da. Auf einmal kam ihm alles sinnlos vor.

Am zweiten Samstag im August sah er, wie Marina Luzi ein paar Sandalen anprobierte, die ihr ein Ladenbesitzer gebracht hatte. Wie jemand, der nichts mehr zu verlieren hat, ging er, die Hände in den Hosentaschen, zu ihr und tat so, als wollte er sich ebenfalls Sandalen kaufen.

Sie sagte fröhlich »Ciao«, doch Luca hatte kaum Augen für sie und blieb schlecht gelaunt.

»Und Betta?«, fragte er leicht gereizt, während er auf ein paar perlenverzierte Zehensandalen starrte.

»Die kommt heute«, erwiderte Marina und wühlte in ihrer kleinen Umhängetasche nach Geld.

Sie zahlte und ließ ihn halb betäubt, halb grinsend vor den Sandalen zurück.

Am Sonntag schaffte er es nicht, Betta zu sehen, weil seine Oma Geburtstag hatte und er mit seiner Familie bis zum späten Nachmittag in Tarquinia war. Nach der ersten Verzweiflung konnte er der in die Länge gezogenen Vorfreude doch noch was abgewinnen. In Gedanken war er die ganze Zeit beim nächsten Vormittag, wenn er sie wiedersehen würde: zum ersten Mal nach der Sache mit dem Armband. Ob sie sich noch daran erinnerte? Das war schließlich schon eine Ewigkeit her. Er dachte an ihr stummes »Danke« zurück, an ihr tanzendes Handgelenk und konnte kaum glauben, dass das tatsächlich geschehen war.

Noch nie war er so zuversichtlich gewesen wie an diesem zehnten August, als er nach dem Abendessen allein auf der Terrasse stand und auf Sternschnuppen wartete – unter einem Himmel, an dem bereits Wolken aufzogen. Sterne waren nirgends zu erkennen, trotzdem war er glücklich.

In dieser Nacht schlief er tief und traumlos.

Irgendwann am frühen Morgen wachte er davon auf, dass sein Bruder nach Hause kam und duschte, wobei er versuchte, möglichst wenig Lärm zu machen. Hoffentlich wurde er nicht von den Eltern erwischt, sonst würde es wegen der Uhrzeit bestimmt Ärger geben. Im Halbschlaf verzog er den Mund zu einem mitfühlenden Lächeln. Maurizios Stimmung war gerade im Keller, weil sein neues Moped weg war: Er hatte es seinem Vater geliehen und der hatte es sich vor dem Yachtclub klauen lassen. Maurizio hatte sich nicht beschwert und auch keine böse Bemerkung gemacht, er wusste, dass sein Vater ein schlechtes Gewissen hatte. Aber Luca wusste, wie schlecht es ihm wirklich ging. Um ihn zu trösten, hatte er darauf bestanden, seinem Bruder für diesen Sommer das Rad zu überlassen, das ihm seine Eltern und Großeltern zur Mittleren Reife geschenkt hatten. Ihm reichte sein altes, klappriges Rad, er mochte es immer noch. Irgendwann hatte Maurizio eingewilligt, und sie hatten sich umarmt wie schon lange nicht mehr.

 

Als ihm seine Mutter beim Frühstück sagte, sie könnten nicht an den Strand gehen, weil eine Schwimmerin verunglückt sei, flippte Luca aus. Das sei ihm egal, schrie er, von ihm aus könnten alle ertrinken. Selbst, wenn es ein Erdbeben gebe oder der Turm von Torre del Fratino in sich zusammenfalle: Er werde an diesem Vormittag an den Strand gehen und damit basta.

Die Mutter sah ihn erst verblüfft an, dann folgte eine Standpauke: Eine junge Frau sei ertrunken, er solle gefälligst ein bisschen mehr Respekt zeigen.

Nervös tunkte Luca seine Kekse in die Milch und hielt den Blick gesenkt. So sehr er sich auch anstrengte: Er schaffte es einfach nicht, Mitleid für eine Frau aufzubringen, die in einem vom Unwetter aufgewühlten Meer gebadet hatte.

»Entschuldigung«, brummte er wenig überzeugend.

Die Mutter setzte sich ebenfalls an den Tisch und schwieg verärgert. Sie nippte an dem Fruchtsaft ohne Zucker, den die Oma selbst machte und den der Rest der Familie ungenießbar fand, weil er so sauer war. Doch obwohl dünn, war sie auf ihre schlanke Linie fixiert.

»Wieso gehst du nicht mit Maurizio Tennis spielen?«, schlug sie ihm nach einer Weile versöhnlich vor. »Nimm dein altes Rad und fahr zu ihm.«

Luca schaute auf. »Warum? Ist Maurizio schon weg?«

»Er ist heute früh aufgebrochen.« Sie nickte zufrieden. Auch im Sommer mochte sie es gar nicht, wenn ihre Söhne ewig im Bett blieben.

Luca schob einen eingeweichten Keks auf den Löffel. »Na gut.«

Eine Viertelstunde später fuhr er schnell wie der Wind zum Strand von Torre Domizia, der in der entgegengesetzten Richtung vom Tennisclub lag.

 

Aber bis zum Meer sollte er an diesem Vormittag gar nicht erst kommen.

Als er sah, wie Marina Luzi auf einer der Bänke am Brunnen im Schatten der von Palmen gesäumten Piazza saß und schluchzte, verlangsamte er seine Fahrt und blieb stehen. Sie war von Freundinnen umringt, die sie streichelten und sich entsetzte Blicke zuwarfen. Neben ihr saß auch Rocco, der Sohn der Bäckerin, vornübergebeugt auf der Lehne, die Ellbogen auf die Knie gestützt und die Füße auf der Sitzfläche. Seine neue Freundin umarmte ihn von hinten, ihre Stirn ruhte auf seinem Rücken.

Luca bemerkte die bedrückte Atmosphäre sofort.

Vor dem Zeitungskiosk und vor den Geschäften standen die Leute grüppchenweise zusammen und murmelten, winkten Passanten herbei, um sie einzuweihen. Immer wieder wurden ungläubige Rufe laut, dann wurden die Stimmen wieder gedämpft, während man hilflos die Arme ausbreitete.

Nur Marina Luzi schluchzte heftig. Aus ihrer Kehle drangen unverständliche Laute. Immer wieder verbarg sie ihr gerötetes Gesicht in den Händen und schüttelte den Kopf, als wollte sie das Leid, das sie zerriss, nicht wahrhaben. Die Mädchen murmelten tröstende Worte und wischten sich Tränen aus den gebräunten Gesichtern. Rocco starrte auf seine Flipflops.

Luca stieg vom Rad und schob es in Zeitlupe zur Bank. Eine seltsame Angst ergriff von ihm Besitz, eine plötzliche Beklemmung, die jede Neugier verblassen und seinen Gang steif werden ließ. Er spürte, dass ihn etwas Schreckliches erwartete und bereute, nicht auf seine Mutter gehört zu haben, nicht nach San Nicola geradelt zu sein, um Maurizio beim Tennisspielen zuzusehen.

Das rhythmische Quietschen des Hinterrads ließ die anderen herumfahren.

Marina Luzi sah ihn stirnrunzelnd an. Augen und Nase waren vom vielen Weinen gerötet.

Luca und sie sahen sich lange an, Marina erriet seine Frage. Er hatte sie erst zwei Tage zuvor auf Betta angesprochen, ausgerechnet vor diesem Geschäft da. Doch jetzt waren seine Lippen wie gelähmt.

»Sie wurde heute Morgen im Lido Le Dune gefunden«, stöhnte sie, bevor sie erneut von einem Weinkrampf geschüttelt wurde. Sie knickte ein, als hätte man ihr einen Schlag in den Unterleib verpasst. Ein Mädchen mit kurzem Bob setzte sich neben sie, um die schmalen Arme um sie zu legen.

Rocco fuhr sich durch seine Igelfrisur und stellte, den Kopf zwischen den breiten Schultern eingezogen, seltsame Fragen. Irgendwann schluchzte auch er untröstlich.

Luca starrte in die Ferne, zum Lido Le Dune hinüber, wo er sie das letzte Mal gesehen hatte. Zum letzten Mal. Er hörte wieder Figli delle Stelle, das ohrenbetäubende Klackern des Flipperautomaten, den Ball, der auf dem Kickertisch herumsprang, sah erneut, wie sie das Handgelenk schüttelte, wie ihr blond gelockter Pferdeschwanz wippte. Er dachte an das Glücksarmband auf ihrer gebräunten Haut, an ihre Lippen, die sein Herz hatten höherschlagen lassen.

Er wendete sein Rad, stieg auf und trat so fest in die Pedale, wie er das mit seinen zitternden Beinen noch konnte. Er raste nach Hause wie vom Teufel verfolgt.

Er fand seine Mutter im Garten vor, sie trug Handschuhe und einen Strohhut und goss eine halb vertrocknete Pflanze. Er ließ das Rad ins Gras fallen und sagte, er habe es sich anders überlegt, er habe keine Lust mehr, Maurizio beim Tennis zuzuschauen.

Er ging ins Wohnzimmer und ließ sich mit verschränkten Armen aufs Sofa fallen, um sich viel zu laut einen amerikanischen Spielfilm anzuschauen. Draußen protestierte seine Mutter genervt.

 

Luca redete sich ein, nie richtig in Betta verliebt gewesen zu sein, immerhin vergoss er keine einzige Träne. Beim Gedanken an diese plötzliche Lücke, die sich nie wieder schließen würde, empfand er ein Staunen, das nicht weichen wollte und ihn vom Aufwachen bis zum Schlafengehen begleitete.

Mit sechs Jahren hatte er tagelang um seinen Hund geweint, der vom Nachbarn überfahren worden war. Mit neun hatte er gelernt, was Verzweiflung ist, als sein bester Freund nach Barletta gezogen war. Er hatte sogar um die alte Familienkutsche getrauert, die gegen ein neues, geräumigeres rotes Auto eingetauscht worden war.

Doch bei ihr, Betta, die einfach so aus dem Leben geschieden war, blieb er stumm.

Die wahren Umstände ihres Todes erfuhr er erst, als er ein Gespräch zwischen seinem Vater, der vom Staatsanwalt mit den Ermittlungen betraut worden war, und seiner Mutter belauschte. Die beiden flüsterten in der Küche: Sie unterdrückte Entsetzensschreie, während seine Sätze von Seufzern unterbrochen wurden.

Während Luca im Schneidersitz auf der Gartenschaukel saß, hörte er alles mit zusammengepressten Lippen an, äußerlich wie innerlich erstarrt, sah die Szene, die sein Vater schilderte, genau vor sich. Betta hatte sich heimlich mitten in der Nacht aus dem Bett gestohlen, vielleicht, um jemanden zu treffen oder sich zu den großen Jungs am Strand beim Torre del Fratino zu gesellen, wo im August Lagerfeuer gemacht wurden. Im Lido Le Dune war sie überwältigt, vergewaltigt und zum Sterben im Sand liegen gelassen worden. Sie war erstickt, weil sie an Asthma litt, sie hatte einen Anfall bekommen, und niemand hatte ihr geholfen.

Addio, ragazza, ciao – »Leb wohl, Mädchen, ciao« hieß es in Bettas Lieblingslied.

Luca hörte die fröhliche Melodie in seinem Kopf und stellte sich diese Momente am Strand vor, im Dunkeln. Vielleicht hatte sie geschrien, vielleicht war sie geschlagen worden, war ihr so wehgetan, ihr solche Angst eingejagt worden, dass sie einen Asthmaanfall bekam. Immer wieder überlegte er, was das eigentlich hieß, vergewaltigt. Im Grunde wusste er Bescheid, auch wenn er nicht hätte sagen können, woher. Vielleicht aus einem Film, den er vor langer Zeit heimlich im Fernsehen gesehen hatte, eines frühen Morgens, als seine Eltern ins Krankenhaus geeilt waren, weil es seiner Oma nicht gut ging. Plötzlich war Maurizio reingekommen, hatte umgeschaltet und ihn so seltsam angesehen: »Was schaust du denn da?«, schimpfte er. Eine Weile hatte er die Szene nicht mehr aus dem Kopf bekommen, die ihn fasziniert, aber auch verstört hatte.

Jetzt wusste Luca, dass Betta dasselbe erlebt hatte, bevor sie starb. Er konnte nur noch in seinem Zimmer bleiben und das Grease-Poster über dem Bett anstarren. Seine Mutter meinte, er sei so seltsam, immer diese Launen, doch der Vater verteidigte ihn: »Lass ihn in Ruhe, Lilia, das ist die Pubertät.« Dabei warf er ihm einen verschwörerischen Blick zu, nach dem Motto »Das hab ich auch erlebt und Maurizio ebenfalls. Da müssen alle Männer durch.«

Manchmal schrak er mitten in der Nacht aus dem Schlaf, hatte im Dunkeln das Gefühl, wie Betta zu ersticken. Dann riss er die Augen auf und rang röchelnd nach Luft. Er machte das Licht an und betrachtete das Poster, bis er die Worte des Songs aus Grease hörte und sich beruhigte. You’re the one that I want ooh ooh ooh. Er schloss die Augen und wartete auf den Schlaf, ließ die Nachttischlampe an, aus Angst, die Dunkelheit könnte die Musik in seinem Kopf verstummen lassen und durch die Klänge von Figli delle Stelle ersetzen. Durch den Kokosduft der Sonnenmilch, die Perlenarmbänder.

 

Nach Ferragosto hatte Maurizio über einen Freund einen Ferienjob in einem Hotel auf Korsika gefunden und war über Nacht dorthin gereist. Er war glücklich, denn so konnte er sich das Geld für ein neues Moped verdienen. Die Eltern hatten nichts dagegen, sie freuten sich, dass er arbeitete und noch dazu sein Französisch aufbesserte. Luca war erleichtert, dass sein Bruder eine Weile weg sein würde, denn in letzter Zeit fragte er ständig, warum er nur so ein Gesicht mache und drängte ihn zum Reden. Er glaubte nicht an die Geschichte von der Pubertät.

Sein Vater ermittelte, was das Zeug hielt. Der Tod des jungen Mädchens, wie er Betta nannte, belastete ihn, er trauerte mit der Familie Ansaldo, aber auch um den verloren gegangenen Frieden. Der Fall brachte ihn um den Schlaf: Seit zwanzig Jahren hatte es in Torre Domizia kein so schreckliches Verbrechen mehr gegeben. Die Mutter ging nicht mehr an den Strand. Sie störten die unpassenden Fragen, die ihr die Leute unterm Sonnenschirm stellten. Sie alle wünschten sich sehnlichst, dass der Täter nicht aus Torre Domizia war: Der Gedanke, ein solches Monster könnte die ganze Zeit unter ihnen gelebt haben, war ihnen unerträglich. Den restlichen Sommer über sonnte sich die Mutter lieber im Garten und blätterte nur in Zeitschriften, bei denen sie sich sicher sein konnte, dass Elisabetta Ansaldo nicht erwähnt wurde. Außerdem durfte Luca länger im Bett bleiben als sonst, ja, er durfte sich sogar den ganzen Nachmittag Zeichentrickfilme anschauen. Der Vater kam abends fix und fertig nach Hause und meinte, man komme einfach nicht weiter: Niemand hatte etwas gesehen oder gehört, ganz so, als hätte diese Tragödie ganz woanders stattgefunden. Er fluchte, war schweißgebadet und verstand sich so gar nicht mit dem Untersuchungsrichter Castagnoli, der sich in Civitavecchia hinter seinem Schreibtisch verschanzte und seinen Frust, dass er den Schuldigen nicht zu fassen bekam, an ihm ausließ. Beim Abendessen wurde geschwiegen, im Hintergrund lief der Fernseher, was sonst nie vorgekommen war. Die Laune seiner Eltern verbesserte sich nur, wenn Maurizio ein paar Mal die Woche anrief, um zu sagen, dass alles nach Plan lief. Dann lächelte der Vater und telefonierte so laut mit ihm, als befände er sich auf einem anderen Planeten. Die Mutter ermahnte ihn genervt, er müsse nicht so schreien. Er brachte sie mit einer Geste zum Schweigen und presste den Hörer ans Ohr und sah sie böse an, weil er ihretwegen nicht gut hören konnte, was Maurizio sagte.

So endete Lucas dreizehnter Sommer. Ohne die übliche Wehmut angesichts der häufigeren Flut, der sich leerenden Strände, der Lidi, die die Sonnenschirme abbauten, und der verstummenden Musik. Luca wusste nicht, wer aus seiner Clique die letzten Radrennen in den Hügeln neben den Gleisen gewonnen hatte, wer das Wasser vom Brunnen der Bar des hinkenden Eigentümers am weitesten spucken konnte, der ständig schimpfte und vergeblich versuchte, sie zu erwischen, während sie mit gespieltem Entsetzen davonliefen. Seine Freunde hatten oft vor dem Gartentor gestanden und mit ihren Fahrradklingeln geläutet, doch er hatte sie immer unter irgendeinem Vorwand weggeschickt. Seine Mutter ermunterte ihn, mitzugehen, sie verstand einfach nicht, warum er plötzlich nur noch zu Hause bleiben wollte – ausgerechnet er, der im Gegensatz zu Maurizio immer unternehmungslustig gewesen war.

»Ich bin eben in der Pubertät«, erwiderte er eines Nachmittags genervt und gab vor, in »Ruf der Wildnis« zu lesen.

Die Mutter musste laut lachen. Nachdem sie ihm zärtlich übers Haar gestrichen hatte, ließ sie ihn in Frieden.

 

Ab September ging Luca dann ohne große Begeisterung aufs Gymnasium in Santa Marinella. Er schlief schlecht und kam morgens nur schwer aus dem Bett. Seine Mitschüler fand er von Anfang an doof, und da er stets für sich blieb, mobbten sie ihn. Sie lästerten, er sei zu schmächtig, gaben ihm den Spitznamen linke Socke, weil er Linkshänder war und machten sich manchmal einen Spaß daraus, ihm in der Pause das Panino aus der Hand zu schlagen oder ihn beim Sport mit dem Ball zu bewerfen. Er ließ sie gewähren, es war ihm egal. Wenn er zu Hause gefragt wurde, wie ihm die neue Schule gefiel, sagte er nur »gut«.

Maurizio begriff, dass es nicht gut lief. Manchmal kam er zu ihm ins Zimmer, wenn er lernte und bot an, ihn in Latein abzuhören, fragte, ob ihn irgendetwas belaste. Dann zuckte Luca nur mit den Schultern, ohne von seinen Büchern aufzuschauen. Er sagte zu allem »Nein«, er freute sich nicht mehr so wie früher über die Gespräche mit seinem Bruder. Auch Maurizio hatte sich verändert: Er machte einen auf Frauenheld, steckte ständig mit Mädchen zusammen und verbrachte die Zeit überwiegend an der Uni in Rom. Ganz so, als wäre er über Nacht erwachsen geworden. Luca war fest davon überzeugt, dass er heimlich rauchte, denn wenn er ihm die Hand auf die Schulter legte, stanken seine Finger nach Nikotin.

Eines schönen Dezembertages setzte sich seine Klassenkameradin Flavia Diodato, die normalerweise eher schüchtern war, auf den Schoß von Teo Marras. Der hatte sie mit einer abrupten Kopfbewegung zu sich gerufen. Er wiederholte die Klasse und hatte großen Erfolg bei den Mädchen. Sobald er eine von ihnen ansprach, wurden die anderen ganz aufgeregt, verstummten und warfen ihr neidische Blicke zu. Er machte ihr erst Komplimente, um ihr dann an den Po zu fassen, und sie sprang verlegen lachend auf und schob wenig überzeugend seine Hand weg, so als sei sie genervt, wolle ihn aber auch nicht abweisen. Luca saß hinter ihnen und hörte, wie Marras höhnte, »Pass bloß auf, nicht dass du eine Schlampe wirst und so endest wie Betta Ansaldo …«

Flavia Diodato rang sich ein gezwungenes Lächeln ab und kehrte mit gesenktem Blick an ihren Platz zurück, ohne den spöttischen Protest von Marras weiter zu beachten, der die Hand ausstreckte und versuchte, ihr in den Po zu kneifen. Einige Mädchen lachten auffallend laut, er sollte verstehen, dass sie das lustig fanden. Flavia Diodato starrte aus dem Fenster.

Luca stand auf, ging langsam vor zum Fahrer und hielt sich dabei an den Sitzlehnen fest, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.

»Ich möchte aussteigen«, sagte er tonlos.

Der Fahrer musterte ihn aus den Augenwinkeln. »Ist dir schlecht?«

»Nein, ich geh lieber zu Fuß.«

»Nun, junger Mann, bis Torre Domizia dürften es noch zehn Kilometer sein«, warnte er ihn väterlich.

»Ich schau noch bei meiner Oma vorbei«, log er.

Der Fahrer lächelte überrascht und fuhr rechts ran.

Als Luca ausstieg, spürte er die neugierigen Blicke seiner Mitschüler.

Jemand rief: »Grüße deine Oma von mir, linke Socke!«

Lautes Gelächter übertönte das Zischen der sich schließenden Türen, dann fuhr der Bus weiter.

Luca Nardulli, der den Reißverschluss seiner Jacke bis obenhin zugezogen und seinen Rucksack aufgesetzt hatte, blieb unter einem düsteren Himmel, am Rande einer verlassenen Straße stehen, die er nicht kannte.

Er wartete einen Moment, um dann mit gesenktem Kopf, die Hände in den Hosentaschen, loszumarschieren, ohne zu wissen, ob das überhaupt die richtige Richtung war. Ein eisiger Wind blies ihm ins Gesicht und ließ seine Augen tränen, ihm lief die Nase, sodass er sich in regelmäßigen Abständen mit dem Bündchen seines Sweatshirts den Rotz abwischte.

Als er zwischen den niedrigen Mehrfamilienhäusern ein Stück graues Meer sah, bog er rechts ab und ging hinunter zum Strand, wo die kabbelnden Winterwellen Kiesel, Muscheln, Treibholz, Algen und Müll angespült hatten. Seine zu großen Clarks, die er von Maurizio geerbt hatte, füllten sich mit Sand und behinderten seine Schritte. Am Spülsaum ließ er sich fallen, als würden ihn seine Beine plötzlich nicht mehr tragen.

Er saß einfach nur da und ließ sich vom eiskalten Wasser dieses traurigen, vergessenen Meeres umspülen. Er begann zu zittern, nach und nach entrang sich ihm ein Schluchzen. Er hielt den Kopf gesenkt und ließ sich durchschütteln.

Dass dieser Widerling, Teo Marras, Bettas Namen in den Mund genommen hatte, obwohl er sie kein bisschen kannte, riss seine Wunden wieder auf.

All sein Leid brach sich jetzt Bahn und schien dieses Leid gleichzeitig zu lindern. Jetzt spürte er, dass er sie wirklich geliebt hatte, endlich drang der Schmerz zu ihm durch.

Er überließ sich Bettas Lieblingslied, das in seinem Kopf widerhallte, der Erkenntnis, dass sich die Lücke, die sie gerissen hatte, nie wieder schließen würde. Die Jahreszeiten würden auch weiterhin aufeinander folgen, während der Gedanke an sie nie mehr von Erwartungen, sondern nur noch von endlosem Verlust begleitet sein würde. Immer wieder schämte er sich, dass ihr Duft, ihre Haut, ihre Stimme seine ersten heimlichen Fantasien beflügelt hatten. Wenn er sich vorstellte, dass sich dieser geliebte Körper jetzt auf schrecklichste Weise auflöste, packte ihn die Verzweiflung.

Er saß da und weinte bis es dunkel wurde, an einem unbekannten Strand.

 

Als er den Bus nach Hause nahm, war es schon spät.

Seine Mutter erwartete ihn am offenen Gartentor. Sie eilte ihm entgegen und zog ihn fest an sich, fragte, ob es ihm gut gehe, befühlte ihn, als wollte sie sicherstellen, dass er noch heil war. Als sie wissen wollte, was passiert war, ob ihm jemand was getan hätte, sagte er nur genervt »Nichts« und »Nein«, um dann hinzuzufügen: »Ich hab bloß einen Ausflug ans Meer gemacht.« Da trommelte die Mutter auf ihn ein und packte ihn so heftig am Arm, dass Maurizio und die Nachbarin sie nur schwer von ihrem Sohn lösen konnten. Nach einer halben Stunde kam der Vater, der mit einem Kollegen Streife gefahren war, um ihn zu suchen. Als er ihn wohlbehalten vor sich sah, war er dermaßen erleichtert, dass er bloß sagte, »Luca, bist du den völlig verrückt geworden?«

Nach dem Abendessen bekam er Fieber, was ihn vor weiteren Vorwürfen und Strafandrohungen bewahrte. Die Mutter strich ihm zärtlich übers Gesicht, als wäre er wieder ein kleiner Junge. Bevor er einschlief, kam Maurizio, um sich zu verabschieden.

»Spinnst du jetzt total?«, sagte er halb amüsiert und setzte sich zu ihm ans Bett. Während des gesamten Abendessens hatte er ihm vielsagende Blicke zugeworfen, um ihm zu zeigen, dass er auf seiner Seite war.

»Ich habe gar nicht gemerkt, wie spät es ist«, jammerte er mit schlimmen Halsschmerzen, die Augen fielen ihm zu, weil er so Kopfweh hatte und so müde war.

Der Bruder griff ihm ins Haar und schüttelte ihn sanft. »Mach das nie wieder«, sagte er liebevoll.

»Okay.«

»Ich hab dich lieb, Luca.«

Bevor er in einen tiefen Schlaf fiel, konnte Luca gerade noch murmeln: »Ich dich auch.«

 

Luca Nardulli, der inzwischen vierzehn war, erholte sich rasch von der Bronchitis, die er sich im feuchten Sand eines Strandes eingefangen hatte.

Mit der Zeit litt er immer weniger unter dem Tod von Betta Ansaldo.

In Torre Domizia, in den Zeitungen, zu Hause, ja eigentlich überall war immer seltener die Rede von Betta.

Sein Vater meinte bedrückt, es komme ihm so vor, als ob sich die Monster einfach in Luft aufgelöst hätten. Inzwischen war allseits bekannt, dass es mindestens zwei gewesen waren. Sie hatten sich auf sie geworfen, ihr Schreckliches angetan und sie dann zum Sterben unter dem pechschwarzen Himmel liegen lassen, aus dem sich bei Tagesanbruch sintflutartiger Regen ergoss.

Luca, der sie mit der Inbrunst eines Teenagers geliebt hatte, stellte sich beim Gedanken an sie inzwischen nur noch vor, ihr sanft über die Wange zu streichen, sie in ihrer Angst, im Dunkeln zu sterben, zu trösten.

Manchmal fragte er, was diesen Gewaltausbruch ausgelöst hatte. Er wunderte sich nicht, dass Untersuchungsrichter Castagnoli und sein Vater die Schuldigen nicht fanden: Er war zu dem Schluss gelangt, dass das keine Menschen sein konnten, dass sie aus dem Meer gekommen sein mussten, aus dem finsteren Herzen des Pinienwäldchens, angeführt von einem Dämon. Er stellte sie sich als Bleistiftskizze vor, nichts als Finsternis in sich und um sie herum, den Mund weit aufgerissen und mit Abgründen statt Augen wie in einem Horrorcomic.

Es konnte einfach nicht sein, dass sie Gesichter, Hände, Beine hatten wie er. Er hatte den Eindruck, der Einzige zu sein, der das Geheimnis der Monster kannte, den Grund, warum sein Vater sie niemals finden würde, so sehr er sich auch anstrengte. Die Erde hatte sich aufgetan, um sie auszuspucken und dann wieder zu verschlingen. Genau so war es gewesen. Er verspürte keine Wut, nur hilfloses Staunen.

Die Zeit verging wie in Zeitlupe, Monate fühlten sich an wie Jahre. Nach und nach gab er seine Zurückhaltung auf. Im Gymnasium wurde man das Mobben leid, erst ignorierte man ihn, dann wurde »Linke Socke« ein freundlicher Spitzname und irgendwann schloss er sogar Freundschaften. Im Mai begann er mit den Mitschülern aus Torre Domizia und San Nicola Basketball zu spielen. Flavia Diodato gestand ihm noch vor Ende des Schuljahrs, dass sie die Nase voll von Marras habe, ja inzwischen wisse, was für ein Idiot das sei. Offen gestanden, hasse sie ihn. Eines Tages fragte sie ihn an der Bushaltestelle, ob er Betta Ansaldo gekannt habe.

Luca zögerte und schüttelte den Kopf. Die Sonne brannte schon vom Himmel herunter und kündigte den Sommer an.

»Nein?«, sagte sie und musterte ihn zweifelnd, mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht.

»Nein«, erwiderte er, ohne sie anzuschauen.

Sie warteten schweigend auf den Bus.

»Wollen wir uns nebeneinander setzen?«, schlug Flavia vor, als sie sich in die Schlange der Schüler einreihten, die einsteigen wollten.

Luca zuckte nur kurz mit den Schultern. »Von mir aus.«

Ohne große zu reden, saßen sie auch noch die letzten Wochen vor den Ferien nebeneinander im Bus.

Am ersten Ferientag kam sie, die in Santa Severa wohnte, mit dem Bus nach Torre Domizia, damit sie gemeinsam an den Strand gehen konnten. Sie schwammen ausgiebig und lachten, denn obwohl das Wasser noch kalt war, hatten beide große Lust aufs »Anbaden«. Anschließend standen sie in ihre Handtücher gehüllt bibbernd nebeneinander am Spülsaum. Sie sahen sich verstohlen an und lächelten, ohne genau zu wissen, warum.

Am späten Nachmittag brachte Luca sie zur Bushaltestelle. Bevor sie einstieg, verabschiedeten sie sich mit einem Kuss auf den Mund, was beiden Herzklopfen bescherte. Er sagte rasch, wenn sie Lust habe, könnten sie sich ja am nächsten Tag in Santa Severa sehen. »Natürlich habe ich Lust«, erwiderte Flavia Diodato und winkte ihm vom Bus aus nach, bis sie verschwunden war.

Luca machte sich mitsamt seiner Traurigkeit, die jedoch soweit nachgelassen hatte, dass sie manchmal nur noch leise Wehmut war, auf den Nachhauseweg. Ihm gefiel die Vorstellung, dass sich auch Betta, wo immer sie jetzt sein mochte, über den Sommeranfang freute. Dass sie das silbern glitzernde Meer unter der hoch am Himmel stehenden Sonne sehen, die frische Brise aus dem Westen im Gesicht spüren konnte. Er stellte sich vor, dass auch sie das Lied hören konnte, das aus einem offenen Fenster über der Piazza kam. Es brachte die Luft zum Vibrieren, sodass eine Alte im Dialekt schimpfte.

Luca musste lachen und beschleunigte seine Schritte, denn es war schon spät.

III

Im Frühling, als Luca Nardulli fünfzehn war und der Duft von Gewitter und den Arancini aus der Pasticceria Bellomo in der Luft lag, ging seine ganze Welt unter.

Seine Mutter konnte die gefüllten Reisbällchen nicht ausstehen, weil Bellomo Sahne reintat, und das war für sie, deren Großvater aus Sizilien stammte, ein Sakrileg. Auch Luca mochte diese Pampe, die den Reis zusammenhielt, nicht besonders, aber sein Vater und Maurizio waren ganz verrückt nach diesen Arancini, und so aß er sie mit.

Weil er sich die Kritik der Mutter nicht anhören wollte, pflegte sein Vater, sie auf dem Revier zu essen oder dann mit nach Hause zu nehmen, wenn seine Frau mal ausnahmsweise nicht da war.

An diesem Abend im Mai würde die Mutter nicht daheim essen. Deshalb hatten die männlichen Mitglieder der Familie Nardulli Glück und würden beim Fußballschauen darüber herfallen. Sich aufs Sofa fläzend, vermutlich im Schlafanzug, würden sie die nackten Füße direkt neben die Arancini auf den Couchtisch legen, vor Aufregung fluchen, schwitzen und sich öfter kratzen als unbedingt nötig.

Doch bis es soweit war, genoss Luca seinen Nachmittag allein zu Hause bei lauter Musik, eine willkommene Abwechslung vom Lateinlernen. Zwischen einer Deklination und einer Passivkonstruktion gönnte er sich eine kurze Auszeit und malte sich den bevorstehenden Sommer aus. Inzwischen war er schon neun Monate mit Flavia Diodato zusammen und kam ihr immer näher, und das allein genügte schon, um den Ferien begeistert entgegenzusehen. Manchmal dachte er daran, wie fern ihm seine Gefühle für Betta inzwischen waren. Wie anders, ja wie viel reifer er sich heute vorkam. Er dachte mit Bitterkeit an ihren Tod, denn obwohl sein Vater alles getan hatte, um die Täter zu finden, war immer noch niemand zur Rechenschaft gezogen worden. Mit Zärtlichkeit dachte er an all die Gefühle zurück, die sie in ihm geweckt hatte, und dennoch: Die Erinnerung an sie verblasste. Wenn er zufällig mit dem Rad am Strandbad Le Dune vorbeifuhr, hielt er in der irrationalen Hoffnung, sie dort mit der Sonne um die Wette strahlend zu entdecken, stets an, um dort hineinzuschauen. Dann fuhr er wehmütig weiter. Das Strandbad selbst besuchte er nie, schon bei dem Gedanken daran wurde ihm ganz schlecht. An die Geschichte von den Monstern glaubte er längst nicht mehr. Aber wenn er daran dachte, was sie ihr angetan hatten, konnte er sich immer noch kaum vorstellen, dass das Menschen gewesen sein sollten. Er hasste sie, falls sie eines Tages hinter Gitter kämen, würde ihn nicht einmal diese Gewissheit trösten: Er träumte davon, dass sie denselben Monstern, die seine Fantasie gebar, zum Opfer fielen, von spitzen Zähnen zerfleischt wurden und vor Schmerz brüllten, während sie, den Mund entsetzt aufgerissen in leere Augen schauten. Er wünschte sich, dass die Finsternis sie verschlang und ließ Flavia bei Dunkelheit nie allein nach Hause zurückkehren: Er wusste, dass diese leibhaftigen Unmenschen immer noch irgendwo da draußen auf freiem Fuß waren.

Als Luca die Klingel hörte, wunderte er sich, dass sein Vater nicht den Schlüssel benutzte. Er stellte die Musik aus, eilte vom ersten Stock nach unten und öffnete die Tür. Zu seinem Erstaunen sah er auf dem gepflasterten Weg mitten durch den Vorgarten drei Carabinieri auf sich zukommen. Er kannte sich mit Uniformen und Dienstgradabzeichen aus, sein Vater hatte sie ihm von klein auf erklärt, und als er sie auf sich zumarschieren sah, erkannte er auf Anhieb einen Maresciallo wie sein Vater und zwei Brigadieri, ebenfalls Angehörige der Carabinieri und ihm unterstellt. Nervös wartete er an der Tür. Die Kollegen seines Vaters aus Torre Domizia und Umgebung kannte er alle, doch diese Gesichter waren ihm völlig fremd.

»Deine Eltern?«, fragte der ältere korpulente Brigadiere ganz ohne die sonst so herzliche Begrüßung von Seiten der Ordnungskräfte, wenn sie merkten, dass sie es mit dem jüngsten Sohn des Maresciallo zu tun hatten.

»Die sind nicht da.«

»Und dein großer Bruder?«

»Der ist auch nicht da.«

»Bist du allein zu Hause?« Der Maresciallo spähte über seinen Kopf hinweg.

»Mein Vater müsste jeden Moment hier sein.«

Der jüngere Brigadiere, der bisher geschwiegen hatte, legte ihm die Hand auf die Schulter, um ihn sanft, aber energisch ins Haus zu schieben. »Wir warten im Haus auf sie, es fängt an zu regnen.« Er bahnte seinen beiden Kollegen den Weg, und sie folgten ihm mit ernsten Blicken.

»Mach die Tür zu«, befahl der Maresciallo hinter ihm, als wäre das sein Zuhause, während er auf dem Weg ins Wohnzimmer einen Blick in die anderen Räume warf.

Luca zögerte einen Moment und fragte sich, ob er ihnen, obgleich sie Carabinieri waren, überhaupt hatte aufmachen dürfen. Er gehorchte verwirrt.