Circles of Fate - 2 - Marion Meister - E-Book

Circles of Fate - 2 E-Book

Marion Meister

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Beschreibung

Lita hat den Tod unter die Lebenden gebracht und damit den ersten Vers der Prophezeiung erfüllt. Dennoch will sie ihr Schicksal nicht akzeptieren. Genau wie Hanna, Rukar und auch Tegan, ist sie fest entschlossen, Äon ein Schnippchen zu schlagen und sein vorherbestimmtes Ende der Welt zu verhindern. Aber wie können sie etwas aufhalten, was unumstößlich bestimmt ist? Führt nicht jede ihrer Entscheidungen zu einer weiteren Erfüllung der apokalyptischen Prophezeiung? So hoffnungslos die Lage auch ist, Lita begreift: Das Entscheidende ist, dass du weißt, dass du getan hast, was du tun konntest. Dass du mit allem, was du geben konntest, für das gekämpft hast, woran du glaubst. Circles of Fate Band 2 schließt nahtlos an den ersten Band an.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Circles of Fate

Band 2

Von Marion Meister

Impressum

Überarbeitete Ausgabe

– 2025 –

Im Original unter dem Titel

„Circles of Fate – Schicksalskampf“

Und

„Circles of Fate – Schicksalserwachen“

2021 in zwei Bänden im Arena Verlag erschienen.

1. Auflage

Copyright © 2017 – 2025 by Marion Meister

Umschlaggestaltung und Illustrationen von Marion Meister

Impressum

StoryTown – Derek Meister & Marion Meister GbR

C/O COCENTER

Koppoldstr.1

86551 Aichach

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Marion Meister – www.marionmeister.info Derek Meister – www.derekmeister.com

Über das Buch

Circles of Fate Band 2 schließt nahtlos an den ersten Band an.

Lita hat den Tod unter die Lebenden gebracht und damit den ersten Vers der Prophezeiung erfüllt. Dennoch will sie ihr Schicksal nicht akzeptieren. Genau wie Hanna, Rukar und auch Tegan, ist sie fest entschlossen, Äon ein Schnippchen zu schlagen und sein vorherbestimmtes Ende der Welt zu verhindern.

Aber wie können sie etwas aufhalten, was unumstößlich bestimmt ist? Führt nicht jede ihrer Entscheidungen zu einer weiteren Erfüllung der apokalyptischen Prophezeiung?

So hoffnungslos die Lage auch ist, Lita begreift: Das Entscheidende ist, dass du weißt, dass du getan hast, was du tun konntest. Dass du mit allem, was du geben konntest, für das gekämpft hast, woran du glaubst.

Die Autorin

Bereits als Kind erdachte sich Marion Meister fantasievollen Welten, die parallel zu unserer existieren. Ihre Liebe galt dabei besonders den Sagen und Legenden über Magie und Götter. Inzwischen ist sie hauptberuflich Autorin und schreibt sich jeden Tag in Welten voller Abenteuer und Magie.

Offiziell lebt sie mit ihrer Familie in Niedersachsen, ist aber meist in ihren Geschichten unterwegs und selten im Hier und Jetzt anzutreffen.

Inhaltsverzeichnis

Jin

Rukar

Hanna

Lita

Rukar

Misano

Lita

Hanna

Rukar

Zara

Tegan

Lita

Jin

Tegan

Misano

Lita

Zara

Elaine

Rukar

Tegan

Lita

Rukar

Rukar

Elaine

Tegan

Lita

Zara

Tegan

Jin

Lita

Tegan

Zara

Lita

Elaine

Jin

Lita

Zara

Misano

Rukar

Jin

Lita

Tegan

Elaine

Rukar

Misano

Zara

Hanna

Tegan

Misano

Lita

Jin

Rukar

Zara

Lita

Jin

Tegan

Lita

Rukar

Lita

Rukar

Tegan

Misano

Rukar

Tegan

Hanna

Tegan

Rukar

Jin

Rukar

Tegan

Hanna

Rukar

Hanna

Rukar

Faine

Danksagung

Urban Fantasy

BAND 2

Von

Marion Meister

Für meine Helden Ryan und Davis.

Verliert nie den Glauben an euch selbst!

Jin

Jin betrat pfeifend den Blumenladen nahe Covent Garden und sah sich um. Das Geschäft war in einem dieser altmodischen Häuser untergebracht, deren bunt gestrichene Holzfassaden und große Schaufenster zur Straße zeigten.

Sah man von außen hinein, glich der Innenraum einer Fototapete von einem Dschungel.

Jin hielt nicht viel von diesen menschlichen Riten, sich zu allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten Blumen hinzustellen. Aber irgendwie wollte er doch ein Zeichen setzen. Eine letzte große Geste, bevor er die Welt in ihren Untergang schickte.

Außerdem konnte er Misano durchaus diesen Gefallen tun, denn ohne ihn wäre der Weltuntergang kaum möglich gewesen.

Mit hochgeschobenen Sakkoärmeln, die Hände in den Hosentaschen, schlenderte Jin durch die überwucherten Regalreihen. Der Laden war nicht gerade geräumig und ziemlich altmodisch mit all den hölzernen Regalen und Anrichten, auf denen Topfpflanzen und Schnittblumen untergebracht waren. Ein kleiner Urwald, eine wahre Explosion aus Farben und Formen. Der aufdringliche Geruch von Kräutern oder Heu, oder was auch immer es war, nervte ihn schon nach wenigen Sekunden.

Aber dieser Laden war ihm empfohlen worden, da der Inhaber ein besonders gutes Händchen für erlesene Blumenarrangements hatte. Und genau das suchte er.

Er wollte protzen.

Er wollte, dass Misanos Heim in Blumen ertrank.

Misano hatte ihn gebeten, für Zara einen kleinen Empfang vorzubereiten. Vermutlich hatte er sich etwas anderes vorgestellt: romantischer, intimer. Doch es war der Vorabend des Weltuntergangs! Jin fand, da durfte man sich nicht lumpen lassen.

Zara hatte Opulenz verdient, schließlich war sie Teil des großen Finales.

Denn der Tod kommt zu den Lebenden. Dieser Teil des Orakels war bereits erfüllt. Aleph bringt das Ende … War dies vielleicht ein Friedensangebot von Äon? Es hatte seine Erstgeborenen so schändlich vernachlässigt. Immerhin erlaubte es ihnen nun, diesen Zirkus hier zu beenden. Leben ist Gift, es besiegelt das Schicksal. Genau so war es! Die Zeit springt, denn was immer war, ist nicht mehr. Zwar hatte Jin sich vorgestellt, dass die Welt gleich nach dem Einflechten von Zaras Totenfaden mit einem Paukenschlag endete, aber auf ein paar Stunden mehr oder weniger kam es auch nicht mehr an. Der Countdown lief. Das war alles, was jetzt noch zählte.

Jin schlenderte an den Pflanzen entlang Richtung Verkaufstresen, der irgendwo tief in diesem Dickicht verborgen sein musste.

Äon hat sich in Sachen Artenvielfalt durchaus etwas einfallen lassen, dachte er beim Anblick der Blattformen und Grünschattierungen. Aber es hat versagt. Das allmächtige Wesen, der Ursprung von allem, hatte seine Schöpfung verlassen. Davon war Jin inzwischen felsenfest überzeugt. Es hatte sie alleingelassen, vergessen … gestraft mit Geschenken wie der Unsterblichkeit, die er und seinesgleichen in dieser unendlichen Langeweile zu fristen hatten.

Was hatten die Unsterblichen Äon getan, dass es sie so verdammte? Jin schnaubte.

»Kann ich Ihnen helfen?« Ein junger Mann trat aus dem Blätterwald auf ihn zu. Jin zuckte zusammen. Er war so sehr in seine bitteren Gedanken vertieft gewesen, dass er den Ladenbesitzer gar nicht bemerkt hatte. Mit seinem grünen Samtsakko trug er nicht gerade dazu bei, in all diesem Grün aufzufallen. Selbst sein rotes Haar stach optisch nicht hervor, sondern schien bei einem flüchtigen Blick auch nur eine der vielen Blüten zu sein.

Der junge Mann verbeugte sich leicht. »Es ist mir eine Ehre, Jin. Was führt Sie in meinen bescheidenen Laden?«

Verdutzt musterte Jin den Mann. »Du bist ein Kami«, stellte er überrascht fest.

»Mein Name ist Faine. Ich habe ein ausgesprochen gutes Händchen für die Schöpfung in all ihren Formen und Farben.« Lächelnd deutete er auf den Urwald um ihn herum. »Einen grünen Daumen, wie die Menschen sagen.«

»Na wunderbar.« Jin seufzte. Ein Kami! Davor hatte ihn keiner gewarnt. Aber vielleicht war er sogar hilfreich, denn Menschen waren noch schwerer von Begriff als diese unnützen guten Geister. »Ich brauche Blumen.«

Faine nickte mit einem feinen Lächeln. »Es ist möglich, dass ich Ihnen bei Ihrer Suche helfen kann.«

»Schön. Es sollen viele sein. Ich will ein ganzes Wohnzimmer damit vollstopfen.«

»Eine wunderbare Idee. Zu welchem Anlass?«

Unschlüssig sah sich Jin um. »Das ist das Knifflige daran. Der Hausherr möchte die Unsterblichkeit feiern, die Wiederkehr von den Toten. Aber ich, ich will das Ende zelebrieren.«

»Das Ende?«

Der Kami klang unsicher und Jin verdrehte genervt die Augen. »Ja, das Ende. Das Ende von Leid und Erbärmlichkeit.«

Für einen Moment kam Jin der Gedanke, der Kami könnte zickig werden, denn er warf ihm einen strafenden Blick zu. Doch dann neigte er gehorsam den Kopf und winkte Jin, ihm zu folgen.

»Also feiern Sie Anfang und Ende zugleich?« Faine führte ihn zu einigen Vasen, in denen puschelige, orangefarbene Blumen blühten. »Für diese besondere Situation schlage ich Ihnen Tagetes vor. Bei manchen Völkern werden die Blumen verwendet, um den Seelen der Toten den Weg nach Hause zu zeigen. Eine passende Symbolik, oder? Das eine Leben hat geendet und eine neue Lebensform beginnt.«

Missmutig starrte Jin die fröhlich wirkenden orangefarbenen Blüten an. Nichts da mit neuer Lebensform. Er würde Äon persönlich heimsuchen, wenn dieses Mistdings sich ein Leben nach dem Tod ausgedacht hatte. Dennoch gefiel ihm die Idee, den Toten den Weg zu weisen. Er grinste in sich hinein. Dank Hannas Leichtsinnigkeit hatte er eine detaillierte Wegbeschreibung, wie er sich endlich selbst von der Unerträglichkeit seiner Existenz befreien konnte. Er hatte sie Schritt für Schritt befolgt und konnte nun entspannt dem Untergang zusehen. Und das musste gefeiert werden. Diese Blümchen schienen ihm allerdings zu gewöhnlich, um das große Ende gebührend zu feiern!

»Ich hatte an etwas Dramatischeres gedacht. Schwarz zum Beispiel.«

Faine runzelte die Stirn. »Mit reinem Schwarz kann ich nicht dienen. Allenfalls tiefes Purpurviolett. Aber das wird nicht Ihrer Vision entsprechen.«

»Und wieder eine Lücke in dieser ach so wunderbaren Schöpfung.« Grummelig zupfte Jin eine der orangefarbenen Blüten aus dem Strauß. »Wie ist das eigentlich, Kami, redet ihr über euren Schöpfer? Oder ist er euch genauso egal, wie ihr ihm egal seid?«

Verwundert zog Faine die Augenbrauen hoch. »Sprechen Sie über Äon?«

Jin schnippte die Blume weg, sie landete irgendwo im grünen Dickicht. »Gibt es noch ein anderes überhebliches Trottelwesen, das sich Welten ausdenkt und sie dann vergisst?«

Offensichtlich nahm ihm der Kami die respektlose Behandlung der Pflanzen übel, denn er bedachte ihn mit einem finsteren Seitenblick. »Nun, ob es uns vergessen hat, ist nicht bewiesen …«

»Ach? Kaffeekränzchen mit seiner Obrigkeit gehabt? Wohl kaum. Es lässt sich ja nicht mal bei uns, seinen Erstgeborenen und Erben, blicken.« Nachdenklich starrte Jin die orangefarbenen Blumen an. Sie waren ihm viel zu fröhlich. Andererseits hatte er ja durchaus etwas zu feiern. Seine Laune war so gut wie seit hundert Jahren nicht mehr. Er zupfte eine zweite Blume aus der Vase und drehte sie zwischen den Fingern.

»Wen wollen Sie denn mit den Blumen beglücken? Äon?

Sich selbst?« Der Kami versuchte, sachlich und geschäftig zu wirken.

»Ich will meine große Freude über die Wiederkehr einer ganz reizenden Frau ausdrücken. Die Lady mochte Blumen immer sehr. Es wäre eine letzte, nette Geste. Sie hat sie verdient.« Ohne sie würden wir schließlich alle hier auf ewig verrotten. Er hob die Blume an, um an ihr zu riechen.

»Die stinkt!«, bemerkte er freudig überrascht.

»Nun, diesen Ausdruck würde ich nicht verwenden, doch Sie haben recht. Tagetes gehört nicht zu den lieblich duftenden Sorten.«

Wie wunderbar! Ein Haufen stinkender Blumen, die den Toten den Weg nach Hause zeigten. »Perfekt!« Jin steckte sich die Blüte in ein Knopfloch seines Jacketts. Damit hatte sich dieses Gewächs als Willkommensgruß für Zara und Deko seiner Weltuntergangsfeier qualifiziert.

»Liefer eine Wagenladung der Dinger in Misanos Loft!«

Der Kami verbeugte sich. »Sehr wohl. Die Rechnung stelle ich Ihnen zu.«

Jin, der sich bereits abgewandt hatte, hielt inne. »Die Rechnung …« Er verkniff sich ein Lachen. Er würde wohl keine Gelegenheit mehr haben, sie zu begleichen. Und dem Kami bliebe auch keine Zeit, sich etwas von dem Geld zu kaufen. Denn bis dahin lag die Welt schon in Asche und dieser dumme Zirkus hatte geendet.

»Wo bekomme ich eigentlich den besten Champagner?«, murmelte er zu sich selbst und schlug ein paar Palmenblätter zur Seite, um den Ausgang zu finden.

Rukar

Rukars Körper fühlte sich steif an und sein Kopf dröhnte.

Nur mit Mühe konnte er seine Augen dazu bringen, sich zu öffnen. Eisiges Weiß blendete ihn und hinter seiner Stirn explodierte Schmerz. Ein Schmerz, der jedes Nervenende in seinem Körper erfasste.

Stöhnend ließ er sich zurückfallen. Er versuchte, sich zu erinnern, was geschehen war.

Noch einmal blinzelte er in das Weiß.

Wo war er?

Nur langsam konnte er den Blick fokussieren und nahm seine Umgebung wahr. Ein Stück von ihm entfernt türmte sich Eis. Wie eine erstarrte Flutwelle steckte es in einem Durchgang zu – Misano!, durchfuhr es ihn. Der Unsterbliche war im Turm und hatte die Weberinnen angegriffen!

Stöhnend richtete Rukar sich auf. Misano hatte ihn mit einer Eiswelle aus dem Raum geschleudert, in dem sich die Schicksalsfäden befanden. Er war gegen den Baum gekracht und bewusstlos geworden.

Jeder Herzschlag pumpte Schmerz durch seinen Kopf.

Rukar zwang sich, zum Weltenraum zu sehen. Die dicke Eisschicht verschloss noch immer den Durchgang. Wie lange war er weg gewesen? Und wo war Lita! Sie hatte sich Misano gestellt, der ihre Großmutter Elaine in seiner Gewalt hatte.

Scharf sog Rukar Luft ein und ballte die Fäuste. Er musste etwas tun. Es war alles seine Schuld!

Geschäft ist Geschäft! Es war nicht seine Verantwortung, was der Auftraggeber mit der Ware machte, die er ihm brachte. So war sein Geschäftscredo gewesen – bis heute.

Rukar! Du bist ein Idiot!

Er wollte zur Kuppel, unter der sich der Raum mit den Schicksalsfäden der Menschen verbarg, jedoch war er zu schwer verletzt. Er musste sich am Stamm des Baums festhalten, damit er nicht erneut zu Boden ging.

Konzentrier dich! Aber da waren nur Wellen von dröhnendem Schmerz, der seine Sinne vernebelte.

Mit zittrigen Fingern tastete Rukar nach seinem Gürtel.

Du bist doch auf alles vorbereitet! An dem breiten Lederriemen befanden sich einige Säckchen und Schlaufen, an denen Phiolen befestigt waren. Eine dünne Frostschicht bedeckte sie. Er zog einen winzigen Beutel ab und fischte eine dunkelrote Pille daraus hervor. Dehydriertes Mantikorblut. Dieses starke Schmerzmittel hatte er vor Jahren aus Wooks Vorrat geklaut, allerdings bisher nie gebraucht.

Hoffentlich hatte es nichts von seiner Heilkraft eingebüßt.

Zitternd warf er sich eine Pille in den Mund und begann, sie wie Kaugummi zu kauen. Sofort breitete sich ein ekelhafter Geschmack auf seiner Zunge aus, der ihn an Eisen erinnerte. Der lähmende Schmerz lichtete sich.

Erleichtert atmete er durch und richtete sich auf – als ihn ein harter Tritt in die Seite traf und umwarf.

Hanna

»Äon?« Hannas Stimme hallte in der Leere des Raums wider: Sie blinzelte gegen die blendende Helligkeit an, die den Orakelraum erfüllte. »Bitte! Wir brauchen deine Hilfe!«

Wie oft hatte sie nun schon nach dem Wesen gerufen?

In dem runden Raum, der wie die Quelle des Lichts war, in dem man jegliche räumliche Orientierung verlor, schien auch Zeit nicht zu existieren. War sie eben erst durch die versteckte Tür hereingekommen? Oder verschwendete sie bereits Stunden darauf, Äon zu rufen? Vermutlich würde sie nie eine Antwort erhalten.

Mit geschlossenen Augen verharrte sie und wartete – auf irgendetwas. Ein Geräusch, eine Bewegung, eine Veränderung des Lichts … eine Stimme.

Doch immer noch geschah nichts.

»Äon! Wir werden angegriffen!«, brüllte sie in das Licht. »Du hast uns keine Fähigkeiten gegeben, um uns gegen die Angriffe der Unsterblichen zu verteidigen! Hilf uns!« Die Stille verschluckte ihr Flehen.

Wieso antwortete es nicht? Es musste wissen, was vor sich ging! Manche behaupteten, Äon hätte seine Schöpfung schon vor Hunderten von Jahren im Stich gelassen.

Hatten sie etwa recht?

Nein, niemals. Äon kannte jeden Faden seiner Schöpfung. Es wusste, was hier gerade passierte.

Äon bestimmte, was geschehen sollte. Nicht nur in den einzelnen Leben der Menschen – auch mit der gesamten Welt.

»Hast du uns satt?«, brüllte Hanna in das Licht. »Willst du uns so aus deiner Schöpfung löschen?« Es war sinnlos, hier weiter um Hilfe zu betteln. Lita, Elaine und all die anderen Weberinnen waren da draußen. Schutzlos dem Wahnsinn eines Unsterblichen ausgeliefert. Sie musste zu ihnen.

Hastig wandte Hanna sich um und tastete blind nach der Tür, die in der Wand des Orakelraums verborgen war. Es dauerte, bis sie die Stelle erreicht hatte. Die Tür glitt zur Seite und Hanna taumelte hinaus.

Die Luft im Turm war schneidend kalt und unter ihren Sohlen knirschte es. Raureif. Angst schlich sich in ihr Herz. Was hatte Misano Lita und Elaine angetan?

Hastig stolperte sie vorwärts, doch sie konnte nichts sehen. Ihre Augen waren noch immer von der Helligkeit geblendet, die im Orakelraum geherrscht hatte. Es schmerzte wie Messerstiche, sobald sie sie öffnete, und Tränen verschleierten ihren Blick.

Wie hatte sie nur eine Sekunde lang glauben können, Hilfe vom Weltenschöpfer zu erhalten. Alles, was geschah, war sein Werk!

Es hatte Elaine gesagt, dass das Ende bevorstand.

Und Elaine hatte geglaubt, es wäre seine Strafe für sie. Für ihren Ungehorsam.

Doch Äons Schweigen war mehr als deutlich: Es hatte genug von den Weberinnen, von den Menschen und den Unsterblichen. Selbst von den gutmütigen Kami. Es wollte seine gesamte Schöpfung beenden!

Warum sonst hüllte es sich in Schweigen und ließ die Dinge einfach so geschehen?

Der Angriff auf den Turm war sein Wille! Dies war Hanna nun schmerzlich klar geworden.

Sie biss die Zähne zusammen gegen den Schmerz in ihrem Herzen. Blinzelnd versuchte sie, den Weg zu erkennen.

Der Raum des Orakels befand sich einige Stockwerke über dem Weltenraum. Er hing wie ein Nest, das Webervögel in die Zweige gewoben hatten, in den Ästen des Schicksalsbaums.

Sie atmete tief ein und bekämpfte die in ihr aufkommende Verzweiflung. Tränen liefen über ihre Wangen, während sie fast blind den Weg suchte.

Warum hatte Äon diesen brutalen Überfall geschehen lassen? Es hätte die Welt mit einem Fingerschnippen verschwinden lassen können. Genauso, wie es sie vor Millionen Jahren erschaffen hatte.

Warum wollte es, dass seine Kinder Schmerz und Angst litten?

Es ist sinnlos.

Gegen das von Äon vorgegebene Schicksal waren sie alle machtlos. Es hatte Elaine das Ende der Welt vorhergesagt.

Und Schritt für Schritt bewegten sie sich darauf zu. Hanna selbst hatte Jin gezeigt, wie auch er seinen Teil dazu beitragen konnte.

Schluchzend sackte sie auf die Knie und begann, hemmungslos zu weinen. Durch den Tränenschleier verschwand die Welt um sie herum immer mehr.

Nach Atem ringend setzte sie sich auf und blickte in den Baum. Seine grünen Batter waren von Eis überzogen. Alles im Turm funkelte wie Kristall. Schön anzusehen, doch kalt und hart und schneidend. Bevor Misano in den Turm eingedrungen war, war ihre Heimat weich, luftig und von Wärme durchflutet gewesen.

Hier war sie aufgewachsen. Und obwohl sie freiwillig den Turm verlassen hatte, war der Geruch und Klang des Schicksalsbaums in ihren Erinnerungen nie verblichen.

Wann immer sie die Augen schloss, hatte sie ihn gespürt.

Seine Macht verband sie alle miteinander. Nicht nur die Menschen, auch die Weberinnen waren Teil seiner Gemeinschaft. Zwölf Bäume wurzelten auf der Welt, verbunden durch ein dichtes Flechtwerk aus Wurzeln, entsprungen aus dem einen Weltenbaum, der noch immer in der jenseitigen Welt stand und seine Abkömmlinge mit seiner Kraft nährte.

Äon selbst hatte diesen Urbaum geboren, erzählten die Legenden. Und mit ihm all das Leben, das nun auf dieser Welt existierte.

All die Menschen, Tiere, Pflanzen, Kami, Unsterblichen und Weberinnen. Selbst jene Wesen, die in der Dunkelheit hausten.

Ein weiterer Krampf schnürte Hannas Brust zu. Allein der Gedanke, dass ihre Tochter von Misano gefangen war! Dass sie unter seinen grausamen Attacken Schmerzen litt. Sie musste zu Lita, bevor alles vorbei war. Entschlossen wischte Hanna sich die Tränen fort. Zittrig erhob sie sich.

Erst jetzt fiel ihr auf, wie totenstill es im Turm war. Die Blätter des Schicksalsbaums schwiegen. Die Melodie, die die Blätter stets flüsterten, war verstummt.

Misanos Frost hatte sie erstarren lassen. Aber nicht nur das Wispern des Baums war verklungen, auch die fröhlichen Stimmen der Früchte erntenden Weberinnen. Kälte kroch Hanna unter die Haut.

Eilig betrat sie den Astweg und lief in Richtung der Treppe, die sich um den Stamm wand.

Egal, ob Äon die Welt enden lassen will – Ich lasse Lita nicht allein!

Als sie die Treppe betrat, spähte sie den Stamm hinab in die Eingangshalle. Dort unten war alles weiß. Dickes Eis ummantelte Äste und Treppe. Ihre Schuhe quietschten leise, als sie die Stufen hinunterlief. Je näher sie dem Weltenraum kam, umso mehr Eiszapfen glitzerten an den Ästen. Die Stufen der Spindeltreppe waren glatt. Sie musste vorsichtig sein. Das vereiste Geländer, an dem sie sich festhalten wollte, bot keinen Halt, denn der Frost brannte sich in ihre Haut.

Würde sich der Baum von den Erfrierungen erholen?

Besorgt musterte sie die Zweige, während sie weiter hinablief.

Plötzlich rutschte sie weg. Die Sohle fand keinen Halt auf der Eiskruste. Hanna fiel nach hinten und landete hart auf dem Eis, das sie die Treppe hinabschlittern ließ. Panisch versuchte sie, sich festzuhalten, aber die Stufen waren so glatt, dass ihre immer wieder abglitten.

Fast zu spät bemerkte sie die Weberin, auf die sie zu schlitterte. Mitten auf den Stufen, in der Bewegung eingefroren, stand sie auf der Treppe. Offensichtlich war sie vor Misano geflohen, doch er hatte sie nicht entkommen lassen. Hektisch warf sich Hanna herum, damit sie die vereiste Frau nicht traf, begann zu trudeln und schaffte es endlich, ihre Rutschpartie zu stoppen, indem sie sich mit dem Fuß gegen eine Strebe des Geländers stemmte.

Vorsichtig, als balancierte sie auf rohen Eiern, zog sie sich auf die Füße und schob sich zur Weberin hinüber.

»Serena«, wisperte Hanna geschockt, als sie der Frau ins Gesicht sah. Es war eindeutig Serena, die unter einer zentimeterdicken Eisschicht erstarrt war. Die Augen weit aufgerissen, den Mund zu einem Schrei verzerrt, schien sie Hanna direkt anzusehen.

Ihr stockte der Atem. Konnte Serena etwa noch am Leben sein? Zögerlich trat sie näher an die Eingefrorene heran. Serena war damals eine enge Freundin gewesen.

Auch wenn der Blick an Hanna vorbeiging, beschlich sie das Gefühl, dass ihre Freundin unter dieser eisigen Schale gerade um ihr Leben kämpfte.

Hanna musste sich zusammenreißen, um nicht erneut loszuheulen.

Lita

Lita kletterte aus dem Spindelwerk hinunter zu Misano, der ihr skeptisch entgegensah. Der Raum dröhnte von all dem Sirren und Klackern der Fäden, Spindeln und Rollen.

Ihre Hände klebten vor Schweiß und sie wischte sie an der Jeans trocken. Hatte sie das Richtige getan? Würde Faines Glück ihr helfen? Unauffällig warf sie einen Blick zurück zu der Weberin, die sich versteckt hielt. Diese trug in einer Tasche jede Menge Spulen mit neuen Fäden bei sich. Die Schicksale Hunderter Babys, die heute geboren worden waren. Es war die Aufgabe der Weberin, die Schicksalsfäden an die Neugeborenen zu knüpfen. Doch Misanos Überfall auf den Turm hatte sie aufgehalten. Immerhin war sie nicht von Misano zu Eis verwandelt worden.

Der Unsterbliche hatte Lita versprochen, die Frauen wieder aufzutauen, sobald Lita den Totenfaden in das Weltengeflecht gefädelt hatte. Und sie hoffte sehr, dass Misano sich an sein Wort halten würde. Denn sie hatte ihren Teil erfüllt.

Lita nickte der Weberin aufmunternd zu. Sofort, wenn sie mit Misano den Raum verlassen hatte, musste die Frau sich aus ihrem Versteck trauen, um die Fäden in das Spindelwerk einzulegen. Jeder Mensch brauchte seinen Faden, das hatte Lita in den vergangenen Tagen gelernt. Das Leben stand darauf geschrieben.

Ihr Blick huschte über die Abertausend Spulen und Rollen, die die Lebensfäden transportierten und durch einen Durchlass knapp unter der Zimmerdecke in den dahinterliegenden Weltenraum führten.

Bis vor Kurzem war Lita der Meinung gewesen, sie wäre selbst für ihr Leben verantwortlich. Doch es war Äon, das die Welt erschaffen hatte und für jeden Einzelnen einen Lebenslauf schrieb. Und es gab kein Entrinnen. Das Schicksal war erbarmungslos. Ohne Faden war man allerdings raus aus dem Spiel. So wie sie.

Aber Lita war sich nicht sicher, ob es gut war, keinen Faden zu besitzen. Ihr hatte die Schicksalslosigkeit jede Menge Ärger eingebracht. Vor allem gab es keinen Lebensfaden, den man abschneiden konnte. Nicht auszudenken, wenn es plötzlich Hunderte von Schicksalslosen geben würde. Nicht nur, dass ihre Taten nicht vorhersehbar wären – sie wären alle unsterblich.

Elaine würde ausrasten.

Für einen Wimpernschlag grinste Lita bei dem Gedanken, als ihr jedoch bewusst wurde, dass sie ihre Großmutter schwer verwundet im Weltenraum zurückgelassen hatte, beschleunigte sie ihre Schritte.

Hastig sprang sie von dem untersten Metallsteg auf den Boden und landete direkt vor Misano. »Ich habe meinen Teil der Abmachung eingelöst«, sagte sie. »Nun sind Sie dran.«

Unsicher beobachtete Misano das Spindelwerk. Die verschachtelte Anlage schien ihm nicht geheuer zu sein. »Wo ist er?«

Lita folgte seinem Blick. Sie hatte keine Ahnung, wo der Totenfaden von Zara abgeblieben war. Die Spule hatte ihn fortgerissen. Aber mit Sicherheit war er bereits im Weltenraum. Und Faines Glück würde ihr helfen, ihn wiederzufinden, sobald Misano den Turm verlassen hatte.

Er packte ihr Handgelenk. »Was ist mit Zaras Faden passiert?« Sein Blick irrte umher, auf der Suche nach dem Schnipsel, das von Zaras Lebensfaden übrig gewesen war.

»Was glauben Sie denn! Es ist zurück im Weltengeflecht!« Sauer versuchte sie, sich aus seinem Griff zu befreien. Seine Haut fühlte sich eisig an. Angst, er könne sie jeden Augenblick einfrieren, überfiel sie. »Ich hab getan, was Sie wollten. Ich habe den Faden zurück in das Gespinst gebracht!«

Endlich ließ er sie los, fuhr herum und eilte in den Weltenraum.

Lita nickte abermals der Weberin zu, die sich versteckt hielt, und folgte Misano. Als sie sich noch einmal umsah, beobachtete sie erleichtert, wie die Frau emsig Fäden in das Spindelwerk einlegte.

Das Dröhnen der monströsen Maschine war im Weltenraum nicht mehr wahrzunehmen. Hier war es still wie in einer Kirche. Die Schicksalsfäden, die wie dünne schillernde Lichtstrahlen den Raum durchkreuzten, trugen mit ihrem farbigen Schimmer zu dem sakralen Eindruck bei.

Elaine kauerte noch immer am Boden. Sie sah fürchterlich aus. Ihre Nase hatte geblutet, ein Auge war geschwollen und offenbar hatte Misano ihr eine Schulter ausgerenkt. Sie musste schreckliche Schmerzen haben.

Lita ging auf Elaine zu. Unauffällig glitt ihr Blick zum Eingang, der weiterhin durch eine Eiswand blockiert war. Misano hatte mit dieser Welle aus Eis Rukar aus dem Weltenraum geschleudert.

Wo er jetzt wohl war? Hatte Rukar sich aus dem Staub gemacht, weil das hier keiner seiner Aufträge war?

»Zeig ihn mir!«, rief Misano. Gehetzt blickte er sich in dem flirrenden Netz aus Licht um.

»Den Faden?« Lita lachte nervös.

Auch sie wollte den Faden der Toten finden, allerdings um ihn wieder aus dem Geflecht zu entfernen. Misano durfte nichts davon mitbekommen. Es war besser, wenn er den Faden nicht fand. So konnte sie behaupten, dass seine Idee eben nicht funktioniert hatte. Jeder hatte sich mit dem Tod abzufinden. Auch Unsterbliche, wenn sie sich in Sterbliche verliebten.

Ihr Blick glitt über das endlose Gespinst aus Schicksalsfäden. Es schien unmöglich, dieses kurze Stückchen darin wiederzufinden.

Misano machte allerdings nicht den Eindruck, als wollte er das akzeptieren. Er stapfte mitten hinein. Doch die Fäden waren wie Laserlicht für ihn. Nur Weberinnen konnten die Fäden berühren. Seine Bewegungen verwirbelten die bunt schimmernden Lichtfäden. Hilflos ruderte er in dem flirrenden Gespinst herum, ohne auch nur einen Faden berühren zu können.

Lita suchte Elaines Blick, aber die Oberste Weberin wandte sich von ihr ab. Pure Missbilligung spiegelte sich in ihrem Gesicht. Fast hätte Lita sie angeblafft. Elaine hatte seit siebzehn Jahren gewusst, dass dieser schreckliche Tag kommen würde. Es war ihr nicht gelungen, die Geschehnisse abzuwenden. Lita hatte den Faden einer Toten in das Gespinst eingeflochten und laut Äons Orakelspruch war dies der Beginn des Weltuntergangs. Zumindest interpretierte Elaine das Orakel so, dass Lita dadurch die Welt in Asche verwandelte.

Bisher war keine Asche zu sehen.

Noch immer ruhte ihr Blick auf Elaine. Sie gab ein Bild des Jammers ab. Lita merkte, wie sie eine Faust ballte.

Elaine hätte lieber eine Weberin nach der anderen Misanos Zorn geopfert, als den Faden einzuflechten. Und das, wo sie doch Äon hatte Folge leisten wollen. Vermutlich war es ihr wieder nur um ihren Stolz gegangen. Elaine war der Meinung gewesen, Äon würde die Welt allein wegen ihres Vergehens enden lassen wollen, als Strafe für Elaine.

Aber nun war Misano hier und hatte den Tod zu den Lebenden gebracht.

Lita war sich sicher, sie hatte die richtige Entscheidung getroffen. Denn sobald Misano nun endlich das Eis schmolz, und mit seiner Toten verschwand, würde sie den Faden wieder entfernen.

Sie war ohne Faden geboren worden. Kein Schicksal.

Sie war frei von Äons Willen. Sie existierte in Äons Plan schlichtweg nicht. Elaine hatte sich in allem geirrt. Nach Elaines abweisenden und wütenden Blicken zu urteilen, war es ihr inzwischen selbst klar geworden, dass sie ihre Tochter Hanna völlig umsonst ins Exil genötigt hatte.

Im Gespinst waren Millionen von Leben miteinander verwoben, die sich gegenseitig beeinflussten. Eigentlich war ihre Idee, Zaras Fadenschnipsel darin wiederzufinden, bescheuert. In hundert Tagen würde ihr das nicht gelingen! Allerdings hatte sie der Glückskami Faine ein zweites Mal gesegnet. Hielt der Glückssegen des Kami lange genug an, dann fand sie den Faden im Handumdrehen. Sie hatte mit diesem Segen einen Unsterblichen aufgespürt und sie würde auch Zaras Faden finden. Nur Misano musste endlich verschwinden!

»Ich habe keine Ahnung, wo Zaras Faden ist«, sagte sie zu Misano, der mit seinem schweren Mantel ziellos zwischen den Fäden herumwirbelte. »Nur das Schicksal selbst weiß, welchen Weg er nehmen wird.«

Er kam drohend auf sie zu. »Wenn du mich betrogen hast …! Wo ist ihr Faden? Euch Weberinnen ist nicht zu trauen! Zeig ihn mir oder du wirst es bereuen!« Er ballte eine Faust und eisige Blitze zuckten darauf.

Ungeachtet der Gefahr, dass er sie jederzeit schlagen oder, schlimmer noch, vereisen konnte, trat sie auf ihn zu.

»Gehen Sie zu Ihrer Zara. Sie haben ihren Leichnam mitgeschleppt, oder nicht? Gucken Sie in die Sänfte, ob dort Ihr Zombie sitzt und auf Frühstück wartet!«

Seine Ohrfeige traf sie unvorbereitet und sie taumelte zur Seite. »Sprich nicht so über Zara!«, donnerte er.

Ihre Wange brannte wie Feuer, doch Lita wollte sich nichts anmerken lassen. »Verschwinden Sie, bevor ich Ihrer Zara das Leben wieder nehme. Sie haben geschworen, den Turm zu verlassen, zusammen mit Ihrem Eis!«

Um seine geballte Faust zuckten weitere Eisblitze.

Lita blickte ihn entschlossen an. »Sie haben auf Zaras Faden geschworen, dass Sie den Turm verlassen und die Weberinnen erlösen!«

Er zögerte, schien abzuwägen, ob er tatsächlich zu Zara gehen oder sich lieber den Faden zeigen lassen sollte. Da rührte sich plötzlich Elaine. Sie atmete schwer, hustete und versuchte, auf die Beine zu kommen.

Es schnürte Lita das Herz zu, sie so zu sehen. Auch wenn sie wütend auf sie war, auf ihren Starrsinn und ihre Rechthaberei. Sie war trotz allem ihre Großmutter. Jedoch widerstand Lita dem Impuls, zu ihr zu eilen, um ihr zu helfen. Stattdessen fixierte sie Misano. »Verschwinden Sie endlich!«, zischte sie.

Er warf einen Blick auf die Fäden, dann wirbelte er herum, sein bodenlanger Mantel knisterte. Mit einer ungeduldigen Geste schoss ein glühender Ball aus seiner Hand auf den Eingang zu. Das Eis schmolz zischend, verdampfte in einer dicken Wolke und Misano eilte aus dem Raum.

»Wie konntest du nur!«, stöhnte Elaine hinter Lita. Sie stützte sich mit ihrem gesunden Arm ab und hievte sich auf die Beine. Es kostete sie große Anstrengung, sich aufrecht zu halten.

Lita ging zu ihr und stützte sie. »Ich bring dich hier raus, du brauchst einen Arzt.«

Zwar ließ Elaine die Hilfe zu, doch ihr Gesichtsausdruck sprach Bände. »Du hast die Welt zerstört!«

Lita schnaubte. Die Welt war noch da. Allerdings musste sie sich beeilen, den Faden zu finden, bevor Faines Glück sie verließ.

»Du hast deinen Teil der Prophezeiung erfüllt!«, jammerte Elaine weiter.

Lita griff fester zu. Auf keinen Fall würde sie sich jetzt auf einen Streit mit Elaine einlassen. Es war vorbei. Sie wusste, was sie tun musste. Faine hatte ihr den Mut gegeben und das Werkzeug. Und irgendwelche dämlichen Verse konnten sie mal!

Schritt für Schritt brachte Lita die alte Frau zum Ausgang. Hoffentlich hatte ihre Mutter Äon erreicht. Misano musste bestraft werden für seine Tat!

»Du bist das Ende der Welt! Du hast sie alle ermordet, sehenden Auges!« Obwohl Elaine zu schwach war, um selbstständig zu laufen, hatte sie genügend Atem, um Lita zu beschimpfen. Ihr Tonfall klang gehässig und Lita verlor die Geduld mit ihrer starrsinnigen Großmutter.

»Ich bin keine Mörderin! Weder lasse ich meine Großmutter erschlagen noch die Weberinnen ausrotten.« Und wenn Misano nicht Wort hielt und die Frauen, die er in Eis verwandelt hatte, nicht wieder zurückholte, würde sie zur Furie werden und ihn bis ans Ende der Welt verfolgen.

Er war vielleicht unsterblich, sie jedoch auch und ihr würde sicher etwas einfallen, wie sie ihn wieder und wieder dafür bestrafen konnte, was er den Weberinnen angetan hatte.

Rukar

Rukar taumelte nach vorne, verlor das Gleichgewicht und krachte auf den Boden. Der Tritt hatte ihn überrascht und er war davon so benommen, dass er seine Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen, nicht wie ein Echolot laufen ließ.

Die Fliesen waren von einer dünnen Eisschicht bedeckt, die es unmöglich machte, einen festen Stand zu finden.

Verdammt! Bevor er wieder auf den Beinen war, traf ihn erneut ein Schlag. Er spürte die Treffer nicht, denn das Mantikorblut betäubte sein Schmerzempfinden. Aber es machte ihn wütend, dass er die Schläge nicht kommen sah.

Er fuhr zu seinem Angreifer herum. Das Eis, das den Boden bedeckte, brachte ihn erneut aus dem Gleichgewicht und er ärgerte sich über seine fehlende Abwehr.

Wieder schoss eine Faust auf ihn zu. Er duckte sich und sie streifte seine Schulter. Im selben Augenblick erkannte er, wer ihn angriff. »Du?« Er war zu überrascht, um zu reagieren.

»Das ist mein Haus! Du wagst es, erneut hier einzudringen? Mit einem tollwütigen Unsterblichen?« Tegan starrte ihn wütend an. Ihr lila gesträhntes Haar war zerzaust, den Mantel hatte sie nach hinten geworfen, damit er sie bei ihren Attacken nicht behinderte. Darunter trug sie nur ein Tanktop, was ihr in diesem Moment einen ziemlich toughen Look verlieh. Mit einem Wutschrei holte sie aus und ließ ihre Faust auf sein Gesicht zuschießen. Er sprang zur Seite.

Das Gift des Mantikorbluts leistete endlich ganze Arbeit.

Er fühlte sich wieder stark und sicher und seine Zeitleserfähigkeiten kehrten zurück.

Erneut stürmte Tegan ihm entgegen. Aber sie konnte keinen weiteren Schlag mehr platzieren. Rukar blickte schlicht ein paar Sekunden voraus und kannte Tegans nächsten Angriff. Elegant ließ er sich auf dem Eis zur Seite schlittern und Tegan stolperte in die Leere.

»Lass es«, mahnte er sie, als sie ihn zum x-ten Mal mit aller Kraft verfehlte. »Es tut mir leid! Es war ein Auftrag. Ich konnte nicht ahnen, welche Ereignisse er nach sich ziehen würde.« Oder doch? Er hätte sich die Mühe machen können nachzusehen. Aber er hatte strikt nach seinem Kodex gehandelt.

»Es tut dir leid?«, keuchte sie. »Du bist mit Misano hier eingedrungen und hast meine Familie umgebracht!«

»Nein! Nein! Ich –« Er wich einem Tritt von ihr aus. »Hör auf! Ich habe nichts mit Misanos Überfall zu tun!«

»Das ist eine Lüge – du hast mich ausgeknockt, um dich als mich auszugeben und so in den Turm zu gelangen! Du hast Misano die Tür geöffnet!«

»Nein! Ich bin mit Lita hier!« Dass er allerdings Elaine entführt und Misano den Schlüssel damit geliefert hatte, verschwieg er ihr lieber. Denn es stimmte, was sie sagte: Er war verantwortlich. Er hätte nicht so naiv sein dürfen.

Entführung! Was hatte er gedacht, das Misano plante?

Für eine Millisekunde hielt Tegan inne, denn hinter ihr sprang eine Weberin aus dem Baum. »Lass ihn, Tegan. Das Schicksal wird seinen Weg gehen.« Die Weberin war fast noch ein Kind. Ihr rotes Haar stand ihr wirr vom Kopf ab und sie musterte Rukar scharf.

Das Schicksal wird seinen Weg gehen? Unwillkürlich tastete er nach dem Stück Teppich unter seiner Jacke. Ein Stück seines Schicksals. Wusste dieses Mädchen, wie die Zukunft aussah?

Tegan versuchte, noch einen Schlag zu landen, doch Rukar trat nur lässig einen Schritt zur Seite, ohne den Blick von dem rothaarigen Mädchen zu nehmen.

Tegan stieß einen derben Fluch aus. »Das Schicksal? Winnie! Ich scheiß auf mein Schicksal! Er hat es verdient!«

»Tegan!« Ihre Umhängetasche umklammert, warf die Kleine Tegan einen strafenden Blick zu. Zu Rukars Überraschung zog die nun die Schultern hoch, wickelte sich in den Mantel und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.

Anscheinend war diese Winnie Tegans Boss. Er unterdrückte ein Grinsen. »Es tut mir ehrlich leid. Ich werde versuchen, meinen Fehler wiedergutzumachen. Wirklich.« Er nickte zu dem Durchgang, der mit Eis verschlossen war.

»Misano hat Lita und Elaine in seiner Gewalt. Ich wollte Lita da rausholen, doch Misano hat mich … kaltgestellt.«

Winnie trat neben Tegan und legte ihr beschwichtigend eine Hand auf den Arm. Die beiden tauschten einen Blick und Rukar bemerkte, wie Tegan flüchtig den Stoff musterte, der aus Winnies Tasche lugte. Es war eindeutig eine Prophezeiung. Sie hatte die gleichen Farben wie das Stück in seiner Jacke. Hatten alle Teppiche diese Farben?

»Was will Misano hier?«, fragte Winnie ihn.

Rukar schluckte. Der Orakelspruch, den Lita ihm in der Bar zitiert hatte, ging ihm nicht aus dem Sinn. Der Tod kommt zu den Lebenden. Als er Elaine zu Misano gebracht hatte, war er von einem Streit zwischen den beiden ausgegangen. Dass es um Zara ging, war ihm bewusst gewesen, aber was Misano tatsächlich geplant hatte …

»Dort unten am Fuß des Schicksalsbaums steht eine Sänfte«, sagte er. »Er hat seine tote Geliebte mitgebracht.«

»Er hat was?«, riefen beide wie aus einem Mund. Er konnte ihnen ansehen, dass sie nichts begriffen. Kannten sie Litas Orakelspruch nicht?

»Zara, eine Menschenfrau –« Rukar deutete die Treppe hinunter, als plötzlich seine Sinne auf Alarm sprangen. In wenigen Augenblicken würde … Sofort hechtete er auf Winnie und Tegan zu und riss sie zu Boden. »Festhalten!«, schrie er.

Tegan stieß einen Wutschrei aus und schlug auf ihn ein, aber da erschütterte bereits eine Detonation den Turm. Eis regnete auf sie herab. Rukar drückte beide auf den Boden, versuchte, sie mit seinem Körper zu schützen, als eine Wolke heißen Wasserdampfs über sie hinwegfegte.

»Was –«, begann Tegan, doch weiter kam sie nicht, denn da wurden sie schon vom Wasser erfasst. Das Eis, das eben noch den Durchgang zum Weltenraum versperrt hatte, verwandelte sich in eine riesige Flutwelle.

»Haltet euch am Seil fest!«, befahl Rukar. Er hatte es bereits von seinem Gürtel gelöst und das Ende mit dem Widerhaken zum Baum geschleudert. Der Haken wirbelte um einen Ast und verhakte sich keinen Augenblick zu früh, denn da spülte das Wasser die drei auch schon von der Plattform.

Er schlang seinen freien Arm um Winnie, bevor ein heftiger Ruck im Seil ihren Fall stoppte.

Winnie kreischte auf und klammerte sich schmerzhaft an seinen Arm. Tegan packte das Mädchen ebenfalls und ihr Blick traf den seinen. Sie war wütend, zugleich auch erstaunt und geschockt. Aber vor allem wütend.

Mit aller Kraft umklammerte er das Seil. Doch das Gewicht der beiden Weberinnen zerrte an ihm. Ihre Umhänge waren vollgesogen mit Schmelzwasser und das machte die beiden nicht gerade leichter. Unter ihnen ging es sicherlich dreißig oder vierzig Meter in die Tiefe. Lange würde er sich mit einer Hand nicht mehr halten können. Mit einem entschuldigenden Grinsen holte er Schwung und sie pendelten auf einen Ast zu.

»Kannst du in den Baum springen?«, fragte er Winnie, die wie ein Klammeraffe an ihm hing.

Sie starrte ihn nur mit offenem Mund an und nickte.

Aufmunternd lächelnd gab er ihr ein Zeichen, als sie auf den Ast zuschwangen, und Winnie ließ ihn los, drehte sich in der Luft und landete geschickt auf dem Ast. Sofort lief sie tiefer in das Geäst zu einer geschützten Position und sah sich um.

Das Seil mit ihm und Tegan schwang zurück.

Er hielt sie noch immer umschlungen, doch inzwischen hatte sie ebenfalls das Seil umfasst.

»Traust du dich zu springen?«, wollte er von ihr wissen.

In ihren Augen blitzte noch immer Wut. »Damit sind wir nicht quitt«, zischte sie zur Antwort und als sie erneut auf den Ast zupendelten, sprang auch sie. Tegan landete ebenfalls im Baum, wenn auch nicht mit der gleichen Eleganz wie Winnie. Kaum war sie in Sicherheit, kletterte Rukar am Seil hinauf und zog sich auf den Ast, um den sich der Widerhaken geschlungen hatte. Er gönnte sich keine Verschnaufpause, um seine Muskeln auszuschütteln. Das Mantikorblut dämpfte zum Glück noch immer sein Schmerzempfinden. Eilig löste er das Seil und verstaute es wieder an seinem Gürtel, bevor er zu den Mädchen hinabstieg.

Die Explosion hatte den Durchgang zum Weltenraum freigesprengt. Das Blutrot von Misanos Mantel leuchtete durch den Dampf, der sich in der kalten Luft in Schnee verwandelte. War das dort neben ihm Lita?

Rukar sprang direkt auf die Plattform und ging Misano entgegen, der mit energischen Schritten den Raum verließ.

»Misano!«, rief er ihm hinterher. Doch der Unsterbliche blieb nicht stehen. Er marschierte eilig zur Treppe und warf Rukar nur einen flüchtigen Blick zu.

Erleichtert stellte Rukar fest, dass der Zorn aus Misanos Zügen gewichen war. Eine zerbrechliche Hoffnung glomm in seinen Augen. Was immer er von Elaine gefordert hatte, er hatte offensichtlich sein Ziel erreicht.

»Ich hab einen Auftrag für dich!«, rief Misano ihm zu. »Halte Elaine zurück. Sperr sie irgendwo ein. Und diese Göre ebenfalls.«

Ohne Rukars Antwort abzuwarten, wandte er sich der Treppe zu. Sein Mantel wehte wie eine Kriegsflagge hinter ihm her und verwirbelte den sanften Schnee, der in der Luft tanzte.

Rukar starrte ihm nach. Misano wollte zu Zara. Der Tod kommt zu den Lebenden. Hatte Elaine tatsächlich die Frau zurück ins Leben geholt?

Er duckte sich, denn seine Sinne warnten ihn, dass Tegan ihn angreifen wollte.

»Du bist zu laut. Er hört dich jedes Mal, bevor du angreifen kannst«, kommentierte Winnie Tegans nutzlosen Schlag. »Und bitte lass es endlich sein. Er hat uns gerettet.«

»Er hat uns überhaupt erst in Gefahr gebracht!«

Genervt verdrehte er die Augen und ließ die beiden stehen. Er musste nach Lita sehen. Hoffentlich hatte Misano ihr nichts getan.

Misano

Misano rannte die Stufen der breiten Treppe hinunter, die sich um den Schicksalsbaum wand. War es der Weberin gelungen, Zara wiederzuerwecken?

Hastig stürmte er an den Frauen vorbei, die mitten in ihren Fluchtversuchen eingefroren waren.

Zwar hatte er diesem Mädchen versprochen, er würde die Frauen wieder auftauen, wenn sie Zaras Faden zurückwebte. Aber … nein. Er hatte es nicht geschworen.

Ihm waren die Weberinnen ein Dorn im Auge. Schon immer gewesen. Es war nicht nachzuvollziehen, weshalb Äon ihnen die Macht über das Leben geschenkt hatte. Auf keinen Fall würde er diese Frauen erlösen. Für die meisten käme die Hilfe sowieso zu spät. Auch wenn sie unter seinem magischen Eispanzer nicht erstickten, so erfroren sie allmählich. Er hatte diese Art der Folter vor Jahrhunderten bis zur Perfektion ausgelotet, als die Unsterblichen sich noch in die Kriege der Menschen eingemischt hatten. Ein paar Weberinnen weniger würden der Welt nicht schaden.

Er beugte sich im Laufen über das Geländer und erhaschte einen Blick auf die Sänfte. Sie stand unverändert am Fuß des Baums. Bewegte sich der Vorhang? Sein Herz hämmerte. Wartete dort unten Zara auf ihn? War sie zurückgekommen?

Seine Gedanken nur auf die Sänfte fokussiert, achtete er auf nichts anderes. Nicht auf die gefrorenen Früchte des Baums, die Eiszapfen an den Ästen oder die erstarrten Weberinnen.

Sein schwerer roter Mantel verfing sich an einer der Eisstatuen, aber es kümmerte ihn nicht, dass die Statue ins Wanken geriet, dass sie kippte und die Weberin auf den Stufen in tausend funkelnde Eissplitter zerbrach. Nicht schlimm. Die Welt brauchte keine Weberinnen, die Lebensfäden kappten, wie es ihnen gefiel!

Nach dem Klirren legte sich absolute Stille über die Halle und den gigantischen Baum. Kurz kam es ihm vor, als wäre er das einzig Lebendige in dieser Welt. Doch das konnte nicht sein. Er war nicht in den Turm eingedrungen, um ihn allein zu verlassen.

Er hatte das Ende der Treppe erreicht und näherte sich der Sänfte. Und wenn Jin sich geirrt hatte? Wenn es gar nicht möglich war, einen Verstorbenen mit seinem Totenfaden zurück ins Leben zu holen? Für einen Augenblick verharrte Misano vor der Sänfte. Fast hätte er den Schöpfer Äon um Beistand gebeten. Bring mir Zara zurück! Dieses Wesen hatte jedoch nicht nur die Menschen an die Weberinnen verraten, es hatte auch seine Erstgeborenen, die Unsterblichen, im Stich gelassen.

Jin hatte vollkommen recht. Sie, die Unsterblichen, mussten ihr Schicksal von nun an selbst in die Hand nehmen. Und Misano hatte genau dies getan. Er hatte sich die Liebe seines Lebens zurückgeholt.

»Zara?«, flüsterte er. Sein Atem gefror, sein Herz hielt an. Die zarten weißen Seidenvorhänge, die das Innere der Sänfte verhüllten, schimmerten bläulich durch das vom Eis reflektierte Sonnenlicht. Selbst das Wasser der Quelle, in dem der Baum wurzelte, war von einer zarten Eisschicht bedeckt.

»Zara?«, wisperte er erneut. Er wagte es nicht, sich zu rühren. Wenn in der Sänfte noch immer eine Tote ruhte, dann … dann würde der Turm brennen!

Der Hauch seines Atemzugs bewegte den Vorhang.

Sanft, als könnten seine ungeschickten Finger das Wunder zerstören, auf das er hinter der Seide hoffte, schob Misano den Stoff beiseite.

Dort lag sie in ihrem weißen Totengewand, auf weiche Kissen gebettet. Ein Blitz zuckte über seine geballte Faust.

Zara! Zartes Rosa lag auf ihren Wangen und ihre bernsteinfarbenen Augen funkelten ihn überrascht an.

Misano starrte sie an. Unfähig, sich zu rühren oder Worte zu finden, stand er nur und sah seine Zara an. Sie war es. Seine Liebe! Atmend. Rosig.

»Wo bin ich?« Fröstelnd zog sie das Laken zu sich, um sich darin einzuhüllen.

Er spürte die Kälte nicht mehr, die er in den Turm gebracht hatte. Ein helles, wärmendes Glühen stieg in ihm auf, je länger er sie ansah. Und sie ihn.

Sie war zurück! Seine Zara, die Liebe seiner unendlichen Jahre! Die wunderbarste Frau, die je auf dieser Welt gewandelt war.

»Wo bin ich?«, wiederholte sie und berührte stirnrunzelnd die seidenen Vorhänge der Sänfte.

»Du bist bei mir.«

Noch nie in seiner ewigen Existenz hatte er ein solches Gefühl in sich getragen. Eine Explosion aus unfassbarem Glück – es fühlte sich an, als wäre die Sonne in all ihrer Strahlkraft in seinem Inneren, würde ihn erleuchten, verbrennen, vollkommen erfüllen.

»Du bist bei mir!«, wiederholte er lauter. »Zara!« Lachend griff er nach ihren Händen. Ihre Haut war noch kalt. Er zog sie zu sich, schlang seine Arme um sie. »Ich werde dich nie wieder gehen lassen!« Seine Lippen küssten ihren schlanken Nacken, ihre rosigen Wangen.

»Oh, Misano!« Den Kopf an seine Schulter geschmiegt, atmete sie erleichtert durch. »Ich habe seltsam geträumt. Der Traum fühlte sich so real an.«

»Er ist nun vorbei. Du bist zurück!« Er hob sie aus der Sänfte. »Du lebst!«

Die Hände um seinen Nacken geschlungen, ließ sie sich von ihm herumwirbeln. Er konnte es nicht fassen. Jin hatte recht behalten! In dem kleinen Fädchen hatte noch all das gesteckt, was es brauchte, damit Zara wieder bei ihm war.

Er wollte gar nicht mehr aufhören, sie zu küssen und an sich zu drücken.

Zara begann zu lachen. »Misano! Was ist los mit dir. Wo sind wir?«

»Kein Ort, der noch irgendeine Bedeutung hätte!« Er wirbelte sie herum und tanzte mit ihr in den Armen über den vereisten Boden. »Lass uns hier verschwinden!«

Er würde sie bis zum Himmelspalast tragen, an das Ende der Welt und weiter.

Niemals wieder würde er seine Zara loslassen!

Lita

Lita hatte einen Arm um Elaine gelegt und trug sie inzwischen mehr, als dass sie sie stützte. Ihre Verletzungen mussten schwerer sein, als Lita vermutet hatte. Denn die Oberste Weberin hörte nicht auf zu klagen, in einem nicht endenden Strom spuckte sie anklagende Worte aus.

»Ich habe zu lange gezögert. Dabei hatte ich die Schere schon in der Hand! Wie habe ich nur so schwach sein können? Hanna hätte sterben müssen!«, jammerte die alte Frau. »Und dann habe ich dich auch noch mitgenommen, obwohl Äon mich gewarnt hat. Und wieder war mein Herz zu schwach! Nur damit Hanna sich von dir verabschieden kann.«

Lita blieb stehen und fasste einen Entschluss: Es kostete sie eine Unmenge an Zeit, ihre Großmutter vorwärtszuschleppen. Dabei musste sie nach dem Faden suchen! Jeden Augenblick konnte sie Faines Glück verlassen.

»Du bist der Untergang! Die Strafe für meinen Egoismus. Ich habe Hanna über Äons Schöpfung gestellt«, schimpfte Elaine. »Äon hat mich Nacht für Nacht gewarnt!«

Als sie den Eingang zum Weltenraum erreichten, wand sich Lita mit einem Ächzen unter ihrer Großmutter hervor. Elaine hatte sich mit ihrem gesunden Arm an Lita geklammert und ihr sicher einige blaue Flecken zugefügt.

»Was tust du?« Zittrig versuchte Elaine, alleine zu stehen, doch ihre Kraft reichte dafür nicht aus. Sie stolperte gegen den verzierten Säulenbogen und lehnte sich erschöpft dagegen.

»Es reicht«, sagte Lita entschlossen. »Misano ist fort. Du bist nicht mehr in Gefahr. Setz dich einfach.« Sie bemerkte, dass es außerhalb des Weltenraums schneite. Winzige Flocken trudelten durch die Luft. Einige Schritte von ihr entfernt entdeckte sie Tegan und Winnie, die Rukar folgten. Er kam auf sie zu und lächelte Lita erleichtert an.

Für einen kurzen Augenblick erwiderte sie es. Was hätte sie darum gegeben, jetzt zu ihm zu laufen. Ihn mit einem Kommentar zum Grinsen zu bringen und einen Moment lang die grausame Realität zu vergessen.

Sie schob den Gedanken beiseite und sah zu Tegan und Winnie. In dieser Welt waren die drei neben ihrer Mutter die wichtigsten Menschen für sie geworden. Doch sie hatte keine Zeit, zu ihnen zu gehen und sie in die Arme zu schließen. Sie musste Zaras Faden holen.

Sie wandte sich um und rannte zurück in den Weltenraum.

»Was soll das! Wo willst du hin! Dein Werk ist getan!«, blaffte Elaine sie an. »Bleib hier!«

»Es reicht, Elaine! Es ist noch nicht vorbei! Mach deine Augen auf und versuch, ausnahmsweise mal nicht nur dich zu sehen!«, rief Lita.

Sie blieb am Rand des schimmernden Geflechts stehen und versuchte einzuschätzen, wie viel Zeit vergangen war und auf welcher Höhe sich Zaras Faden inzwischen befinden musste.

Komm schon, Faine! Jetzt brauche ich all dein Glück!

»Du hast den Tod zu den Lebenden gebracht!«, kreischte Elaine hinter ihr her.

Lita ignorierte sie. Sollte sich Tegan um sie kümmern.

Entschlossen betrat sie das Gespinst und begann, die leuchtenden Fäden nach dem dunklen Ende abzusuchen.

Schritt für Schritt schob sie sich tiefer hinein. Ihre Finger glitten über die Fäden, sie spürte sie vibrieren und pulsieren. Immer wieder duckte sie sich unter Fäden, stieg über sie hinweg und zwischen ihnen hindurch. Kaum merklich bewegten sich die Fäden vorwärts in die Vergangenheit.

Dabei wogten und veränderten sich ihre Farben. Es war magisch. Das Licht der Fäden hüllte Lita ein. Sie fühlte sich, als stünde sie inmitten eines in allen Regenbogenfarben schimmernden Nordlichts.

Allerdings hatte sie das Gefühl, dass sich die Oberfläche der Fäden anders anfühlte als bei ihrem ersten Besuch im Gespinst. Sie waren rauer und warm … fast heiß. Unsicher blickte Lita sich um.

Das graue Fadenschnipsel konnte sie nirgends entdecken. Es waren einfach zu viele! Unruhig drehte sie sich um, blickte nach allen Seiten. Der Faden war fast schwarz gewesen. In all dem Licht musste er ihr doch auffallen.

Aus der Ferne konnte sie noch immer Elaine zetern hören. Lita ignorierte die Beschimpfungen ihrer Großmutter und drang immer tiefer in das Geflecht vor.

Hatte sie einen Fehler gemacht? War der Kami-Segen schon abgelaufen? Oder gar nicht stark genug für so eine Aufgabe?

Nein! Du hast den Weberinnen Zeit verschafft. Gib nicht auf! Der Faden ist hier!

Immer wieder drehte sie sich um die eigene Achse, aus Angst, den Faden übersehen zu haben. Und bald war sie so tief in die Lebensfäden der Menschen vorgedrungen, dass sie den Eingang zum Weltenraum nicht mehr erkennen konnte. Eine leichte Panik überkam sie, als sie versuchte, sich zu orientieren. Aus welcher Richtung war sie gekommen?

Lita musste sich eingestehen, dass sie sich im Gespinst verirrt hatte. Sie hätte damit rechnen müssen. Schließlich verlief sie sich ja sogar auf dem Nachhauseweg!

Für einen Moment schloss sie die Augen und schluckte die Verzweiflung hinunter. Es spielte keine Rolle, ob sie den Ausgang fand. Elaine hatte unrecht. Sie war nicht das Ende der Welt! Sie musste nur diesen Faden finden und entfernen.

Lita öffnete die Augen und sah sich erneut um. Um sie herum war nichts als das Geflecht. Die Fäden strahlten gleißend in allen Farben. Nirgends war ein Schatten zu erkennen. Benommenheit legte sich wie ein schwerer Mantel auf ihre Schultern. Ihr war, als wäre sie der letzte Mensch. Kein Laut war zu hören, nicht mal Stille, es klang wie das Nichts. Oder wie Leere. Noch nicht mal sie selbst warf einen Schatten, denn um sie herum war nur Licht.

Schweiß stand ihr auf der Stirn. Kam er von ihrer Angst oder der Wärme, die von den Fäden ausging?

Entschlossen ballte Lita die Faust. Und wenn sie hier drin verdurstete. Sie verließ diesen Ort nicht ohne den Totenfaden.

Hilf mir, Faine!

Hanna

Noch immer standen ihr Tränen in den Augen, als sie sich von Serena abwandte und den Blick durch den Eispalast gleiten ließ. Das Orakel erfüllte sich – auch wenn der Untergang der Welt nicht damit begann, dass alles zu Asche wurde, sondern zu Eis. Schon jetzt war es bei Weitem schlimmer, als sie es sich in ihren düstersten Albträumen jemals vorgestellt hatte.

Bitte lass es Lita gut gehen!, schickte sie in Gedanken ein Stoßgebet an Faine. Seit sie die Weberinnen verlassen hatte, stand er ihr hilfreich zur Seite. Er machte ihr Mut, hatte ihr aber auch schon oft den Kopf zurechtgerückt, wenn er meinte, ihre Paranoia wegen dem Orakel ginge zu weit.

Plötzlich erschütterte ein heftiger Knall den Turm. Eine Explosion! Sie war so stark, dass die Druckwelle die eisigen Blätter klirren ließ und Eiszapfen von den Ästen brachen und in die Tiefe stürzten, wo sie auf dem Boden zerschellten. Serena schwankte durch die Wucht der Erschütterung. Misano hatte sie mitten im Laufen auf den Stufen eingefroren und nun drohte sie zu kippen. Hanna selbst verlor ebenfalls das Gleichgewicht und mit rudernden Armen versuchte sie, nicht zu fallen, und in derselben Sekunde wurde ihr bewusst, dass Serena kippte.

»Nein!«, schrie sie, warf sich vor und bekam die Eisstatue gerade noch zu fassen. Mit Serena im Arm klammerte sie sich ans Geländer. Von unten drang eine riesige Dampfwolke zu ihr herauf. Die winzigen Wassertröpfchen verwandelten sich in der Luft in Schneekristalle und schwebten als funkelnde Flocken zu Boden.

Hanna konnte durch die Schneewolke nicht erkennen, was unter ihr vorging, doch … irgendetwas Grauenvolles war passiert.

Ihr Herz verkrampfte sich bei der Vorstellung, dass Lita etwas zugestoßen war.

Vorsichtig bettete sie Serena auf die Stufen, in der Hoffnung, dass es keine weitere Explosion gab und Serena nicht wieder ins Rutschen kam. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, was mit ihrem gefrorenen Körper passieren würde, wenn er einen heftigen Schlag bekäme.

Fröstelnd zog sie den Mantel enger um sich. Die Kälte war ihr bis in die Knochen gekrochen. »Ich komme wieder«, flüsterte sie Serena zu und eilte hinunter zum Weltenraum.

»Du fackelst nicht unseren Turm ab, Misano!«, murmelte sie wütend. Sie schlitterte mehr, als dass sie lief, und ihr Herz galoppierte um sein Leben vor lauter Sorge um Lita.

Am liebsten hätte sie nach Lita gebrüllt. Aber ihre Angst, Misano könnte Eis auf sie feuern, war zu groß.

Als sie die Plattform erreichte, watete sie durch knöcheltiefen Schneematsch. Misano musste mit dieser Explosion jede Menge Eis geschmolzen haben. Durch den feinen Schneefall erkannte sie drei Schemen.

»Er hat uns überhaupt erst in Gefahr gebracht!«, brüllte eine Weberin.

Hanna ging auf sie zu und erkannte Rukar unter den dreien. Die Weberin, die ihn angeschrien hatte, schien kurz davor, ihn angreifen zu wollen.

»Warte!« Hanna eilte zu ihm. Die junge Frau, die so wütend auf ihn war, kam Hanna bekannt vor. Vermutlich war sie ein paar Jahre älter als Lita. Das glatte schwarze Haar, durch das sich eine breite lila Strähne zog, die schmalen Augen … das musste Tegan sein. Die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter Sumi war unverkennbar. Hanna hatte oft mit Sumi in den Zweigen gesessen und Früchte geerntet. Sie war gestorben, als Lita noch nicht ganz ein Jahr alt war. Tegan musste damals drei oder vier Jahre alt gewesen sein.

»Einen Moment.« Hanna hielt Tegan zurück, die Rukar nachsetzen wollte. Die zweite Weberin – Hanna schätzte sie auf vierzehn oder fünfzehn – wirkte ziemlich verängstigt. Sie nickte Hanna kurz zu. »Er ist auf unserer Seite«, sagte sie zu Hanna mit einem bittenden Unterton.

Vermutlich, dachte Hanna und warf Rukar einen prüfenden Blick zu. Immerhin hatte er Lita und ihr geholfen, als sie von Misano bewusstlos geschlagen worden war. Und er war … Hanna maß ihn erneut mit Blicken. Das musste warten.

Aufgebracht gestikulierte Tegan. »Er ist an all dem hier schuld! Er hat Misano reingelassen.«

»Wie kommst du darauf?«, fragte Hanna überrascht.

»Er hat mich betäubt, ausgeraubt und sich mithilfe meiner Klamotten und meinem Spiegelschlüssel Zutritt zum Turm verschafft.«

Skeptisch hob Hanna die Augenbrauen. So leicht konnte man den Turm nicht betreten. Es brauchte mehr als nur den Mantel einer Weberin und einen gestohlenen Schlüssel. Sie wandte sich Rukar zu. »Du hast dich als Tegan verkleidet, um in den Turm zu gelangen?«

»War 'n Auftrag«, nuschelte er und vergrub die Hände tief in den Jackentaschen.

Ein Auftrag also. Langsam setzten sich für Hanna die Puzzlestücke zusammen. Faine hatte ihr einmal von einem Halbblut erzählt, das für die Unsterblichen illegale Jobs erledigte. Sie betrachtete Rukars schwarzes Haar, das widerspenstig in alle Richtungen stand. Aber … Nein. Das war unmöglich.

»Rukar hat uns gerettet. Das Schmelzwasser hätte uns sonst in die Tiefe gerissen.« Nervös klammerte sich das Mädchen an ihre Tasche.

Tegan verdrehte genervt die Augen. Es war unverkennbar, dass sie Rukar am liebsten sofort in der Luft zerfetzt hätte. Rukar selbst reagierte nicht. Stattdessen beobachtete er besorgt den Weltenraum. Was beunruhigte ihn so sehr?

Seinem Blick folgend, bemerkte Hanna Elaine im Durchgang. Ihre Mutter lehnte an einer der Säulen. Jede Faser in Hanna versteifte sich und ihr wurde bewusst, dass sie nicht bereit war, Elaine gegenüberzutreten. Vor wenigen Stunden hatte ihre eigene Mutter ihr noch nach dem Leben getrachtet. Hatte sie sich Misano entgegengestellt?

Sie schien verletzt zu sein. Nervös blickte Hanna zu den Schicksalsfäden. Wo war Lita? Hatte Elaine sie an Misano verraten? Sie geopfert, um sich selbst zu retten und zugleich Äons Strafe abzuwenden?

Bei jedem Atemzug stach ihr Herz. Wenn Lita zu Eis erstarrt war … Sie musste sicher sein, dass ihre Tochter am Leben war. »Ist Lita im Weltenraum?«, fragte sie Rukar.

»Ich wollte sie da rausholen.« Leise Verzweiflung schwang in seiner Stimme. »Aber sie hat sich geweigert. Und nach Misanos Abgang hat sie Elaine zum Tor gebracht und ist dann zurück.«

Alarmiert blickte Hanna sich um. »Ist Misano noch hier?«

Rukar nickte Richtung Treppenabgang. »Was immer er erreichen wollte, es scheint ihm gelungen zu sein. Er ist unten.«

Unwillkürlich atmete Hanna auf. Dennoch hielt sich ihr Verdacht, dass Rukar mehr wusste, als er preisgab, denn er wich ihrem Blick aus. Aber wenn der Unsterbliche den Baum bereits verlassen hatte, waren sie vorerst sicher.

»Haben Sie Äon gesprochen?«, wollte er wissen.

Tegan und die junge Weberin kamen näher.

»Sie haben Äon kontaktiert?«, fragte das Mädchen beeindruckt.

»Ich habe es versucht. Es hat mir nicht geantwortet.« Ihre Stimme klang verletzter, als sie wollte.

Mit großen Augen sah das Mädchen sie an. Hanna wurde bewusst, dass die Weberinnen keine Ahnung hatten, was los war.

Und … dass es kein Happy End gab.

»Es ist weg«, sagte sie leise. »Dieses Chaos ist alles, was es uns hinterlassen hat.«

Das Mädchen zuckte zusammen und presste die Tasche, aus der eine Prophezeiung herauslugte, noch fester an sich. In ihrem Blick lag Entsetzen und doch schien sie nicht überrascht, dass Äon Misanos Angriff gewollt hatte.

»Ich bin übrigens Hanna. Und du …?« Sie streckte ihr die Hand hin.

Das Mädchen hielt ihre Tasche weiterhin umklammert. »Ich weiß. Sie sind Elaines Tochter und Litas Mutter. Jemand hat Sie entführt. Und es war nicht Rukar, sonst wären Sie nicht so nett zu ihm.« Für einen Augenblick hielt das Mädchen ihren Blick fest, so als wollte sie ihr etwas sagen, das niemand hören durfte. »Ich bin Winnie«, murmelte sie schließlich.

Tegan hatte sich neben Winnie gestellt und damit Abstand zwischen sich und Rukar gebracht.

Der wartete angespannt, die Hände tief in die Taschen seiner altmodischen Marinejacke vergraben, und spähte immer wieder in Richtung Weltenraum. »Sie meinen, diese Prophezeiung wird eintreten?«

Warum klang er so beunruhigt? Sorgte er sich tatsächlich um das Schicksal der Menschen?

»Lita hat dir davon erzählt?« Wieso hatte sie das getan? Einem Halbblut! Lita hatte keine Ahnung von den Regeln der Weberinnen, sie kannte nur die Welt der Menschen. Sie hätte niemals mit jemand anderem als einer Weberin darüber reden dürfen.

Noch einmal musterte sie ihn. Echte Angst spiegelte sich auf seinen Zügen, sein ganzer Körper war angespannt, als warte er nur auf ein Zeichen, um loszustürmen …

»Klingt übel«, murmelte er.

»Welche Prophezeiung?«, fragte Winnie zittrig.

»Äon hat das Ende der Welt beschrieben. Und es sieht ganz so aus, als würde sein Orakel sich gerade erfüllen.« Sie wandte sich zum Weltenraum. »Ich muss zu Lita.«

Es gab nichts weiter zu besprechen. Das Ende war gekommen. Und das Einzige, das für Hanna noch Bedeutung hatte, war Lita.

Plötzlich versperrte ihr Tegan den Weg. »Ich weiß, dass Ihnen die Regeln der Weberinnen nicht viel bedeuten.«

Erstaunt hielt Hanna inne. Was wollte Tegan damit andeuten?

»Aber Sie dürfen ihn nicht mit zu den Fäden nehmen. Er ist ein Halbblut.«