Claire - Nathalie C. Kutscher - E-Book

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Nathalie C. Kutscher

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Beschreibung

Die Malerin Claire Sawyer geht 1919 zum Studieren nach New York. Schnell freundet sie sich mit Josephine an, die das genaue Gegenteil der schüchternen Claire ist. Obwohl die beiden sich näher kommen, ahnt Claire, dass Josephine Geheimnisse hat, die ihrer Beziehung immer wieder im Weg stehen. Um ihre Liebe dennoch aufrechtzuerhalten, verheiratet sich Claire mit einem Mann, doch ihr Leben wird immer wieder auf den Kopf gestellt, nicht zuletzt deswegen, weil Josephine sich in den Kreisen der Mafia aufhält. Eine Liebesgeschichte, die in den wilden Zwanzigern beginnt und Jahrzehnte überdauert.

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Nathalie C. Kutscher

Claire

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Claire

Claire

Nathalie C. Kutscher

 

Claire Sawyer zieht 1919 nach New York, um Kunst zu studieren. Mit ihrer Kommilitonin Josephine, die das genaue Gegenteil der etwas zurückhaltenden Claire ist, schließt sie schnell Freundschaft. Und obwohl die beiden eine Liebesbeziehung eingehen, ahnt Claire, dass Josephine dunkle Geheimnisse in sich trägt. Immer wieder bringt sich die temperamentvolle Jo in Schwierigkeiten, bis sie sogar Claires Leben zu zerstören droht. Welche Rolle spielt der Mafiaboss Vinnie de Marco? Das erfährt Claire, als es fast zu spät ist und Josephine Hals über Kopf New York und damit auch ihre Liebe verlässt.

Eine Liebesgeschichte, die in den wilden Zwanzigern beginnt, die Jahrzehnte überdauert und den Kampf zweier Frauen schildert, ihren Platz im Leben zu finden.

 

 

Copyright: © Nathalie C. Kutscher – publiziert von

telegonos-publishing

Cover und Buchlayout: © Kutscherdesign

unter Verwendung einer Vorlage von www.pixabay.de

 

 

www.telegonos.de (Haftungsausschluss und Verlagsadresse auf der website)

 

Kontakt zur Autorin: [email protected]

 

1

 

Das Jahr 1900 war gerade erst angebrochen, als ich mich auf die Welt drängte. Mein Vater erzählte mir später, er habe in dieser Nacht nicht gewusst, welcher Lärm seine Ohren mehr zum Klingeln gebracht hatte. Das Feuerwerk, mit dem das neue Jahr begrüßt wurde, die Schmerzensschreie meiner Mutter, die durch unser Haus hallten oder meine ersten Töne, die – laut seiner Schilderung – so kräftig und durchdringend waren, dass sie meine tobenden und sich balgenden Brüder um Längen schlugen. Ich merkte später, dass ich genau diese laute Stimme brauchte, denn ich war das einzige Mädchen von fünf Geschwistern.

Wir waren eine recht harmonische Familie. Natürlich gab es auch bei uns hin und wieder Querelen, aber die Streitigkeiten hielten sich in Grenzen. Ich wuchs sehr behütet als vorletztes Kind auf. Meine älteren Brüder standen mir stets zur Seite, und meine Mutter war eine richtige Glucke. Da sie sich immer eine Tochter gewünscht hatte, musste ich alles tun und lernen, was eine Frau können und wissen musste. Während sich meine Brüder beim Bowling oder Baseball amüsierten, saß ich in trauter Runde inmitten älterer Damen und stickte. Manchmal musste ich den Damen auch etwas auf dem Klavier vorspielen oder vorsingen. In solchen Momenten, wenn meine Mutter mich vorführte, als sei ich ein in hübsche Kleidchen verpacktes Zirkusäffchen, überkam mich grenzenloser Neid auf meine Brüder. Sie genossen die Freiheiten, die ich niemals erfahren würde. Sie sahen etwas von der Welt, durften eine öffentliche Schule besuchen, während ich vierundzwanzig Stunden lang an meine Mutter gekettet war.

Wir waren gut situiert. Nicht reich, dennoch angesehen. Mein Vater praktizierte als Arzt mit eigener Praxis, was meinen Eltern den Luxus erlaubte, mich privat unterrichten zu lassen. Da meine Mutter sich versprach, dass ich irgendwann einmal wohlhabend heiratete und es dafür einer gewissen Bildung benötigte, lernte ich sowohl französisch, Latein, als auch den Umgang mit Pinsel, Leinwand und Farben. Ich muss gestehen, mein sprachliches Talent hielt sich in Grenzen. Mein Französischlehrer, ein alternder Professor aus Avignon stammend, stöhnte regelmäßig entnervt auf, wenn ich das Gelernte wiedergab. Seinen Worten zufolge, klang ich wie ein Hafenarbeiter aus den Bostoner Docks und nicht wie die kluge Tochter einen angesehenen Doktors. Ständig mokierte er sich über das Traditionslose, amerikanische Pack, welches zu dumm war, seine geliebte Landessprache vernünftig auszusprechen, und dass, obwohl meine Mutter darauf beharrte, aus einer feinen englischen Familie zu stammen. Diese Tatsache machte es für meinen Französischlehrer aber auch nicht unbedingt sympathischer.

„Mademoiselle Claire, mir bluten die Ohren“, pflegte er zu übertreiben, wenn ich ihn mit meinem Kauderwelsch quälte.

Entgegen meiner sprachlichen Unzulänglichkeit erwies ich mich an der Leinwand als recht geschickt. Mein Kunstlehrer, ein noch unentdecktes Talent mit Namen Nicolai, jedoch mit einem sehr guten Abschluss der Kunsthochschule in der Tasche, lobte mich jeden Tag für meine Fortschritte. Besonders lagen mir Porträts. Plötzlich neidete ich meinen Brüdern ihre Freiheit nicht mehr, sondern vergrub mich in meinem Zimmer, wo ich stundenlang übte und Kunstbücher las. Meine Eltern erlaubten mir sogar, dass ich regelmäßig ins Museum und die Bibliothek durfte, um mich von den alten Künstlern inspirieren zu lassen. Ich liebte die Bilder von Monet und Klimt. Doch am meisten faszinierte mich Aktmalerei. Stundenlang stand oder saß ich vor den Gemälden von John Collier. Seine Lady Godiva hatte es mir besonders angetan. Ihr Bildnis, wie sie nackt auf einem Schimmel durch die Straßen ritt, erregte mich auf höchst seltsame Weise. Ich wusste in dem Augenblick, als ich das Bild sah, dass ich Akte zeichnen wollte. Sofort eilte ich in die Bostoner Bibliothek und besorgte mir einen Bildband über Aktmalerei.

Drei Wochen schlief und aß ich kaum, bat meine Mutter, nicht für ihre Freundinnen Klavier spielen zu müssen, und war im Unterricht fahrig und unkonzentriert, was bei Monsieur Simon wahre Wutausbrüche zur Folge hatte. Nur Nicolai, mein talentierter Kunstlehrer, russischer Abstammung, zeigte Verständnis für mich. Er brachte mir alles bei, was er über Aktmalerei wusste und ermutigte mich, es zu trainieren. Mein Gespür für die Formen des weiblichen Körpers, lösten bei ihm wahre Freudenausbrüche aus. Ich war erst sechzehn Jahre alt und verstand es doch, die sexuellen Tribute einer erwachsenen Frau einzufangen. Der Körper eines Mannes interessierte mich nicht, ich war geradezu besessen von den weiblichen Rundungen. Wann immer ich die Gelegenheit bekam, zeichnete ich. Wenn wir beispielsweise unser traditionelles, sonntägliches Familienpicknick unternahmen, saß ich mit dem Rücken an einen Baum gelehnt, den Zeichenblock in der Hand und beobachte heimlich die anderen Besucher des Parks. Sobald ich ein besonders faszinierendes Geschöpf sah, huschte mein Stift über das Papier und skizzierte. In weniger als einem Jahr besaß ich hunderte solcher Skizzen, doch wie sollte ich diese je auf die Leinwand bringen? Was würden meine Eltern sagen, wenn ich ihnen statt blühender Landschaften Bilder von nackten Frauen präsentierte?

Meine Mutter war von jeher etwas hausbacken und zugeknöpft. Wie sie es auf fünf Kinder gebracht hatte, blieb mir immer ein Rätsel, dennoch kniff sie hin und wieder ein Auge zu, wenn einer meiner Brüder über die Stränge schlug. Besonders David, mein ältester Bruder, tat dies gern und regelmäßig. Nach dem College studierte er Jura und bevor er sich als Anwalt niederließ und mit einer Frau sesshaft wurde, bumste – wie mein Vater immer zu sagen pflegte – sich David durch sämtliche Bostoner Gesellschaftsschichten. Meine Mutter hingegen strafte nicht David für sein Verhalten, sondern eher meinen Vater, für seine unflätige Ausdrucksweise. David konnte tun und lassen, was er wollte.

„Er ist eben ein Hallodri“, nahm sie ihn in Schutz.

Er heiratete, als ich gerade siebzehn Jahre alt war. Seine Braut, Michelle Parker, Tochter des Staranwaltes Montgomery Parker, war eine zarte Blondine, mit himmelblauen Augen und einem Puppengesicht. Am Tag der Hochzeit porträtierte ich sie bestimmt mehr als ein dutzend Mal. Ich war fasziniert davon, wie sie sich ihre kleine Hand vor den Mund schlug, wenn sie lachte. Oder die zärtlichen Blicke, die sie meinem gutaussehenden Bruder zuwarf, wenn sie meinte, niemand beobachte sie dabei. Ich prägte mir jede ihrer Bewegungen ein. Wie sie zum Altar lief und dabei würdevolle, kleine Schritte machte. Wie sie beim Tanzen den Arm um David legte und den Kopf beim Lachen in den Nacken warf, wenn er ihr etwas ins Ohr flüsterte. Ihr schlanker, ich möchte behaupten, makelloser Körper steckte in einem maßgeschneiderten Kleid aus schneeweißer Spitze, mit ellenlanger Schleppe und nach der neusten Mode eng anliegend, sodass ihre feine Silhouette wie die einer römischen Göttin wirkte. Während der Zeremonie bedeckte ein hauchzarter Schleier Michelles hübsches Gesicht, doch auf dem nachfolgenden Fest, durfte ich mich an ihrem Traum aus blonden Locken weiden. Sie war ein warmherziger Mensch. Am meisten jedoch liebte ich an ihr, dass sie mich nicht wie ein Kind behandelte, so wie es alle anderen zu tun pflegten. Im Gegensatz zu meiner Mutter war Michelle eine moderne Frau, die sogar studiert hatte. Ich hing förmlich an ihren blassroten, vollen Lippen, wenn sie mir Geschichten aus ihrer Studentenzeit erzählte und konnte nicht genug davon bekommen, wie immer ein feines Lächeln in ihrer Stimme mitklang. Michelle war keineswegs schockiert darüber, dass ihr Gesicht fast als Einziges meinen Skizzenblock zierte. Im Gegenteil. Voller Bewunderung blätterte sie durch die Seiten und hatte am Ende Tränen der Rührung in den Augen.

„Ich würde gerne mehr von dir sehen, Claire“, meinte sie aufrichtig. „Wir sind jetzt eine Familie und ich so etwas wie deine Schwester. Dein Talent muss unbedingt gefördert werden und damit meine ich nicht diesen verschrobenen Russen.“

Ich lachte leise. Wenn sie gewusst hätte, dass Nicolai genau dasselbe gesagt hatte, hätte sie nicht so gemein über ihn gesprochen.

„Was zeichnest du sonst noch?“, fragte Michelle und genehmigte sich einen Schluck Champagner.

Ich zuckte mit den Schultern.

„Das Übliche. Landschaften, Stillleben, Porträts. Eben alles Mögliche.“ Warum ich bei diesen Worten rot wurde, wusste ich nicht, aber Michelle sprang direkt darauf an.

„Und?“

„Und was?“

Sie musterte mich eingehend und trank erneut von ihrem Champagner.

„Es hörte sich so an, als sei dein Satz noch nicht beendet.“

Ich schüttelte heftig den Kopf. Ich konnte ihr doch nicht sagen, dass ich, sobald ich zuhause war, ihr Portrait auf den Körper der nackten Lady Godiva setzen würde, die ich etwa ein Jahr zuvor gemalt hatte. Mir hatte immer das passende Gesicht gefehlt, doch Michelle, mit den blonden Engelslocken, war wie geschaffen für mein Lieblingsgemälde.

David rief nach seiner Frau und Michelle erhob sich.

„Wenn wir aus den Flitterwochen zurück sind, will ich unbedingt deine Bilder sehen, Claire!“ Sie umarmte mich und drückte mir einen Kuss auf die Wange. „Und wenn du möchtest, spreche ich mit deinen Eltern, damit sie dich auf eine Kunsthochschule schicken“, flüsterte sie mir ins Ohr, ehe sie auf David zuschwebte.

Meine Hand tastete wie automatisch zu der Stelle, wo mich ihre Lippen berührt hatten. Voller Zartheit, nur ein Hauch von Nichts und dennoch konnte ich ihren Kuss noch immer spüren.

 

Die Festgemeinde verabschiedete das frischgebackene Ehepaar in die Flitterwochen. Die Mütter der Brautleute hielten sich weinend an den Händen und betonten immer wieder, wie gut ihre Kinder zueinander passten. Mir wurde der ganze Tumult zu viel. Die Party würde noch bis in die frühen Morgenstunden weitergehen, doch ich bat meine Eltern darum, nach Hause fahren zu dürfen. Montgomery Parker hatte für jeden seiner Gäste Wagen bereitgestellt, damit diese nicht mehr selbst nach einer feucht-fröhlichen Nacht fahren mussten. Meine Mutter stimmte meiner Bitte nur zögerlich zu, wenngleich ich nicht in den Genuss kam, alleine fahren zu dürfen.

„Nimm Charles mit. Für ihn wird es sonst auch zu spät.“

Mit meinem jüngeren Bruder im Schlepptau bestieg ich den für uns vorgesehen Wagen und war froh, als wir endlich daheim waren. Die Tatsache, dass ich auch an diesem Abend nicht gänzlich alleine war, störte mich nicht weiter. Nachdem ich Charles mit einer warmen Milch ins Bett verfrachtet hatte, eilte ich in mein Zimmer und holte den Skizzenblock hervor.

 

Meine Eltern bekam ich am nächsten Tag erst gegen Nachmittag zu Gesicht. Meine Mutter sah blass und übermüdet aus und klagte über Kopfschmerzen. Mein Vater rückte seinem Kater mit eigenen Methoden zu Leibe. Ein Glas importierten Whiskey und die Welt war wieder in Ordnung für ihn. Beim Abendessen kicherten und scherzten Lester und Albert – meine mittleren Brüder – miteinander und hatten nur ein Thema: Die auf der Hochzeit anwesenden jungen Damen. Zum wiederholten Male lobte Lester die Vorzüge einer gewissen Daphne van Houten. Mir kam dieser Name schon bald zu den Ohren hinaus, nicht nur, dass ich Daphne für einen ganz furchtbaren Namen hielt, sondern auch deswegen, weil besagte Daphne in meinen Augen nicht einen Funken an Grazie besaß. Sie würde ich niemals malen, was ich Lester natürlich nicht sagte. Leider sah es so aus, als hätte sich mein neunzehnjähriger Bruder ernsthaft verliebt und sie würde schon bald ebenfalls zu unserer Familie gehören. Albert war mit seinen zweiundzwanzig Jahren wesentlich bodenständiger. Er wollte erst sein Medizinstudium beenden, bevor er etwas Festes in Betracht zog. Das war, wie mein Vater sagte, sehr löblich. Was Albert allerdings nicht davon abhielt, ganz offensichtlich mit den Damen zu flirten.

„Was ist mit dir, Claire?“, richtete meine Mutter plötzlich das Wort an mich. „Du hast nicht einmal getanzt. Gab es denn dort keine jungen Männer, die dir gefielen?“

Diese Frage kam so beiläufig, so unerwartet, dass ich mich fast verschluckt hätte. Alle Augen starrten mich an, warteten auf eine Antwort. Lesters und Alberts Blicke ruhten fragend auf mir, achtsam, welchen Namen ich gleich nennen würde und vor wem sie meine Ehre beschützen mussten.

„Nein“, sagte ich nach einer gefühlten Ewigkeit. „Es war niemand dabei.“

Mir war so, als atmeten meine Brüder erleichtert aus, doch meine Mutter runzelte die Stirn.

„Claire.“ Ihre Stimme bekam einen tadelnden Unterton. „Wie willst du je einen netten Herrn kennenlernen, wenn du deine Nase immerzu in diesen Malblock steckst? Du bist jung, du sollst das Leben genießen.“

„Und möglichst bald einen Ehemann finden?“, erwiderte ich schärfer, als ich wollte.

Meine Mutter legte die Gabel beiseite und tupfte sich pikiert mit einer Serviette die Mundwinkel ab.

„Nach Möglichkeit, ja. Du bist bestens vorbereitet, bist klug und wohl erzogen. Die besten Voraussetzungen, einen passenden Mann zu finden.“

„Mutter, ich bin siebzehn Jahre alt“, wehrte ich mich.

„Was soll das denn bedeuten? Ich war im selben Alter, als dein Vater und ich heirateten.“

„Heutzutage muss man das aber nicht mehr. Wisst ihr, ich habe überlegt, ob ich nicht eine Kunsthochschule besuchen könnte. Oder die Universität.“

„Die Universität? Kind, wie kommst du auf solche Gedanken? Frauen brauchen kein Studium. Im Gegenteil. Ich möchte behaupten, das macht sie bei Männern weniger attraktiv.“

„Michelle war auf der Universität“, widersprach ich. „Willst du sagen, sie sei unattraktiv? Sie meinte, meine Bilder sind gut und ich könnte durchaus an einer Kunsthochschule studieren. Nicolai sagt das übrigens auch.“

„Kind, was lässt du dir für Flausen in den Kopf setzen?“ Meine Mutter tätschelte mitfühlend meine Hand. „Deine Bilder sind gut, sicherlich, aber sind sie gut genug, für eine Kunsthochschule?“ Ihr Blick fiel auf das Gemälde an der ihr gegenüberliegenden Wand, welches ich ihr zum Geburtstag gemalt hatte. Darauf war der Stadtpark im Abendlicht zu sehen. Vielleicht nicht mein ruhmreichstes Werk, aber ich wollte ja auch keine Landschaften malen. „Und was Michelle angeht“, sprach sie weiter. „Sie wird bald genug damit zu tun haben, Kinder großzuziehen. Und dafür braucht man keinen Universitätsabschluss.“

Ich presste die Lippen aufeinander. Zum ersten Mal im Leben hasste ich meine Mutter. Sie war so unmodern, starrköpfig und unflexibel, dass ich ihren Kopf am liebsten gegen die Wand geschlagen hätte.

„Ich werde nicht heiraten“, stieß ich hervor. „Nicht jetzt, noch sonst irgendwann! Ich will nur malen, das ist alles.“ Und ich will auch keinen Mann, fügte ich in Gedanken hinzu und war augenblicklich schockiert über die Wahrheit, die sich plötzlich einen Weg in mein Unterbewusstsein gebahnt hatte.

Die Erkenntnis übermannte mich mit voller Wucht. Warum ich immerzu nur Frauen malte, warum ich so angetan von Michelle war. Warum ich mit Männern nichts anzufangen wusste und sie mich nicht im geringsten interessierten. Der Kuss von Michelle, der noch immer wie eingebrannt auf meiner Wange weilte.

Ich sah in die erstarrten Gesichter meiner Familie. Meine Mutter hatten meine Worte am heftigsten getroffen, so sehr, dass in ihren grau-blauen Augen Tränen schimmerten. Ich musste ihr klar machen, was ich wollte, wenngleich ich mir sicher war, dass sie es nie verstehen würde. Aber es war an der Zeit, in die Offensive zu treten. Ich hatte nichts getan, dessen ich mich schämen musste. Zielstrebig erhob ich mich, steuerte auf mein Zimmer zu und holte die Akte und Porträts, die ich im letzten Jahr gemalt hatte. Damit beladen betrat ich wieder das Esszimmer und stellte sie meiner Familie vor. Meine Mutter brach augenblicklich in Tränen aus und jammerte fortwährend, was sie bloß falsch gemacht hätte. Meine Brüder traten näher heran, um auch wirklich jedes nackte Detail genauestens zu studieren. Und mein Vater schob ein paar Mal seine Brille zurecht, seine Reaktion auf etwas, mit dem er noch haderte. Es war schließlich Albert, der als Erster das Wort ergriff.

„Hut ab, Schwesterchen. Diese Bilder sind meisterlich.“

„Meisterlich?“, rief meine Mutter sichtlich angeschlagen aus. „Seht ihr denn nicht, was ich sehe? Das sind Obszönitäten. William, sag etwas dazu.“

Mein Vater schwieg noch einen Moment und ich starrte ihn nervös an. In seinem Gesicht war nichts zu lesen, als er sich erhob und die Gemälde genauer in Augenschein nahm.

„Es sind wahrhaft Meisterwerke, Claire“, sagte er schließlich und schenkte mir ein anerkennendes Lächeln.

Ich hatte nicht bemerkt, dass ich sekundenlang den Atem angehalten hatte und so holte ich tief Luft. Mein Herz klopfte wie wild vor Dankbarkeit und Stolz, obwohl ich mir ernsthaft Sorgen um meine Mutter machte. Diese war mittlerweile auf ihrem Stuhl zusammengesunken und jammerte nur noch leise vor sich hin.

„Zugegeben, es wirkt etwas befremdlich, dass meine Tochter sich dieser Art von Malerei zuwendet“, sprach mein Vater weiter. „Aber aus medizinischer Sicht muss ich sagen, deine Darstellung des weiblichen Körpers ist dir sehr real gelungen. Allerdings“, er nahm seine Brille ab, putzte sie und setzte sie wieder auf die Nase, „würde mich interessieren, woher du das Anschauungsmaterial hast, mein Kind.“

„Oh.“ Ich senkte beschämt den Blick. „Ich beobachte. Also, ich meine … Ich zeichne die Gesichter, alles andere ist reine Vorstellungskraft. Ich habe mir schon sooft die alten Werke im Museum angesehen, dass ich die Körper nur aus meiner Erinnerung wiedergebe.“

Mein Vater nickte beruhigt. Meine Mutter hingegen dachte wohl, ich hätte zahlreiche nackte Frauen im Keller gefangen und würde sie zwingen, für mich Modell zu stehen. Jedenfalls war sie dermaßen schockiert, dass sie sprachlos an uns vorbei wankte und sich ins Obergeschoss verzog.

„Sie wird schon wieder“, beruhigte mich mein Vater. „Ich werde nach ihr sehen und ihr etwas geben, damit sie schlafen kann. Mach dir nichts draus, Claire. Sie wird es schon noch verstehen.“

 

Michelle hielt ihr Versprechen und redete mit meinen Eltern über das sensible Thema Kunstschule, sobald sie und David aus den Flitterwochen heimkehrten. Eigentlich wollten sie diese in Paris verbringen, doch durch den Krieg, der immer noch über Europa hinwegfegte, fuhren sie nach Los Angeles. Ich hing an Michelles Lippen, als sie von ihrer Reise erzählte. Meine Schwägerin besaß die Süße eines Engels, in ihrem Inneren jedoch, war sie eine starke, selbstbewusste Frau. Ich fand, sie sei noch schöner, als sie es vor den Flitterwochen gewesen war. Die Ehe schien ihr gut zu tun und ich sah meinem Bruder an, dass er seine junge Frau innig liebte. Mir war das Gefühl der Eifersucht zu dem Zeitpunkt gänzlich fremd, denn es gab ja nichts und niemanden für mich, auf den ich eifersüchtig hätte sein können. Aber als ich einmal heimlich beobachtete, wie David Michelle küsste, versetzte es mir einen Stich im Herzen. Natürlich redete ich mir ein, dass ich Michelle nur auf eine rein schwesterliche Weise liebte, einen anderen Schluss ließ ich gar nicht zu. Sie war für mich zu einem Idol geworden und ich begann, sie nachzuahmen. Wie sie ihr Haar frisierte, wie sie lachte, oder wie sie leise mit der Zunge gegen ihre Schneidezähne stieß und dabei ein kleines, schnalzendes Geräusch verursachte, wenn sie über etwas nachdachte. Doch egal, wie sehr ich ihr nacheiferte, meine Gestalt verblasste neben ihr.

Man beteuerte mir zwar oft, wie hübsch ich sei und es gab auch einiges an mir, was ich selbst mochte, dennoch konnte ich mit Michelle nicht mithalten.

 

Am ersten Januartag 1919 feierte ich meinen neunzehnten Geburtstag. Durch den Krieg in Europa waren auch die Mittel in den Vereinigten Staaten begrenzt gewesen, sodass meine Eltern auf allzu ausschweifende Silvesterfeierlichkeiten verzichteten. Wir verbrachten die Neujahrsnacht und somit auch meinen Geburtstag, im Kreise der Familie. Seit ich meinen Eltern meine Bilder gezeigt hatte, waren sechs Monate vergangen und meine Mutter erholte sich so langsam von dem Schock, dass ihre Tochter nackte Frauen malte. Sie war seinerzeit streng gläubig, ja beinahe schon puritanisch, erzogen worden und gab diese zugeknöpfte Haltung an mich weiter. Michelle amüsierte sich immer darüber und nannte ihre Schwiegermutter eine altmodische, verklemmte Schachtel. Dies tat sie natürlich nur hinter vorgehaltener Hand und auch nur zu mir, trotzdem bemerkte ich hin und wieder ihr amüsiertes Schmunzeln, wenn meine Mutter sich allzu baptistisch aufführte.

Meine Schwägerin war auch an diesem Abend wieder mein Lichtblick. Ganz nach neuster Mode trug sie ein senffarbenes Kleid aus Georgette mit Seideneinsätzen und Spitze, welches über den Fußknöcheln endete und am Saum eng zusammenlief. In den Hüften war es bauschig, mit einer hoch angesetzten Taille, sodass Michelle noch kleiner und zierlicher wirkte, als sie es ohnehin schon war. In meiner Familie waren alle sehr groß, selbst ich maß über einen Meter siebzig, was mich sehr ärgerte. Neben Michelle fühlte ich mich ein Elefant im Porzellanladen. Sie wiederum bewunderte meine, wie sie sagte, grazile Figur und beneidete mich darum, dass ich trotz der aufgebauschten Hüften an den Kleidern, immer noch schlank aussah. Während ich mein brünettes, sehr glattes Haar lang trug, war Michelle so mutig und ließ ihre wunderschönen, engelsblonden Locken zu einer neumodischen Kurzhaarfrisur schneiden. Meine Mutter war schockiert über diesen neuen Trend, doch wir hatten es nicht anders erwartet.

Zum Geburtstag bekam ich von Michelle und David einen neuen, breitkrempigen Hut, mit einer roten Feder. Dazu passend einen Muff. Ich ahnte, dass sie dafür ein kleines Vermögen bezahlt hatten, denn gerade ausländische Mode war bei uns kaum noch zu bekommen.

Meine Eltern beschenkten mich mit neuen Farben, Leinwänden, teuren Rosshaarpinseln und dem Versprechen, über ein Studium an der National Academy in New York ernsthaft nachzudenken. Ich jubelte, denn das war mehr, als ich zu hoffen gewagt hatte. Dankbar drückte ich Michelles Hand in jener Nacht, denn ich wusste, dass dies ihr Verdienst gewesen war.

 

 

2

 

Meine Eltern ließen mich nicht lange zappeln. Ende Januar gaben sie mir ihr Einverständnis, dass ich nach New York gehen dürfte. Ich war so aufgeregt und erfreut, dass ich tagelang wie ein aufgescheuchtes Huhn durchs Haus tanzte. Doch in dieser Zeit geschah etwas, was ich so schnell nicht wieder vergessen konnte.

 

„Nicolai“, begrüßte ich meinen Kunstlehrer überschwänglich, als er an diesem klirrend kalten Tag unser Haus betrat. Ich grinste breit und zog ihn hinter mir her, darauf brennend, ihm die Neuigkeit zu erzählen.

„Meine Eltern haben zugestimmt, dass ich nach New York darf, um an der National Academy zu studieren. Ist das nicht wunderbar?“ Ich fasste nach seinen Händen, noch ehe er sich den Mantel ausziehen konnte, und hüpfte wie ein kleines Kind auf und ab.

„Das sind wirklich sehr gute Neuigkeiten. Ich gratuliere dir von ganzem Herzen.“ Nicolai drückte mich kurz an sich, bevor er mich von sich wegschob.

In meiner Freude merkte ich gar nicht, dass ihn etwas bedrückte. Er drehte sich von mir weg, zog seinen Mantel aus und legte den Hut ab, bevor er sich langsam mir wieder zuwandte. Seine dunklen Hundeaugen sahen mich traurig an, und mit seinen von der Kälte geröteten Wangen, erinnerte er mich an einen linkischen Lausbuben, obwohl er schon Ende zwanzig war.

„Was ist los, Nicolai? Stimmt etwas nicht?“

„Nein, nein, es ist alles bestens.“ Sein Blick strafte seinen Worten jedoch Lügen.

Energisch verschränkte ich die Arme vor der Brust und sah in streng an.

„Raus mit der Sprache. Was ist los?“

„Nun ja.“ Nicolai trat vor den Kamin und rieb die Hände aneinander. „Ich freue mich natürlich für dich, weil ich weiß, dass es dein größter Wunsch ist. Auf der anderen Seite stimmt es mich traurig, weil ….“

„Ach, Nicolai.“ Ich gesellte mich zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Du wirst eine andere Stellung finden. Ganz sicher sogar. Du könntest auch mitkommen und dein Glück in New York versuchen. Was ich gehört habe, sind die New Yorker neuen Künstlern gegenüber aufgeschlossen und nicht so versnobt wie die Bostoner Gesellschaft.“

„Claire!“ Nicolai packte mich unverhofft, hielt mich an den Oberarmen fest und bohrte seinen Blick in meinen. „Es geht mir doch nicht um meine Arbeit bei euch. Nicht nur. Es geht darum, dass ich dich dann nicht mehr sehe, verstehst du?“

Irritiert sah ich ihn an. Nein, ich verstand nicht.

„Claire, ich habe mich ernsthaft in dich verliebt“, gestand er und bevor ich zu einer Reaktion fähig war, drückte er ungestüm seine Lippen auf meine.

Ich ließ ihn gewähren. Wie ein Zinnsoldat stand ich da und ließ mich von meinem Kunstlehrer küssen. Ich fühlte nichts. Nur seine drängenden Lippen, die sich hart und ungeschickt auf meine pressten. Als er von mir abließ, war ich weder wütend, noch spürte ich irgendeine andere Emotion, obwohl sein Verhalten ziemlich ungebührlich war.

„Es tut mir leid“, stammelte Nicolai mit hochrotem Kopf. „Ich habe mich gehen lassen. Es ist nur so, Claire, dass ich mir Hoffnungen gemacht habe. Hoffnung darauf, dass wir vielleicht heiraten. Ich habe etwas Geld gespart und eine Anstellung im Museum in Aussicht. Damit könnte ich dir ein schönes Leben bieten. Du könntest malen und ...“

„Nicolai“, unterbrach ich ihn. „Ich möchte dich nicht heiraten. Ich weiß, dass du gut für mich sorgen würdest, aber zum einen liebe ich dich nicht und zum anderen ist mir das Studium wichtig.“

Er ließ mich schlagartig los, raffte seinen Mantel und den Hut und hetzte zur Türe.

„Es tut mir leid, Claire. Es war dumm von mir.“

„Nicolai, warte!“, rief ich, doch er ließ mich, ohne Abschiedsgruß, einfach stehen und ging.

 

Nicolai kehrte nicht mehr zurück. Meinen Eltern erzählte ich nichts von seinem Antrag, sondern erfand eine Geschichte, warum er fernblieb. Nur Michelle kannte die Wahrheit und lachte schallend, als ich ihr davon erzählte.

„Was bildet sich dieser Russe eigentlich ein? Will er dich mit in sein trostloses Leben reißen?“

„Sei nicht so gemein“, tadelte ich sie, doch ich konnte ihr nicht wirklich böse sein.

Mal abgesehen davon, dass Nicolai mich nicht im Geringsten interessierte, hatte Michelle ja recht. Er würde mir nie etwas bieten können. Das mag sich vielleicht etwas überheblich anhören, aber zur damaligen Zeit war es mit Geld schon schwer genug. Nicolai hielt sich gerade so über Wasser. Neben der Arbeit als mein Lehrer unterrichtete er zwei weitere Schüler, doch der Verdienst war alles andere als ausreichend für zwei Personen.

„Konzentriere dich jetzt auf dein Studium“, redete Michelle weiter, und nahm meine Hand. „Und schreib mir ganz oft, versprochen? Ich war noch nie in New York und brenne darauf zu erfahren, wie es dort ist. Vielleicht kommen David und ich dich dort mal besuchen.“

„Oh, das wäre wunderbar.“ Ich kicherte aufgeregt. „Es wird komisch sein, euch alle nicht mehr ständig zu sehen. Vor allem Mutter. Wird sie damit zurechtkommen?“

„Claire, du bist erwachsen! Es ist an der Zeit, den Rockzipfel deiner Mutter loszulassen. Du weißt, ich mag sie, aber sie klammert ganz fürchterlich. Letztens hat sie mich gefragt, ob bei mir alles in Ordnung ist, weil ich noch nicht schwanger bin. Sie hat veraltetes Gedankengut. Eine Frau darf nicht auf eigenen Beinen stehen und muss am besten noch in der Hochzeitsnacht geschwängert werden.“

„Sie meint es nur gut“, seufzte ich. „Für sie stand die Familie immer an erster Stelle und sie ist glücklich, wenn alle zusammen sind.“

„Trotzdem wird sie akzeptieren müssen, dass wir unsere eigenen Leben haben.“ Michelle strich sich zum wiederholten Male eine vorwitzige Strähne ihrer blonden Locken aus dem Gesicht.

„Michelle, ...“ Ich zögerte, weil mir etwas auf dem Herzen lag und ich nicht wusste, wie ich das Thema zur Sprache bringen sollte. „Als Nicolai mich geküsst hat, habe ich rein gar nichts gespürt. Ich meine, ein Kuss ist eine sehr innige Geste, sollte man da nicht etwas fühlen?“

„Nein. Nicht, wenn es nicht der Richtige ist. Du wirst es bald merken. Weißt du, wenn David mich küsst, dann höre ich eine Melodie, mir wird ganz heiß, dann wieder kalt. Es ist, als wirbelten tausende Schmetterlinge in meinem Bauch.“ Sie schlug sich die Hand vor den Mund und lachte verschämt.

Ich grinste. Mein Bruder und Michelle waren immer noch verliebt wie am ersten Tag. Sie machte ihn glücklich und dafür liebten wir sie alle. Und ich war froh, dass sie zu unserer Familie gehörte, denn Michelle wurde meine engste Vertraute, beste Freundin und Schwester. Für mich war es Neuland, mich so offen mit einer anderen Frau zu unterhalten, doch mit Michelle konnte ich über alles sprechen. Sie war verschwiegen, modern und schien immer die richtigen Worte parat zu haben. Ganz anders als Daphne van Houten, die uns an Weihnachten die Ehre erwies, weil Lester es für klug hielt, sie einzuladen. Meine Mutter war völlig aus dem Häuschen, denn in ihrer Vorstellung, läuteten bald abermals die Hochzeitsglocken. Ich mochte Daphne nicht und wusste, dass Michelle sie auch etwas merkwürdig fand. Daphne war meiner Mutter sehr ähnlich, wahrscheinlich verstanden die beiden sich deshalb so blendend.