Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Greg hat sich nach seiner Reise in die Terapolis gerade erst wieder in seiner Gemeinschaft eingelebt, da ziehen graue Wolken am Horizont auf. Die schlechte wirtschaftliche Lage treibt mehr und mehr Einwohner der City in die Armut und die Weißen Löwen, eine straff geführte Jugendbande aus der Terapolis, schicken sich an, die Macht in der Stadt zu übernehmen. Zu allem Überfluss verschwindet auch noch Gregs Freundin Natty von der Bildfläche. Als Nathalie, die Königin der Weißen Löwen, von Greg die Rückzahlung eines Gefallens einfordert, muss sich der Junge zwischen dem Versprechen und der Loyalität gegenüber seinen Freunden entscheiden. In seinem Versuch, sich selbst, Natty und die ganze Stadt zu retten, lernt er die Macht von Magie und Zeit zu schätzen und zu fürchten.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 673
Veröffentlichungsjahr: 2020
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Tom Dekker
Clockwork
Roman
Steampunk • Fantasy
Impressum
Texte: © Copyright by Tom Dekker, 2019
Umschlag: © Copyright by J. Burkhardt
Verlag:
Tom Dekker
c/o Burkhardt
Lotzestr. 34 37083 Göttingen [email protected]
www.starkebücher.de
Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH,
Berlin 2020
Dieses Buch gibt es auch als Taschenbuch:
ISBN: 978-3-750298-27-9
I
Das Klicken des Türschlosses hatte eine beruhigende Wirkung. Arthur Tudor stand, eine Hand gegen den schwarzen, mit Zahnradmotiven verzierten Türrahmen gestützt, an der Ladentür. Durch die verwitterte Tür konnte er aus seiner Uhrmacherwerkstatt auf die große Straße im Zentrum der City treten, wenn er das denn gewollt hätte. Arthur lauschte mit Verzücken dem charakteristischen Klicken hinter ihm, das wie jeden Abend sein Signal war, dass er sich endlich den eigentlich wichtigen Dingen des Lebens widmen konnte.
Ein erster Hauch von Dämmerung zeichnete sich am Firmament ab. Der Sommer war vorüber, schnell würden die Tage kürzer und die Nächte länger, kälter und unwirtlicher werden. Nicht, dass dieser Umstand Arthur bedrückte. Er ging so gut wie nie vor die Tür. Die wenigen Freunde, die er im Laufe seines Lebens angesammelt hatte, waren größtenteils bereits den Weg allen Irdischens gegangen, und diejenigen, die sich noch einer gewissen Gesundheit erfreuten, lebten weit weg, zu weit, um ihnen ständig Besuche abzustatten. Die lebensnotwendigsten Güter erhielt er durch den Sohn des Krämers Lazar, ein geschwätziger Junge, der dreimal die Woche nicht nur frisches Essen und Haushaltsgüter brachte, sondern auch den ganzen Unrat des städtischen Klatsches vor Arthur ausgoss. Wie oft hatte sich der alte Uhrmacher schon gewünscht, endlich taub zu werden, nur um diesem Waschweib von einem Bengel nicht mehr länger bei seinem unsäglichen Gequassel zuhören zu müssen. Die Ersatzteile für seine Uhren stellte er größtenteils selbst her, und wenn er doch einmal ein neues Werkzeug benötigte, schickte er seinen neuen Burschen, es zu holen.
Beim Gedanken an den Jungen stahl sich ein verträumtes Lächeln in seine Mundwinkel. Der Bursche hatte Talent. Er war fleißig, diensteifrig, immer pünktlich, geschickt und vor allem – schweigsam. Stundenlang konnten sie in der kleinen Werkstatt zusammenhocken, Uhren auseinandernehmen und neu zusammensetzen und sich gegenseitig Schraubendreher und Pinzetten reichen, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Bereits nach wenigen Tagen schien der Junge jeden seiner Gedanken vorauszuahnen und beinahe kongenial arbeiteten sie Hand in Hand an schwierigsten Konstruktionen, die Arthur selbst erst nach Jahren der Lehre gemeistert hatte. Ja, der Junge hatte Talent!
Arthurs Blick fiel auf eine alte Frau, die eine Metalldose vor sich her trug und mit einem Löffel darauf einschlug. Das monotone Gongen klang in den Ohren des alten Uhrmachers wie ein ungehörter Hilfeschrei, nutzlos, abgestumpft, ohne jeden Sinn. Seine Schultern sanken um einen Fingerbreit nach unten. Resigniert schüttelte er den Kopf, zog den Schlüssel aus dem Schloss und schlurfte langsam von der Tür weg in den hinteren Teil seines kleinen Ladens, dorthin, wo er hinter einem braunen Vorhang seine Werkstatt eingerichtet hatte. Ihm war nicht verborgen geblieben, dass viele Bewohner der City litten. Die Wertmarken flossen nicht mehr so reichlich von Hand zu Hand und auch Tauschwaren verschwanden nach und nach vom Markt. Auch in seinem Laden ließen sich immer weniger Kunden blicken. Die Nachfrage bestimmte vielleicht das Angebot, aber die Zahlungskraft bestimmte die Nachfrage.
Nicht, dass es Arthur etwas ausgemacht hätte, weniger seiner kostbaren Zeit mit den Gelüsten und Sonderwünschen seiner Kunden vergeuden zu müssen. Er brauchte nicht viel zum Leben und was er besaß, würde weit über seinen Tod ausreichen, um ihn zu versorgen. Wovon er nicht mehr viel besaß, war Zeit. Was für eine Ironie des Schicksals! Ein flüchtiges, verbittertes Lächeln huschte über Arthurs Gesicht.
Behutsam setzte Arthur Tudor den großen Zylinder ab, der sein Markenzeichen bei seinen Kunden und darüber hinaus in der ganzen Stadt bekannt war. Liebevoll strich er über die kleinen und großen Uhren, Federn und Zahnräder, die ihn umgürteten und zierten, wie es nur beim Hut eines Uhrmachers der Fall sein konnte. Bedächtig zupfte er das weiße Tuch aus der Brusttasche seiner Jacke und befreite die Verzierungen sorgfältig vom Staub des Tages.
Ja, es war schnell bergab gegangen mit der City. Noch vor wenigen Wochen war Collin Rands Stern am politischen Himmel steil aufgestiegen. Es galt als ausgemachte Sache, dass er der neue Gouverneur der City werden würde. Die Schlote der Fabriken spuckten unablässig Rauch, die Jugendbanden hatten sich in die Schemen und andere berüchtigte Stadtviertel zurückgezogen und jeder, der auch nur ansatzweise wusste, wie man sein Scherflein ins Trockene brachte, hatte sich mit Collin Rand und seinem Anhang an Speichelleckern und Arschkriechern gutgestellt. Die Wertmarken wechselten eifrig den Besitzer und die Geschäfte gingen außerordentlich gut.
Doch dann war alles durch diesen Prozess ins Wanken geraten. Arthur Tudor konnte gar nicht umhin, alles haarklein zu erfahren. Das ohnehin schon lose Mundwerk des Krämerjungen hatte in diesen Tagen vermutlich niemals stillgestanden. Collin Rand war wegen der Beteiligung an politischen Morden ins Exil geschickt worden und die Gouverneurswahl musste verschoben werden.
Ein irres Kichern entrang sich der Kehle des alten Uhrmachers. Rands Fabriken wurden stillgelegt, die Ordnung in der Stadt brach in Windeseile zusammen, Mobs von arbeitslosen Jugendlichen tobten sich in der Stadt aus und die Ordnungshüter hatten die öffentliche Ordnung sich selbst überlassen. Die Straßen der Stadt waren kein sicherer Ort mehr, wenn sie es denn jemals gewesen waren. Wie gut, dass er selbst nicht oft auf die Straße hinaus musste!
Arthur steckte das Staubtüchlein zurück in seine Jacke, holte aus der Hose ein größeres, rot kariertes Tuch hervor und tupfte sich die Schweißperlen von seinem haarlosen Schädel. „Wir haben's gut, was, Molly?“, sagte er zu der großen Schrankuhr, die in der hinteren linken Ecke seiner kleinen Werkstatt aufragte wie ein Wachturm. „Niemand da, der uns stört.“ Kichernd beugte er sich über den großen, abgewetzten Tisch, der den Raum dominierte. Überall lagen Ziffernblätter, Zeiger, Zahnräder, Federn, Rädchen und Schrauben in so kleinen Größen herum, dass ein einfacher Besucher es für unmöglich gehalten hätte, sie mit den feinmotorischen Fähigkeiten eines normalen Menschen in den kleinen Uhrgehäusen zwischen all den anderen Dingen zu befestigen. „Und Ihr, meine kleinen Schätzchen,“, wandte sich Arthur Tudor an ein Häufchen Zahnräder, das er behutsam zusammenkehrte, „müsst jetzt zurück in eure Bettchen. Zeit für die Nachtruhe!“ Während er die Zahnräder der Reihe nach mit einer Pinzette anhob, mit einem winzigen Rasierpinsel abbürstete und sie in freie kleine Kästchen seines riesigen Schubladenschranks, der zwei komplette Wände der Werkstatt einnahm, einsortierte, summte der alte Uhrmacher wie jeden Abend eine uralte Melodie, die er von seiner Großmutter gelernt hatte. Den dazugehörigen Text hatte Arthur längst vergessen, doch die Musik hatte sich tief in sein Innerstes gebrannt und würde ihn nie verlassen.
Es war bereits dunkel, als Arthur Tudor endlich damit fertig war, die Geräte, Utensilien und Werkzeuge zu reinigen und in den für sie vorgesehenen Fächern zu verstauen, nicht ohne jedem einzelnen von ihnen noch einen frohen Spruch oder gute Wünsche für die Nacht mit auf den Weg gegeben zu haben. Mühsam streckte er den alten Rücken durch, wobei er sich mit beiden Händen unterhalb der Nieren abstützte.
Bedächtig löschte der Uhrmacher die Kerzen, deren Licht seinen Laden in eine unruhige, aber wärmende Helligkeit tauchte. Ja, Kerzen waren teuer. Einige seiner Nachbarn waren auf diese neuen anbarischen Birnen oder Gaslampen umgestiegen, aber Arthur kannte den entscheidenden Vorteil von Kerzen – man konnte sie jederzeit selbst herstellen, wenn man wusste, wie es ging. Er hatte schon zu viel erlebt, um sich von anderen abhängig zu machen. Wie oft hatten sich seine Nachbarn schon Kerzen von ihm borgen müssen, weil wieder einmal ein Versorgungsengpass entstanden war. Vor allem in letzter Zeit hatte sich die städtische Infrastruktur als äußerst anfällig erwiesen.
Der alte Uhrmacher blieb an der Eingangstür seines in völliger Dunkelheit liegenden Ladens stehen. Ein Schatten, der in die Schatten starrte. Reglos beobachtete er die Straße, auf der sich einige junge Männer versammelt hatten und lautstark gestikulierten. Arthur konnte die Worte nicht verstehen, aber er spürte, dass wieder einmal Ärger in der Luft lag. Er hatte immer schon ein Gespür dafür gehabt, wenn eine Situation brenzlig werden konnte, und zur Zeit war eigentlich jeder Minute in dieser Stadt eine brenzlige Situation. Arthur Tudor zuckte mit den Schultern. Was kümmerte ihn der Mob auf der Straße. Von ihm und seinem Laden würden sie sich fernhalten, dafür hatte er gesorgt. Andere hatten da weniger Glück.
Das Geschrei auf der Straße nahm zu. Die Gruppe der jungen Leute war deutlich angewachsen und bewegte sich langsam, aber zielsicher, auf Kustodus Fleischerei zu. Außer Molly und ihren Söhnen und Töchtern in den Regalen der Werkstatt und den Auslagen des Ladens hörte niemand Arthurs irres Kichern. Für Kustodus Würstchen hatte das letzte Stündlein geschlagen. Aus der Dunkelheit seines Ladens sah der alte Uhrmacher einen ersten Stein gegen das Schaufenster fliegen, dem schon bald weitere folgten. Das Klirren der Glasscheiben wurde übertönt von dem Johlen der Menge, die dicht gepackt in das Innere des Ladens drängte. Kurze Zeit später liefen kleine Grüppchen junger Männer mit schweren Leinensäcken über dem Rücken oder ungewöhnlich dicken Ausbeulungen in den Jacken in die Gegenrichtung davon. Für ihr Abendessen war heute gesorgt.
Mit einem letzten irren Kichern warf der alte Uhrmacher einen letzten Blick auf die Straße, die wieder so leer und einsam da lag, wie sie es zu dieser späten Abendstunde tun sollte. Nur die eingeschlagenen Scheiben der Fleischerei zeugten noch von dem Aufruhr, der eben noch hier geherrscht hatte. Arthur Tudor zog sich geräuschlos in die kleine Kammer hinter seiner Werkstatt zurück, in der ein klappriges Feldbett, ein Tisch, ein Stuhl, ein Regal und eine Waschschüssel seinen gesamten häuslichen Besitzstand darstellten. Aber was waren schon die Güter dieser Welt gegen die Befriedigung des Handwerkers, der eine uralte Kunst zu immer neuer Blüte trieb?
II
„Was, ist die Suppe schon alle?“ Philt schaute ungläubig in den großen Kessel, der über dem fröhlich vor sich hin flackernden Feuer hing. „Tatsächlich! Nichts mehr da.“ Sein Blick wanderte enttäuscht zu Suri. Fast anklagend deutete er mit der schweren Suppenkelle auf das Mädchen.
Die schwarzhaarige Schönheit wedelte nur affektiert mit ihren Seidenhandschuhen. „Ich habe alles gekocht, was ihr besorgt habt. Wenn es den Herren nicht genügt, müsst ihr euch tagsüber eben mehr anstrengen!“
„Wir sind den ganzen Tag durch die City gelaufen und haben an den unmöglichsten Orten nach etwas Essbarem gesucht.“, erwiderte Philt und hustete ein paar Mal geräuschvoll in seine Hand.
Suri konnte sich einen schnippischen Kommentar nicht verkneifen. „Dann solltet ihr vielleicht lieber an möglichen Orten nachschauen!“
Peanut, die schwarzhaarige Asiatin mit den vielen Sommersprossen, funkelte sie böse aus ihren bernsteinfarbenen Augen an. „Siehst du nicht, dass es ihm schlecht geht?“, fauchte sie und strich Philt sanft über das braune Haar, das nur unzureichend seine abstehenden Ohren verdeckte. „Wie steht es bei dir?“, fragte sie ihn mit sanfter Stimme, erntete aber nur ein mürrisches Grunzen.
„Stopp!“ Josh, der erfahrenste unter ihnen und ungekürtes Oberhaupt der kleinen Gemeinschaft hob beschwichtigend die Hände. „Was sollen diese ewigen Streitereien?“ Seine braunen Augen, die ebenso wie seine schwarze Haut unruhig im Feuerschein zu tanzen schienen, blickten ernst in die Runde. „Wir können froh sein, dass wir jeden Tag aufs Neue genug zu essen finden. Vielen anderen Gemeinschaften geht es weit schlechter als uns. Es wird uns nicht umbringen, wenn wir einmal ein karges Abendessen verkraften müssen. Was uns aber mit Sicherheit umbringen wird, ist Streit und Uneinigkeit. Nur gemeinsam sind wir stark genug, diese schwierige Zeit zu überstehen. Wir brauchen einander!“
Suri senkte beschämt den Blick und Philt starrte betrübt ins Feuer. Josh hatte recht, aber es war so verdammt schwer, jeden Tag aufs Neue hungrig schlafen zu gehen und nicht zu wissen, was der nächste Tag bringen würde.
„Josh hat recht.“, sagte Greg und klopfte seine Schiebermütze aus. „Unser Zusammenhalt macht uns stark.“ Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er die anderen nacheinander anschaute. Philt mit der übergroßen Kordhose, dem Wollmantel und den ausgetretenen Lackschuhen, Peanut, deren ganzer Stolz ihre immer gut gefetteten Stiefeletten waren, die unter ihrem Wollkleid hervorlugten, Josh, der trotz seines Holzbeins immer frohen Mutes war und dessen Muskeln unter der schwarzen Haut spielten, als wäre er jeden Augenblick zu einem Kampf bereit, Suri, deren orange-schwarzes Kleid ihre Reize mehr betonte, als dass es sie verbarg und Frog, der eben noch mit seiner Trompete, Frack und Lackschuhen von einem Konzert seiner Big Band gekommen war, nun aber schon in Tuchhose und Wolljacke bei ihnen saß, seine Haut so schwarz, dass er im Dunkeln einfach nur still dastehen musste, wenn er nicht gesehen werden wollte, waren seine einzige Familie. Eine verschworene Gemeinschaft, die durch dick und dünn ging, aber wie in jeder Familie gab es auch hier Streitereien und Eifersucht, Neid und Missgunst. Greg wusste, dass das ganz normal war, aber sie mussten aufpassen, dass diese Gefühle nicht die Oberhand gewannen.
„Hoffentlich macht er euch stark genug.“, unterbrach Natty seine Gedanken. Natty, die immer so tatendurstig und begeisterungsfähig war, saß mit bekümmerter Miene zwischen den anderen. „Mein Vater sagt, es sei keine Besserung in Sicht.“
„Dein Vater wird es wissen.“, seufzte Suri. „Als einflussreicher Fabrikant sitzt er ja an der Quelle aller Informationen in dieser Stadt.“
Natty hob bedauernd die Schultern. „Ich habe mir meine Eltern nicht ausgesucht, das wisst ihr.“, entgegnete sie barsch.
„Aber du bist trotzdem froh, dass du jeden Tag an einen reich gedeckten Tisch und in ein angenehm weiches, sicheres und warmes Bett zurückkehren kannst.“, ließ sich Suri zu einer weiteren spitzen Bemerkung hinreißen, was ihr einen Stoß in die Rippen durch Frogs Ellenbogen einbrachte.
„Niemand macht dir einen Vorwurf.“, wandte sich Josh an Natty. „Es ist großartig, dass du, so oft du kannst, zu uns kommst und uns mit Essen und Informationen versorgst. Ohne dich würde es uns genauso schlecht gehen wie den meisten anderen Menschen in den armen Vierteln der Stadt.“ Er warf Natty einen dankbaren Blick zu.
„Also, so wie fast allen Menschen in der Stadt.“, stichelte Suri weiter.
„Suri, was ist denn los?“, fragte Greg verwundert. Suris zynische Art, die Welt zu betrachten, hatte schon das ein oder andere Mal für Unmut in der Gemeinschaft gesorgt, aber so schlimm hatte sie sich selten benommen.
„Was soll los sein?“ Suri warf in gespielter Empörung die Arme in die Luft. „Wir haben nicht genug zu essen, jede Nacht werden Menschen von den Mobs auf der Straße oder in ihren Häusern erschlagen, die meisten Fabriken haben kaum noch Arbeit, so lange nicht klar ist, was mit Collin Rands Firmen passieren wird und Recht und Ordnung sind zusammengebrochen. Aber sonst ist ja alles in bester Ordnung.“, rief sie beinahe hysterisch.
Josh schaute sie fest an. „Das ist aber nichts Neues. So geht es schon seit mehreren Wochen, seit sie Collin Rand verurteilt und in die Verbannung geschickt haben.“, stellte er in ruhigem Ton fest. „Was bedrückt dich wirklich?“
Suri seufzte und versuchte vergebens, eine Träne zu verbergen, die sich in ihren Augenwinkel gestohlen hatte. „Schon seit Wochen ist die Schneiderei geschlossen. Und die Freier, die nur noch ganz selten zu mir kommen, zahlen immer weniger. Ich komme mir so nutzlos vor. Ich falle euch nur zur Last!“ Bei diesen letzten Worten ließ sie den Tränen freien Lauf, die in zwei dünnen Rinnsalen ihre Wangen hinabrannen.
Peanut nahm die Freundin in den Arm und wiegte sie sanft hin und her. „Schschsch.“, versuchte sie, Suri zu beruhigen. „Du bist nicht nutzlos. Wir alle brauchen dich. Du kochst uns Essen, bringst uns zum Lachen, sorgst dafür, dass Greg und Philt nicht dauernd Dummheiten machen, und das Essen, dass du von deinen Freiern bekommst, hilft uns, satt zu werden. Also ich könnte das nicht.“ Sie schüttelte sich theatralisch. „So, wie manche von den Kerlen stinken.“
Suri schenkte ihr ein dankbares Lächeln. „Wenigstens haben du und Frog noch ihre Arbeit.“, sagte sie mit einiger Erleichterung in der Stimme.
„Apropos.“, mischte sich Josh ein. „Wie läuft es in der neuen Werkstatt, Greg?“ Alle Blicke wandten sich dem Angesprochenen zu.
Greg überlegte kurz, was er antworten sollte. „Es läuft gut.“, erwiderte er nachdenklich. „Ich denke, dass ich dem Meister gut zur Hand gehe und er meine Arbeit schätzt. Er kann mir nicht viele Wertmarken geben, aber es ist besser als nichts und ich habe das Gefühl, dass ich bei ihm eine ganze Menge lernen kann.“
„Ihr habt wirklich Glück, dass so viele von euch noch Arbeit haben.“, meinte Natty mit einem Hauch Enthusiasmus in der Stimme. „Mein Vater hat erzählt, dass mehr als die Hälfte aller Arbeiter in den Fabriken in diesem Sommer ihre Arbeit verloren haben. Er meint, es würde sicher noch bis ins nächste Jahr dauern, bevor die Produktion sich neu geordnet hat und wieder anlaufen kann. Das wird für viele Familien böse enden.“
„Sagt die unbeirrbare Optimistin unter uns?“, spöttelte Suri.
„Schrecklich, nicht?“, gab Natty schnippisch zurück. „Es ist schon zu Plünderungen gekommen.“, setzte sie ihren Bericht fort. „Viele Läden schließen inzwischen vor Einbruch der Dunkelheit und verbarrikadieren ihre Schaufenster mit Holzplanken und Eisengittern.“
„Na, da werden die Tischler und Schmiede ja gut verdienen.“, feixte Philt vor sich hin.
„Ich halte das nicht für so lustig.“, mischte sich Frog ein, der bisher schweigsam dagesessen und in die Flammen gestarrt hatte. „Es wird immer gefährlicher auf den Straßen, vor allem nachts, wenn ich unterwegs bin. Ich bin schon mehrfach nur um Haaresbreite einer dieser Banden entkommen. Wenn die meine Trompete in die Finger bekommen, bin ich erledigt.“
„Du wärst auch erledigt, wenn sie dich ohne Trompete in die Finger bekämen.“, korrigierte ihn Josh.
„Man kann über Collin Rand sagen, was man will, aber wenigstens gab es zu seiner Zeit als starker Mann nicht solche Zustände.“, ließ sich Frog nicht beirren.
Greg warf einen neuen Holzscheit in das Feuer, so dass die Funken aufstoben. „Collin Rand war ein ruchloser Emporkömmling, der nicht einmal vor Mord und Diffamierung zurückschreckte, um zu bekommen, was er wollte. Es ist gut, dass er weg ist.“, sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
Bevor Frog etwas erwidern konnte, sprang Josh Greg zur Seite. „Außerdem hat es auch unter Rand all diese Erscheinungen gegeben. Nur nicht hier, bei uns, aber wer von euch hat sich denn schon jemals nachts durch die Schemen gewagt? Außer Greg natürlich.“, fügte er nonchalant hinzu.
Alle schauten zu Greg, der ihnen nach und nach die Geschichte seines Abenteuers erzählt und dabei auch die Tage, die er in diesem verrufenen und gefürchteten Stadtviertel verbracht hatte, nicht unterschlagen hatte.
„Du hast recht, Josh.“, sagte Natty mit einem Seufzen. „Dennoch bin ich der Meinung, dass das Ganze auch etwas aufgebauscht wird. Die meisten Bürger der City sind anständige Menschen, die niemandem etwas zu Leide tun und einfach nur über die Runden kommen wollen. Und die Polizei gibt es immer noch.“, versuchte sie, sich und den anderen Mut zu machen.
„Klar, nur dass man sie kaum noch sieht.“, murmelte Philt.
„Und was werden brave Bürger machen, wenn es ihnen nicht mehr gelingt, auf redliche Weise über die Runden zu kommen?“, fragte Suri mit gehobener Augenbraue.
„Ach, ihr redet schon genau wie mein Vater!“, fuhr Natty die beiden an. „Er will mich nicht einmal mehr allein mit meinem Dieselroller durch die City fahren lassen. Angeblich wäre es viel zu gefährlich geworden, dabei bin ich mit dem Roller viel schneller als jeder Verbrecher, der mich verfolgen will.“
„Ja, so sind Väter nun mal.“, sagte Philt weise.
„Immer in Sorge, alles verbieten.“, seufzte Peanut. „Da bin ich doch froh, dass wir uns haben und keine Eltern, die uns vorschreiben, was wir tun und lassen sollten.“ Sie kicherte aufgesetzt. „Was meinst du, Greg?“
Der drahtige Junge strich sich unbehaglich durch das braune Haar. „Ich weiß nicht.“, gab er freimütig zu. „Ich hatte nie Eltern.“
„Stimmt auch wieder.“, meinte Josh. „Aber Nattys Vater hat nicht ganz Unrecht. Es ist wirklich gefährlicher geworden.“ Dabei warf er dem Mädchen in dem gepflegten hellblauen Korsettkleid einen eindringlichen Blick zu.
„Schon verstanden!“ Natty stand mit erhobenem Kopf auf und klopfte sich das Kleid glatt. „Ich werde mich besser auf den Heimweg machen. Vergesst ihr nur nicht, hinter mir das Tor zu schließen. Ich denke, ihr lebt weit gefährlicher als ich, und das ist mein voller Ernst.“, sagte sie mit einer so entschiedenen Stimme, dass nicht einmal Suri es wagte, ihr zu widersprechen.
„Mach's gut, Natty!“, rief Peanut.
„Ja, bis bald. Pass auf dich auf!“, sagte Greg und die anderen fielen in die Verabschiedung ein. Natty startete ihren Dieselroller, schwang ein Bein über die Sitzbank und tuckerte winkend durch das Tor auf die Straße.
„Läuft ja wie geschmiert.“, kommentierte Philt die Abfahrt. „Hast du daran herumgeschraubt?“ Er warf Greg einen fragenden Blick zu.
„Ein Bisschen.“, antwortete der geschickte Mechaniker lächelnd. „Ich habe nur hier und da ein paar Schrauben angezogen.“
Frog, der das Tor mit einem schweren Balken fest verschlossen hatte, setzte sich wieder zu ihnen. Nach Sprechen war niemandem zumute. Die Jugendlichen starrten in die Flammen, lauschten dem schnell leiser werdenden Knattern des Dieselrollers und, als dieser verklungen war, dem Knacken des Holzes und den nächtlichen Geräuschen der City, die nicht für alle Stadtbewohner eine friedliche Nacht versprachen und gaben sich ihren Gedanken, Erinnerungen und Erwartungen hin.
III
„Geraldine Greystone, Gnädigste! Es ist mir eine solche Freude, Euch auf dem Platz zu sehen, den so lange Euer werter, leider viel zu früh von uns gegangener Gemahl inne hatte. Ihr als Gouverneurin, wer hätte das jemals gedacht?“ Der große bärtige Mann, der in einem mit Pelzbesatz verzierten rot schillernden Brokatmantel durch den geräumigen Audienzsaal schritt und den Mund unter dem buschigen braunen Bart zu einem aufgesetzten Lächeln verzog, breitete die Arme aus, als wolle er sein Gegenüber nach langer entbehrungsreicher Zeit der Trennung fest an sein Herz drücken.
„Maxim Aldo, der Handelsattachet des Verbundes der östlichen Hafenstädte.“, verkündete der für das Protokoll zuständige Saaldiener.
„Wir kennen uns, Luton, vielen Dank.“, schnitt ihm die kalte Stimme Geraldine Greystones, die kerzengerade auf dem Empfangssessel saß und den Neuankömmling nicht aus den Augen ließ, das Wort ab. „Mein Titel lautet amtsführende Gouverneurin. Ich bin nicht gewählt und hege auch nicht die Absicht, zu einer Wahl anzutreten.“, wies sie ihren Gast auf seinen sicher mit purer Absicht begangenen Formfehler hin.
„Ihr seht blendend aus, meine Liebe!“, bemerkte Aldo mit honigtriefender Stimme, während er vor Geraldine Greystone einen ebenso unnötig tiefen wie überaus galanten Diener vollführte.
„Immer noch der alte Schmeichler, Maxim.“, erwiderte die amtierende Gouverneurin mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen.
„Ihr tut mir Unrecht!“, führte der Handelsattachet das Spiel mit einem theatralischen Griff an seine Brust fort. „Erlaubt mir zunächst, Euch unser aller Beileid zum Verlust Eures erlauchten Gatten auszusprechen.“
„Der bereits seit mehreren Monaten tot ist, ohne, dass sich ein Vertreter der Städte bisher bemüßigt gefühlt hätte, ein Wort darüber zu verlieren.“, stellte Geraldine Greystone lakonisch fest.
Maxim Aldo räusperte sich verlegen. „Nun ja. Es sind schwierige Zeiten, die Wege sind unsicher, die diplomatische Situation ist verzwickt...“
„Mit anderen Worten: Wer sein Fähnlein nach dem Wind hängt, lässt sich besser nicht bei der falschen Partei blicken, solange Männer wie Collin Rand die Macht in den Händen halten.“, interpretierte die amtsführende Gouvernerin seine Worte süffisant.
„Ihr seid sehr hart in eurem Urteil, Gnädigste.“ Beinahe winselste der Handelsattachet diese Worte. „Wer bei aufziehendem Gewitter nicht rechtzeitig einen Unterstand sucht, wird sich eine böse Erkältung einfangen, oder Schlimmeres.“, versuchte er eine selbst in seinen Augen müde klingende Rechtfertigung hervorzubringen.
Geraldine Greystone wedelte unwirsch mit der Hand. „Genug der Belanglosigkeiten! So sehr ich die gepflegten Konversationen mit Euch zu schätzen weiß, bin ich in diesen Tagen doch eine viel beschäftigte Frau. Was ist also Euer Begehr?“
Der Handelsattachet strahlte über das ganze Gesicht, so als hätte ihm die mächtigste Frau der City gerade einen Heiratsantrag gemacht, wäre das denn ein für eine Dame gebührliches Verhalten gewesen. „Wir schlagen Euch eine strategische Allianz vor, zu aller Nutzen, versteht sich.“
„Natürlich.“, erwiderte die Gouverneurin mit einem strahlenden Lächeln. „Über die Handelsverträge, die unsere Städte bereits miteinander verbinden hinaus, was sollte das Anliegen dieser strategischen Allianz sein?“, fragte sie neugierig, bedachte Maxim Aldo dabei aber mit einem scharfen Blick über ihre gebogene Nase hinweg, der klar machte, dass trotz der freundlichen Fassade die Interessen ihrer City für Geraldine Greystone nicht verhandelbar waren.
„Nun, wie Ihr sicher gehört haben dürftet, gibt es bereits in mehreren Cities größere Probleme mit dieser ruchlosen Organisation, die versucht, unwissende junge Menschen hinter sich zu scharen und mit nackter Gewalt die öffentliche Ordnung an den Rand des Zusammenbruchs zu bringen.“, leitete Aldo seine Erörterungen ein.
„Die Weißen Löwen?“ Geraldine Greystone tat überrascht. „Haben sie auch in den Hafenstädten Fuß gefasst?“
„Nein, nein!“, wiegelte der Handelsattachet beschwichtigend ab. „So weit sind sie noch nicht vorgedrungen. Aber sie stellen bereits ein Problem für uns dar, da der Handel mit den betroffenen Städten deutlich zurückgegangen ist. Die Weißen Löwen haben ihre eigenen Vorstellungen von Recht und Ordnung. Sie beten einen eigenen Gott an und zwingen den Citybewohnern ihren Glauben auf.“ Dem Saaldiener entrang sich ein erschrockenes Keuchen. „Und das, wo die Cities doch schon seit Generationen allen Göttern abgeschworen haben.“, empörte sich Maxim Aldo.
„Und inwiefern beeinträchtigt das eure Geschäfte?“, fragte Geraldine Greystone mit dem höflichen Lächeln einer Großmutter, die sich bemüht, den wirren Ausführungen ihres kleinen Enkels die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken, während sie eigentlich mit den eigenen Sorgen und Problemen beschäftigt war.
„Nun, sie verbieten den Handel mit allen Ungläubigen.“, erwiderte Aldo und drehte die offenen Handflächen zur Decke.
„Also auch mit euren Städten.“, schlussfolgerte die Gouverneurin.
„Und mit eurer City.“, entgegnete der Handelsattachet.
„Wir haben bisher noch keinen Rückgang des Handels festgestellt.“, entgegnete Greystone brüsk.
In gespielter Überraschung hob Maxim Aldo die Augenbrauen. „Was kein Wunder sein dürfte, da aus dieser City, wie ich hörte, seit Wochen ohnehin nichts mehr ausgeführt wurde. Gibt es überhaupt noch funktionierende Produktionsanlagen?“, fragte er mit einem Hauch Verachtung in der Stimme.
Geraldine Greystone erhob sich von ihrem Sessel und musterte den Handelsattachet ausgiebig. Der feiste, in teure Stoffe gehüllte Geck hatte Recht. Wirtschaftlich stand es schlecht um die City. Es musste ihre erste Sorge sein, die unklare Rechtslage zu entwirren und die Fabriken wieder zum Laufen zu bringen. Und Aldo wusste das genau.
„Wieso kommt Ihr dann zu mir. Offensichtlich stellen die Weißen Löwen keine Gefahr für unseren Handel dar.“, sagte sie schließlich kühl.
Aldo neigte leicht den Kopf. „Vielleicht nicht für den Handel, aber wir wissen aus sicherer Quelle, dass sie bald auch hier auftauchen werden, wenn sie nicht schon im Untergrund aktiv sind.“, erwiderte er nachdenklich. Von draußen drang lautes Rufen in den Audienzsaal. Greystone und Aldo warfen beide einen Blick durch die Fenster auf die Straße, wo offensichtlich eine wilde Verfolgungsjagd zweier Jugendbanden vorbeizog. Als der Pöbel um die nächste Ecke verschwunden war, wandte sich der Handelsattachet wieder der Gouverneurin zu. „Sie nehmen die Städte eine nach der anderen. Und wenn sie hier fertig sind, kommen sie irgendwann auch zu uns. Sie breiten sich aus wie ein Krebsgeschwür. Wir haben kein Interesse daran zu warten, bis sie auch zu uns vorgedrungen sein werden. Liebend gern würden wir Euch und anderen Cities daher beim Kampf gegen die Weißen Löwen beistehen – unter dem Mantel der Verschwiegenheit natürlich. Wir haben ein ausgezeichnetes Netz an Verbindungsleuten und unser Informationsaustausch ist legendär, wie Ihr zugeben müsst, Gnädigste.“
„In der Tat.“, räumte Geraldine Greystone ein. „Ihr bietet uns also Informationen an, damit wir die kleinen Scheißer in Schach halten?“, fasste sie das Angebot der Hafenstädte zusammen.
„Na, na!“ Maxim Aldo wedelte neckisch mit dem Zeigefinger. „Solche Kraftausdrücke stehen Euch wahrlich nicht gut zu Gesicht. Und unterschätzt die Löwen nicht! Sie sind mächtig. Ihre Ideologie ist schwer zu durchbrechen und es scheint so, als könnten sie den Geist ihrer Anhänger so beeinflussen, dass diese bis zur Selbstaufgabe für sie kämpfen.“
„Das tun Soldaten jedes Herrschers.“, entgegnete die Gouverneurin.
„Nicht auf diese perfide Art und Weise.“, erwiderte Aldo. „Ihr eigenes Leben scheint ihnen völlig egal zu sein. Wenn sie einen Auftrag ausführen, nehmen sie weder Deckung noch Rücksicht auf Verwundungen. Das macht sie sehr gefährlich.“
Über diese Worte musste Geraldine Greystone einen Augenblick nachdenken. Der Handelsattachet brachte in der Tat beunruhigende Informationen. „Und Ihr meint, die Informationen eurer Verbindungsmänner genügen, um die Weißen Löwen in Zaum zu halten?“, fragte sie skeptisch.
„Nicht allein. Aber sie helfen dabei, eine geeignete Gegenwehr zu planen.“, räumte Aldo ein.
„Und für Euch springt nichts weiter dabei heraus als die Sicherheit, dass andere einen Krieg führen und gewinnen, der andernfalls möglicherweise auf Euch übergreifen könnte?“, hakte die Gouverneurin misstrauisch nach.
„Das ist doch schon eine ganze Menge.“ Der Handelsattachet brach in ein kurzes, künstliches Lachen aus. „Aber mindestens genauso sehr sind wir an einem funktionierenden Handel mit dem Binnenland interessiert. Und Eure City ist ein Zentrum der Produktion.“
„Ihr schmeichelt uns.“, entgegnete Geraldine Greystone.
Maxim Aldo hob erschrocken die Hände. „Nein, nein. Ganz und gar nicht. Eure City hat sich einen der vorderen Plätze in der Dieselmotoren- und Getriebetechnologie erarbeitet. Und wie man hörte, waren auch die Forschungen im Bereich anbarischer Anlagen weit fortgeschritten.“
„Nur leider liegen, wie Ihr bereits selbst festgestellt habt, diese Produktionsanlagen zu großen Teilen darnieder.“, machte ihn die Gouverneurin auf die Schwachstelle seiner Ausführungen aufmerksam.
„Und genau da kommen wir ins Spiel.“, rief Aldo hocherfreut.
„Aha, jetzt kommen wir also zum Kern der Sache.“, meinte Greystone missmutig.
Der Handelsattachet setzte eine beleidigte Miene auf. „Schon wieder tut Ihr uns Unrecht.“, monierte er. „Wie gesagt, es soll zu unser beider Nutzen sein.“
„Was schlagt Ihr vor?“, wollte die Gouverneurin kurz angebunden wissen.
„Die Fabriken müssen wieder eröffnet werden. So lange Collin Rand in der Verbannung ist, könnten seine Firmen nach dem Recht der Terapolis, das auch hier gilt, zu Stiftungen öffentlichen Interesses umgewandelt werden. Damit obläge die Verwaltung der Firmen einem Rat, der aus städtischen Bürgern gegründet würde. Für die notwendigen finanziellen Auslagen könnten unsere Städte als stille Teilhaber aufkommen.“
„Als stille Teilhaber?“, fragte Geraldine Greystone nachdenklich. „Und was denkt Ihr, würde für Euch dabei herausspringen?“
Maxim Aldos Lächeln lief nun fast von einem Ohr zum anderen über sein ganzes Gesicht. „Fünfzig Prozent vom Gewinn und keine Zölle auf alle hier produzierten Waren, die direkt in unsere Städte ausgeführt werden.“
Für einen Augenblick zuckte die rechte Augenbraue der Gouverneurin in die Höhe, doch sogleich erlangte sie ihre Selbstbeherrschung wieder. Sie reckte das Kinn nach vorn und beschied in dem autoritärem Tonfall, den sie seit ihrer Amtsübernahme jeden Abend stundenlang vor dem Spiegel geübt hatte: „Wir werden Euren Vorschlag im kleinen Rat verhandeln. Ich kann Euch nichts versprechen.“
„Natürlich nicht.“, entgegnete Maxim Aldo unterwürfig. Er glaubte, das Spiel bereits gewonnen zu haben. Jetzt kam es darauf an, dass die Mächtigen der City das Angebot schluckten und er sie nicht durch allzu provokantes Verhalten vor den Kopf stieß.
„Ich muss Euch aber darauf aufmerksam machen, dass alle Entscheidungen, die unter meiner Ägide als amtsführende Gouverneurin gefällt werden, nach einer Wahl einer Bestätigung des nächsten Gouverneurs bedürfen. Es gibt also keine Garantien, dass unsere Entscheidung, egal wie sie ausfällt, von langer Dauer sein wird.“, warnte die Gouverneurin den Handelsattachet.
„Das ist mir bewusst. Aber wir vertrauen auf die Weitsicht und Klugheit der Politiker dieser Stadt und setzen alles an eine erfolgreiche Zusammenarbeit zum Wohle aller.“ Mit einer tiefen, eleganten Verbeugung verabschiedete sich Maxim Aldo und trat den protokollarischen Rückzug an.
Geraldine Greystone blickte ihm lange nachdenklich hinterher. Es waren beunruhigende Nachrichten, die Aldo brachte. Die Stadt lag ohnehin wirtschaftlich am Boden, tiefe politische Gräben hatten selbst die mächtigsten und reichsten Familien entzweit und nun schien sich auch noch diese radikale Sekte auszubreiten. Die Armut und Perspektivlosigkeit in der City würden einen sehr geeigneten Nährboden für das Geschwätz dieser Hetzer darstellen. Es musste dringend etwas Positives geschehen, das den Menschen in dieser Stadt wieder Hoffnung und Zuversicht bescherte.
IV
Sergeant Bobby Lane schlenderte äußerlich wie immer gelassen durch die Straßen seines Viertels. Ein leichter Nieselregen hatte um die Mittagszeit eingesetzt und die meisten Menschen in die Wärme ihrer Behausungen gescheucht, aber als Gesetzeshüter blieb Bobby Lane keine Wahl. Bei Wind und Wetter war es seine Aufgabe, durch die Straßen und Gassen zu patrouillieren und die braven Bürger der Stadt vor Verbrechern und Ganoven zu schützen. So hatte er es gelernt, so tat er es seit unzähligen Jahren und so würde er es noch unzählige Jahre lang tun, bis er eines Tages die Beine nicht mehr aus dem Bett würde schwingen konnen und von vier kräftigen Burschen in schwarzen Anzügen mit den Füßen voraus durch die Tür seiner kleinen Wohnung getragen werden würde.
Der Nieselregen wehte ihm unangenehm ins Gesicht und so zog er den Kragen noch etwas enger unter dem Kinn zusammen. Das schlechte Wetter hatte aber auch eine gute Seite. Seit Wochen war es Bobby Lane auf den Straßen schon nicht mehr so friedlich vorgekommen. Seit dieser Geschichte mit Collin Rand, bei der er keine unwichtige Rolle gespielt hatte, waren Recht und Ordnung regelrecht aus den Fugen geraten. Seit die Fabriken geschlossen hatten, lungerten an jeder Hausecke Jugendliche herum. Nicht, dass sie Bobby Lane in seiner Uniform offen angefeindet hätten, aber er sah an diesem abschätzigen Blick, mit dem sie ihn musterten, dass sie etwas im Schilde führten und nur darum bemüht waren, möglichst unauffällig zu wirken, bis er weit genug weg war, um sie bei ihren Gaunerein nicht zu erwischen.
Menschlich konnte er es den Leuten nicht verdenken, dass sie in einer solchen Lage jede nur erdenkliche Möglichkeit nutzten, irgendwie über die Runden zu kommen. Wie sollten sie Essen und andere Dinge kaufen, wenn sie kein Geld verdienten? Aber dienstlich war es sein Auftrag, jede Art von Kriminalität zu verhindern. Die Lösung der großen Probleme oblag anderen Personen.
Und genau hier begann die Zwickmühle. Wie sollte er als einfacher Sergeant alle diese Jugendgruppen gleichzeitig in Schach halten? Sein Streifengebiet war riesig, wenn er Hilfe anforderte, dauerte es im besten Fall eine halbe Stunde, bevor eine genügend große Anzahl an Polizisten da war, um ihn gegen eine größere Gruppe von Gaunern zu unterstützen. Und diese Kollegen fehlten dann anderswo in der Stadt, wo sich der Mob dann austoben konnte. Es war zum Haareraufen.
Andererseits war es nicht die Schuld der einfachen Polizisten, dass die Reichen und Mächtigen so über die Strenge geschlagen hatten, dass das ganze Ordnungssystem der City zusammengebrochen war. Wenn er und seine Kollegen nun in der Annahme, ohnehin nichts ausrichten zu können, auch noch ihren Dienst schlecht verrichteten, würden sie der Ausbreitung des Chaos noch mehr Vorschub leisten. Aber das würde nicht geschehen! Nicht in Bobby Lanes Viertel und sonst nirgends, wo die einfachen Polizisten ihren Dienst schoben. Tag für Tag, Nacht für Nacht. Gouverneure und Fabrikbesitzer kamen und gingen, aber die Menschen, die blieben, und die Grundlagen von Recht und Ordnung, die blieben auch. Sie waren schon älter als Bobby Lane, älter als die City, vielleicht sogar älter als die Menschheit selbst. Recht und Ordnung setzten sich letztendlich immer durch und er würde mit dazu beitragen, dass es hier in seiner City früher als später dazu kam.
Bobby schlenderte um die nächste Ecke. Seine Füße folgten dem Weg automatisch. Er hätte seine Streife mit verbundenen Augen gehen können, ohne auch nur gegen einen Laternenmast, ein Treppengeländer oder eine Häuserecke zu stoßen. Alles war ihm vertraut, jedes Gesicht war ihm bekannt. Deshalb nahm Bobby Lane in diesem Augenblick etwas war, das den meisten Menschen vermutlich höchstens aus dem Augenwinkel aufgefallen und dann in der Selektion der wichtigen von den unwichtigen Informationen gelöscht worden wäre. Zwei Jungen spazierten auf der anderen Straßenseite entlang. Sie trugen schwarze Hosen, blaue Hemden und weiße Hosenträger, eine Kombination, die Bobby Lane gleich in doppelter Ausführung so noch nie gesehen hatte. Die Jungen lachten und taten so, als hätten sie den Polizisten gar nicht bemerkt. Da sie nichts Verdächtiges taten, hielt sich Bobby Lane nicht weiter mit ihnen auf, er machte sich aber einen gedanklichen Vermerk, vermehrt auf diese Kleiderkombination zu achten. Vielleicht entstand da ja eine weitere dieser Jugendbanden, die bisher nur die Schemen und die anderen Armenviertel im Klammergriff ihrer Gewalttaten gehalten hatten, sich aber langsam auch in die bisher von ihnen verschont gebliebenen Gebiete der Stadt ausbreiteten.
V
„Philt, wieso kommst du denn nicht rein?“, rief Greg, als er auf die Straße trat und seinen Freund an der Hauswand auf der anderen Straßenseite herumlungern sah.
Der schmächtige Junge zog die Hände aus den Taschen seiner Kordhosen und trottete zu Greg herüber. Er schüttelte energisch den Kopf. „Lass mal, Greg! Schön, dass du eine neue Arbeit gefunden hast, aber der Laden ist mir unheimlich.“ Er nickte in Richtung der schwarzen Ladentür, aus der sein Freund gerade getreten war.
Greg drehte sich um und betrachtete im Zwielicht der einsetzenden Dämmerung die Auslage im Schaufenster. Zugegeben, die vielen Zahnräder und Taschenuhren machten einen eher kalten, abweisenden Eindruck, aber er konnte beim besten Willen nicht verstehen, was daran unheimlich sein sollte. Sein Blick glitt über das Holz der Tür und den Fensterrahmen. Alles sah so aus, wie an hunderten anderer Geschäfte in der City auch. Als er gerade ausweichend mit den Schultern zucken wollte, erschien urplötzlich das Gesicht des alten Uhrmachers im Schaufenster. Angeleuchtet von den Gaslaternen der Straßenbeleuchtung wirkte es unter dem mit allerlei Uhren, Zahnrädern und Federn verzierten Zylinder noch abgehärmter und fahler als bei Tageslicht. Und auch da hatte Greg sich schon des Öfteren gefragt, ob diese blasse Gesichtsfarbe und die pergamentartig dünn wirkende Haut wirklich die eines Menschen sein konnten. Wie alt mochte der Uhrmacher sein?
„Siehst du, was ich meine?“, raunte Philt und zog Greg von dem Geschäft weg. Aus seinen Gedanken gerissen, stolperte dieser seinem Freund hinterher. Erst, als sie um die nächste Ecke gebogen waren, verlangsamte Philt seinen Schritt. „Ich sage dir, der Alte ist irre. Absolut irre!“, schnaufte er.
„Er mag etwas eigenartig sein, aber welcher alte Mann ist das nicht?“, versuchte Greg ihn zu beruhigen. „Und wenn wir arbeiten, ist er absolut fokussiert. Er kann die unglaublichsten Dinge mit der Mechanik der Uhren anstellen. Und da die Motorenfabriken geschlossen sind, ist das meine einzige Möglichkeit, weiter an Getrieben und komplizierten Apparaten herumzuschrauben.“, erklärte er Philt nicht zum ersten Mal.
Der winkte nur mürrisch ab. „Ich weiß. Du hast verdammt viel Glück gehabt, dass du bei ihm arbeiten kannst. Aber ich habe trotzdem das Gefühl, dass bei ihm irgendetwas nicht stimmt.“, gab er, ebenfalls nicht zum ersten Mal, zu bedenken.
Greg wusste, dass diese Diskussion sich wie jeden Abend ewig im Kreis drehen und zu nichts führen würde. Was den irren Uhrmacher, wie Philt ihn nannte, anging, waren sie unterschiedlicher Meinung. Greg schwieg und ließ die Szenerie der Straße auf sich wirken. Die langen Schatten der Häuser tauchten den Weg bereits in ein düsteres Halbdunkel, auch wenn der schmale Himmelsstreifen, der zwischen den Dächern zu sehen war, im Sonnenuntergang noch golden und rot leuchtete. Die gemauerten und zum Teil auch verputzten Wände strahlten wie eh und je Wehrhaftigkeit und Stabilität aus. Kalt und unnahbar flankierten sie die zwischen ihnen wie ein schwarzes Band entlangführende Straße. Obwohl er diesen Weg schon seit einigen Wochen jeden Abend ging, fiel ihm heute zum ersten Mal auf, was anders war als in der Zeit, als er hier als Straßenjunge herumgestromert war.
„Es ist dunkler als früher.“, flüsterte er Philt zu, der, aus seinen eigenen Gedanken gerissen, unwillkürlich zusammenzuckte.
„Die meisten Fensterläden sind verrammelt.“, antwortete der schmächtige Junge mürrisch. „Früher haben einem die Lichter aus den Fenstern den Weg geleuchtet, heute verbarrikadieren sich alle in ihren vier Wänden.“
Greg nickte zustimmend. „Und die Straßenlaternen werden auch nicht mehr gewartet.“, stellte er resigniert fest, als sie an einer kaputten Gaslaterne vorbei kamen. „Das ist schon die dritte, die wir passieren.“
„Es kommt alles herunter.“, stimmte ihm Philt zu. „Der Unrat kriecht aus den Gassen auf die Straßen heraus und überall balgen sich die Kinder mit den Ratten um die verschimmelten Brotkanten. Wie konnte die City so schnell zusammenbrechen?“
Greg zuckte mit den Schultern. „Die Fabriken aus Collin Rands Imperium sind geschlossen, weil es keinen Erben gibt, der sie weiter betreiben könnte. Und bei Fingrey ist es ähnlich. Dadurch haben viele Leute ihre Arbeit verloren, können nichts mehr kaufen, was den Händlern und Handwerkern zu schaffen macht und die Stadtverwaltung hat offensichtlich nicht genug Geld, die Polizisten und Straßenreiniger zu bezahlen. Rand war offenbar noch mächtiger und einflussreicher, als wir gedacht hatten.“
Philt schnaubte belustigt auf. „Und du hast ihn einfach so gestürzt.“ Er warf Greg einen Blick zu, in dem sich Bewunderung mit einer anfliegenden Panik mischte.
„Ich habe ihn nicht gestürzt. Er hat sich selbst zu Fall gebracht.“, wiegelte Greg ab.
„Das werden viele Leute anders sehen. Vor allem, wenn sich die Lage weiter verschlechtert.“, gab Philt zu bedenken und kickte eine leere Bohnendose, die auf der Straße lag, lustlos in eine dunkle Ecke. Das Scheppern hallte laut durch die anbrechende Nacht. „Wenn es noch schlimmer wird, werden sie auf die Idee kommen, dir die Schuld an dem ganzen Schlamassel zu geben.“
Greg blickte ihn erschrocken an. „Mir? Aber wieso denn?“
Philt seufzte tief. „Du bist wirklich unglaublich naiv, Greg. Weißt du, den meisten Menschen ist es total egal, ob derjenige, der über sie herrscht, ein Arschloch ist oder ein Heiliger. Er kann Geld stehlen, Firmen enteignen, Frauen vergewaltigen und Ehemänner umbringen lassen, so lange es das Geld, die Firmen, die Frauen und Ehemänner von jemand anderem sind. Hauptsache, sie haben ihren Wohlstand und werden in ihrer kleinen eingebildeten Idylle nicht gestört. Die Mächtigen müssen nur dafür sorgen, dass sich alle einigermaßen sicher fühlen und genug von allem haben, was sie haben zu müssen glauben. Wenn sie sich nicht ganz blöd anstellen, werden sie immer die Mehrheit auf ihrer Seite haben.“
Darüber musste Greg erst einmal nachdenken. Er wollte ganz sicher keinen Despoten als Herrscher über sich. Er wollte frei sein, ungebunden, ohne jemanden vor seiner Nase, der ihm andauernd sagte, was er zu tun und zu lassen habe. Andererseits – das Leben auf der Straße war kein Zuckerschlecken gewesen. Und war er nicht glücklich gewesen in Jesua Fingreys Motorenfabrik, eingebunden in all die von anderen gesteuerten Arbeitsabläufe und detailliert geplanten Tage? Hatte er sich jemals gefragt, wer die Menschen waren, deren Anweisungen er da blindlings gefolgt war? Hätte er es nicht getan, wenn er gewusst hätte, dass sie einen schlechten Charakter hatten oder sich an seiner Arbeit bereicherten?
„Aber Rand hat gemordet.“, sagte Greg nach einiger Zeit zaghaft. „Er wollte die ganze Stadt unterjochen und hier herrschen wie einer dieser Könige, die mit ihren in Eisenrüstungen gepackten Rittern raubend und brandschatzend durch die Lande gezogen sind.“, redete er sich in Rage.
Philt hob den Zeigefinger. „Durch fremde Lande.“, dozierte er. „Frag mal die alten Frauen, die jeden Tag die Müllberge nach etwas Essbarem durchwühlen. Sie würden alle beteuern, was Collin Rand für ein großartiger Gouverneur geworden wäre. Würde er heute zurückkehren, sie würden ihn mit Hochrufen begrüßen und ihm ihre Töchter andienen, wenn er nur verspricht, wieder seine Fabriken zu öffnen und die Straßenkehrer zu bezahlen.“
„Aber er hat ihre Rechte mit Füßen getreten.“, wandte Greg ein.
Philt hob eine Augenbraue. „Ihre Rechte? Was kümmern sie ihre Rechte, wenn sie nichts zu essen haben. Rechte sind etwas für Reiche. Überleben ist das einzige, was für die Armen zählt. Und es wird der Tag kommen, an dem sie einen Schuldigen für ihr Schlamassel suchen.“
„Es wird doch nicht ewig so weitergehen.“, brummte Greg.
„Was soll sich denn ändern?“, grunzte Philt pessimistisch zurück.
„Keine Ahnung.“, musste Greg zugeben. „Aber Geraldine Greystone hat viel Erfahrung. Sie müsste nur dafür sorgen, dass die Fabriken wieder geöffnet werden. Dann hätten die Menschen wieder Arbeit und Hoffnung.“
„Geraldine ist viel zu schwach dafür. Sie kann als Übergangsgouverneurin ja schlecht alle Firmen der Stadt zuschlagen. Dazu hat sie gar nicht die Befugnisse. Wir brauchen erst einen gewählten Gouverneur, bevor sich etwas grundlegend ändern kann. Und das kann dauern.“, beschied Philt, der in der Zeit, die er auf der Suche nach nützlichen Dingen in der City verbrachte, seine Ohren und seinen Verstand offenbar auf Hochtouren laufen ließ.
„Was meinst du, wer dafür in Frage kommt?“, fragte Greg, der wirklich beeindruckt davon war, wie sein Freund die politischen Zusammenhänge zu durchschauen schien.
„Es gibt ein paar Gerüchte, aber noch nichts Sicheres.“, antwortete Philt ausweichend. „Im Grunde ist es mir egal, wer es wird, und wie die meisten Leute kümmert es mich ehrlich gesagt wenig, ob er ein netter Mensch ist. Hauptsache, er stellt die City wieder auf die Füße.“, beschied er kategorisch.
Greg blieb abrupt stehen. „Das heißt, du bist auch der Meinung, ich hätte mich lieber von Rand ins Gefängnis stecken lassen sollen, damit die City weiter funktioniert?“, fragte er ungläubig.
Philt hielt ebenfalls inne und drehte sich zu ihm um. „Nein.“, sagte er entschieden. „Er hat es zu weit getrieben. Du hattest jedes Recht, dich zu wehren. Nur war es unglücklich, dass Rand offenbar alle Leute beseitigt hatte, die der City nützen konnten. Und jetzt sind wir auf der Suche nach einem neuen starken Mann.“
„Einem starken Mann?“, fragte Greg zweifelnd.
„Oder einer starken Frau.“, gab sich Philt konziliant. „Auf jeden Fall braucht diese City wieder eine funktionierende Regierung. Und die muss stark sein, um dieses ganze Chaos wieder zu beseitigen.“ Bei diesen Worten deutete er mit der rechten Hand auf die heruntergekommene Straße, die ein perfektes Sinnbild für den Zustand der gesamten Stadt abgab.
Greg schnaubte hörbar. „Weißt du, manchmal beneide ich Mav und die anderen. In ihrer kleinen Kolonie ist alles so überschaubar. Jeder kennt jeden, die Menschen helfen einander, keiner versucht, den anderen zu übervorteilen.“, sinnierte er verträumt vor sich hin.
Philt sah ihn scheel von der Seite her an. „Wenn es dir dort so viel besser gefallen hat, warum bist du dann nicht mit ihnen gegangen? Dich hält hier doch nichts. Du bist frei und kannst jederzeit zu deinen Freunden ziehen.“
Greg warf ihm einen bösen Blick zu. „Ich bin bei meinen Freunden. Mein Platz ist hier. Und so leicht ist es nicht. Ich bin ein Citymensch. Wenn ich sage, dass ich Mav beneide, dann meine ich damit auch die Tatsache, dass er dort hineingeboren wurde und es nicht anders kennt. Ich dagegen brauche diese verdammte Stadt zum Atmen. Ohne sie bin ich nicht ich selbst. Ich brauche Maschinen, Zahnräder, Öl und Rauch wie Wasser und Essen. Ich bin dazu verflucht, immer weiter nach dem Fortschritt zu streben. Es ist mein Schicksal, in dieser riesigen Kloake leben zu müssen. Und deins auch.“ Lachend deutete er mit dem Zeigefinger auf Philt.
Philt wollte gerade etwas erwidern, da spürte Greg einen dumpfen Schlag gegen den Hinterkopf. Aus dem Augenwinkel konnte er noch erkennen, wie Philt sich vor etwas wegduckte, dann traf ihn erneut etwas hartes, diesmal an der Schläfe. Greg taumelte leicht zur Seite und versuchte, sich zu orientieren. Eine Faust tauchte in seinem Gesichtsfeld auf. Es kam ihm unendlich langsam vor, wie sie vor seinen Augen allmählich größer wurde. Unfähig, sich zu bewegen, erwartete Greg mit einer irritierenden Mischung aus Neugier und Unglaube den Aufprall der Fingerknöchel auf sein Gesicht. Ein unangenehm dumpfes Knacken war das letzte, was er hörte, dann wurde es schwarz um ihn.
VI
„Seid Ihr denn von allen guten Geistern verlassen?“ Josh hatte sich sichtlich in Rage geredet und raufte sich die kurzen schwarzen Locken. Sein Blick wanderte wild zwischen dem zerknirscht am Feuer sitzenden Philt und Greg, dessen Kopf Suri vorsichtig auf ihren Schoß gebettet hatte, hin und her. „Geht ihr immer so sorglos in den nächtlichen Straßen spazieren wie feine Ladys, die sich in ihrem privaten Lustgarten ergehen?“
„Lass gut sein, Josh!“, versuchte Peanut ihn zu besänftigen. Sie wusch einen Stofffetzen in einem kleinen Eimer aus und betupfte vorsichtig einen Kratzer an Joshs Wange. „Sie haben schon genug Schmerzen.“
„Ja, und wenn du mich fragst, können die beiden von Glück sagen, dass sie überhaupt noch so etwas wie Schmerzen spüren können.“, ereiferte sich Josh. Die Kieferknochen unter seiner schwarzen Gesichtshaut mahlten wütend.
„Sie sind überfallen worden. Was hätten sie denn tun sollen?“, stand Suri ihrer Freundin und den beiden zusammengeschlagenen Jungen bei.
„Sie hätten besser aufpassen müssen! In jeder Ecke lauern diese Banden neuerdings. Und vor allem hätten sie nicht mehr im Dunkeln unterwegs sein sollen. Es ist einfach viel zu gefährlich.“, las Josh ihnen die Leviten.
„Ach, dann soll Greg also aufhören zu arbeiten, damit er rechtzeitig vor der Dämmerung zu Hause ist?“, warf Peanut mit ironischem Unterton ein.
„Der irre Uhrmacher macht doch ohnehin keinen Umsatz. Wer kauft denn in solchen Zeiten Uhren?“, wandte Josh ein. „Macht es da einen Unterschied, ob Greg etwas eher oder später aus der Werkstatt verschwindet?“
„Für den Uhrmacher offensichtlich.“, stellte Suri klar. „Und für Greg offenbar auch. Er blüht richtig auf, seit er wieder an irgendwelchen Apparaten herumschrauben kann.“ Sie nahm den kalten Lappen, der auf einer riesigen Beule auf Gregs Stirn gelegen hatte, und tauchte ihn in den Eimer, der neben Peanut stand.
„Sind sie schwer verletzt?“, fragte Josh zum wiederholten Male besorgt.
„Nein, nur ein paar Beulen.“, gab ihm Suri die selbe Antwort wie die Male zuvor. „Nur Gregs Nase könnte gebrochen sein. Unter all dem Draht um sein Auge herum ist das schwer zu erkennen.“
„Dafür sind die Wertmarken weg.“, brummte Greg, dem das Sprechen Schmerzen im Kiefer bereitete, undeutlich.
„Und das Essen, das ich den ganzen Tag gesammelt hatte.“, fügte Philt mit fast weinerlicher Stimme hinzu.
„Verdammt!“, fluchte Greg und schlug mit der flachen Hand auf seinen Oberschenkel.
„Fluchen hilft uns jetzt auch nicht weiter.“, mahnte Peanut. „Wir haben noch einen Kohlkopf, daraus können wir zumindest eine Suppe zaubern, oder Suri?“
„Und ob! Kohlsuppe ist meine Leibspeise.“, erwiderte Suri mit gespielt guter Laune.
„Eigentlich ist es ja alles meine Schuld.“, machte sich Josh selbst Vorwürfe. „Ich hätte Philt begleiten sollen.“
„Um was zu tun?“, hakte Suri neckisch nach. „Würdest du die Angreifer mit deinem Holzbein verprügeln?“ Sie deutete auf die Prothese mit den vielen Schrammen, die den linken Unterschenkel des jungen Mannes ersetzte.
„Zur Not auch das.“, knurrte Josh. Er kratzte unwirsch am Ende des Beinstumpfes herum.
„Juckt es immer noch so unangenehm?“, fragte Peanut, der die Handbewegung nicht entgangen war.
Josh stöhnte verstimmt. „Ja, und es ist in den letzten Tagen eher schlimmer geworden. Das verdammte Holz ist das letzte Mal vor mehr als zwei Jahren angepasst worden. Wenn ich einen Wunsch frei hätte,“, raunte er dem Feuer zu, „dann wäre es eine dieser ölhydraulisch-mechanischen Prothesen. Ich kannte mal einen Jungen, piekfeiner Schnösel, arrogant bis hier oben.“ Um seine Worte zu verdeutlichen, hob Josh seine Hand bis über die Nase. „Aber einen hydraulischen Unterarm hatte er – eine großartige Arbeit! Er konnte sogar die einzelnen Finger bewegen.“ In Joshs Augen trat ein träumerischer Glanz. „Was könnte ich mit solch einem Unterschenkel alles anstellen.“
„Wenn er richtig konstruiert wäre, könntest du damit vielleicht auf Dächer springen.“, rief Philt begeistert aus. Offenbar hatte Joshs Tagtraum ihn mitgerissen und den schmerzhaften Zusammenstoß vergessen lassen.
Josh lachte auf. „Ja, und den geflohenen Dieben wäre ich auf meinem künstlichen Bein problemlos hinterhergehüpft. Das wäre ein Spaß gewesen.“ Zerknirscht starrte er auf das abgenutzte Holzbein. Das Knarren des Tors in seinem Rücken bot eine willkommene Ablenkung. Ohne sich umzudrehen rief Josh in die Dunkelheit: „Natty. Du kommst ja doch noch. Ich schätze, du rettest unser Abendessen.“
„Ich bin nicht Natty, aber das Abendessen bereichere ich auf jeden Fall.“, rief Frogs fröhliche Stimme vom Tor her. Sie hörten das Knarren des Balkens, mit dem sie den einzigen Eingang zu ihrem Hof jeden Abend vor unliebsamen Besuchern schützten. „Ist Natty nicht aufgetaucht?“
„Heute nicht.“ Suri schüttelte den Kopf. „Wie meinst du das, du könntest was zum Abendessen beitragen?“, fragte sie neugierig.
Stolz zerrte Frog zwei Zucchini aus seiner Jackentasche und hielt seine Beute im Schein des kleinen Feuers triumphierend in die Höhe. „Super!“, rief Peanut und klatschte in die Hände. „Kohlsuppe mit Zucchini. Wir werden noch alle fett.“ Sie stand auf und holte den großen Kessel, in dem sie für gewöhnlich ihr Essen über dem Feuer zubereiteten.
„Kohlsuppe?“, fragte Frog enttäuscht.
„Philt und Greg sind überfallen worden.“, setzte Josh ihn in Kenntnis.
Frog riss die Augen weit auf. „Was ist geschehen? Geht es euch gut?“, fragte er entsetzt.
„Nur ein paar Schrammen.“, beschwichtigte Philt seine Sorgen.
„Wer war es?“, hakte Frog aufgebracht nach.
„Ich weiß es nicht.“, setzte ihn sein Freund ins Bild. „Es ging alles so schnell. Gerade noch war die Straße menschenleer, dann flogen Steine und plötzlich schlugen sie auf uns ein. Ich habe meinen Beutel fallen lassen und bin davongerannt. Sie haben von mir abgelassen und Greg k.o. geschlagen. Dann sind sie wohl mit dem Essen und Gregs Wertmarken auf und davon.“
„Zum Glück hat Philt mich gleich informiert, so dass wir Greg holen konnten, bevor ihm noch etwas Schlimmeres zustoßen konnte.“, bemerkte Josh.
„Verdammt!“, stieß Frog hervor. „Und so etwas mitten in der Stadt. Sie ziehen immer größere Kreise. Bald ist es nirgendwo mehr sicher.“
„Das ist es jetzt schon nicht.“, lautete Joshs Kommentar.
„Es wird Zeit, dass wir wieder einen Gouverneur bekommen, der das Ruder in die Hand nimmt.“, presste Philt hervor.
„Ich könnte gut auf einen neuen Collin Rand verzichten.“, unkte Josh. „Aber du hast recht. So kann es nicht weitergehen. Die Frage ist nur, ob sich überhaupt noch jemand findet, der diesen Moloch von einer heruntergekommenen Stadt regieren will.“
„Oh doch, den gibt es.“, rief Frog und plusterte sich auf. „Seht nur, was ich gefunden habe.“ Unter seiner Jacke zog er einen kleinen Packen Papier hervor. Als er ihn auseinanderfaltete, entpuppte er sich als Zeitung.
„Gefunden?“, fragte Philt mit hochgezogener Augenbraue.
„Ach, du Korintenkacker.“ Frog streckte ihm die Zunge heraus. „Jedenfalls steht hier:“ Er machte eine gewichtige Pause und strich das Papier glatt.
„Komm schon! Mach es nicht so spannend!“, maulte Philt.
„Er genießt es jedes Mal, dass er am besten von uns lesen kann.“, meinte Suri schmunzelnd.
Frog räusperte sich geräuschvoll. „Der neue Gouverneur? - Patty Song verkündet Kandidatur.“ Mit gewichtiger Miene schaute Frog in die Runde.
„Patty wer?“, fragte Peanut erstaunt.
„Patty Song.“, las Frog den Namen noch einmal vor.
Josh zuckte mit den Schultern. „Kennt den jemand?“
Alle schauten sich ratlos an.
„Ich glaube, er ist Fabrikant. Ein Bekannter von Jesua Fingrey, wenn ich mich recht erinnere.“, stöhnte Greg, der sich auf einen Ellbogen hochgedrückt hatte.
Suri schob ihn sanft zurück in die Horizontale. „Ein Freund von Fingrey? Das kann ja nicht so schlecht sein, oder?“
„Wollen wir es hoffen.“, sagte Philt skeptisch. „Steht auch da, was er tun will, wenn er gewählt wird?“, fragte er und nickte in Frogs Richtung.
Der Musiker überflog den Text, wobei er unablässig vor sich hin murmelte. Endlich klappte er die Zeitung zusammen. „Also, hier steht,“, er klopfte mit der Hand auf die Zeitung, um seine Glaubwürdigkeit zu unterstreichen. „dass er hart gegen die ausufernde Kriminalität auf den Straßen vorgehen will. Mehr Polizei und Bürgerwehren sollen den vielen Überfällen ein Ende bereiten. Die Fabriken von Rand sollen von der Stadt verwaltet und bald wieder eröffnet werden. Alle Einnahmen sollen in einem Treuhandfonds gesammelt werden. Hat jemand eine Ahnung, was das sein soll?“, fragte er die anderen.
Alle schüttelten die Köpfe und verzogen die Münder. „Politikergerede hat noch nie jemand verstanden.“, beschied Philt knapp.
„Außerdem meint Song, wir sollten uns nicht länger von den Kolonien und Walddörfern auf der Nase herumtanzen lassen.“, fuhr Frog mit seinem Bericht fort. „Sie, ich zitiere:“, er hob die Zeitung wieder vor seine Nase, „stehen außerhalb von Recht und Gesetz und müssen deshalb den Cities untergeordnet werden. Weigern sie sich, sollten wir sie unter Zwangsverwaltung stellen. Es kann nicht sein, dass ein paar Holzfäller und Ziegenhirten durch unüberlegte Entscheidungen den Fortschritt in den wachsenden Städten hemmen können.“ Wieder schaute Frog fragend in die Runde.
„Ich wusste nicht, dass sie das tun, aber er als Fabrikant wird schon wissen, was er meint.“, brummte Philt.
„Das geht uns erstmal auch nichts an.“, meinte Josh. „Sagt er noch etwas zu seinen Plänen für die City?“
„Hmm.“ Frog überflog den Artikel noch einmal. „Er sagt, es wären eigenartige Zeiten. Die Rolle der Frau sei im Haushalt und er sehe es als seine vornehmste Aufgabe, den Frauen diesen Schutzraum wieder zu ermöglichen und vertrauensvolle Männer mit der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben zu betrauen. Es ginge nicht an, dass sich Frauen neben der Küche und den Kindern auch noch um die große Politik und die Geschäftswelt kümmern müssten.“
„Damit will er nur Geraldine Greystone als Konkurrentin ausschalten. Wenn die Zeitungen so etwas schreiben, kann sie unmöglich als Gouverneurin kandidieren.“, sagte Philt.
„Er ist ein mieser Chauvinist.“, empörte sich dagegen Suri. „Als ob Frauen nicht genauso klug und geschickt wären wie Männer. Warum sollen wir uns immer nur um die Küche kümmern, während sie in die Wirtschaft gehen und Politik machen?“
„Er meint nicht die Art von Wirtschaft.“, versuchte Frog zu erklären, aber sie schnitt ihm mit einer herrischen Geste und einem Grinsen das Wort ab.
„Das weiß ich doch. Ich wollte nur einen Scherz machen.“, erklärte Suri. „Obwohl es nicht wirklich zum Scherzen ist. Ich finde, wir brauchen Frauen in der Politik, schon, um einen gewissen Ausgleich zu schaffen.“
Frog zuckte mit den Schultern. „Patty Song sieht das offensichtlich anders.“
„Meine Stimme erhält er dann ja schon einmal nicht.“, spöttelte Suri.
„Als ob du überhaupt wählen dürftest.“, rief Philt.
„Außerdem steht hier noch etwas von einer Generalamnestie für Verurteilte.“, sagte Frog nachdenklich, bevor zwischen den beiden ein offener Streit ausbrechen konnte.
„Und was soll das schon wieder sein?“, wunderte sich Peanut.
„Vielleicht müssen sie alle zur Armee?“, spekulierte Philt.
„Hat das nicht etwas damit zu tun, dass man alles vergisst?“, warf Suri ein.
„Nein, das war eine Amnesie.“, erklärte Josh. „Wir werden es erfahren, nehme ich an.“, sagte er und streckte seinen gesunden Fuß dem Feuer entgegen.
„Spätestens, wenn er gewählt ist.“, schmunzelte Peanut, während sie die Zucchinistücke, die sie in der Zwischenzeit zurechtgeschnitten hatte, in den Kessel gleiten ließ.
VII
Der alte Uhrmacher drehte den Schlüssel im Schloss seiner Werkstatttür zweimal um und lächelte zufrieden. Wieder hatte er einen Tag mit diesen vielen gelegentlichen Unterbrechungen seiner eigentlichen Aufgabe hinter sich gebracht. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er seinen Laden gar nicht mehr geöffnet. Er verkaufte ohnehin nur wenig an die Laufkundschaft und das ewige Gerede und Getratsche der vornehmen Damen, die immer besonders viel Zeit in seinem Laden verbrachten, ging ihm gehörig auf den Geist. Aber zu seinem Bedauern ging es nicht nach ihm. Als er die Werkstatt übernommen hatte, war eine der Verpflichtungen, die er gegenüber der Uhrmachergilde eingegangen war, das tägliche Öffnen des Ladens gewesen. Die Gilde sorgte gut für ihn und die Geschäfte liefen mehr als zufriedenstellend. Am wichtigsten aber war, dass er seinen Forschungen und Experimenten nachgehen konnte, ohne jemandem Rechenschaft ablegen zu müssen. Und dafür lohnte es sich durchaus, die Widrigkeiten des Geschäfts mit der geschwätzigen Laufkundschaft auf sich zu nehmen.
Er wusste, dass die Auflage, den Laden jeden Tag zu öffnen, nicht in erster Linie der Zufriedenstellung der Kunden dienen sollte. Das Netzwerk der Zeitgelehrten musste am Leben erhalten werden und dazu war es absolut notwendig, dass alle Beteiligten täglich ihre Werkstatttüren geöffnet hielten. Der alte Uhrmacher kicherte irre vor sich hin, während er die Lampen im Verkaufsraum dimmte und den hier ausgestellten Uhren und komplizierten mechanischen Geräten eine gute Nacht wünschte. Es würde eine lange Nacht werden, oh ja. Aber sie würden es nicht bemerken, dafür hatte er gesorgt.
Mit schlurfenden Schritten begab er sich nach nebenan in seine Werkstatt. Bedächtig räumte er den Arbeitstisch frei, redete den Federwerken, Unruhen, Zahnrädern, Zeigern, Hemmungen, Kugelumläufen, Schräubchen und Pendeln, die am heutigen Tag keinen Einsatz in seinen neuesten Kreationen gefunden hatten, gut zu und verstaute sie sorgfältig in den beschrifteten Kästchen. Dann legte er drei Kohlen in den Werkstattofen nach, füllte die bauchige Teekanne aus Kupfer mit Wasser und stellte sie auf die Platte des Ofens. Die Teetasse aus feinster Keramik, auf der ein leuchtend roter Zeppelin in einen Sonnenuntergang schwebte, stand bereit, er klappte sein Etui mit den feinen Werkzeugen aus und stellte den Hocker so vor den Tisch, dass er von seinem Platz aus die Werkstatt, den Laden und die Straßenzeile davor im Blick behalten konnte.