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2097 ist der Data Space zusammengebrochen. Ein Ort unendlich vieler Datenströme, auf den die Menschen nur mit bestimmter Hardware zugreifen können. Der Zusammenbruch hat viele Leben gefordert, doch die Überlebenden haben besondere Fähigkeiten erhalten: Sie können den Data Space mit ihren Gedanken manipulieren. Jace ist einer von ihnen, ein Cybertech. Doch die Megakonzerne machen Jagd auf die Cybertechs, während eine KI plant, das Massaker zu wiederholen. So beginnt der Kampf weniger Individuen gegen das System ...
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Seitenzahl: 484
Veröffentlichungsjahr: 2022
Lucinda Flynn
Das Erwachen der Cybertechs
Roman
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Widmung
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
Konzernratsbeschluss
Epilog
Danksagung
Für meine Falkenfreunde
Für Anabelle, für Babsi, für Mikkel, für Liza
Und natürlich für Oskar
Ohne euch wäre es nicht dasselbe
Die Tageslichtlampen warfen klares Licht auf die kargen Tische des Großraumbüros. Klareres Licht, als draußen durch die dichte Wolkendecke über die Stadt hereinbrach, denn seit dem Vulkanausbruch vor anderthalb Jahren war der Himmel über Neon City mit einem grauen Schleier überzogen.
Jace saß vorgebeugt auf seinem Stuhl und starrte auf das bläuliche Hologramm, das aus dem schmalen Projektor in seiner Tischplatte schimmerte. Ein letztes Mal ging er die Präsentation durch, die er in den vergangenen Wochen so sorgsam vorbereitet hatte.
Serotonin-Synchronizer – eine Innovation für die Zukunft
Die Idee war gut, das Konzept durchdacht, und Jace war sich sicher, dass die CEO erkennen würde, wie viel Potenzial in seiner Arbeit steckte. Wie weit er den Konzern damit voranbringen konnte. Und sie würde auch erkennen, dass er der Richtige für die eben erst frei gewordene Stelle des Department Managers war.
Jace lehnte sich zurück und blickte an der Trennwand vorbei, die seine kleine Kabine von denen der anderen trennte. Die anderen Mitarbeitenden hockten in miserabler Körperhaltung vor ihren Holo-Screens und tippten stumpf auf ihren blinkenden Touchpads herum. Wenn Jace seiner normalen Arbeit nachging, musste er genauso niedergeschlagen und müde aussehen wie die anderen. Aber das würde nicht mehr lange so weitergehen.
Zumindest hoffte er das. Er war damals so froh gewesen, trotz seiner miserablen Noten in der Schule einen Job bei HyperZen Body Technologies, einem der größten Konzerne weltweit, bekommen zu haben. Aber weil er nur Papierkram und Beschwerden abhandelte, waren seine Eltern immer noch genauso enttäuscht von ihm, als hätte er gar keinen Job. Überhaupt war Jace die wohl größte Enttäuschung seiner Familie. Aber das würde nun ein Ende haben. Er war perfekt vorbereitet, und er würde diese Beförderung bekommen. Weil er sie verdient hatte. Seit Jahren rackerte er sich für HyperZen ab, und nun war endlich die Gelegenheit gekommen zu zeigen, dass er mehr konnte, als wütende Kundschaft zu besänftigen.
Ein letztes Mal las er die Folien seiner Präsentation durch. Dann tippte er auf das Display seines Smartcoms, und das Hologramm erlosch. Heute Abend noch würde er das Management über seine neue Idee informieren, sie würden begeistert sein und ihn befördern. Ganz sicher.
Ein leises Rauschen unterbrach seine Gedankengänge. Jace nahm es kaum wahr, weil er sein Hörgerät bei der Arbeit immer leiser stellte. Jetzt drehte er die Lautstärke wieder hoch und wandte seine Aufmerksamkeit der Tür zu, durch die gerade einer seiner Kollegen hereinstolzierte. Jace wusste nur, dass er Hartman hieß, weil er den Platz neben ihm hatte und ausnehmend gern über sich selbst redete. Hartman war am besten darin, beschäftigt auszusehen, wenn er in Wirklichkeit überhaupt nichts tat. Jace versuchte, ihn zu ignorieren, wo es nur ging, doch Hartman lief mit seinen perfekt polierten Schuhen zu Jace’ Tisch. Er ließ sich auf die lackierte Tischplatte plumpsen, als sei sie sein heimisches Sofa, und rückte Jace in der engen Kabine damit derart auf die Pelle, dass er zurückrutschen musste. Hartman, der einen intensiven Geruch nach Rasierwasser in das Büro getragen hatte, schlug die Beine übereinander und grinste Jace an.
»Guten Abend dir«, grüßte er und streckte sich. »Schon alle Mails abgearbeitet?«
Jace musste sich davon abhalten, mit den Augen zu rollen. Überhaupt fragte er sich, wie Hartman gegen Ende einer Zwölfstundenschicht so gut gelaunt sein konnte. Dann wiederum verbrachte er viel Zeit in den Pausenräumen der oberen Etagen, und Jace konnte nur mutmaßen, dass er sich dort an den Mini-Kühlschränken und Spielekonsolen bediente.
»Natürlich«, erwiderte Jace und versuchte, die Missbilligung aus seiner Stimme herauszuhalten. »Ich erledige meine Arbeit immer gewissenhaft, das weißt du doch.« Er verkniff sich ein im Gegensatz zu dir.
Hartman klopfte Jace auf die Schulter und ließ seine Hand dann dort liegen. »Sehr gut. Immer fleißig. Weißt du, solche Leute braucht es ja auch. Es ist gut, wenn auch einfache Arbeit wertgeschätzt wird.«
Jace schlug mit seinen Hacken ungeduldig gegen die Beine seines Stuhls. »Wie meinst du das?«
Langsam nahm Hartman die Hand von Jace’ Schulter. »Na ja, seien wir mal ehrlich – es ist nicht böse gemeint, aber deinen Job können viele machen. Es ist nichts, wofür man viel nachdenken muss. Deswegen werden so viele Leute hier auch ständig gefeuert – Nachschub gibt es einfach immer.«
Jace wollte widersprechen, musste sich aber eingestehen, dass Hartman recht hatte. Sein Job bestand darin, die Beschwerdebriefe an HyperZen Body Technologies zu lesen und den Leuten mit freundlichem Bedauern zu antworten. Im Grunde fügte er den ganzen Tag vorgefertigte Textbausteine zusammen. Er hatte in etwa genau so viel Freiheit wie die Bürostühle, die in festen Schienen am Boden montiert waren, damit die Reinigung des Komplexes schneller erledigt war. Er tat eine stupide Arbeit, so wie die anderen Mitarbeitenden in diesem Büro. Die hingegen schienen sich nicht dafür zu interessieren, was Hartman sagte. Entweder, weil sie ihn durch die Geräuschfilter ihrer Headsets gar nicht hörten, oder weil sie weder Lust noch Energie hatten, sich in die Diskussion einzumischen.
»Aber du bist fleißig«, fuhr Hartman fort. »Und deswegen bist du genau der Richtige für den Job.«
»Einen Scheiß bin ich.« Jace hatte genug. Hartmans Gesicht machte ihn so wütend, dass er aufstand. Obwohl Jace klein war, konnte er seinem Kollegen so auf Augenhöhe begegnen. »Ich arbeite hier jeden Tag ohne Pause. Ich übernehme mehr, als ich müsste, und werde dafür miserabel bezahlt. Aber ich gebe mein Bestes, und das werden sie schon noch erkennen. Denkst du, ich will den Rest meines Lebens die Abladestelle für angepisste Kundschaft sein? Ich kann viel mehr.«
Für einen Moment herrschte Stille, dann machte Hartmans entsetzte Miene einem Grinsen Platz. »Du hast es auf den Department Manager abgesehen, oder?« Sein Tonfall wurde mit jedem Wort höher, als müsste er ein Lachen unterdrücken.
Jace blickte ihn finster an. Er wollte nicht arrogant klingen, besonders nicht, wenn Hartman kurz davor war, ihn auszulachen, aber noch weniger wollte er vor seinem unfähigen Kollegen als ein Versager dastehen.
»Und wenn?«, erwiderte Jace gepresst. »Glaubst du, ich könnte das nicht oder was?«
»Doch, doch, sicherlich.« Hartman hob die Hände, aber das Grinsen wich nicht von seinem Gesicht. »Es ist nur so: Die Stelle ist erst heute Morgen besetzt worden.«
Jetzt war Jace baff. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber ihm fiel nichts ein, was ihn nicht wie einen Volltrottel dastehen lassen würde, und er würde einen Teufel tun und Hartman die Enttäuschung zeigen, die sich langsam in ihm ausbreitete. Die ganze Präsentation umsonst.
»Ach?« Betont beiläufig fuhr sich Jace durch das blonde Haar. »Wusste nicht, dass die Entscheidung schon gefallen ist.« Jace war zu langsam gewesen. Warum nur hatte er gezögert, dem Management seine Ausarbeitung zu schicken?
Hartman streckte einen Finger nach dem Display in Jace’ Tisch aus und ließ den knochigen Zeigefinger über die Elektronik gleiten, sodass er fettige Schlieren hinterließ. »Ja, ich wollte dich nicht damit überfallen, dass ich ab nächster Woche dein neuer Vorgesetzter bin. Aber keine Sorge, ich sehe doch, wie sehr du dich anstrengst. Nur hat es leider nicht gereicht.« Er gab sich nicht einmal Mühe, sein Feixen hinter dem gespielt mitleidsvollen Blick zu verbergen.
»Was?«
Hartman sollte die Abteilung leiten? Dieser unfähige, faule Vollidiot? Jace wusste genau, wie er arbeitete: mit möglichst wenig Eigenleistung und vielen Cocktails. Aber dass ihm das nun zum Erfolg verhelfen sollte, während Jace seit Monaten darauf hinarbeitete, befördert zu werden … Er musste einen tiefen Atemzug nehmen, um Hartman nicht direkt ins Gesicht zu sagen, dass er ein Arschloch war und den Posten nicht verdiente. Dass er nur befördert worden war, weil er gute Kontakte zur CEO hatte. Und wenn er wirklich der neue Department Manager werden würde, hatte Jace soeben jede Möglichkeit verspielt, im Konzern aufzusteigen. Hätte das anders ausgesehen, wenn er nicht so lange gezögert hätte? Hatte er seine Chance einfach ausgesessen? So kam es ihm vor: als wäre sie an ihm vorbeigezogen und jetzt einfach weg.
»Na, dann geh mal besser wieder an die Arbeit.« Hartman kam Jace unangenehm nahe, während er von der Tischplatte rutschte und sich genüsslich streckte. »Immerhin hast du noch knapp zwei Stunden Schicht, und du wolltest doch so gern zeigen, wie wertvoll du für den Konzern bist. Ich packe dann mal meine Sachen – ich bekomme nämlich ein eigenes Büro. Du weißt schon, in den oberen Etagen.«
Jace erwiderte nichts, er nickte nur. Er hätte ohnehin kein Wort rausgebracht. Die Enttäuschung grollte tief in ihm, und ihm war zum Heulen zumute. Aber er riss sich zusammen. Hartman wollte er diese Genugtuung nicht gönnen. Er hatte sich schon genug an Jace ergötzt.
Die letzten zwei Stunden seiner Schicht verbrachte Jace in Gedanken versunken. Er war so sicher gewesen, eine Chance zu haben, doch letzten Endes war seine Arbeit egal gewesen, weil er nicht mit den großen, den wichtigen Leuten zu Mittag aß. Weil ihn niemand kannte und er kaum mehr war als die Identifikationsnummer und das verknüpfte Konto, auf das man seinen mickrigen Lohn zahlte. Weil er unter den anderen Angestellten einfach nicht auffiel. Er machte sich etwas vor, wenn er glaubte, dass er seine Präsentation nur früher hätte zeigen müssen. Denn Hartman war aus irgendeinem Grund der Liebling der CEO, und Jace konnte diese Stelle wohl nie einnehmen. In den oberen Etagen kannte man ja nicht einmal seinen Namen.
Seine Eltern hatten recht damit gehabt, dass er es nie zu etwas bringen würde. Er bekleidete keine hohe Position in einem Konzern und war kein aufstrebendes Nachwuchstalent wie sein großer Bruder. Vielleicht war nicht der Misserfolg das, was ihn so sehr traf. Vielleicht war es die Erkenntnis, dass seine Familie recht gehabt hatte. Dass Jace nicht gut genug war und es nie sein konnte, egal, wie viel Mühe er sich gab.
Als die Uhr auf seinem Holo-Screen 22 Uhr zeigte, stand er von seinem Platz auf. Seine Beine kribbelten, als nach dem langen Stillsitzen wieder Blut durch sie hindurchfloss. Gemeinsam mit ihm stand noch gut ein Drittel der anderen auf, und wie auf Knopfdruck kamen Saugdrohnen angefahren, um unter den Schreibtischen zu putzen. Jace trottete in den Personalraum, der voller metallener Schränke stand. Ein einsamer Tisch und ein Stuhl mit wackelnden Beinen waren mehr Deko als alles andere – sie sollten sich ja nicht wirklich im Pausenraum ausruhen. Jace legte seine Hand auf den Scanner seines beinahe leeren Spinds, die dünne Tür zog sich ein, und er warf sich die zerknitterte Lederjacke über, die sein Bruder ihm vor Jahren geschenkt hatte, bevor er angefangen hatte, ihn zu ignorieren. Vor April 2097. Vor Jace’ Krankenhausaufenthalt. Bevor alles vor die Hunde gegangen war.
Jace schüttelte den Gedanken ab und legte seinen Unterarm auf das Terminal, das den Ausgang aus dem Bürogebäude kontrollierte. Das Terminal verband sich mit dem ID-Gerät, das direkt unter der Haut montiert war, las die HyperZen-Daten aus, und nachdem seine Arbeitszeiten übertragen worden waren, öffnete sich das stählerne Tor nach draußen. Jace’ Unterarm kribbelte ein wenig, als er HyperZen – zumindest für heute – hinter sich ließ.
Die Luft im Büro war durch die Luftfilter fad und steril, aber sie war immer noch angenehmer zu atmen als die draußen. Die Naturkatastrophen der letzten Jahre hatten ihre Spuren hinterlassen, und der Geschmack von Vulkanasche hing noch immer jedem Atemzug nach. Jace hatte sich daran gewöhnt, nach dem Niesen schwarze Krümel im Taschentuch vorzufinden, denn er konnte sich keine Wohnung mit Luftfiltern leisten. Wenigstens kam gerade kein saurer Regen vom Himmel. Große Teile der Innenstadt von Neon City waren überdacht, aber hier in den Außenbezirken nahm das niemand so genau, sodass jedes Stück Metall hier mit Rost überzogen war. Jace zog sich den Schal über Mund und Nase, auch wenn das kaum etwas nützte, dann steckte er sich die kabellosen Kopfhörer in die Ohren und blendete das Hupen der Autos und das Rauschen der Motoren aus.
Der Weg zu den U-Bahn-Tunneln war nicht weit, aber trotz der späten Stunde musste er sich durch die Menschenmassen schlängeln. Alles in den Straßen war bunt erleuchtet von Neonschildern, Litfaßsäulen und dreidimensionalen Werbehologrammen. Immer wieder wurde seine Musik unterbrochen von Werbeslogans, die sich irgendwie durch seine Spamfilter geschlichen hatten. Irgendwann musste er wirklich in Premium-Musikstreaming investieren, denn lange hielt Jace Miss Maven’s Magical Place where all your dreams come true nicht mehr aus. Vielleicht bei der nächsten Gehaltserhöhung, dachte er und hätte fast selbst darüber gelacht. Jace’ Schuhe waren durchgelaufen, aus seinem Schal lösten sich Fasern, und die Nähte seiner Jacke wurden auch allmählich dünn.
Auf dem Weg zur U-Bahn versperrte ein Mann die Hälfte des Gehsteigs. Er hatte eine Decke unter sich ausgebreitet und kauerte mit einem verfärbten To-go-Becher an einer Straßenlaterne, die nicht mehr leuchtete. Wahrscheinlich hatte sie keine Verbindung mehr zum Data Space.
»Schlechten Tag gehabt?«, krächzte der Obdachlose. Die Seiten seines Kopfs waren kahl rasiert, den Rest seines pink gefärbten Haars hatte er zu einem Pferdeschwanz gebunden. »Du siehst fertig aus, Junge.«
Jace verzog das Gesicht. »Sie auch«, gab er zurück.
Der Typ grinste. »Das glauben viele, aber eigentlich sitze ich nur hier und warte.«
Jace runzelte die Stirn. »Auf was?«
»Darauf, dass wir eine bessere Welt schaffen.«
»Da können Sie lange warten, glaube ich.« Jace schnaubte.
»Das glaube ich nicht.« Der Mann zwinkerte. »Wir müssen mehr Vertrauen zu den Leuten haben. Wenn wir einander vertrauen, können wir diese Welt verbessern.«
Statt einer Antwort schnaubte Jace nur und setzte sich in Bewegung. Der Mann war verwirrt und naiv. Wenn Jace daran dachte, wie seine Familie ihn fallen gelassen hatte, wie er sich im Job abgerackert hatte, nur damit ein anderer die Stelle bekam, kam es ihm bescheuert vor, noch irgendjemandem zu vertrauen. Wozu auch, wenn er nur immer wieder enttäuscht wurde?
Im Rücken hörte Jace ein leises Knistern. Er drehte sich um, und als er nach oben blickte, sah er den bläulichen Schein der Straßenlaterne, als wolle sie den Worten des Obdachlosen Ausdruck verleihen. Jace schüttelte den Kopf und lief weiter. Er wollte einfach nur nach Hause.
Mit eiligen Schritten lief er die Treppen zum U-Bahnhof hinab. Unten schlug ihm stickige Luft entgegen, schwer vom Atem Hunderter Menschen, dem Geruch von Schweiß und Parfum und aufgeladenem Polyester. Jace fügte sich in das Gedränge ein, und obwohl er mit so vielen Menschen dicht an dicht stand, fühlte er sich anonym und allein. Diese Körpernähe hatte nichts Intimes, sie war ein notwendiges Übel, das er mit so vielen Menschen gleichzeitig teilte, dass niemand weiter darüber nachdachte.
Mit einem harschen Luftzug fuhr die U-Bahn in den Bahnhof ein. Die Türen öffneten sich, und Jace drängte sich in den Zug, während andere ausstiegen. Im Inneren war es so eng, dass Jace immerhin nicht umfallen würde, sollte der Zug eine Vollbremsung machen. Er schloss die Augen, lauschte der Musik und wartete nur darauf, aussteigen zu können. Die Zeit verging schneller, wenn er sich in den Tönen verlor, doch nach seiner elend langen Schicht kam ihm jede Sekunde zu lang vor. Endlich hielt die Bahn und entließ ihn in den graffitibesprühten Tunnel. Schon seit Jahren machte sich niemand mehr die Mühe, die Schmierereien entfernen zu lassen. Jace knurrte schon der Magen. Es waren nur zwei Minuten zu Fuß, wenn er schlenderte, doch jetzt beeilte er sich. Die Häuser hier waren kleiner als die in der Innenstadt, maximal vierzig Stockwerke hoch, und viel weniger Drohnen flogen über die Straßen. Manche von ihnen waren sogar abgestürzt und nicht wieder aufgesammelt und repariert worden. Die Gegend war weit davon entfernt, ausgestorben zu sein, aber die Straßen hier waren nur während der üblichen Stoßzeiten von Menschen erfüllt. Für die meisten Hobbys war man hier – Jace eingeschlossen – einfach zu müde. Aber immerhin lebte es sich hier besser als in Außenbezirken wie London Edge, wo die Gangs der Stadt residierten. Schießereien gab es hier nur äußerst selten, wofür Jace dankbar war.
Er bog in seine Straße ein und blieb vor dem Haus stehen, in dem seine Wohnung lag. Jack O’Nelly stand auf dem Klingelschild. Er hasste den Namen Jack. Es war beinahe so, als hätten seine Eltern einen coolen Namen aussuchen wollen, wären aber nach dem c in Jace falsch abgebogen und bei Jack gelandet.
Er blickte die endlosen Fensterreihen hinauf, der Nachthimmel lag von Vulkanasche verdunkelt darüber. Doch weder die Schatten der Wohnkomplexe noch die Düsternis am Himmel konnten das Licht aus Neon City vertreiben. Aus den Fenstern strahlte Licht, und die Gebäude der Innenstadt erhellten sogar die Straßen der abgelegenen Viertel.
Jace hielt seinen Unterarm über den Scanner, der ihn als Bewohner erkannte, und die Türen glitten zur Seite. Der Hausflur war nur wenige Schritte lang und breit und führte in einen engen Fahrstuhl, der Jace automatisch in den siebenundzwanzigsten Stock brachte, wo seine Wohnung lag. Das leise Surren der Maschinen beruhigte ihn beinahe schon, denn das Geräusch kündigte an, dass er bald in sein Bett fallen und ein wenig schlafen konnte. Er überlegte, das Essen einfach sein zu lassen und sofort zu schlafen, aber sein Magen knurrte und verzog sich schmerzhaft. Der Fahrstuhl gab ein penetrantes Klingeln von sich, Jace spürte den Wechsel von Metall zu Linoleum unter den Schuhsohlen. Vor seiner Wohnungstür betätigte er noch einmal den Scanner, und dann war er zu Hause. Endlich.
Müde schlurfte er in den Flur, hängte seine Lederjacke sorgfältig an die Garderobe und pfefferte seine Schuhe einfach in die ungefähre Nähe des Schuhregals. Mit drei Schritten stand er in der Küche, die nur eine Nische im Wohnzimmer bildete. Es lief bereits Kaffee in eine Tasse, die Jace’ Haushaltsdrohne dorthin gestellt hatte. Diese kleinen Geräte waren nicht nur nützlich, Jace hätte auch gar nicht gewusst, wie sein Zuhause ohne sie funktionieren sollte. Die Drohnen waren in der Miete jeder halbwegs ausgestatteten Wohnung inbegriffen und verbunden mit dem Home-System, das ebenfalls die Wassertemperatur der Duschen anpasste, anhand von Jace’ Routinen Kaffee kochte oder Essen aufwärmte und den Kühlschrank neu befüllte, wenn sich die Vorräte dem Ende zuneigten. Zumindest, solange das Geld auf dem Konto reichte, aber wenigstens darum musste Jace sich mit seinem Job keine Sorgen machen. Sein Überleben war gesichert – mehr aber auch nicht.
Jace ließ sich auf den Hocker sinken, der neben der Küchentheke stand, und nahm seine Tasse Kaffee entgegen. Die Flüssigkeit darin war tatsächlich eher cremefarben, weil er seine Milch mit einem Schluck Kaffee mochte. Leise schlürfte er und wartete auf die Mikrowelle, in der sein Foodkit bereits vor sich hin schmorte. Er hätte es auch kalt essen können, aber warme Pampe war immer noch besser als kalte Pampe.
Er zog seinen Smartcom aus der Hosentasche und rief ein Hologramm auf. Während Jace die neuesten Posts auf My:Connect durchscrollte, sprangen ihm Dutzende Werbeanzeigen entgegen. Doch so verlockend die teuren VR-Brillen auch waren, Jace konnte sie sich einfach nicht leisten. Besonders nicht, nachdem der Department Manager für ihn in weite Ferne gerückt war, jetzt, da Hartman ihm den Job vor der Nase weggeschnappt hatte. Jace seufzte tief, dann fiel ihm eine weitere Anzeige ins Auge.
Conqueror Splash – das große Finale der e-Sports World Championship
Jace liebte Conqueror Splash. Er war miserabel in Echtzeit-Strategiespielen, versank nach der Arbeit aber gern für ein paar Runden darin und hatte die Teams seit Wochen in den Übertragungen im Data Space verfolgt. Und jetzt wurden Tickets verkauft, um in der VR hautnah dabei zu sein. Beim großen Finale.
Ohne weiter darüber nachzudenken, tippte Jace auf die Anzeige und gelangte zum Kaufbildschirm. Starrte auf die Zahlen und ärgerte sich, dass er so viel Geld einfach nicht aufbringen konnte. Dabei wäre er zu gern einmal bei einem Spiel dabei. Aber es ging nicht. Weil Hartman den Posten bekommen hatte und er nicht. Weil Jace einfach nichts vergönnt war in seinem traurigen, tristen Leben, als hätte sich irgendeine unsichtbare Macht gegen ihn verschworen. Frustriert starrte er auf den Holo-Screen, den sein Smartcom aussendete.
Dann verschwamm das Display. Für einige Sekunden wurde alles gräulich, dann bildeten sich neue Buchstaben.
Vielen Dank für Ihre Zahlung. Wir senden Ihnen eine Bestätigung mit dem Ticketcode zu.
Jace blinzelte. Dann setzte sein Herz einen Schlag aus, und er rief seinen Kontostand auf. Die Zahl war seit dem letzten Mal unverändert geblieben – keine Buchung in den letzten 48 Stunden. Und doch befand sich in seinen Mails das Ticket zu einem Event, das Jace nie gekauft hatte.
Normalerweise spürte Sam den Cyberdice in ihrem Hinterkopf nicht. Nur wenn sie das Menü ihres Smartcoms aufrief und die VR auf dem blinkenden Interface anwählte, jagten die elektrischen Impulse aus dem Cyberdice direkt in ihr Gehirn und zeichneten eine zittrige Gänsehaut auf ihre Arme. Dann spürte sie die feine Verbindung zwischen Bewusstsein und Körper reißen wie ein Gummiband unter zu viel Spannung. Im nächsten Moment sackte ihr Körper auf dem Bett zusammen, und ihr Geist verschwand in den Tiefen des Data Space.
In die virtuelle Realität abzutauchen war kein Erlebnis mehr. Aber den Data Space in der VR zu erleben, war jedes Mal wieder wie ein Gewitter in ihrem Inneren. Sie wusste, dass all dies nur Daten waren, rückführbar auf Einsen und Nullen. Aber sie befand sich nicht in einem Raum voller Einsen und Nullen. Um sie herum verliefen Hochhäuser mit grell leuchtenden Fenstern, Neontafeln und Werbeeinblendungen. Auf der Straße und in den Autos blinkten Abertausende Icons auf, Avatare von anderen Menschen, die gerade im Data Space unterwegs waren. Das Abbild von Neon City war der Realität gar nicht unähnlich, wenngleich sie hier eine geschönte Version der Stadt vorfand. Und doch war all das nicht wirklich real, denn alles im Data Space durchlief den Cyberdice in ihrem Kopf und wurde dort in Signale umgewandelt, die ihr Gehirn verstehen konnte. All diese Dinge waren reiner Code. Eine Simulation der Realität, die täuschend echt wirkte. Und zu schön für die Realität, wenn man klugscheißen wollte.
Sie lief los durch den Strom aus Daten. Sam musste sich durch das Getümmel quetschen, vorbei an Avataren mit bunt gefärbten Afros, rückenfreien Tops oder kniehohen Schnallenstiefeln. Kaum ein Avatar im Data Space kam ohne bewegte Tattoos aus. An jeder Ecke blinkten ihr Werbeanzeigen und Kaufbildschirme entgegen, Textnachrichten von Leuten, die sie näher kennenlernen oder mit ihr zocken wollten. Wenn sie nicht gewusst hätte, wonach sie suchte, wäre sie in der Unendlichkeit des Data Space verloren gegangen, aber sie kannte ihr Ziel genau: NeoTECH Global, einer der großen Megakonzerne und damit die größten Kapitalistenschweine, die es gab. Na ja, zumindest Anwärter auf den Posten der größten Kapitalistenschweine, denn die Cons machten sich diese Position regelmäßig gegenseitig streitig. Ihr Weg führte sie durch die geteerten Straßen, und sie merkte, wie all die Daten, die sie peripher wahrnahm, verschwammen und sich nur als scharfe Konturen abzeichneten, wenn sie sie fixierte. Der Data Space war zu komplex, als dass ein Gehirn all diese Eindrücke verarbeiten konnte. So blieben die auf die Straßen gequetschten Autos Schemen, die Drohnen über ihrem Kopf schwarze Punkte und die unzähligen Wolkenkratzer am Horizont nur ein bläuliches Flimmern.
Als Sam in die Schatten eines Gebäudes trat, hielt sie inne. Mit einem Mal wurde ihr kalt, und obwohl sie wusste, dass ihr Körper bequem in ihrem Bett lag, fröstelte sie. Sie sah empor zu der virtuellen Repräsentation des Konzernsitzes. Mit in den Nacken gelegtem Kopf konnte sie das Logo erkennen, das ihr an einem der lächerlich hohen Stockwerke in einem professionell-kalten Neonlicht in die Augen stach. NeoTECH Global, der Con, der bekannt dafür war, Innovationen im Bereich des Data Space auf den Markt zu bringen. In weniger öffentlichen Foren war er für seine Cybersicherheit bekannt. Sam musste zugeben, dass sein virtueller Auftritt nicht ohne war. Das Gebäude war riesig, und der Schatten, den es warf, erstreckte sich noch weit über die gesicherten Mauern hinweg.
Sie holte tief Luft und versuchte, das Klopfen ihres Herzens zu beruhigen. Unwillkürlich fragte sie sich, ob ihr Herz auch in der realen Welt schneller schlug, ob es auch dort in ihren Fingerspitzen kribbelte. Ihr war egal, was ihre Hackerfreunde sagten. Sie hatte schon andere Megacons um ihre Schätze beraubt, da würde NeoTECH seine Geheimnisse auch nicht vor ihr verstecken können. Vor ihr erschienen mehrere Icons in der Luft. Sie wählte einen schwarzen Umhang an, und Sekunden später wurde ihr virtueller Körper durchsichtig. Sie war nicht unsichtbar, aber das Programm sorgte dafür, dass das Sicherheitssystem sie nicht so leicht entdecken würde.
Durch den Filter ihres Cyberdice nahmen die Sicherheitsprogramme verschiedene Formen an: Über ihr flogen Drohnen Patrouille, an den Mauern marschierten Wachen mit Cybergliedmaßen. Die Drohnen in der Luft – Spionageprogramme – machten ihr mehr Angst. Wenn sie sie entdeckten, würden sie eine Nachricht an die Menschen schicken, die für die Cybersicherheit von NeoTECH verantwortlich waren, und das konnte Sam nun am allerwenigsten gebrauchen. Fürs Erste konnte sie nur hoffen, dass ihr Code gut genug war, um sie versteckt zu halten.
Ungesehen ging sie an den Wachen vorbei und betrachtete das Tor, massiv und riesig, wie es war. Sam rief ihre Hackingkonsole auf und wartete. Noch war sie unentdeckt, zumindest glaubte sie das. Aber sie wusste nicht, wie lange das anhalten würde. NeoTECHs Cybersicherheit durfte sie nicht unterschätzen, aber im Moment kreisten die Drohnen noch nichts ahnend am Himmel, und die Wachen liefen stur an ihr vorbei.
Rasch machte sie sich mit dem vertraut, was sie vor sich hatte: Es war eine gute Firewall, und die Chancen, dass ihre Programme autonom einen Weg hindurch finden würden, standen so schlecht, dass sie es gar nicht erst versuchte. Sie grinste. Hier war ihr Genie gefragt. Sam begann, ihre Konsole mit Befehlen zu fluten, schlängelte sich sanft in die Tiefen der Firewall, so leise und vorsichtig, dass ihre Angriffe weder Wunden noch Spuren hinterließen. Wie eine Meisterdiebin fühlte sie sich, die mit Dietrichen geschickt ein Schloss öffnete, ohne es zu beschädigen. Manchmal wartete sie ab, ob ihr Code eine Reaktion im Sicherheitssystem auslöste oder auf Granit stieß, ehe sie sich weiter vorarbeitete. Dann ging ein Ruck durch die Firewall, mit einem sanften Sirren öffnete sich das Tor, und sie konnte eintreten. Die Security-Programme blieben still. Das System erkannte Sam als Admin, und sie lächelte, wenn sie daran dachte, wie ihre Freunde sie vor NeoTECH Global gewarnt hatten. Im Data Space war mit genügend Können und einer Prise Glück eben alles machbar. Immerhin war sie Sam Ueshiba, und man kannte ihren Künstlernamen nicht ohne Grund überall im Data Space.
Sie lief durch den Innenhof des Gebäudes, unsichtbar für die Cybersicherheit, und öffnete mühelos die Tür. Vor ihr lag ein langer Weg durch enge Gänge mit Hunderten Türen und fast ebenso vielen Stockwerken. Die Türen, die in unmittelbarer Reichweite waren, brauchte sie gar nicht erst auszuprobieren. Die wirklich interessanten Daten mussten irgendwo tief vergraben sein. Sam stieg in den Fahrstuhl am Ende des Gangs. Das Rauschen der Maschine hörte sich zum Verwechseln real an, und das Blinken der Anzeige verriet ihr, in welchem Stock sie sich befand. Sie fuhr nach ganz oben, von dem sterilen Geruch begleitet, der dem Gebäude an jeder Ecke anhaftete, und fand sich in einem weiteren engen Gang wieder. Der Boden quietschte unter ihren Schuhsohlen.
Im ganzen Gebäude hatte sie keine Patrouillen gesehen. Sie bezweifelte, dass es keine gab – sicher waren sie versteckt, oder die Programme waren noch nicht gestartet, weil das System keinen Eindringling erkannt hatte. Sam überprüfte ihr Icon, fand aber keinen Hinweis darauf, dass das Sicherheitssystem sie entdeckt hatte. Das musste nichts heißen, Security-Software schlug meist keinen Alarm, sondern bereitete sich darauf vor, den Eindringling überraschend festzusetzen, aber es gab ihr zumindest ein vorläufiges Gefühl der Sicherheit. Es drohte keine akute Gefahr.
Sie öffnete ein paar Türen im Gang; nichts als langweilige Büroräume mit steril geleckten Böden, Toilettenräume – wohl die Interpretation von Trash Data – und Räume mit Krimskrams, die so gar nicht in das sonstige Bild des Gebäudes passten. Aber noch verlor Sam nicht die Geduld. Natürlich lagen die streng geheimen Daten nicht einfach so herum. Sie tippte Befehle in die noch offene Konsole und ließ Spyware laufen. Der Code sprang von ihrem virtuellen Display und materialisierte sich in winzige Drohnen, die sich wie Spinnen in dem Gebäudekomplex verteilten und den Speicherort der wirklich interessanten Daten suchten. Dann wartete Sam. Während ihre Programme die Verzeichnisse durchwühlten, überprüfte sie ihr eigenes Icon. Sie war immer noch schwierig zu orten für das System, in dem sie sich befand, und ihre Adminrechte gewährten ihr ein paar Freiheiten. Sie hatte nicht zu gierig sein wollen, denn völlig freien Zugriff auf alle Daten hatten bei einem Megacon meist nur sehr wenige Leute, die den Kopf der Cybersicherheit bildeten, und denen würde es sehr wohl auffallen, wenn sie ständig Daten abrief, auf die nur drei Leute Zugriff hatten.
Die Drohnen ihrer Spyware kehrten zu ihr zurück, und sie folgte ihnen durch eines der Zimmer, das sie für uninteressant gehalten hatte. Am Ende des Raums war eine Falltür in den Boden eingelassen. Volltreffer. Flink öffnete sie die Tür und kletterte die Leiter hinab. Der Schacht war eng, und die Luft in Sams Lunge wurde knapp, doch sie schloss die Augen und kletterte einfach weiter. Ihr Körper lag sorgsam gebettet zu Hause. Was sie im Data Space empfand, war nicht real. Dennoch war sie erleichtert, als ihr Fuß auf festen Boden traf.
Sam fand sich wieder in einem Archiv. Hunderte Regale, in Reihen aneinandergedrängt, ließen den riesigen Raum klein und eng wirken. Die Daten waren mit Ordner-Icons dargestellt und füllten jeden Zentimeter. Dieser Ort, so dachte Sam, wurde dem Namen Data Space wirklich gerecht. Sie öffnete eine Übersicht der Daten im Archiv und wusste, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb. Sie ging davon aus, dass nur die Konzernsicherheit Zugriff auf dieses Archiv hatte, und wenn sie gut war, würden sie bald bemerken, dass jemand darin herumstöberte. Selbst wenn die Programme ihren Eingriff als autorisiert einstuften.
Rasch scrollte sie durch die Ordner und kopierte einfach alles, was ihr potenziell interessant erschien. Sobald sie sich nicht mehr in unmittelbarer Gefahr befand, von der Cybersicherheit das Gehirn gegrillt zu bekommen, konnte sie sich immer noch genüsslich durch die Daten wühlen. Sie kopierte Prototypen zu neuen Projekten, Dokumentationen der Einstellungsverfahren, Lohnzahlungen – auch wenn es niemanden mehr überraschen würde, wie NeoTECH die Mitarbeitenden ausbeutete. Es war immer nett, die Gehälter der Leute offenzulegen. Sam fand Verträge und anstehende Kooperationen und freute sich schon diebisch darauf, die Skandale darin zu finden. Egal, was es war, NeoTECH würde eine Weile damit zu tun haben, ihr Image wieder öffentlichkeitstauglich aufzupolieren.
Länger wollte sie ihr Glück nicht strapazieren. Sam ließ ein Verschlüsselungsprogramm über ihre neuen Schätze laufen, öffnete das VR-Interface und wählte den Log-out-Button. Nichts geschah. Ihr Blick erstarrte. Das Icon reagierte, doch sie blieb an Ort und Stelle, mit der Direktverbindung ihres Gehirns an den Data Space gefesselt.
Shit.
Man hatte sie gefunden. Ruhig bleiben. Sam blickte sich um und startete eine Scan-Software, die ihr Icon nach Malware absuchte. Irgendwo wurde das Signal abgefangen, das ihren Cyberdice anwies, die Verbindung zu kappen. Fieberhaft tippte Sam Befehle in die Konsole, um das Programm ausfindig zu machen, das sie in der VR hielt. Im nächsten Moment materialisierten sich bereits die gesichtslosen Wachen im Archiv und hoben die mit Klingen und Schusswaffen aufgerüsteten Arme.
Sam sprang zurück hinter eines der Regale. Zu kämpfen hatte keinen Sinn, sie musste hier raus. Unmöglich konnte sie es mit dem ganzen Cybersicherheitssystem von NeoTECH aufnehmen, selbst wenn sie mit dieser ersten Welle fertigwurde.
Hastig tippte sie in ihre Konsole, und eine grünlich schimmernde Wand errichtete sich um ihren Avatar. Dann hagelten die ersten Kugeln auf sie nieder. Der Code, den sie auf die Schnelle geschrieben hatte, war schlampig und ließ einzelne Schüsse durch. Eine Kugel traf sie, und ein heftiger Schmerz fuhr durch den Knochen ihres Schienbeins. Sam zuckte zusammen und ließ sich fallen, duckte sich noch weiter hinter die Regale und checkte ihr Icon auf Viren, während Schüsse an ihrem Kopf vorbeiflogen.
Da war sie, die Malware, saß wie eine kleine Zecke auf ihrem Icon und labte sich an dem Signal, das es nicht bis zu ihrem Cyberdice schaffte. Sam achtete gar nicht auf die Security-Programme, die allmählich ganz ihren Schild auflösten. Die Verteidigung aufrechtzuerhalten war sinnlos, und so konzentrierte sie all ihre Angriffe auf die Sperre. Code um Code warf sie dem Programm entgegen, während die Wachen immer näher kamen. Ihr ganzer Körper brannte, Sam biss die Zähne zusammen und griff eine Pinzette aus der Luft, die Manifestation ihres Codes. Ein langes Messer sauste auf Sam nieder, und während sie sich zur Seite zwischen die Füße einer gesichtslosen Wache rollte, spürte sie das Donnern, als rohe Daten aufeinanderkrachten, Splitter aus Code, während der Boden aufriss. Sam nutzte den Moment und packte die Zecke mit der Pinzette, zupfte sie von ihrem Icon ab und schnippte sie angeekelt davon.
Auf ihrem Display blinkte der Log-out-Button. Sam drückte ihn, und im nächsten Moment verschwamm das Archiv um sie herum, der Schwindel packte sie, und dann lag sie auf dem Rücken.
Warmes Blut war aus ihrer Nase geströmt und befleckte die Bettwäsche. Einen Moment lang blieb Sam einfach so liegen, wischte sich das Blut mit dem Ärmel von den Lippen und hielt die Augen geschlossen. Der Kampf im Data Space hatte ihr Gehirn mit elektronischen Signalen überladen, aber abgesehen vom Nasenbluten und leichtem Schwindel ging es ihr gut. Sie hatte schon deutlich Schlimmeres überstanden. Auch wenn es sie in ihrer Ehre ein wenig kränkte, dass das Sicherheitssystem sie entdeckt hatte – noch dazu so kurz vor Ende. Aber sie hatte eine Menge Daten gestohlen, die sie offenlegen konnte. Das war es wert gewesen.
Langsam erhob sie sich von ihrem Bett und streckte sich. Der Schwindel ließ nach, und obwohl ihre Gedanken noch träge waren, plante sie bereits die Schlagzeilen, die sie mit ihrem Blog machen würde, sobald die Daten öffentlich wurden. Die Megacons hatten immer Schmutz in ihren Archiven. Immer.
Sam verließ ihr Zimmer, und nachdem sie sich im Bad das Blut aus dem Gesicht gewaschen hatte, lief sie über den Flur zur Garderobe. Ihre besten Blogeinträge schrieb sie nicht zu Hause. Sie warf sich ihren roten Schal über, schlüpfte in die knöchelhohen Turnschuhe, scannte ihre Hand, um die Haustür zu öffnen, und trat dann nach draußen.
Natürlich war sie nicht wirklich draußen. Sam lebte mit ihrer Mutter in einer Arkologie des Konzerns Mishiwa. Von außen sah die Arkologie aus wie ein besonders in die Breite gegangenes Hochhaus, aber innen befand sich eine kleine Stadt. Sie besaß vierundsiebzig Stockwerke und beherbergte Konzerngebäude von Mishiwa, etliche Einkaufsmeilen und sogar Felder, auf denen mithilfe von Solarenergie Landwirtschaft betrieben wurde. Auf den Straßen standen vereinzelt Bäume, doch Sam wusste, dass vor allem in den obersten Stockwerken Sauerstoff produziert wurde, der die ganze Arkologie mit frischer Luft versorgte, weil außerhalb alles mit Vulkanasche verseucht war. Die Arkologie war dazu gedacht, ihre Einwohnenden völlig unabhängig von der Außenwelt versorgen zu können. Und das tat sie.
Obwohl Sam es hasste, so unter den Fittichen eines Konzerns zu leben, musste sie zugeben, dass die Mishiwa-Arkologie einer der besten Orte war, an denen man in Neon City leben konnte. Nur selten wagte sie sich nach außerhalb; die Luft der Innenstadt brachte sie zum Husten, und es dauerte Tage, bis der schale Geschmack von Vulkanasche aus dem Mund verschwand.
Sam schlenderte an den Läden vorbei und schlängelte sich durch die Menschenmassen. Von oben strahlte warmes Licht herab, und die Luftfilter bliesen eine sanfte Brise durch die geschlossenen Räume der Arkologie. Die Wände, die sie von der Außenwelt abschirmten, wurden von Displays unterbrochen, die wie Fenster aussahen und eine geschönte Version der Stadt außerhalb zeigten.
Sam verließ die Straßen, durch die sie sich drängen musste, und atmete auf, als sie in die Seitengassen einbog. Der Weg zu dem Park, in dem sie gern saß, war eine Allee, und auf den Bäumen saßen Hologramme von Vögeln, die sogar zwitscherten wie die echten Vorbilder. Sie mochte die kleinen Exemplare, und immerhin konnten sie nicht an einer Lungenvergiftung durch Vulkanasche sterben.
Endlich erreichte sie den Park. Auf großen Flächen, die den Beton durchbrachen, wuchsen echtes Gras, Bäume und Blumen. Sam nahm einen tiefen Atemzug, während sie sich auf eine Bank setzte und ihren Smartcom aufrief. Durch den Cyberdice musste sie das Gerät nicht einmal in die Hand nehmen; das Interface erschien direkt in ihren Gedanken.
Während sie die Daten prüfte, machte sie sich Notizen. Sie schrieb über den mickrigen Lohn, den NeoTECH seinen Mitarbeitenden zahlte, und die Methoden, die sie anwandten, um noch weniger Geld abdrücken zu müssen. Sie quetschten ihre Leute wirklich bis aufs Letzte aus und zahlten ihnen nicht einmal Arztrechnungen, geschweige denn eine Versicherung. Sam wusste, dass NeoTECH damit viel mehr die Regel als die Ausnahme war, aber das Hinterziehen von Steuern würde NeoTECH beim nächsten Konzernrat teuer zu stehen kommen, und mit ihrem Post würde Sam ein Stück dazu beitragen, dass die Leute verstanden, welche hässlichen Grimassen hinter den schönen Werbeimages der Megacons steckten. Irgendwann musste die Bevölkerung schließlich aufwachen.
Ausbeutung bei NeoTECH Global – wie billig ist dein Leben für einen Megacon?
Zufrieden überflog sie ein letztes Mal den Blogeintrag. Es war nur eine Frage der Zeit, bis NeoTECH ihn aus dem Data Space löschen würde, aber ihr Blog würde wiederkommen. Wie jedes Mal. Sie würde viral gehen, gelöscht werden und wieder viral gehen. Sam drückte auf Veröffentlichen.
Nichts geschah.
Sie tippte noch einmal, aber es tauchte nur eine Nachricht in ihrem Interface auf:
Hey, Samantha,
wir melden uns als Team der Cybersicherheit von NeoTECH Global bei dir. Du bist aufgeflogen. Wir wissen, wer hinter Sam Ueshiba steckt. Ich schicke dir einen Link, damit wir reden können, und würde dir empfehlen, das Angebot anzunehmen.
Andernfalls finden wir bestimmt noch andere, die mit uns über deine Identität reden wollen.
Du hast 24 Stunden, um uns zu kontaktieren.
–NeoTECH
Jace hatte nur wenige Stunden Schlaf bekommen. Entsprechend müde war er, als er gegen zehn Uhr morgens bei HyperZen Body Technologies ankam. Er scannte seinen Unterarm, schlurfte in den Fahrstuhl, der ihn ins zweite Stockwerk beförderte, und hängte die Lederjacke in seinen Spind. Hoffentlich war Hartman bereits in sein neues Büro umgezogen, dachte Jace, dann müsste er ihn wenigstens nicht sehen, wenn er sich an seinen Schreibtisch setzte und die täglichen Beschwerdemails öffnete. Wenn er Glück hatte, vergaß Hartman Jace’ Existenz im Rausch seiner Karriereleiter. Jace ertrug es nicht, dass dieser Mann Erfolg hatte und er selbst nicht. Er ertrug es nicht, dass er sich den Arsch abarbeiten konnte und trotzdem auf der Stelle trat. Scheiße.
Das sanfte Sirren der elektronischen Türen begrüßte Jace im Büro. Obwohl die vielen Kabinen bereits gut gefüllt waren, blickte niemand zu ihm auf, als er eintrat. Die kahlen Wände wirkten trostlos und erinnerten ihn daran, dass es nicht erwünscht war, sich in seiner zwölfstündigen Schicht von irgendetwas ablenken zu lassen. Ihm standen zwölf Stunden monotoner Arbeit bevor, und sie hatten gerade erst begonnen. Beim Gedanken daran wollte Jace einfach nur zurück in sein Bett kriechen. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und ließ Kopf und Arme auf die kalte Oberfläche sinken. Nach der Sache mit Hartman gestern war seine Motivation, irgendetwas für diesen Konzern zu tun, gen null gesunken. Wozu sich für eine CEO anstrengen, die seine Bemühungen nicht einmal sah, geschweige denn anerkannte, und stattdessen den unfähigsten Hochstapler des ganzen Konzerns beförderte? Das letzte bisschen Vertrauen, das er noch zu HyperZen gehabt hatte, war verschwunden. Jace blickte sich um, fragte sich, ob die anderen Angestellten nicht sahen, wie sie hier ausgenutzt wurden. Aber dann dachte er, dass es ohnehin keinen Zweck hätte. Selbst wenn er sie darauf hinwies – sie würden ja doch nichts unternehmen, aus Angst, gefeuert zu werden. Und die letzte Gewerkschaft war vor wenigen Jahren mitten im Chaos nach 97 aufgelöst worden.
Der Bildschirm seines Arbeits-Smartcoms sprang an und begrüßte ihn mit den Worten:
Guten Morgen, Mr O’Nelly. Hier die Liste Ihrer heutigen Aufgaben:
Jace seufzte und öffnete das Dokument, in dem bereits Hunderte Mails darauf warteten, von ihm beantwortet zu werden. Doch noch ehe er damit beginnen konnte, öffneten sich die Türen ins Büro. Jace drehte sich um.
Hartman trat ein. Jace musste sich zusammenreißen, um nicht das Gesicht zu verziehen, und nahm die Schultern zurück, damit Hartman nicht sah, was für ein Häufchen Elend er war.
»Ah, gut, dass du schon hier bist«, sagte er, während er zu Jace’ Tisch eilte. »Ich habe später eine Präsentation zu halten, es geht um ein neues Produkt, das ich vorstellen möchte.«
Jace hob die Augenbrauen. »Das freut mich für dich.«
»Und ich habe noch einiges zu tun, deswegen musst du das Ding für mich fertigstellen. Die Datei habe ich dir schon geschickt, ich brauche die fertige Präsentation dann um halb zwölf.«
»Bitte was?«
»Um halb zwölf«, wiederholte Hartman langsam.
»Du willst, dass ich deine Arbeit für dich mache?«
»Das ist doch keine Arbeit«, winkte Hartman ab und verdrehte die Augen. »Ich habe noch Wichtiges zu erledigen und kann mich nicht mit so etwas befassen.«
Wohl eher wollte er die Anerkennung ernten, ohne einen Finger dafür krumm zu machen.
»Ich kann nicht glauben, dass du gerade befördert wurdest, nur um jetzt deine unangenehmen Aufgaben auf andere abzuwälzen. Ich habe auch zu tun, ob du es glaubst oder nicht.«
Hartman verzog das Gesicht. »Bitte. Als ob es irgendjemanden interessiert, was du da machst. Also entweder kümmerst du dich jetzt um diese Präsentation, oder das Letzte, was du hier heute liest, ist eine Kündigung. Haben wir uns verstanden?«
Jace löste den Blick von Hartman und sah sich im Büro um, doch niemand reagierte auf ihr Gespräch. Natürlich nicht, dachte Jace bitter. Hier war sich jeder selbst der Nächste. Er biss die Zähne zusammen und schluckte die giftige Erwiderung hinunter, die schon auf halbem Weg zu seiner Zunge war. Hartman war schon immer ein Arsch gewesen, aber jetzt war er ein Arsch mit Macht, und offenbar genoss er die allzu sehr. »Klar«, erwiderte Jace gepresst und öffnete sein Mailfach.
»Gut. Und einen Tipp noch: Wenn du es je zu irgendwas bringen willst, musst du lernen, diejenigen zu beeindrucken, die dir nach oben helfen können, Idiot.«
Oder ihnen in den Arsch zu kriechen. Aber das sagte Jace nicht. Er nickte nur und öffnete die Präsentation, die Hartman ihm gegeben hatte.
Er konnte es nicht fassen, dass er nach all seinen Mühen immer noch hier saß und die Drecksarbeit für jemanden erledigen musste, der – wieder einmal – die Lorbeeren für all seine Arbeit einheimsen würde. Zähneknirschend machte Jace sich an Hartmans stümperhafte Ausarbeitung. Er hatte offensichtlich nie vorgehabt, sie selbst zu Ende zu bringen. Lustlos fügte Jace Grafiken ein, passte die Schriftarten an und schrieb kurze Stichpunkte, die Hartmans Idee beschreiben sollten, aber wenn er ehrlich war, war nicht einmal die gut. Jace hätte das Ganze aufpeppen können, ein paar wirklich innovative Ideen einstreuen können – aber wieso sollte er? Es würde ihn ja doch nicht weiterbringen. Mit einem frustrierten Kopfschütteln speicherte Jace seine Arbeit ab und schickte sie per Mail an Hartman zurück.
Noch im selben Moment formte sich eine Idee in Jace’ Kopf. An diesem Mailverlauf konnte jeder sehen, dass die Präsentation nicht von Hartman selbst stammte. Es musste nur ein einziger Screenshot zur Chefetage gelangen, und Hartman stünde da wie der letzte Volltrottel. Feuern würde man ihn wohl nicht, aber Jace kam nicht umhin, bei dem Gedanken, wie sein ehemaliger Kollege vor Scham rot anlief und halb gare Rechtfertigungen stammelte, zu grinsen. Aber Jace war nicht hinterlistig genug, um so etwas zu tun, und so kehrte er einfach zu seiner Arbeit zurück, wünschte sich aber dennoch, er hätte es getan.
Die Stunden vergingen quälend langsam, aber das Gute daran war, dass Jace Hartman nicht sehen musste. Fast schon hatte er sich damit abgefunden, für immer der Typ zu sein, der Feedbackmails mit freundlichen, aber nichtssagenden Antworten versah. Seine Mühen blieben umsonst, und vielleicht war es an der Zeit zu akzeptieren, dass er einfach nichts Besonderes war. Anders als sein Bruder. Anders als seine Familie. Anders, als alle es von ihm wollten.
Doch dann seufzte er nur. Ist doch egal, was die anderen denken, das war so leicht dahingesagt. Aber Jace war es nicht egal. Er wollte ein Leben, in dem er nach der Arbeit seine Familie anrufen konnte. Ein Leben, in dem seine Familie seine Anrufe entgegennahm. Aber dafür mussten sie sehen, dass er zu mehr imstande war als zu diesem bescheuerten Job.
Aber bin ich das?
Die Frage stellte er sich immer wieder, und allmählich dachte er, dass das Leben sie ihm doch längst beantwortet hatte. Frustriert griff Jace in seine Tasche und zog ein in Plastik verpacktes Sandwich heraus. Das Brot war bröselig und der Aufstrich aus Soja und Gewürzmischung fest wie Gummi, aber als schnelles Mittagessen musste es reichen. Jace’ Schränke zu Hause waren voll von diesen Sandwiches, weil sie immer noch mehr Konsistenz hatten als die Foodkits, die er nur deswegen aß, weil sie stundenlang sättigten. Aber auf der Arbeit waren diese Sandwiches seine einzige Freude.
Während er so dasaß und kaute, sirrten die elektronischen Türen, und Hartman rauschte herein. Er schlug die Hacken seiner polierten Schuhe in den polierten Boden und schnaufte, während er mit erhobenem Zeigefinger auf Jace zukam.
»Du …!«, brachte er heraus, ehe er vor Jace’ Tisch zum Stehen kam. »Was hast du getan?«
Jace’ Kiefer stellte für einen Moment das Kauen ein. »Stimmt … irgendetwas mit der Präsentation nicht?«
»Ob etwas mit der – willst du mich eigentlich verarschen?« Hartman knallte seine Faust auf den Tisch, und Jace zuckte zurück.
»Ich weiß wirklich nicht, wovon du redest.« Jace rollte auf seinem Stuhl ein Stück zurück, weil Hartman aussah, als könne seine nächste Faust auf seiner Nase landen.
Jetzt bemerkte Jace die Blicke der anderen Angestellten. Sie beobachteten das Geschehen aus den Augenwinkeln, obwohl niemand sich ihnen offensichtlich zuwandte.
»Du hast unser Gespräch aufgezeichnet und an die Chefetage weitergeleitet!« Hartman schnaufte, doch dann fuhr er sich über das Gesicht und presste die Lippen zusammen. »Dir ist doch klar, dass das Konsequenzen haben wird, oder? Was denkst du, wie die Chefin mich zur Sau gemacht hat!«
»Moment mal.« Jace hob die Hände und runzelte die Stirn. »Ich habe überhaupt nichts getan. Rein gar nichts. Ich habe keine Ahnung, wovon du überhaupt redest.«
»Tu nicht so blöd«, zischte Hartman. »Wer sonst soll die Aufnahmen gemacht haben? Aber warte nur ab, du wirst schon sehen, was du davon hast, wenn du glaubst, so mit mir umspringen zu können. Hast gehofft, die würden mich feuern, damit du meine Position haben kannst, was? Die wirst du aber nicht bekommen, Arschloch. Dafür werde ich sorgen.«
Jace hätte gern etwas Feuriges erwidert. Vielleicht, dass er noch mehr in petto hätte, um ihn bei der CEO anzuschwärzen, oder ihm erklärt, dass er gar nicht wusste, wo auf seinem Smartcom er Tonaufnahmen anfertigen konnte. Doch er sagte nichts und senkte nur den Blick. Nichts, was er Hartman sagen konnte, würde Jace’ Situation verbessern. Seit er sein neuer Vorgesetzter war, war Hartmans Verhalten rasant ekelhafter geworden, und Jace hatte keine Möglichkeit mehr, irgendetwas in seinem Leben zu erreichen. Nicht, solange er bei HyperZen Body Technologies arbeitete.
Er hatte sich geradewegs in eine Sackgasse manövriert.
Als Jace an diesem Abend nach Hause kam, hatte er keinen Hunger. Wie sollte er die nächsten Tage und Wochen überstehen? Die Arbeit war nun nicht mehr nur langweilig und stupide, nein, nun musste sein neuer Chef ihn auch noch zu seiner persönlichen Nemesis auserkoren haben. Nach seiner Schicht gab es nichts, was ihm wirklich Freude bereitete. Freunde hatte Jace keine, und jedes Mal, wenn er überlegte, sich vielleicht in einem Fitnessstudio anzumelden, spürte er die Müdigkeit in seinen Knochen.
Jace streckte sich rücklings auf seinem Bett aus und hielt seinen Smartcom über das Gesicht. Viele Kontakte hatte er nicht im Adressbuch gespeichert, aber während er so durch die Namen scrollte, blieb er an einem hängen: Nathan. Sein Bruder.
Ohne weiter darüber nachzudenken, drückte Jace auf den grünen Hörer. Das Freizeichen ertönte durch seine kabellosen Kopfhörer. Jace wartete. Dann nahm jemand ab.
»Nathan?« Jace’ Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
»Jace.« Nathans Ton war kühl, aber er war der Einzige aus der Familie, der Jace bei seinem Nickname nannte.
»Ich wollte nur mal hören, wie es dir so geht«, sagte Jace schwach. »Wir haben so lange nicht geredet – ehrlich gesagt bin ich überrascht, dass du rangegangen bist.«
»Ja, ich auch.«
Jace schluckte. »Wie geht es dir denn? Und Daniel? Ich hab gehört, ihr habt geheiratet, und …«
»Hör mal, Jace«, unterbrach Nathan ihn, »ich weiß nicht, was dieser Anruf soll, aber ich hab wirklich keine Zeit für so was. Wenn du Geld brauchst, bin ich echt der Falsche. Ruf mich nicht wieder an, okay?«
»Nein, das ist es nicht«, sagte Jace schnell, aber noch ehe er weiterreden konnte, hatte Nathan schon aufgelegt.
Jace ließ den Arm, in dem er den Smartcom hielt, aufs Bett fallen und machte einen langen zitternden Atemzug. Er hatte schon mindestens ein Jahr lang nicht mehr versucht, seinen Bruder anzurufen, und bereute es bereits. Dachte Nathan wirklich so schlecht über ihn? Dass er sich nur bei ihm meldete, weil er Geld brauchte?
Nathan musste ihn wirklich für Abschaum halten. Und Jace hatte keine Möglichkeit, seine Meinung zu ändern, weil er für immer der Beschwerdebeantworter bei HyperZen Body Technologies sein würde.
Inzwischen wurde Jace schlecht, wenn er daran dachte, am folgenden Tag wieder zur Arbeit zu müssen. Hartman gab sich alle Mühe, ihm die Tage so ätzend wie möglich zu machen, und seine ohnehin freudlosen Schichten wurden unerträglich. Jace überlegte, ob er ohne seinen Job nicht besser dran sein könnte, aber dann sah er seinen Kontostand. Sein Gehalt brachte ihn gerade so über den Monat, und er hatte keine Ersparnisse, von denen er zehren konnte, während er sich einen neuen Job suchte. Außerdem hatte er sich für noch mindestens acht weitere Jahre HyperZen Body Technologies verpflichtet, zumindest, solange sie ihn nicht feuerten. Und acht Jahre waren noch eine verdammt lange Zeit. Eine unerträglich lange Zeit.
Er wollte nicht einschlafen, denn wenn er aufwachte, musste er zurück zum Job. Lieber wach liegen und die Stunden langsam, aber sicher dahinfließen sehen, bis es unweigerlich sieben Uhr werden würde. Und dann würde Jace doch noch schlafen und nach zwei Stunden müde aus dem Bett fallen, sich sein Frühstück reinquälen und dann mit den vollen U-Bahnen zum Konzern fahren. Dann die Zwölfstundenschicht. Zwölf Stunden, um die restlichen zwölf des Tages zu überleben.
Jace drückte das Gesicht ins Kissen und seufzte tief. Er konnte einfach nichts an seinem gescheiterten Leben ändern. Vielleicht hatte Nathan recht, und Jace war ein hoffnungsloser Fall. Trotzdem machte es ihn wütend, dass sein eigener Bruder nichts mehr von ihm wissen wollte, nur weil er kein aufstrebender Stern war. Weil Durchschnitt einfach nicht gut genug war. Weil er sich die Anerkennung seiner eigenen Familie verdienen musste.
Das Klingeln seines Smartcoms ließ ihn den Kopf heben. Einen Moment lang überlegte er, einfach nicht nachzusehen. Doch dann obsiegte die Neugier.
Eine Nachricht war eingegangen. Jace blinzelte, als würden sich die Buchstaben ändern, wenn er nur genauer hinsah. Doch die Absenderin war eindeutig.
Mom.
Eilig öffnete Jace die Nachricht. Es war Jahre her, dass seine Mutter ihn von sich aus kontaktiert hatte. Nachdem Jace im Herbst 2097 aus dem Koma erwacht war, hatte er nur schwer wieder Anschluss an sein altes Leben gefunden. Wenige Monate später hatten seine Eltern ihn rausgeworfen, weil er nichts taugte. Was hatte seine Mutter ihm jetzt zu sagen?
Mein lieber Jack,
ich weiß, dass es schon lange her ist, seit wir das letzte Mal gesprochen haben. Wir haben einiges nachzuholen, und deswegen möchten dein Vater und ich dich zu uns einladen. Was hältst du von morgen, komm doch zum Abendessen.
Wir erwarten dich mit Freude.
In Liebe
Deine Mutter
Jace hielt einen Moment inne und starrte auf sein Display, während er die Zeilen ein zweites und drittes Mal las. Dieser Text erschien ihm so surreal, dass er nicht recht wusste, ob er vielleicht träumte. Ob er wütend sein sollte, weil sie ihn seit Jahren ignorierte, und nun plötzlich wollte sie ihn zum Essen einladen? Sie musste irgendetwas vorhaben. Aber was? Es gab nichts, was seine Eltern von ihm wollen könnten. Und doch flatterte Freude in ihm auf. Hoffnung. Vielleicht hatten sie sich ja tatsächlich besonnen. Nachdem Nathan ihn so barsch abgewiesen hatte, war die Nachricht seiner Mutter wie eine Wärmequelle, die die kalte Enttäuschung linderte.
Jace schrieb:
Hey, Mom,
natürlich komme ich zum Essen vorbei. Ich freue mich auf morgen!
In dieser Nacht schlief Jace mit einem Lächeln ein.
Jace stand in der kleinen Badezimmernische vor dem Display, das als Spiegel fungierte, und sah eine Simulation seiner selbst in den verschiedenen Outfits, die in seinem Kleiderschrank hingen. Was sollte er zum Abendessen mit seinen Eltern tragen? Alles, was er an Kleidung besaß, war abgenutzt und entsprach weder aktueller Mode noch konnte man sie außerhalb von Fast-Food-Restaurants und schmuddeligen Malls tragen, ohne schief angeguckt zu werden. Die meisten seiner Sachen waren Secondhand, und zwar nicht die Secondhand, aus der man sich stylishe, ungewöhnliche Outfits zusammenschustern konnte, sondern die Secondhand, die wirklich niemand mehr haben wollte. Vielleicht hätte er doch in eine neue Garderobe investieren sollen, aber Markenkleidung konnte er sich nicht leisten, und Jace hatte auch keine Lust, sich mit Sachen einzukleiden, die maximal einen Monat hielten, bevor sie sich in ihre Fasern auflösten.
Schließlich entschied er sich für einen dunkelblauen Cardigan und eine Stoffhose. Jace besaß keine Anzugschuhe, und so schlüpfte er in seine noch am wenigsten alten Sneakers, hoffend, seine Eltern würden mehr auf sein frisch rasiertes Gesicht achten als auf seine Schuhe. Ehe er das Haus verließ, kämmte er sich sorgfältig die strohblonden Haare. Vielleicht hätte er sie färben sollen, ehe er losging. In der Tasche hatte er eine Schachtel Pralinen, die so teuer war, dass er von dem Geld eine Woche Tütensandwiches hätte kaufen können. Jace wollte nicht riskieren, dass sein Besuch heute daran scheiterte, kein Geschenk mitgebracht zu haben, auch wenn er dafür vielleicht einen seiner Streamingdienste pausieren musste.
Der Weg zum U-Bahnhof kam ihm zum ersten Mal seit Wochen nicht so vor, als wäre er auf dem Weg in einen Club, der Käfigkämpfe veranstaltete – und er war derjenige, der im Käfig verprügelt wurde. Klar, er war nervös, seine Eltern zu treffen, aber er freute sich auch. Es war vier Jahre her, dass er sie zuletzt gesehen hatte. Wahrscheinlich sollte er sich nicht freuen, sondern sauer sein. Aber Jace hatte die letzten Jahre sein Leben nur darauf ausgerichtet, an eine Position zu gelangen, auf die seine Eltern stolz sein würden, sodass sie hoffentlich wieder mit ihm redeten. Die Position hatte er zwar nicht, aber was interessierte ihn das, wenn seine Eltern jetzt einfach so Kontakt zu ihm aufnahmen? Sein Stolz war es nicht wert, diese Gelegenheit wegzuwerfen. Er hatte seine Familie gewollt, jetzt bekam er sie. Mehr zählte nicht.
Jace stieg in die U-Bahn. Hologrammplakate zierten die Wände. Dort blinkten Werbeanzeigen von etlichen Bands, deren Namen er noch nie gehört hatte, Werbung für Soda von HyperZen und die Ankündigung für die World Championship von Conqueror Splash. Die Qualifikationsspiele liefen gerade, aber im Moment interessierte Jace sich nicht einmal dafür. Er würde mit seinen Eltern zu Abend essen, und das verdrängte jeden anderen Gedanken.
Nervös zupfte er an seinen Ärmeln herum, als die U-Bahn in Diamond Creek einfuhr. Diamond Creek war der reichste Stadtteil von Neon City, und Jace hatte vergessen, wie sehr man sich in einer anderen Welt fühlte, wenn man die Grenze überschritt.
Diamond Creek umspannten kaum sichtbare Netze, die die Vulkanasche aus der Luft filterten, sodass man hier freier atmen konnte. Als er das letzte Mal hier gewesen war, hatte es die Filter noch nicht gegeben, was daran lag, dass er das letzte Mal vor dem Vulkanausbruch diese Straßen durchwandert hatte. Die Menschen in Diamond Creek lebten in strahlend weißen Villen mit Pools in den Vorgärten. Es wuchsen sogar Bäume und Blumen in diesem Stadtteil, und während Jace die Straße zu seinen Eltern hinablief, sah er die NeoTECH Highschool, seine alte Schule, die sich in den Jahren kaum verändert hatte. Rasch ging Jace weiter.
Er kam sich schäbig vor in seinen ausgebeulten Klamotten und mit den sich langsam ablösenden Schuhsohlen. Er wusste, dass Citizen Overwatch – der größte Sicherheitskonzern in Neon City – jeden in Diamond Creek beäugte, der aussah, als würde er nicht hierhergehören. Jace war sich sicher, dass das schwarze Auto, das schon die ganze Zeit neben ihm fuhr, die Watcher waren, die sichergehen wollten, dass er keinen Ärger machte.
Vor der Villa seiner Eltern blieb er stehen. Jace blickte die weißen Steinsäulen hinauf, die blühenden Büsche, die den Weg zum Eingang säumten. Es roch süßlich nach blühendem Holunder, ein Geruch, den er schon fast vergessen hatte. Jace starrte auf den Springbrunnen im Vorgarten, dann gab er sich einen Ruck, lief die Treppe zur Veranda hinauf und drückte die Klingel. Es dauerte nicht lange, bis sich die verdunkelten Glastüren öffneten.
Drinnen empfing ihn warme, gut gefilterte Luft, die sogar noch angenehmer war als die draußen. Weißer Marmor bildete den Boden des Hauses, und die Wände hingen voll mit Displays, auf denen strahlende Landschaftsbilder zu sehen waren. Dezente Klaviermusik erfüllte die Eingangshalle. Jace lächelte, als der Haushälter seiner Eltern auf ihn zukam.
»Guten Abend, Mr O’Nelly«, begrüßte er Jace und deutete eine höfliche Verneigung an. »Wie schön, dass Sie da sind. Bitte lassen Sie mich Ihnen Ihre Jacke abnehmen.«
Jace nickte und schlüpfte aus seiner Jacke, die der Haushälter sofort an sich nahm und an die Garderobe hängte.
»Ich begleite Sie in den Salon, Mr O’Nelly«, sagte der Haushälter und streckte die Hand aus.
Jace hätte gern seinen Namen gewusst, aber seine Eltern hatten ihn so viele Jahre aus ihrem Leben ausgeschlossen, dass er sich vollkommen ahnungslos vorkam. »Wir kennen uns noch nicht«, sagte er daher.