Cold Detective - John McMahon - E-Book

Cold Detective E-Book

John McMahon

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Beschreibung

Das Böse im Menschen schneidet tief ... Georgia, USA: Unter einem erbarmungslos weiten Himmel leben die Einwohner der Kleinstadt Mason Falls. Doch Detective P. T. Marsh weiß, dass die Abgründe oft näher sind, als man glaubt. Und dann zieht Düsternis in Mason Falls ein. In einem Maisfeld wird ein toter Teenager gefunden: sein Körper ist geschunden, um seinen Hals liegt eine Schlinge. Die Medien stürzen sich auf den bizarren Mord, und Detective Marsh muss unter höchstem Druck ermitteln. Nach und nach offenbaren sich die Schattenseiten der Gemeinde und führen zu einem sinistren Kult, der Marsh ins Zentrum des Bösen zieht … Für LeserInnen von Don Winslow und Fans von »True Detective«

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Für Maggie, weil Vertrauen und Geduld alles andere als Kleinigkeiten sind

Aus dem amerikanischen Englisch von Sven-Eric Wehmeyer

Deutsche Erstausgabe

© John McMahon 2019

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»The Good Detective«, G. P. Putnam’s Sons, New York 2019

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Piper Verlag GmbH, München 2022

Published by arrangement with G. P.’s Putnam’s Sons,

an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC.

Lektorat: Peter Hammans

Covergestaltung: Sandra Taufer, München

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

1

Eine Faust donnerte gegen mein Fahrerfenster und ließ mich mit einem Schlag die Augen aufreißen. Ich langte hastig nach meiner Glock 42. Hätte mir fast den Fuß weggeballert.

Zwei weiße Augäpfel starrten mich durch die Dunkelheit an.

Horace Ordell.

»Alles im Lack bei dir, P. T.?«, dröhnte er.

Sie müssen zuallererst wissen, dass Horace mit einem Arsch von der Größe eines Kleinstaats herumspaziert. Weshalb es eine amtliche Kriegserklärung braucht, um ihn in Bewegung zu versetzen.

Ich sah auf die Uhr meines Ford F-150. 2:47 früh.

»Du hast im Schlaf geschrien«, sagte Horace. Sein Fels von Leib ragte drei Zentimeter vor meiner Tür in die Höhe. »Konnte dich von da drüben hören, zum Teufel.«

Mein Blick wanderte zu dem Rausschmeißer-Hocker, auf dem Horace die meisten Nächte thronte. Die Schrift der Neontafel darüber lautete The Landing Patch, und dazu prangten auf dem Schild zwei kurvige Leuchtstreifen, die eine grobe Ähnlichkeit mit den Beinen einer Frau aufwiesen und sich spreizten und schlossen. Und wieder spreizten und schlossen.

Ich ließ mir den Mief von Tabakplantagen nach Regengüssen in die Nüstern steigen. Das war er, der gute alte Duft schmutziger Georgia-Erde.

»Im Club alles in Ordnung?«, fragte ich, während ich die Tür meines Pick-ups aufstieß.

Horace’ massiver Kahlschädel ruckte auf und ab, seine Haut schwarz wie die Nacht. Er hatte für Alabama im Angriff gespielt, bis sein Knie den Dienst quittierte.

Das Gebäude hinter ihm, das den Stripschuppen beherbergte, war eine alte ehemalige Sägemühle, die man ins Naturschutzgebiet am Rand des Tullumy River gepflanzt hatte. Verrostete Blechschilder bedeckten das, was einst Lüftungsfenster gewesen waren, um kein Licht reinzulassen. Mach mal Pause – trinkCoca-Cola stand auf einem. Knusprige Utz Chips auf einem anderen.

Ich musterte mich kurz im Rückspiegel, bevor ich ausstieg. Welliges braunes Haar. Blutunterlaufene blaue Augen.

Außerdem sah ich im Heck der Fahrerkabine nach dem Rechten, wo Purvis lag. Der entzückende Purvis, meine sieben Jahre alte Bulldogge. Der Blick, mit dem er mich in letzter Zeit bedachte, war immer der gleiche: Seit sie nicht mehr da ist, stürzt du tiefer und tiefer ab, P. T. Reiß dich am Riemen. Halt dich an irgendwas fest.

Aber ich bin nicht der Typ, der die Hände ausstreckt und sich an irgendwas festhält. Nehmen Sie etwa Umarmungen. Ich bin nie ein großer In-die-Arme-Nehmer gewesen. Schon vor dem Unfall meiner Frau nicht.

Ich kletterte aus dem Truck, und Horace setzte sein Gewinsel fort.

»Ich rede nicht von leisen Schreien, P. T.«, sagte er. »Es war eher History-Channel-Army-Flashback-Scheiß-Kaliber.«

»Du kannst zurück auf deinen Posten, Horace«, gab ich zurück. »Mir geht’s ausgezeichnet.«

Selbstverständlich ging es mir überhaupt nicht ausgezeichnet. Von ausgezeichnet war ich fünf Countys entfernt.

Horace glotzte auf den Boden. Sein Hirn schien irgendwas auszubrüten. »Wie wär’s, wenn ich jemanden rufen würde?«

Auf seinem Gesicht lag ein seltsamer Ausdruck. Hätte ein nervöses Grinsen sein können. »Und wen zum Beispiel?«

»Keine Ahnung.« Er zuckte die Achseln. »Einen anderen Bullen? Ich weiß, dass du ein paar Drinks intus hast. Vielleicht kommt er hier raus, lässt dich pusten und liest dir die Leviten? Legt dich erst mal in Handschellen?« Er hielt inne. »Du könntest mir natürlich auch ein bisschen was zukommen lassen. ’ne Menge Leute geben mir Trinkgeld.«

Das hätte mir beinahe ein Lächeln auf die Lippen gezaubert. Ein mieser Pisser wie Horace droht einem Polizeibeamten, der das hinter sich hat, was ich durchgemacht habe. Wären Gehirne aus Leder, hätte dieser Penner nicht mal genug in der Birne gehabt, um einen Maikäfer zu satteln.

Ich griff in meinen Pick-up, und Horace trat einen vorsichtigen Schritt zurück. Dann sah er das Highball-Glas in meiner Hand. Ich hatte es zuvor aus dem Landing Patch mitgenommen, und es war noch immer voll.

Ich gab ihm das Glas und stieg wieder in den Truck. Der Nachthimmel war violett getönt und von purpurgrauen Quellwolken durchzogen, die wie übermäßig vollgestopfte Kissen aussahen.

»Ich lass dir was zukommen, und zwar einen kostenlosen Ratschlag«, teilte ich Horace mit. »Du darfst auf keinen Fall jemals Trauer mit Schwäche verwechseln.«

Ich warf den Motor an, und unter dem Anschnallgurt knisterte in der Brusttasche meines Flanellhemds ein Stück Papier. Ich entfaltete es und stierte auf ein einziges einsames Wort, während Horace sich davonmachte.

Crimson.

Die Handschrift war so sauber und deutlich, wie man es erwarten konnte, wenn man bedachte, dass das Wort mit Kajalstift und noch dazu in völliger Finsternis geschrieben worden war.

Ich drehte den Fetzen um. Auf der Rückseite stand eine Adresse: 426 E. 31st. B.

»Verdammt«, sagte ich, als mir die Stripperin und ihre Geschichte von neulich Nacht in den Sinn kamen. Sie war eine Rothaarige, deren beide Beine der kompletten Länge nach von Blutergüssen geziert wurden. Ich hatte ihr versprochen, vorbeizukommen und mit meiner Dienstmarke zu wedeln. Ihrem missbräuchlichen Freund einen solchen Schreck einzujagen, dass er sich in die Hose kackte.

Meine Augen tränten, und ich musste dringend eine Toilette zum Frischmachen finden. Ich bog auf die I-32 ab.

Mein Name ist P. T. Marsh, und Mason Falls, Georgia, ist meine Stadt.

Es ist beileibe keine Großstadt, aber im Laufe des letzten Jahrzehnts ganz ordentlich gewachsen. Jüngst haben wir die 130000-Seelen-Marke geknackt. Dieses Wachstum hat eine Menge mit den zwei Fluggesellschaften zu tun, die hier ihre Zelte aufgeschlagen haben, um unter bestmöglichen örtlichen Bedingungen Verkehrsmaschinen einer Generalüberholung zu unterziehen. Der Großteil dieser Flugzeuge wird frisch lackiert und an Übersee-Airlines vertickt, von denen keine Sau je was gehört hat. Manche von ihnen landen allerdings direkt im heiteren Himmel über unseren Köpfen. Es ist ein bisschen so wie Schönheitschirurgie in den besseren Vierteln von Buckhead. Klatsch eine frische Schicht Farbe drauf, und verleg neuen Teppich, und keiner merkt, wie abgetakelt die Karosserie darunter ist.

Ich hatte inzwischen die netten Bezirke der Stadt hinter mich gebracht. Die Gegenden, in denen tagsüber Touristen auf der Suche nach Vasen aus der Bürgerkriegsära einen Schaufensterbummel unternehmen. Wo Collegekids paniertes Beefsteak futtern und sich eimerweise mit Terrapin-Rye-Ale volllaufen lassen.

Danach kamen die durchnummerierten Straßen und mit ihnen jene Teile der Stadt, in denen Leute lebten, die an den erwähnten Flugzeugen arbeiteten. Die Reinigungskräfte, Teppichverleger, Maler und Lackierer.

Ich fuhr an der 16., 20., 25. Straße vorbei. Während ich beim Landing Patch mein Nickerchen gehalten hatte, war Regen gefallen, und in den dürftig gepflasterten Nebenstraßen bildeten sich kleine Seen.

Ich parkte meinen Pick-up hinter einer verwaisten Big-Lots-Filiale gegenüber der 30., stieg aus und bahnte mir zu Fuß meinen Weg durch die finstere Wohngegend.

Nach ein paar Minuten fand ich die auf dem Papier notierte Adresse, einen runtergekommenen Bungalow. Auf die Einfahrt waren der Buchstabe B und ein Pfeil gesprüht worden. Das Graffiti zeigte in Richtung einer separaten Wohneinheit im hinteren Bereich.

Crimsons Apartment.

Als einziger Hinweis auf die anstehenden Feiertage leuchteten kleine weiße Weihnachtslichter in einem der Fenster. Ich ging näher heran. Von der Einfahrt aus führte ein Eingang ins Schlafzimmer. Durch die Fliegengittertür konnte ich Crimson mit dem Gesicht nach oben auf dem Bett sehen.

Die Rothaarige lag dort in abgeschnittenen Jeans und einem T-Shirt mit V-Ausschnitt, ohne BH. Auf ihren Wangen prangten frische Prellungen und auf ihrem Oberteil das pinkfarbene Antlitz des Maskottchens der Georgia Bulldogs. Ich hatte ihr gesagt, ich würde dienstlich vorbeikommen, mit Streifenwagen, einen Tag früher.

Gib keine Versprechen, die du nicht halten kannst, P. T.

Die Stimme, die ich hörte, war die von Purvis. Natürlich ist er eine braunweiße Bulldogge mit schlimmem Unterbiss, und ich hatte ihn außerdem beim Big Lots im Truck zurückgelassen. Also war es vielleicht meine eigene Stimme mit seinem Gesicht dazu. Das Unterbewusstsein ist ein merkwürdiger Apparat. Oder mischt Gott persönlich darin mit?

Ich verschaffte mir rasch Zutritt, um nachzuschauen, ob Crimson lebte. Ich beugte mich über sie und kontrollierte ihren Puls. Sie war flächendeckend grün und blau geprügelt worden, atmete aber gleichmäßig und gesund.

Ich rüttelte sie wach, und sie brauchte einen Moment, bis sie mich erkannte.

»Ist dein Freund hier?«, fragte ich.

Im trüben Licht deutete sie zum Wohnzimmer. »Er schläft.«

»Hast du eine Freundin, bei der du für ein paar Stunden unterkommen kannst? Damit ich ihn so etwas zur Vernunft bringen kann?«

Crimson nickte und nahm sich ihr Sweatshirt und ihre Handtasche.

Ich bewegte mich Richtung Wohnzimmer, und meine Augen passten sich an die Dunkelheit an. Crimsons Freund war in sitzender Stellung auf der Couch ins Koma gefallen und trug ein dreckiges Muskelshirt und Jeans.

Ein ordentlicher Klotz Gras lag auf einem Holztisch neben dem Sofa, und eine seiner Hände war in Verbandsmull gewickelt. Ein Streifen getrockneten Blutes war über das Gewebe verschmiert.

Also, die Sache verhält sich folgendermaßen:

Man verbringt die ersten sechsunddreißig Jahre seines Lebens damit, sich ein Wertesystem anzueignen. Was richtig ist. Was falsch ist. Und wann man »Scheiß drauf« sagen und auf die Regeln pfeifen muss.

Aber man sammelt auch diverses Zeug an. Ein Haus. Eine Hypothek. Frau und Kind. Und irgendwo auf dem Weg spielen solche Verpflichtungen plötzlich eine wichtigere Rolle als richtig und falsch. Weil alles Konsequenzen hat. Es kann Probleme für dich und deine Familie nach sich ziehen, wenn du das absolut Richtige tust. Probleme bezüglich deiner Karriere.

Was mich betrifft, so war das genau der Weg, den ich beschritten hatte. Eine wunderschöne Ehefrau. Ein kleiner Junge. Und es hatte mich glücklich wie ein Schwein im Schlamm gemacht, diesem Pfad zu folgen.

Doch dann kreuzte jemand meinen Weg und nahm mir meine Verantwortlichkeiten weg. Nahm mir meine Familie. Und alles, was sie mir ließen, war absolute Gerechtigkeit.

Ich ließ den Strahl meiner Taschenlampe über die Brust des Freundes wandern. Er sah nach Anfang dreißig aus. Muskelbepackte einhundertachtzig Zentimeter. Rasierter Schädel und blonder Ziegenbart. Ein Tattoo auf seinem Bizeps lautete 88. Der achte Buchstabe des Alphabets, H. Zwei H für Heil Hitler.

Demnach bist du ein Neonazi, der Stripteasetänzerinnen verprügelt.

Der Mund des Mannes stand offen, und aus dem Winkel hing ein Faden Sabber. Unter seinem rechten Arm hatte er eine halbleere Flasche Jack Daniel’s eingerollt.

Ich setzte mich einen knappen halben Meter vor ihm auf einen Sessel. Schnappte mir ein in der Nähe liegendes Geschirrtuch und wickelte den weichen Stoff um meine Faust.

»Hey, Arschloch«, sagte ich.

Er riss die Augen auf und fuhr in die Höhe. Ein Seitenblick zum Schlafzimmer. Vielleicht hatte er dort eine Kanone gebunkert. Oder vielleicht fragte er sich, ob ich gesehen hatte, in welchem Zustand er Crimson dort zurückgelassen hatte.

»Wer zum Teufel sind Sie?«, murmelte er verwirrt. Er stank nach Pomade und Tabak.

»Keine Sorge«, sagte ich. »Die Polizei ist da.«

2

Ich schlug ihm mit der Faust mitten ins Gesicht. Mit Wucht.

»Geht’s noch?«, schrie er und griff sich mit der Hand an die Nase. Blut suppte zwischen seinen Fingern hindurch und tropfte auf sein Hemd.

Jetzt wurde er endgültig wach und funkelte mich wütend an. »Ihr könnt doch nicht einfach in die Häuser von Leuten einbrechen …«

Ich verpasste ihm einen weiteren Schlag. Der erste war für Crimson, der zweite, um dem ersten Nachdruck zu verleihen. Der Kopf schoss nach hinten gegen die Couch.

»Was wollen Sie?« Er schniefte. Die Zähne von einem quer verlaufenden Streifen Blut geschmückt.

Ich sah mich in der Wohnung um, nahm jedes einzelne Detail in mich auf.

Es gab eine Zeit, in der ich vom Mason Falls Register der »Polizist, dem nichts entgeht« genannt wurde. Und danach, eher jüngeren Datums, als ein Fall nicht so besonders gut lief, kam das Wort »schlampig«. Man kann nicht für ewig an der Spitze stehen, schätze ich.

»Deine volle Aufmerksamkeit«, antwortete ich.

Der Gute spielte noch immer defensiv. Sein Blick streifte den Dreizack zum Aufspießen von Fröschen, der an der gegenüberliegenden Wand lehnte. Vielleicht hatte er vor, mich damit abzustechen.

Ich nahm ein Feuerzeug vom Tisch und steckte die Ecke des Grasbriketts in Brand.

»Die Leute, denen das gehört«, sagte er, »wird es nicht kümmern, wer zum Geier Sie sind …«

»Schsch.« Ich beugte mich vor und drückte die Mündung meiner Glock auf den Stoff seiner Jeans, direkt in Höhe der Kniescheibe. »Genieße ich deine ungeteilte Aufmerksamkeit?«

»Ja«, erwiderte er, und ich pochte mit dem Lauf der Knarre gegen sein Knie.

»Wehe, du fasst sie noch ein einziges Mal an.« Ich deutete zum Schlafzimmer. »Sollte ich auch nur die winzigste frische Schramme an ihr entdecken, werde ich mir deine blutige Faust hier vornehmen und dir jeden Finger einzeln wegschießen. Einen nach dem anderen. Als Schießübung. Verstanden?«

Er nickte langsam, und ich erhob mich. Verließ den Saal.

3

Ich bekam den Anruf um acht Uhr morgens, als ich noch schlief.

»Wir kriegen was zu tun«, sagte Remy Morgan.

Remy ist meine Partnerin, und ich sage ihr oft, dass sie nach Milch riecht. Das ist mein Standardwitz, wenn es um ihr jugendliches Alter geht. Fünfundzwanzig Jahre jung, um genau zu sein. Außerdem ist sie Afroamerikanerin, weshalb sie mich hin und wieder warnt: »Sag bloß nicht Schokomilch, P. T., oder ich trete dir in den Arsch.«

Ich zog mir die Decke vom Kopf. »Worum geht’s?«, sagte ich mit heiserer Stimme in mein Handy. Ich trug nach wie vor meine Jeans, aber kein T-Shirt oder Flanellhemd.

»Wir haben einen toten Kunden«, sagte Remy.

Ich schaute mich nach meinem Hemd um, konnte es jedoch nirgends entdecken. Schüttelte mir Purvis von den Beinen. Das wäre dann Remys dritter Mordfall, und ich konnte diese spezielle, für Polizeifrischlinge typische Aufregung in ihrer Stimme hören. »Toter guter Kunde oder toter böser Kunde?«

»Toter böser Kunde«, sagte sie. »Und wahrscheinlich von anderen bösen Kerlen totgeschlagen worden. Ich komme dich abholen.«

Fünf Minuten später war ich aus der Dusche raus, zog mir ein graues Beinkleid über und stopfte ein weißes Button-down-Hemd in den Bund.

Ich machte den Kühlschrank auf und suchte nach etwas Essbarem. Ich war dabei, eine neue Ernährungsweise zu entwickeln, zu der maßgeblich abgelaufene Lebensmittel, Schimmel und eine Menge Instant-Müsli gehörten. Ich sah schon einen Bestseller vor mir. Oder vielleicht war es auch nur eine Magenschleimhautentzündung.

Draußen hupte ein Wagen, und ich spähte durch die blauen Vorhänge, die meine Frau Lena vor dem letztjährigen Thanksgiving aufgehängt hatte. Das war vier Wochen vor dem Unfall gewesen.

Am Straßenrand stand Remys 77er Alfa Romeo Spider. Ich eilte nach draußen und quetschte mich auf den Beifahrersitz.

»Tatort?«, fragte ich.

»In den nummerierten Straßen«, gab sie zurück.

Während unserer Fahrt schiffte es, und die Bäume auf dem Mittelstreifen entlang der Baker Street ließen unter dem Gewicht des Wassers matt die Köpfe hängen. Remy erzählte mir von einem Extrem-Schlammlauf am Wochenende, bei dem sie den zweiten Platz belegt hatte.

»Kriegst du als Cop unter der Woche nicht genug Aufregung?«, wollte ich wissen. »Musst du wirklich unbedingt jemanden dafür bezahlen, dich schmutzig zu machen und künstliche Explosionen zu zünden?«

Remy runzelte die Stirn. Sie besaß die perfekt geformten Wangenknochen eines Models. »Sei kein alter Mann, P. T.«

Ich wusste, wie sehr Remy darauf abfuhr, Wettkämpfe zu bestreiten. »Und wer hat das Ding gewonnen, wenn du als Zweite durchs Ziel gerannt bist?«

»Irgendein Feuerwehrmann aus Marietta.«

Remy zuckte mit den Schultern, bevor sie sich zu einem Lächeln herabließ. »Eigentlich hat er zwei Siege eingefahren. Ich habe ihm meine Nummer gegeben.«

Darüber musste ich grinsen, bevor ich meine Scheibe runterkurbelte. Das Regenwetter hatte am Sonntag angefangen, und die Luftfeuchtigkeit zwischen den Gewitterstürmen hatte das Blau des Himmels über Georgia ausgebleicht und alles in ein stumpfes Feldgrau verwandelt.

Als wir uns der 30. Straße näherten, sah ich das Big Lots, vor dem ich gestern Nacht geparkt hatte, und in meiner Kehle bildete sich ein Kloß. Teilweise, weil ich nicht an Zufälle glaube. Aber größtenteils, weil es keine Zufälle gibt.

Vor Crimsons Haus an der 31. hielten wir an, und die feuchte Luft, die durchs Fenster hereinwehte, ließ mich schwer schlucken. Bei Tageslicht sah die Bude sogar noch übler aus. Von der Fassade war mehr Farbe abgeblättert, als noch drauf war.

Remy stieg aus dem Wagen. Sie trug eine Nadelstreifenbluse zur schwarzen Hose. Mit dieser Bücherwurm-Brille und den steifen Anzügen versucht sie ihrem guten Aussehen einen stilistischen Dämpfer zu verpassen. Aber wir zwei sind, ganz unter uns gesagt, das bestaussehende Polizeipärchen der Stadt. Natürlich gibt es in der Mordkommission nur noch ein weiteres Duo, aber immerhin.

Remy reichte mir blaue Latexhandschuhe, und wir marschierten die Einfahrt hoch. Ich ging am Buchstaben B und dem Pfeil vorbei.

»Männliches oder weibliches Opfer?«, fragte ich.

»Männlich«, sagte Remy. »Neunundzwanzig Jahre alt.«

Als du dich vom Acker gemacht hast, war er am Leben, P. T.

Ruhig, Purvis, ich muss mich konzentrieren.

»Haben wir irgendwelche Zeugen, die den Mord beobachtet haben?«, fragte ich.

»Bislang nicht«, sagte Remy. »Doch der Tag ist jung. Wir haben noch niemanden befragt.«

Ich sah mich um. Die Seitenfenster des Hauses nebenan waren mit Sperrholz vernagelt. Die vom Regen durchtränkten, fetten dunklen Astlöcher sorgten dafür, dass das Holz sich verbog.

Ich nickte Darren Gattling zu, der an der Eingangstür stand. Darren gehört zu den Blauen, vor fünf Jahren hatte ich ihn als Mentor unter meinen Fittichen.

»Ist die Forensik schon da?«, fragte ich und hielt nach der Gerichtsmedizinerin Ausschau.

»Drinnen«, sagte Gattling.

Ich trat durch die Vordertür und erblickte den Raum aus einem anderen Winkel als in der Nacht zuvor.

Der Körper von Crimsons totem Freund saß aufrecht da, genauso wie bei meinem Abgang. Beide Augen waren von schwarzblauen Ringen umgeben. Getrocknetes Blut verstopfte seine Nasenlöcher.

Ich scannte das Zimmer und bemerkte Einzelheiten, die mir im Dunkeln entgangen waren. Große Tüten in den Ecken, die vor Müll überquollen. Ein Punchingball, der neben dem Fenster hing.

Sarah Raines, die Bezirksgerichtsmedizinerin, gekleidet in einen blauen Einweg-Overall, beugte sich über die Leiche.

»Detective Marsh«, sagte sie, ohne aufzuschauen.

Sarah war blond und Mitte dreißig. Sie war mir vor zwei Wochen zufällig im Flur in die Arme gelaufen und hatte mich zum Essen eingeladen. Da ich höflich abgelehnt hatte, war sie mir in meinem Teil des Gebäudes seither nicht mehr unter die Augen gekommen.

»Doc«, sagte ich.

Remy stellte sich neben mich. Sie hatte ihr digitales Notizbuch, ein iPad mini, hervorgeholt und blätterte mit einem behandschuhten Finger die Aufzeichnungen durch.

»Er heißt Virgil Rowe.« Remy deutete auf den Leichnam. »Er hat wegen schwerer Körperverletzung sieben Jahre in Telfair abgesessen. War seit elf Monaten draußen und arbeitslos.«

Ich streckte eine behandschuhte Hand aus und schnappte mir den Ziegel aus Gras. Er wog ungefähr ein halbes Kilo. »Sieht aus, als sei er freiberuflich unterwegs gewesen«, sagte ich. »Wie hoch würdest du den Straßenverkaufswert schätzen, Rem? Zwei Riesen?«

Remy griff sich das Ding. »Eher so was wie drei-fünf.« Sie zog eine Augenbraue in die Höhe. »Aber wer auch immer ihn umgebracht hat – sie haben’s nicht mitgenommen.«

Ich wandte mich an Sarah. »Können Sie schon den ungefähren Todeszeitpunkt bestimmen?«

Das blonde Haar der Gerichtsmedizinerin war mit einem violetten Haargummi zurückgebunden, doch ein paar Strähnen hingen ihr ins Gesicht. »Der Tod ist vor vier bis sechs Stunden eingetreten, würde ich sagen.«

»Zwischen zwei und vier Uhr morgens also.« Remy tippte auf ihrem iPad herum.

Ich überlegte einen Moment lang, um wie viel Uhr ich letzte Nacht von hier verschwunden war. Musste gegen halb drei gewesen sein.

»Wer hat die Sache gemeldet?«, fragte ich.

»Corinne Stables«, antwortete Remy und präsentierte ein Foto. »Sie ist Virgils Freundin.«

Ich starrte auf das iPad. Corinne war Crimsons richtiger Name. Was Crimson zu ihrem Künstlernamen machte.

»Ist sie hier?«, fragte ich.

»Ziemlich schlimm zugerichtet«, sagte Remy. »Anscheinend hat Virgil sie misshandelt. Dann hat jemand ihn misshandelt.«

Mein Abbild krümmte sich über den goldenen Venen eines verwitterten Spiegels an der gegenüberliegenden Wand. War Corinne zurückgekommen, nachdem ich abgehauen war, und hatte sie ihrem Freund den Rest gegeben? Oder war ich länger geblieben, als ich in Erinnerung hatte?

Streifenpolizist Gattling stand im Türrahmen. »Sie ist draußen im Wagen, aber sie hat bereits nach einem Anwalt gefragt, P. T.«

Großer Gott! Corinne war direkt da draußen?

»Und Rowe?« Ich warf der Gerichtsmedizinerin einen Blick zu. »Was wissen wir über seine Verletzungen?«

»Er hat eine gebrochene Nase. Einige angeknackste Rippen.« Sarah ging um die Couch herum auf die Rückseite. »Und dann ist da noch das hier.« Sie wies auf seinen Nacken. »Seine Halswirbel C5 und C6 sind gebrochen. Wenn ich ihn auf dem Tisch habe, werde ich mehr wissen, aber meiner Vermutung nach hat ihn jemand erwürgt.«

»Also zwei Täter?«, sagte ich. »Einer schlägt ihn von vorne zusammen, der andere hält ihn von hinten?«

Sarah zuckte die Achseln. »Könnte ohne Weiteres auch ein einzelner Typ gewesen sein. Hat ihm die Nase und ein paar Rippen gebrochen. Und sobald Rowe bewusstlos war, ging er um die Couch herum hierher und vollendete sein Werk.«

Die Spitze eines gelben Feuerzeugs lugte unter dem Sofatisch hervor. Es war dasselbe, mit dem ich vor fünf Stunden das Brikett entflammt hatte.

Auf diesem Feuerzeug sind deine Fingerabdrücke.

»Hat die Streife das Schlafzimmer durchsucht?«, fragte ich.

»Sie haben es flüchtig überprüft«, gab Remy zurück. Als sie sich Richtung Schlafzimmer umwandte, schob ich das Feuerzeug mit der Spitze meines Slippers unter den Tisch zurück.

Ich betrat mit Remy zusammen das Schlafzimmer, und mir fiel auf, dass Corinne ein bisschen aufgeräumt hatte.

»Miss Stables hat die ganze Nacht im Haus einer Freundin verbracht«, las Remy aus den Protokollen der Streife vor. »Kam gegen sieben nach Hause und fand ihren Freund in diesem Zustand vor. Wählte um drei Minuten nach sieben Uhr morgens die 911.«

Vom Schlafzimmer aus sah ich Alvin Gerbin, unseren Kriminaltechniker, durch die Haustür kommen. Gerbin ist ein großer Kerl, rotgesichtig, aus Texas. Für gewöhnlich kann man seine Stimme schon eine volle Minute lang hören, bevor er irgendwo auf der Bildfläche erscheint.

Gerbin ließ sich in den Sessel plumpsen, in dem ich fünf Stunden zuvor gesessen hatte. Er trug eine Khakihose und ein billiges Hawaiihemd. »Wenn Sie fertig sind«, meinte er zur Gerichtsmedizinerin, »schwinge ich meinen digitalen Pinsel, bis ich jeden verdammten Fingerabdruck in diesem Drecksloch habe. Und genau hier in der Mitte fange ich an.«

Ich trat durch den Nebeneingang auf die Einfahrt.

»Was ist los?«, fragte Remy.

Ich warf einen flüchtigen Blick zum Haus zurück. Die Flasche Jack von letzter Nacht war weg. Jemand war gekommen, nachdem ich mich verabschiedet hatte. Hatte Virgil umgebracht. Dann den Whiskey mitgenommen, aber nicht das Gras.

»Eine Menge ist los«, sagte ich. Ich ging ein paar Schritte Richtung Straße die Einfahrt hinab. Stand dort eine volle Minute lang. Corinne kauerte im Heck eines Streifenwagens. Ihr Körper wirkte in dem Schlitten sehr klein.

»Boss«, rief Remy, und ich drehte mich um.

Meine Partnerin hatte den anderen Weg genommen, der die Einfahrt hinaufführte, das Garagentor aufgeschwungen und war in Hockstellung dabei, sich neue Handschuhe überzustreifen.

Ich musste Remy dringend von der Stripperin erzählen. Bevor ich zu tief drinsteckte.

»Wir müssen reden«, sagte ich und ging rüber zu ihr.

Doch als ich näher kam, stieg mir der beißende Gestank von Benzin in die Nüstern. Genau hinter der Schwelle standen aufgereiht neun Zwanzig-Liter-Kanister mit Sprit.

»Fünf davon sind voll«, erklärte Remy. »In den anderen ist kein Tropfen mehr.« Sie sah sich um. »Kein Rasenmäher. Kein Benzingenerator. Hier gibt’s nichts, was mit Benzin läuft.«

Hinter den Spritkannen befanden sich drei Flaschen Terpentin. Ein paar weitere mit Kerosin. Und sechs Dosen Butangas, genauso groß wie Sprühfarbdosen.

Remy nahm eine der Butandosen an sich und schüttelte sie, woraufhin ich erkennen konnte, dass sie leer war. »Hast du dieses Wochenende die Nachrichten verfolgt?«

»Mein Fernseher ist im Eimer«, sagte ich. Was rein technisch der Wahrheit entsprach. Als Reaktion auf eine Polizeiarbeit nachspielende Reality-TV-Show, die mich an den Tod meiner Frau erinnerte, hatte ich meinen Fuß hineingewuchtet.

Ich deutete die Auffahrt runter. »Ich kenne sie.«

»Gestern gab es einen Fall von Brandstiftung an der State 903«, fuhr Remy fort. »Ein mit Gas gelegtes Feuer plus Butan als Brandbeschleuniger. Zweieinhalb Hektar Land sind verkohlt.«

Ich hatte von diesem Feuer gelesen. Der Mason Falls Register hatte auf dem Lokus im Landing Patch ausgelegen, und ich hatte die Zeitung nach den Topmeldungen durchgeblättert. Brand auf einer Farm in der Nähe. Vermisstes Kind. Gestohlene Walmart-Lieferung von Elektrogeräten.

Doch Remy klebte noch immer an dem, was ich gesagt hatte.

»Wer sie?«, fragte Remy. »Du kennst die Stripperin?«

Ich versuchte, Zeit zu schinden. Nachzudenken.

Ich erinnerte mich daran, Virgil Rowe zweimal geschlagen zu haben. Aber danach an nichts mehr, bis Remy vor einer Stunde anrief. Als ich aufwachte, waren mein T-Shirt und mein Flanellhemd verschwunden. Ebenso die Flasche mit Jack Daniel’s von Virgil Rowe.

Nach wem klingt das wohl?, erklang Purvis’ Stimme in meinem Kopf.

Mir war klar, was meine Bulldogge damit andeutete. Einen Typen, der Fusel mochte, aber kein Marihuana anrühren würde. Und dass ich möglicherweise länger geblieben war, als meine Erinnerung mir weismachte. Außerdem Virgil zu Tode würgte, während ich seinen Tennessee-Whiskey pichelte.

»P. T.«, sagte Remy, »ist dir Corinne Stables bekannt?«

»Nein, aber die Gerichtsmedizinerin«, sagte ich und deutete zum Haus. »Sarah wollte sich vor zwei Wochen mit mir verabreden. Ich wollte Peinlichkeiten vermeiden … falls du es nicht wusstest.«

Remy neigte den Kopf. Die Andeutung eines Lächelns. »Du gehst mit der Gerichtsmedizinerin aus?«

Ich fühlte mich leicht benommen und brauchte was zu essen. »Ich war noch nicht bereit«, sagte ich.

Meine Partnerin nickte mit gerunzelter Stirn. Offenkundig irritiert, warum zum Teufel ich das Thema überhaupt angeschnitten hatte.

»Dieser tote Kerl könnte unser Brandstifter sein, P. T.«

Remy klopfte gegen einen der leeren Kanister. »Vielleicht sind noch andere darin verwickelt … und einer von denen wollte ihn nach dem Feuer zum Schweigen bringen? Sie sind hierhergekommen. Haben kein Feuer, sondern ihn erstickt.«

In meinem Schädel herrschte Chaos. »Keine Ahnung«, sagte ich.

»Ich denke nur laut.« Remy erhob sich, und ihre Stimme klang urplötzlich unsicher. »Du hast mir beigebracht, immer eine Theorie zum Ablauf des Verbrechens parat zu haben. Und offen dafür zu sein, sie zu korrigieren.«

»Nein, das sind gute Überlegungen«, erwiderte ich. Ich entdeckte einen Mülleimer neben der Garage und spazierte rüber zu ihm. Dabei dachte ich an die Flasche Jack und mein verloren gegangenes T-Shirt.

Reiß dich zusammen, P. T. Dein Shirt ist nicht in diesem Müll. Du hast diesen Wichser nicht umgebracht.

Ich klappte den Mülleimerdeckel hoch, und Purvis lag richtig. Weder ein T-Shirt noch ein Flanellhemd befand sich darin. Und auch keine Whiskeypulle.

»Was denkst du?«, fragte Remy.

»Ich versuche all diese Details miteinander zu verknüpfen«, sagte ich. »Du hast seine Tätowierung gesehen, oder?«

Ich zog mir die Handschuhe aus, schmiss sie in die Abfalltonne und begab mich wieder auf den Weg ins Haus.

»Neonazi«, sagte sie. »Ja, klar.«

»Und der Gras-Ziegel«, sagte ich. »Seine Mörder, wer immer sie sein mögen – sie haben das Ding nicht mitgenommen?«

Ich stapfte mit Remy an den Hacken ins Wohnzimmer. »Tja«, sagte sie. »Bin noch nicht ganz schlau daraus geworden, welchen Sinn das machen soll.«

Ich ließ mich auf dem Stuhl neben Kriminaltechniker Gerbin nieder.

»Alles klar bei dir?«, meinte er. »Du siehst schlecht aus.«

»Mir geht’s auch nicht besonders gut«, gab ich zurück. Ich stützte die Ellbogen auf meine Knie, ließ den Kopf hängen und zählte bis drei. Dann langte ich nach unten und griff mir das Feuerzeug. Legte es auf den Tisch. Mit den Händen hielt ich mich an der Couchtischkante fest, direkt neben Gerbin, und wartete.

»Boss«, sagte Remy, »deine Handschuhe!«

Gerbin glotzte mich an.

»Scheiße«, sagte ich. »Ich hab sie draußen ausgezogen. Mir war ein bisschen schwindelig, und ich musste mich hinsetzen.«

Gerbin erstellte eine vollständige Liste. »Du hast den Lichtschalter berührt, die Tischplatte, die Stuhllehnen. Wahrscheinlich den Knauf der Nebentür.«

Ich dachte an sämtliche Flächen und Bereiche, mit denen ich letzte Nacht in Kontakt gekommen war.

»Tut mir leid«, erklärte ich Gerbin.

»Alvin kann Ihre Fingerabdrücke ausschließen, Detective.« Das kam von Sarah, der Gerichtsmedizinerin.

Remy überreichte mir frische Handschuhe, und ich zog sie über.

»Lassen Sie sich ein bisschen kühlen Wind ins Gesicht wehen, Detective«, sagte Sarah. »Setzen Sie sich in einen Streifenwagen. Drehen Sie die Klimaanlage voll auf.«

Ich betrachtete das Gras-Brikett. Dachte an Corinne.

»Ich bin vor der Tür«, sagte ich.

Ich ging zur Tür raus und die Einfahrt runter, dorthin, wo die Streife stand. Remy war verwirrt. War sich unschlüssig, ob sie mir nun folgen sollte oder nicht.

»Wühl jede einzelne Schublade durch, Rem«, bat ich meine Partnerin. »Finde für uns irgendwas über dieses Mädchen heraus.«

Remy nickte, und ich wandte mich dem Beamten beim Streifenwagen zu. »Verdünnisier dich mal, Kumpel.« Ich nahm auf dem Beifahrersitz Platz.

Corinne Stables saß auf der Rückbank, die Hände in Handschellen vor sich. So lautete in Situationen häuslicher Gewalt das Protokoll.

Bei Tageslicht waren ihre Blutergüsse schlimmer als nachts. Unter dem dezenten Make-up konnte ich einen violetten Fleck über ihrem rechten Auge erkennen. Sie roch nach einer Mischung aus Chanel No 5 und Vaseline.

»Ich hoffe, Sie erwarten nicht von mir, dass ich mich bei Ihnen bedanke.« Corinne bedachte mich mit einem wütenden Blick.

Mit derlei konnte man auf verschiedene Art umgehen, aber keine davon war gut.

»Ich habe deinem Mann das nicht angetan«, sagte ich. »Wir haben uns bloß unterhalten.«

»Tja, ich war’s auch nicht«, sagte Corinne. »Wenn Sie mir hier hinten also keine Gesellschaft leisten wollen, befreien Sie mich besser von diesen Handschellen.«

Ich wechselte meine Blickrichtung nach stur geradeaus. Kommunizierte durch den Rückspiegel mit Corinne.

»Wie lange wohnen Sie schon hier, Corinne?«, fragte ich.

»Zwei Jahre.«

»Steht Ihr oder sein Name im Mietvertrag?«

»Unsere beiden«, antwortete Corinne, offenbar unsicher, worauf ich damit hinauswollte.

Ich hielt einen Augenblick lang inne. Biss mir auf die Unterlippe.

Was für ein nutzloser Hohlkopf, dachte ich. Und damit meinte ich nicht sie, sondern mich. Ich hätte einen Termin beim Narrendoktor machen sollen, als ich mir einbildete, ich könne diesem Mädchen helfen. Sie hatte mir eine traurige Geschichte aufgetischt, während ich vor einem Striplokal eine rauchte. Unterdessen liebte sie ihr Rassistenarschloch von Proleten-Freund und unterzeichnete einen Mietvertrag mit ihm?

»Ist Ihnen bekannt, welche juristischen Folgen der Besitz einer verkaufsträchtigen Menge Marihuana im Staate Georgia nach sich zieht? Wenn ein Brocken dieser Größe in Ihrem Haus gefunden wird?«

»Das Zeug gehört mir nicht«, sagte Corinne.

»Das spielt keine Rolle«, sagte ich. »Eine solche Masse Gras dient nicht dem Eigengebrauch, sondern soll möglichst effizient verkauft werden. Das wird als schwere Straftat geahndet. Minimum ein Jahr. Maximal zehn Jahre. Fünftausend Dollar Bußgeld.«

»Scheiße«, sagte sie.

»In der Tat. Scheiße.« Ich wies zum Haus. »Wem gehört die Bude?«

»Einem Typen zwei Blocks weiter«, sagte sie. »Randall Moon. Rotes Eckhaus.«

»Ich werde mich mit ihm unterhalten«, sagte ich. »Ihn um die Vorlage des Mietvertrags für dieses Gebäude bitten.«

Corinne nahm das zur Kenntnis.

»Ist er ein schlauer Kerl, Corinne? Kennt er sich aus?«

»Ja.«

»Weil ich ihm nämlich sagen werde, dass man seinen Grundbesitz als Drogenumschlagplatz betrachten wird, falls er mir einen Mietvertrag mit Ihrem Namen darauf präsentiert. Während des Prozesses wird sein Haus ein ganzes Jahr lang verriegelt. Was bedeutet, dass seine Mieteinnahmen ausbleiben.«

»Und was ist, wenn nur Virgils Name auf dem Vertrag steht?«, fragte Corinne.

»Na ja, Virgil ist hier nicht anwesend, um das in Abrede zu stellen, was heißt, dass Sie ein Übernachtungsgast waren. Außerdem wären Sie dann nicht länger eine Drogenhändlerin unterwegs ins Gefängnis. Sie wissen, was man im Swainsboro-Frauenknast mit hübschen jungen Dingern wie Ihnen anstellt?«

»Was wollen Sie?«, fragte Corinne.

»Sie haben mich nie getroffen.«

»Ist mir ein Vergnügen«, sagte sie.

»Und verlassen Sie die Stadt«, sagte ich. »Wenn Sie von irgendwoher stammen, kehren Sie dorthin zurück. Wenn Sie von hier sind, ist es an der Zeit zu gehen.«

Ihre braunen Augen waren die ganze Zeit an meine geheftet. Nach wie vor unschlüssig. Habe ich es getan? Habe ich ihn ermordet?

»Möchten Sie eine Frage stellen?«, wollte ich wissen.

Sie zögerte. »Ihnen? Warum sollte ich Sie irgendwas fragen wollen? Sie sind bloß irgendein unbedeutender Bulle. Ich kenne Sie nicht.«

»Gut«, sagte ich und stieg aus dem Wagen.

4

Remy steuerte ihren Sportwagen in einer als Harmony bekannten Gegend, ungefähr zwanzig Meilen vom Stadtzentrum von Mason Falls entfernt, an den Seitenstreifen der State Route 903.

Eine Stunde war vergangen, und wir hatten sämtliche Beweisstücke eingetütet und das Haus verlassen, in dem Virgil Rowe getötet worden war.

Vor einem Tag noch war dies ein hinreißendes Stück Land gewesen. Mit direkt am Straßenrand wachsendem indianischen Hanf und lauter frischem Grün. Und Geißblatt. Du hast noch nicht gelebt, wenn du deine Kindheit nicht im Süden verbracht hast und dir Geißblattnektar in den Mund tröpfeln ließest.

Wir starrten durch Remys offenes Fenster. Die zwei- bis dreieinhalb Hektar zwischen dem Highway und der nahe gelegenen Farm hatten sich durch das Feuer vom Wochenende in eine Höllenlandschaft aus Schwärze verwandelt.

Remy hatte darauf bestanden, hier raus zu fahren, während wir darauf warteten, dass die Gerichtsmedizinerin unseren toten Neonazi abfertigte. Sie hatte irgendwie das Gefühl, Virgil Rowes Tod und die Benzinkanister stünden eventuell mit diesem Brand in Verbindung. Ich wollte sie unterstützen, war aber gleichzeitig ihr Mentor. Ich wurde dafür bezahlt, an den von ihr getroffenen Entscheidungen herumzunörgeln.

»Du bist hier draußen aufgewachsen, stimmt’s?«, fragte ich.

»Zwei Meilen in dieser Richtung.« Remy machte eine entsprechende Geste.

Die verbrannte Fläche des Feldes wies ein seltsames Muster auf. Teile des Ackers waren bis auf die Erde abgefackelt. In anderen Bereichen stand das Unkraut nach wie vor bis zu einem Meter hoch, die Halme an der Spitze nur leicht schwarz bestäubt.

»Dann sag mal, was du denkst«, sagte ich.

Remy kaute auf ihrer Lippe herum. Wir saßen noch immer im Auto. »Tja, Rowe ist offensichtlich ein Rechtsextremer, und die meisten Leute in Harmony sind schwarz«, sagte sie. »Die Besitzer dieser Farm sind weiß und beschäftigen Ortsansässige. Vielleicht hat Rowe beschlossen, das nicht gut zu finden.«

Ein Streifen gelbes Absperrband zog sich von einem Pinienzaun westwärts, ungefähr hundert Meter den Highway runter. Hier und da flatterte das Band schlaff im Wind.

»Okay«, sagte ich. Das war ein Anfang.

Remy stieg aus ihrem Alfa und ging ein paar Meter näher an das Feld heran. »Was, wenn wir dieselbe Marke Butangas hier draußen finden würden?«, fragte sie.

»Würde nicht schaden«, sagte ich und kletterte meinerseits aus dem Wagen. »Aber eine Schwalbe macht noch keinen Sommer.«

Remy streckte den Zeigefinger vor. »Weil da drüben irgendwas Metallisches leuchtet.«

Ich zögerte und erläuterte Remy, der Tatort gehöre den beiden anderen Detectives der Stadt. Kaplan und Berry. Ich hätte auch nicht gewollt, dass sie auf unserer Bühne herumlatschen.

»Der Weg dauert zweiunddreißig Sekunden, P. T.«, gab Remy zurück und übergab mir ein Paar Handschuhe.

Ich nickte, und Remy schlüpfte unter dem Absperrband hindurch. Ich sog die Luft ein. »Riecht komisch.«

»Komisch inwiefern?«, sagte sie, während sie vorausging.

»Nach Schweißfuß.«

»Fünf Stunden Regen gestern, darf ich dir Kuhscheiße vorstellen?«, sagte sie. »Kuhscheiße, das hier sind fünf Stunden Regen.«

Ich wandte mich nach rechts, folgte dem Gestank.

Der Boden wurde weniger verbrannte Erde und mehr Unkraut. Dicht gewachsene Kudzubohnen reichten mir bis zu den Knien.

»Hier liegt nur eine alte Limodose«, rief Remy.

Wir hatten uns gute zwanzig Meter auseinanderbewegt, und in der Nähe einer hohen Weihrauchkiefer verlangsamte ich meinen Gang.

Drei Schritte weiter sah ich, was ich gerochen hatte.

Knappe zwei Meter vom Fuß des Baumes entfernt lag, halb in einem Haufen verkohlter Äste begraben, eine Leiche.

Ich konnte erkennen, dass es ein Kind war, allerdings war der Körper dank des Feuers schwarz vor Ruß. Als ich näher heranging, sah ich die dunkel schillernde Farbe, zu der Brust und Hände verbrannt waren. Der Kopf war schwer verunstaltet.

Mein Blick wanderte über den Leib des Opfers und verharrte an einer Stelle unverbrannter Haut entlang des von Zweigen bedeckten rechten Beines.

Ein schwarzer Junge.

Ich blinzelte und trat näher heran.

In der Ferne lärmte ein Mähdrescher, doch abgesehen davon, war es totenstill.

»Verdammt«, sagte ich.

»Was ist los?«, schrie Remy.

Mein Augenmerk richtete sich auf ein dickes Stück Nylonstrick, das, dunkelbraun versengt, um den Hals des Jungen geschlungen war.

Ein schwarzer Junge.

Gelyncht.

Ich fuhr mir mit der Hand durchs Haar. Schluckte.

Ich schaute den Stamm der Weihrauchkiefer bis zu einem hoch gelegenen Ast hinauf, der eindeutig abgebrochen war. Die herabfallenden Blätter und Zweige hatten offenbar dafür gesorgt, dass der Junge zuvor unentdeckt geblieben war.

»Mein Gott«, sagte Remy. Sie stand jetzt neben mir und hatte die Hand vor den Mund geschlagen. »Meine Granny hat mir von solchen Sachen erzählt, aber …«

Ich betrachtete das Gesicht des Jungen. Das Feuer hatte seine linke Wange nur geschwärzt, auf der rechten Seite war das Fleisch um seinen Mund jedoch weggebrannt und der metallene Draht einer Zahnspange freigelegt worden.

»Muss dreizehn oder vierzehn sein«, sagte ich.

Hinter mir begann Remy zu würgen.

Ich dachte an meinen eigenen Sohn. Meinen geliebten Jonas. Er hatte nie jemandem etwas zuleide getan und war mir weggenommen worden.

Durch die verkohlten Zweige, die die Beine des Opfers bedeckten, sah ich die vom Feuer unversehrten Shorts des Jungen. Ich starrte auf einen Flecken unverbrannter Haut unterhalb seines rechten Knies. »Sein Schienbein und sein Knie.« Ich zeigte darauf. »Sie sind unverletzt.«

Remy spuckte irgendetwas aus. »Das ist schräg, oder?«

Eigentlich eher unmöglich, sagte Purvis.

Ich ließ meinen Blick in die Runde schweifen. Oben auf dem Hügel säumten Reihen von Pekannussbäumen den Horizont, der Boden, auf dem wir standen, war allerdings nicht bepflanzt. Warum war kein weiteres Land verbrannt? Hatte die Feuerwehr so schnell gelöscht?

»Was ist los?«, fragte Remy.

»Als ich ein Frischling war, hat ein Bulle hier in der Gegend einen alten Mann erschossen«, erklärte ich. »Die Stadt vertuschte die Sache. Wurde verklagt.«

»Daran erinnere ich mich«, sagte Remy. »Ich war auf der Highschool.«

Elektrozäune summten in der Ferne und flüsterten irgendeine fremde Sprache in den Wind. Der Regen hatte aufgehört, und ich senkte den Blick. Meine Hände zitterten.

Was, wenn Virgil Rowe für das hier verantwortlich war?

Ein unschuldiges Kind getötet hatte?

Was, wenn Rowe der einzige Mensch war, der ein Motiv dafür gehabt hatte, diesen Jungen inmitten des Feuers zu hängen?

Und was, wenn ich Rowe zu Tode gewürgt hatte?

5

Als der Junge aufwachte, steckte ein Lappen in seinem Mund. Er spuckte ihn aus, und sein Blick huschte nach links und rechts.

Er lag auf dem Bauch in der Finsternis, und der Boden um ihn herum war mit Schlammwasser bedeckt.

Er konnte das Minzearoma von Kautabak riechen.

»Wer ist da?«, schrie der Junge.

Dann flutete der Schmerz über ihn hinweg. Sein rechter Arm stand in Flammen.

Dann spürte er Druck auch am linken Arm, als würden beide Arme von einem Seil in seinem Rücken nach hinten gezogen.

An seinen Händen wurde noch heftiger gezerrt, und er fühlte, wie seine Wirbelsäule sich bog und der Schmerz anschwoll.

Das Echo eines Knackens hallte von den Wänden um ihn herum wider, und die zerrissenen Muskeln in seinen Ellbogen ließen seine Arme unnatürlich schlottern, als wären sie aus Gelee.

Blendend heißes Weiß blitzte hinter seinen Augen auf, und der Junge heulte vor Qual.

Er schrie, konnte jedoch seine eigenen Worte nicht verstehen.

Und irgendwo im Dunkel lachte leise ein Mann.

6

Mir kam ein Gedanke, als ich auf dem Feld stand.

Gestern war ein Junge als vermisst gemeldet worden, und die Meldung war über die Medien rausgegeben worden. Ich hatte es in der Zeitung im Landing Patch gelesen, aber auch in einem Polizeibericht, den ich auf dem Handy überflogen hatte, als Remy am Morgen angefahren kam.

»Kendrick Webster«, sagte Remy und starrte auf ihr Smartphone.

Ich betrachtete das Vermisstenfoto. Kendrick war hübsch, mit karamellfarbener Haut und kurzem Afro.

»Glaubst du, er ist es?«, fragte Remy.

Ich zuckte mit den Schultern. Der Zustand des Leichnams machte es unmöglich, das mit Bestimmtheit zu sagen.

Mein erster Anruf galt Polizeichef Miles Dooger, meinem Boss. Ich berichtete ihm, wie wir über die Leiche gestolpert waren.

»Wie alt ist er?«

»Wenn’s der vermisste Junge ist«, sagte ich, »fünfzehn.«

»Herr-gott«, sagte Miles, dessen Stimme und Tonfall mir nach jahrelanger Zusammenarbeit zutiefst vertraut waren. Der Chief hatte mich am Anfang meiner Karriere im Dezernat als Mentor betreut, und wir standen einander sehr nahe. »Die Medien werden uns zum Frühstück, Lunch, Abendbrot und Nachtisch fressen, P. T.«

Miles bat mich, die Ermittlungen bezüglich der Brandstiftung zu übernehmen, welche inzwischen auf Tötung durch Verbrennen hinauslief. Er wollte die Nachricht den Detectives Kaplan und Berry überbringen, damit diese rausfahren und uns mit sämtlichen Hintergrundinformationen, Fakten und Vermutungen versorgen konnten, die sie bislang zu dem Brand gesammelt hatten.

Remy und ich gingen die Kieseinfahrt zum Haupthaus der Harmony-Farm hinauf und stellten uns Tripp Unger vor, dem der ganze Laden gehörte.

Unger war ein Weißer in seinen Sechzigern, dessen rotbraunes Haar der Farbe von ausgetrocknetem Pampasgras glich. Er hatte die Statur eines Langstreckenläufers und trug verschlissene Jeans sowie ein grünes T-Shirt mit John-Deere-Logo.

Wir erklärten ihm, was wir gefunden hatten, verschwiegen allerdings dabei den Strick um den Hals des Jungen. Der Farmer senkte den Kopf.

»Ich verstehe das nicht«, sagte er. »Gestern waren den ganzen Tag Polizisten und Feuerwehrleute da draußen und haben alles gründlich umgegraben. Sie haben diesen Jungen tatsächlich übersehen?«

»Wir gehen noch immer die Einzelheiten durch«, sagte ich und zog Kendricks Vermisstenfoto hervor. »Kommt Ihnen dieser Junge bekannt vor?«

Unger schüttelte den Kopf. »Ist er das?«

»Das wissen wir noch nicht«, antwortete Remy.

Ich warf einen kurzen Blick über die Schulter, um zu prüfen, welche Aussicht man vom Farmhaus auf die Stelle hatte, an der die Leiche des Opfers lag. Ungers Heimstatt lag auf einer Anhöhe und überragte damit den Großteil des umliegenden Landes. Ich konnte Remys Sportwagen unten an der Straße erkennen – von hier oben ein Spielzeugauto.

»Waren Sie derjenige, der den Brand gemeldet hat?«, fragte ich.

»Nein«, sagte Unger. »Meine Frau und ich haben den Morgengottesdienst in Sediment Rock besucht. Irgendwer anders hat die 911 gewählt.«

Sediment Rock lag dreißig Minuten östlich am Rande eines Naturschutzgebietes. Dort hatten die Berge atemberaubende Quarzmonzonit-Gipfel, auf denen die Kirchengemeinden ihre Gottesdienste feierten.

»Entspricht das Ihrer sonntäglichen Routine?«, fragte Remy. »Sind Sie jede Woche um die gleiche Zeit unterwegs?«

Als der Farmer nickte, ließ ich meinen Blick den Hügel hinunterwandern. Wir mussten unbedingt am Tatort sein, wenn die Streifenpolizisten eintrafen, um den Bereich abzuriegeln. Bevor alles aus dem Ruder lief.

»Und um welche Kirche handelt es sich?«, fragte Remy.

»Die Kirche zum Erstgeborenen Sohn Gottes.«

»Mir ist etwas aufgefallen, Mr Unger.« Ich deutete den Abhang hinab. »Das verbrannte Land endet da unten in einer Art Sackgasse – noch dazu unbebaut. Wird das Feuer sich auf Ihr Tagesgeschäft auswirken?«

»Wahrscheinlich nicht«, sagte Unger. »Wir können es uns kaum leisten, auch nur die Hälfte dieses Bodens zu bewirtschaften.«

Wir bedankten uns bei ihm und baten ihn, nicht mit irgendwelchen Medienvertretern zu sprechen.

Ende der Leseprobe