Evil Men - John McMahon - E-Book

Evil Men E-Book

John McMahon

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Beschreibung

Mason Falls – wo das Böse zu Hause ist Im beschaulichen Städtchen Mason Falls in Georgia wird ein Immobilienmogul tot aufgefunden. Die beiden Ermittler P.T. Marsh und Remy Morgan staunen nicht schlecht, wie viele Feinde das Opfer hatte: Konkurrenten, wütende Nachbarn und eine betrogene Exfrau. Bald wird klar, dass der Geschäftsmann nicht aus Habgier ermordet wurde, sondern dass dies nur Teil eines grausamen Plans war, in dem auch ein mysteriöser Unfall eine Rolle spielt, bei dem Marshs Frau und Sohn ums Leben kamen. Und als Nächstes hat der Killer ein kleines Mädchen im Visier … »McMahon erzählt mit ganz besonderem Gespür.« New York Times Book Review

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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Für Zoey und Noah, meinen Wildfang und mein Herz.

Wer könnte es besser haben als wir?

© John McMahon 2020

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Evil Men Do«, G.P. Putnam’s Sons, New York 2020

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Piper Verlag GmbH, München 2022

Published by arrangement with G.P.’s Putnam’s Sons,

an imprint of Penguin Publishing Group,

a division of Penguin Random House LLC.

Lektorat: Peter Hammans

Covergestaltung: Sandra Taufer, München

Covermotiv: Mark Owen / Trevillion Images und Shutterstock.com

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence, München mit abavo vlow, Buchloe

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

1 – Dem kleinen Mädchen …

2 – Mein Finger schloss …

3 – Den Unterlagen der …

4 – Das Mädchen öffnete …

5 – Während Remy unterwegs …

6 – Um zwei Uhr nachmittags …

7 – Connie Fultz kreuzte …

8 – Zehn Minuten später …

9 – Draußen vor meinem …

10 – Das Mädchen rührte …

11 – Am Mittwochmorgen …

12 – Remy und ich wiesen …

13 – Falls Automotive Imports …

14 – Das Mädchen rang …

15 – Wir hatten Suzy Kang …

16 – Ich stieg aus und …

17 – Zwanzig Minuten …

18 – Das Mädchen blinzelte, …

19 – Es gibt eine kleine …

20 – Von der Fahrt zum …

21 – Um zehn Uhr vormittags …

22 – Die Gegend westlich …

23 – Das Mädchen hörte …

24 – Die Farm der Sorrells …

25 – In der Intensivstation …

26 – Ich brach vom Krankenhaus …

27 – Das Mädchen gelangte …

28 – Um siebzehn Uhr bremste …

29 – Ich stellte meinen Pick-up …

30 – Remy machte sich auf …

31 – Um neun Uhr morgens …

32 – MotorMouth war eine …

33 – Unterwegs brummte …

34 – Das kleine Mädchen hatte …

35 – Als wir bei Ennis Fultz …

36 – Wir hielten vor Cameron …

37 – Als das Mädchen bei …

38 – Wir sprangen in den …

39 – Als wir den Gipfel des …

40 – Zwanzig Minuten später …

41 – Zehn Minuten später …

42 – Drei Stunden später …

43 – Ich wechselte vom …

44 – Die Adresse, die Shaina …

45 – Ich fühlte mich sehr …

46 – Die Nacht wurde …

47 – Als ich wieder zu …

48 – Es dauerte eine Stunde, …

49 – Den folgenden Morgen …

50 – Die Nachmittagssonne …

51 – Meine Disziplinaranhörung …

52 – Am folgenden Montag…

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

1

Dem kleinen Mädchen blieb kaum etwas verborgen.

Seine Mutter sagte, es läge daran, dass es so gut zuhören könne. Nicht nur auf von Erwachsenen gesprochene Worte achte, sondern auch Ungesagtem Aufmerksamkeit schenke, dem, was »zwischen den Zeilen« liege.

Das Mädchen bemerkte winzige Veränderungen in den Mienen, die signalisierten, dass ein Erwachsener log. Es las Spuren von Veränderungen in Tonfall und Takt einer Stimme, wenn etwa jemand den Raum verließ und die Verbliebenen entschieden, dass genügend Zeit vergangen und es nun sicher wäre, über diese Person zu reden.

Doch was wirklich entscheidend war – es hatte schon seit jeher mehr gewusst als andere Mädchen seines Alters.

An seiner alten Schule hatten die Lehrer es einen Jahrgang überspringen lassen. Dann noch einen.

Die Schule empfahl einen dritten Sprung, aber seine Mutter meinte, es wäre unnatürlich, wenn eine Achtjährige die Mittelstufe besuchte, vor allem, wenn man so zierlich gebaut wäre wie ihre Tochter.

Und daher war dem Mädchen der Wagen, der es verfolgt hatte, ohne Umschweife aufgefallen.

Ein Toyota-Truck.

Weiß, ein Frontscheinwerfer erloschen.

Der Vater des Mädchens hatte während der letzten zehn Minuten zweimal die Spur gewechselt, und der weiße Truck war dennoch hinter ihnen geblieben. Ließ sich zehn oder zwölf Autolängen zurückhängen.

Das Mädchen saß im Heck des Familien-Hyundai und spielte auf seinem iPad Minecraft.

Es hatte berechnet, dass eintausend Holzbohlen nötig wären, um das Haus zu bauen, das es sich für das Spiel vorstellte. Und da das Mädchen wusste, dass jeder Eichenstamm vier Bohlen erbrachte, zog es los, um zweihundertfünfzig Eichen zu fällen. Eine kinderleichte Aufgabe, die man an fünf Fingern abzählen konnte.

Das war der Augenblick, in dem der Truck beschleunigte.

Acht Fahrzeuglängen Abstand.

Sechs Längen.

Vier.

Dann vollführte der Fahrer ein seltsames Manöver, gab Gas, fuhr jedoch von der Fahrbahn auf den Seitenstreifen. Was dem Mädchen ein Rätsel war. Bis die linke Vorderflanke des Toyota ausscherte und die hintere rechte Ecke ihrer Familienkutsche touchierte.

Die Welt geriet ins Schleudern.

Das Mädchen sah die dunklen Kiefern des Waldes in Georgia am Rand der Straße. Erhaschte einen flüchtigen Blick auf den Tullumy River, weit unten am Fuß des Abhangs. Und auf das metallische Schimmern einer sich rasant nähernden Leitplanke.

Seine Mutter schrie. Das Mädchen wurde gegen die Fensterscheibe geschleudert. Und dann war da ein allerletztes Bild.

Das Gesicht des Mannes im Toyota.

Ruhig und konzentriert. Vollkommen frei von Panik. Den Blick starr direkt auf das Mädchen gerichtet.

Und dann kam das Familienauto schlingernd von der Straße ab.

2

Mein Finger schloss sich um den Abzug meiner Glock 42, und vier Kugeln Kaliber .380 schossen durch die Luft.

Plop, plop, plop, plop. Bevor ich meinen angehaltenen Atem wieder ausstoßen konnte.

Es war ein Dienstagmorgen im Mai, und meine Partnerin Remy Morgan und ich befanden uns im Georgia Safe, einer Schießanlage drei Meilen östlich von Mason Falls.

Ich zog mein braunes Sakko aus, hängte es über die Trennwand zwischen mir und Remy und legte meine Knarre auf dem schmalen Sims ab, das für Waffen gedacht war, mit der Mündung in Schussrichtung.

Der Geruch von Rühreiern und paniertem Beefsteak wehte vom Büro des Schießstandes herüber. Der Besitzer, ein pensionierter Polizist namens Cooz, hatte noch nie in seinem Leben einen Teller mit fettem Fraß verschmäht. Dafür lieferte seine Statur den schlagenden Beweis.

»Also, Rem«, sagte ich. »Du hast mir noch gar nichts von deinem Date erzählt.«

Remy trug eine ihrer typischen Aufmachungen: hellbraune Hose und eine akkurat gebügelte weiße Bluse, die sich deutlich von ihrer dunkelbraunen Haut abhob. Auf ihrer Nase saß eine dieser Brillen, wie sie Bücherwürmer tragen, was ich schon immer für einen Trick gehalten habe, mit dem sie ihr gutes Aussehen herunterzuspielen versuchte.

»Samstag?« Sie zuckte die Schultern. »Wir sind nach Forest Oaks rausgefahren.«

Ich warf meiner Partnerin einen Seitenblick zu, ließ ein neues Zielobjekt in meiner Schussbahn aufsteigen und drückte den Knopf, der es wegschickte. »Er hat dich zum Friedhof ausgeführt?«

Remy ließ ihre Zielscheibe durch die Nachbarbahn schweben. »Wir haben uns Blade Runner angeschaut, P. T. Die zeigen dort alte Filme. Heißer Scheiß.«

Es gab inzwischen eine Menge Scheiß, der als heißer Scheiß gehandelt wurde, aber ich wusste einen Scheiß davon. Vielleicht lag’s bloß an mir, daran, dass ich mich nicht an das gewöhnen konnte, was als mein neues Leben durchgehen sollte. Mein Leben nach dem Tod meiner Frau und meines Sohnes.

Ich lud ein Magazin in meine Glock. »Betreten wir das Leichenschauhaus nicht oft genug im Jahr? Musst du bei einem abendlichen Rendezvous unbedingt Gräber bestaunen?«

Remy verdrehte die Augen. Meine Kollegin war sechsundzwanzig, über zehn Jahre jünger als ich. »Spiel nicht den alten Mann, P. T.«

Sie zog sich ihren Kapselgehörschutz über die Ohren und rammte das Magazin mit seinen sechs Kugeln in die Knarre. »Außerdem sind alte Menschen für gewöhnlich keine guten Schützen«, rief sie laut. »Die Sehschärfe lässt nach.«

Ich grinste. »Wird das hier ’ne Wette? Weil dein Partner, soweit ich mich erinnere, immer noch der beste Schütze vom ganzen Dezernat ist.«

Mein Handy brummte in der Hosentasche. Ich zog es heraus, tippte schnell eine Antwort auf die Textnachricht und steckte das Ding wieder weg.

»Der Verlierer zahlt das Essen«, deklamierte Remy. »Die besten Treffer bei zwanzig Schuss? Vier Fünfer-Runden?«

Ich ging in Schusshaltung und nahm mit der Glock 42 das Ziel ins Visier. Meine Partnerin kann gelegentlich ziemlich eingebildet sein. Die Sorte Mensch, die in einem leeren Haus einen Streit vom Zaun bricht. Andererseits ist es genau das, was ich am meisten an ihr mag.

Ich drückte ab – eins, zwei, drei, vier, fünf –, dann auf den Rückholknopf und sah Remy an, ohne die wieder auftauchende Zielscheibe eines Blickes zu würdigen.

»Ich stehe auf Steak-Läden«, sagte ich. »Teure Steak-Läden.«

Die Zielscheibe kam zum Halten, und ich hob die Pappsilhouette an einer Ecke in die Höhe. »Fünf von fünf Volltreffern, Frischling.«

Remy war keine Anfängerin mehr. Genau darum nannte ich sie so.

Sie setzte ihren rechten Fuß auf der Schießbahn nach hinten und streckte den rechten Arm gerade nach vorne, gestützt vom angewinkelten Ellbogen des linken Arms. Eine andere Schießhaltung als meine. Sie hieß Weaver-Stand (nach dem Erfinder, Deputy Sheriff Jack Weaver) und wurde den Polizeikadetten seit einem guten Jahrzehnt beigebracht.

Remy strich sich die Haare aus dem Gesicht, sodass sie ihr über die linke Schulter fielen. Meine Partnerin besaß die wohlgeformten Wangenknochen, die dunkle Haut und die Locken eines Topmodels. Sie atmete aus, zielte und gab aus ihrer Kanone schnell hintereinander fünf Schüsse ab. Bamm, bamm, bamm, bamm, bamm.

Sie schlug mit der flachen Hand auf den Rückholschalter, und die Zielscheibe flatterte uns entgegen. »Tofu-Truthahn«, sagte sie.

In der Bahn flatterten die Ecken des Pappkameraden im Wind der Klimaanlage.

»Tofu-Truthahn?«, brabbelte ich verständnislos.

Fünf von fünf Schüssen hatten die Mitte von Remys Schießscheibe getroffen, zwei davon den innersten Ring, also ins sogenannte »Schwarze«. Die Mitte der Mitte.

Remy inspizierte ihr Ergebnis. Erste Runde verbucht, und es stand unentschieden.

»Abseits der 85. gibt’s ein echt gutes veganes Restaurant«, brüllte sie mir zu. »Falls ich dir in den Arsch trete, fahren wir hin. Toller Tofu-Truthahn.«

Mein Telefon summte schon wieder, und ich sah aufs Display. Überflog die zwei Textnachrichten, die in den letzten paar Minuten bei mir eingegangen waren. Meine Partnerin ernährte sich nicht vegan, sie wollte mir bloß auf die Eier gehen.

»Wir müssen die Sache verschieben.« Ich hielt mein Handy in die Höhe und zeigte Remy eine SMS vom Chef.

Wir packten zusammen und eilten nach draußen, wo ich meinen Eins-neunzig-Körper in Remys roten Alfa Romeo Spider Baujahr 77 quetschte.

Mein Name ist P. T. Marsh, und Mason Falls, Georgia, ist meine Stadt. Noch nicht allzu lange bringen wir’s hier auf knapp 130.000 Seelen. Eine hochinteressante Größe – klein genug, um Familien das Gefühl zu geben, der ausufernden urbanen Hektik etwa von Atlanta entkommen zu sein, aber eben doch groß genug, um ein mit vier Detectives besetztes Morddezernat ständig auf Trab zu halten, inklusive Überarbeitung und Unterbezahlung.

»Wie lauten die Anweisungen?« Remy deutete auf mein Handy.

»Die Anfängerin abzusetzen. Sich dann einen erfahreneren Detective schnappen, auch wenn die Kleine das Schießen draufhat.«

Remy streckte mir den Mittelfinger ihrer freien Hand entgegen, und ich sah kurz auf mein Smartphone.

»Chief Pernacek hat einen Freund«, sagte ich.

Remy lächelte. »Schön, dass er Freunde findet.«

Jeff Pernacek war Polizeichef geworden, als ich noch meine Ausbildung durchlief, vor ungefähr einem Jahrzehnt jedoch in den Ruhestand gegangen. Da unser Boss jüngst aus dem Amt geschieden war, hatte Bürgermeister Stems Pernacek als Interimshäuptling zurückgeholt.

»Ist sein Freund tot?«, fragte meine Partnerin.

Während Remy auf die Tatsache abzielte, dass wir uns mit Tötungsdelikten befassten, entsprach es ebenso der Wahrheit, dass Pernacek mit einer ganz speziellen Meinung wieder ins Dezernat eingetreten war: nämlich der, wir seien während seiner Abwesenheit schlampig geworden. Wir brauchten daher Befehle und Anordnungen, und zwar reichlich.

Nach der Lektüre von Pernaceks erster Textnachricht, in der er die Bitte aussprach, einem ehrenwerten Bürger der Stadt einen Besuch abzustatten und nachzusehen, wie es ihm ginge, hatte ich eine kurze Antwort zurückgeschickt.

»Hast du ihm mitgeteilt, dass unsere Waffenscheine gerade verlängert werden?«

»Habe ich«, sagte ich und starrte auf den SMS-Austausch mit meinem Boss.

»Was hat er geantwortet?«

Ich präsentierte Remy die Rückmeldung vom Chief. Sie bestand aus drei Wörtern:

Befehl ist Befehl.

Was hieß: Mach verdammt noch mal, was ich dir sage – auch wenn du glaubst, ich lasse dich deine Zeit mit einem Botendienst auf Staatskosten verplempern.

Remy trat aufs Gas, und draußen vor dem Fenster flog ein dichter Wald aus Weihrauchkiefern vorbei. Im Vordergrund rankten Kopoubohnen wie Unkraut aus dem Bodennebel von Georgia empor, klebten an den Kiefern wie nasse alte Socken.

Sie fuhr, und ich rief den Chef an, der mir erklärte, ein enger Freund sei beim allmonatlichen Bridgeabend nicht aufgetaucht.

»Bevor dir jetzt irgendein Klugscheißer-Kommentar rausrutscht, P. T.«, sagte Pernacek. »Es ist nicht von Bedeutung, dass der Bürgermeister und ich seit zehn Jahren mit Ennis Fultz Bridge gespielt haben. Immer dasselbe Restaurant. Jeweils am zweiten Dienstag im Monat.«

»Und er hat keinen einzigen Abend verpasst?«

»Nicht ohne sich vorher telefonisch abzumelden«, sagte Pernacek. »Aber Ennis kann manchmal ein bisschen exzentrisch sein, weshalb ich nicht irgendeinen Blaumann schicken will, denn ich nicht kenne.«

»Verstehe«, gab ich zurück.

Unser Interimschef war ein politischer Strippenzieher der ganz besonderen Art. Wenn der Bürgermeister »Frosch« sagte, sprang er eben. Doch es war gut, wenn der Boss einem vertraute. Schnell nachsehen, ob mit seinem Freund alles in Ordnung war, und schon konnten wir wieder auf dem Schießstand stehen.

Zehn Minuten später fuhren wir von der SR-906 ab, und meine Partnerin beschleunigte auf einer Schotterpiste, die definitiv nicht für ein italienisches Sportcoupé aus den späten Siebzigern gemacht war.

»Na ja, am Arsch der Welt sind wir nicht unbedingt«, sagte ich.

»Aber sehen können wir ihn von hier aus schon«, vollendete Remy meinen Gedanken.

Sie drosselte das Tempo, und der Staub legte sich von hinten über uns wie eine lohfarbene Abdeckhaube. Durch den braunen Schleier kam ein Gebäude in Sicht.

Das Haus war zweistöckig und individuell maßgefertigt aus Roteichenholz im Blockhüttenstil. Merkwürdig war nur, wohin man das Ding gesetzt hatte. Wenn ich mich bezüglich der Lage nicht irrte, stand es nur sechzig Meter von der Condesale-Gorge entfernt. Die Schlucht bot eine ebenso spektakuläre wie teure Aussicht.

Doch wer auch immer diese Hütte erbaut haben mochte – er hatte sich für den Blick Richtung Straße entschieden.

Wir parkten auf einem bekiesten Areal vor dem Haus und stiegen aus. Klopften an einer großen Holztür.

»Wie heißt er doch gleich?«, fragte Remy.

»Ennis Fultz«, antwortete ich.

Mein Blick wanderte über die gepflegte Fassade. Keine Alarmanlage. Keine Türklingel mit integrierter Kamera. Und auch kein Tor oder Gatter, das Fultz’ gigantisches Grundstück ordentlich vom Highway trennte.

Ich ging zum Kiesplatz zurück, wo der Alfa stand, während sich Remy einen Weg ums Haus herum nach hinten suchte. Östlich und westlich der Bude stand jeweils eine Reihe von Zitronenbäumen mit grünen Zweigen und wachsweißen Blüten. Jenseits davon, über einen Kilometer in sämtliche Richtungen, dichter Wald, dem natürlichen, gekrümmten Verlauf der Schlucht folgend.

»P. T.«, rief Remy.

Ich umkurvte die Hausecke und blickte hoch. Eine Treppenstiege führte zu einem schmalen Balkon im ersten Stock hinauf, wo meine Partnerin zu kauern schien.

»Komm mal her, und sieh dir das an.«

Ich ging die Stufen hoch und sah Remy vor einem Nebeneingang stehen, durch den man direkt in die obere Etage gelangte. Ihre Finger fuhren über das Holz am Türgriff. Dessen Abdeckungsrahmen war verzogen, die Versiegelung abgesplittert, sodass ein Spalt zwischen zwei Holzbohlen getrieben worden war. Es handelte sich um eine bewährte Einbruchstechnik, unter Nutzung eines einfachen Hilfsmittels wie etwa des Multifunktionswerkzeuges eines Malers oder Tischlers.

Ich lehnte mich gegen die Hintertür. »Mr Fultz?«

Keine Antwort.

Ein paar hundert Meter hinter uns fiel das Land zunächst in einem stumpfen Winkel ab, um dann jäh in den Canyon zu stürzen.

»Sieht nicht unbedingt nach Gefahr im Verzug aus«, meinte Remy.

Mag sein, dachte ich. Aber immerhin hatte der Boss schon den ganzen Morgen über versucht, seinen Kumpel telefonisch zu erreichen.

Ich griff nach dem Türknauf und drehte ihn. Die Tür war nicht verschlossen.

»Mr Fultz?«, rief ich laut.

Keine Antwort.

Vorsichtig machte ich ein paar Schritte in einen Raum, der offenbar das Arbeitszimmer war. Komplett holzfurniert, schnitzverzierte Eiche, espressofarben gebeizt. Holzbalkendecke. Einbautisch und -schrank.

Ich durchquerte das Büro und erreichte dahinter einen Treppenabsatz, unter dem sich ein großzügig geschnittenes, offenes Erdgeschoss auftat. Eine imposante Wohnküche, für die man weder Kosten noch Mühen gescheut hatte. Sub-Zero-Gastro-Stahlkühlschrank. Klimaanlage und Kochgerätschaften von Wolf.

Als ich mich zu Remy umwandte, sah ich, dass die Tür zu dem anderen Raum im Obergeschoss einen guten Spaltbreit offen stand.

Dort lag ein Mann, dessen Äußeres auf ein Alter von Ende fünfzig schließen ließ, splitternackt und mit dem Gesicht nach oben auf einem breiten Doppelbett. Seine sommersprossige Haut hatte die Farbe einer schimmernden Perle.

»Verflucht noch mal«, flüsterte ich. Ohne große Vorfreude auf einen Anruf beim Chief.

Ich trat aus dem Zimmer und schüttelte den Kopf.

»Du verarschst mich«, lautete Remys Reaktion. Der Tag hatte ziemlich heiter angefangen, aber damit war es nun vorbei. Es gab einen Toten.

Ich wählte die Nummer des Reviers. »Verbinden Sie mich mit dem Boss.«

Während ich in der Warteschleife hing, gingen wir die Treppe hinunter zurück zum Vordereingang. In der Ferne wurde Staub aufgewirbelt. Ein Wagen näherte sich.

»Erwartest du jemanden?«, erkundigte sich Remy.

Ich schüttelte, das Handy ans Ohr gepresst, den Kopf.

Der Wagen wurde langsamer, je näher er kam. Es war eine alte Klapperkiste aus den späten Neunzigern. Ein verblichener gelber Mazda Protegé.

Chief Pernacek ging ran. »Was gibt’s?«, wollte er kurz angebunden wissen, als wäre ihm entfallen, warum er uns hergeschickt hatte.

»Jeff«, hob ich an, »ich sage dir das wirklich nicht gerne. Aber wir sind draußen bei der Schlucht. Dein Freund ist tot.«

3

Den Unterlagen der Zulassungsstelle zufolge war Ennis Fultz achtundsechzig und damit ein gutes Jahrzehnt älter, als ich ihn nach dem flüchtigen Blick im Obergeschoss geschätzt hatte.

Noch vor zehn Uhr morgens hatte ein Streifenwagen auf dem freien Schottergelände neben Remys Alfa und dem blassgelben Mazda geparkt. Ebenso ein weißer Kleintransporter, an dessen Seite Gerichtsmedizin stand.

Wie sich herausstellte, gehörte der eingetrudelte Mazda Fultz’ Putzfrau, einer Rothaarigen in den späten Fünfzigern namens Louise Randall. Ihr Rufname lautete Ipsy.

Sarah Raines, die örtliche Gerichtsmedizinerin, eilte mit ihrer Ausrüstung die Stufen hinauf, und Remy öffnete ihr die Tür. Sarah steckte in einem unförmigen, einteiligen Wegwerfoverall, der farblich gut zu ihren blauen Augen passte, ihrer schlanken Figur allerdings nicht gerade zum Vorteil gereichte.

»Morgen«, begrüßte sie Remy und mich, wobei ihr Blick mich fixierte. Sarah und ich hatten uns ungefähr fünf Monate lang regelmäßig getroffen.

Wir gingen hinein und steuerten oben das Schlafzimmer an, wo ich Ennis Fultz zum zweiten Mal in Augenschein nehmen konnte. Er war eins fünfundsiebzig groß und hatte kurz geschnittenes weißes Haar sowie einen Zweitagebart. Seine Leiche wurde zur Hälfte von einem Laken bedeckt, aber der Oberkörper war muskulös, Bizeps und Brust austrainiert.

Wir schossen Fotos von dem Leichnam, indem wir das Bett umkreisten, um das Opfer aus sämtlichen Blickwinkeln inspizieren zu können.

»Sieht der für dich wie achtundsechzig aus?«, wollte Sarah wissen.

»Eher nach achtundfünfzig«, erwiderte ich.

Zwischen Bett und Wand stand eine Sauerstoffflasche, aus der sich ein Schlauch bis in eine transparente Plastikmaske von der Sorte schlängelte, die man sich mit einem Riemen um den Kopf schnallt.

»Es ist auffällig, wo das Schlauchstück liegt.« Remy zeigte darauf.

Die Maske lag um die acht Zentimeter von Fultz’ ausgestreckter rechter Hand entfernt.

Ich klaubte einen Inhalator vom Nachttisch auf.

»Budesonid-Formoterol«, las ich von der Seite ab.

»Wird unter dem Markennamen Symbicort gehandelt«, erklärte Sarah. »Es lindert Schwellungen und Reizungen der Atemwege. Könnte auf alles Mögliche hindeuten, von Asthma bis hin zu einer ernsten Atemwegserkrankung.«

Remy und ich ließen Sarah ein bisschen Zeit mit der Leiche und teilten uns auf, um das obere Stockwerk unter die Lupe zu nehmen.

Meine Partnerin überprüfte Fultz’ nebenan gelegenes häusliches Arbeitszimmer, während ich das anliegende Bad aufsuchte. Im Mülleimer fand ich eine Packung Trojan-Kondome sowie ein gebrauchtes Präservativ.

Ich tütete sie als Beweismaterial ein und heftete den Blick auf Fultz’ restliche Rezepte. Vor drei Monaten Promethazin gegen eine Bronchitis. Lipitor fürs Cholesterin. Ein Fläschchen Viagra, auf dessen Boden zwei übrig gebliebene Pillen lagen. Nichts, was einem irgendwie verdächtig vorgekommen wäre.

»Geschätzter Todeszeitpunkt Montag, sechster Mai«, diktierte Sarah in ein handliches Aufnahmegerät und datierte alles damit auf den gestrigen Tag. »Zwischen zehn Uhr morgens und zwei Uhr nachmittags.«

»Hast du die Todesursache?«, fragte ich.

Sarah zögerte und band sich ihr schulterlanges blondes Haar mit einem Zopfgummi zurück. Sie war eine Augenweide, das stand fest, aber darüber hinaus hatte ich auch selbst sehen können, dass sie ein guter Mensch war. Genau die Sorte, die ich in meiner Nähe wissen wollte.

Ich folgte Sarahs Blick bis zur rechten Hand des Mannes. An den Spitzen von Fultz’ Zeigefinger und Daumen hatte die Haut sich dunkelblau verfärbt.

»Warten wir auf die Toxikologie«, sagte sie.

Sarah legte das Diktiergerät beiseite und schnappte sich eine Kamera. Ihr Handwerkszeug war in einem zweckentfremdeten Angelkasten verstaut, und einen flüchtigen Moment lang schaute mir aus dem Spiegel an der Innenseite des Deckels mein eigenes Gesicht entgegen.

Meine gewellten braunen Haare waren so ungekämmt wie meine blauen Augen blutunterlaufen. Schon zweimal in dieser Woche hatte mich Sarah mitten in der Nacht wachgerüttelt. Ich hatte schon wieder im Schlaf geschrien.

Ich musste ihr versprechen, dass meine Probleme vom letzten Jahr nicht wiederkommen würden.

Ich durchquerte den Korridor Richtung Remy. Meine Partnerin hatte den Hintereingang geöffnet. Ebenjene Tür, durch die wir anfangs hereingekommen waren. Unmittelbar neben dem Türpfosten fanden sich fünfzehn bis zwanzig Holzsplitter auf dem Boden, genau an der Stelle, wo der Spalt zwischen die Bohlen getrieben worden war.

»Die Putzhilfe kam zweimal pro Woche?«, fragte ich.

»Dienstags und freitags«, antwortete Remy.

»Der Zeitpunkt für einen möglichen Einbruch lässt sich also ein wenig präziser bestimmen, wenn sie am Freitag hier sauber gemacht hat.«

Ich zog die Tür auf und spähte die Hintertreppe hinunter, an deren Fuß sich ein halbes Dutzend Tüten mit Marathon-Grassamen stapelte.

Ich ging wieder ins Haus zurück.

Die Bürowände waren mit gerahmten Titelseiten von Immobilienmagazinen zugepflastert, auf denen Fultz’ Visage prangte. Eine Überschrift nannte ihn KÖNIG DER MAKLER. Für eine andere war er DER MEISTGEHASSTE MANN GEORGIAS.

»Wir müssen mehr über diesen Vogel herausfinden«, sagte ich.

Remy und ich gingen an der Leiche vorbei runter ins Erdgeschoss, um mit der Haushälterin zu sprechen.

Ipsy Randall war spindeldürr, ihr rotes Haar an den Wurzeln schwarz. Sie roch wie eine Mischung aus Lysol und Marlboro Reds.

»Wie lange haben Sie für Mr Fultz gearbeitet?«, fragte Remy.

»Sechzehn Jahre«, sagte Ipsy. Sie erzählte, wie sie der Familie Fultz von einem Haus zum anderen gefolgt war. Sie hatte Trennung und Scheidung miterlebt, und wie schließlich der Sohn auszog, um aufs College zu gehen.

»Wir haben ein Kondom im Müll gefunden«, erklärte ich. »Lebte Mr Fultz in weiblicher Gesellschaft?«

»Oder männlicher?«, schob Remy hinterher.

»Haha, um Gottes willen. Darüber hätte er herzlich gelacht«, sagte Ipsy zu Remy. »Ennis war definitiv ein Charmeur, aber ich bin an meinen zwei Arbeitstagen nie einer Frau über den Weg gelaufen.«

»Und das Kondom?« Remy deutete nach oben.

»So gut wie jeden Dienstag lag eins im Mülleimer«, sagte Ipsy.

Remy und ich wechselten einen Blick. Hatte der alte Zausel eine feste Freundin gehabt?

Ich lehnte mich an die Wand. Auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers stand ein gut vier Meter breites, maßgefertigtes Aquarium, flankiert von Naturstein-Findlingen.

»Wie gut wissen Sie über Mr Fultz’ Gesundheitszustand Bescheid?«, wollte ich wissen.

Ipsy beschrieb die Atemübungen, die Fultz morgens mit der Sauerstoffflasche praktizierte, ergänzte jedoch, er habe dies schon seit etlichen Jahren so gehandhabt und sei fit und dynamisch gewesen. »In letzter Zeit ist er regelmäßig spazieren gegangen – jeweils die Hälfte der Zeit, die ich da war.«

»Also haben Sie einen Schlüssel?«

Ipsy nickte und zeigte ihn uns. Ich musste an die blauen Finger denken. Der Fachterminus lautet »Zyanose«. Die Verfärbung konnte eine Menge Dinge bedeuten. Sogar für einen natürlichen Tod sprechen, so denn die Leiche lange genug herumlag.

Wir fragten Ipsy nach der Familie des Verstorbenen, und sie gab uns die Adresse von Ennis Fultz’ Sohn Cameron, eines jungen Mannes irgendwo in den Dreißigern. Fultz’ Ex-Frau Connie war in Ipsys Alter.

»Seine Frau ist also ungefähr zehn Jahre jünger als er?«, hakte Remy nach.

»Mehr oder weniger.« Die Haushälterin deutete auf die Eingangstür. »Ich hab’s dem Streifenpolizist schon gesagt – wenn Sie aufbrechen, sollten Sie das Haus gut abschließen. Mr Fultz hatte die Angewohnheit, an ungefähr jedem möglichen und unmöglichen Ort Bargeld zu verstecken.«

»Was meinen Sie mit ›verstecken‹?«, erkundigte sich Remy.

»Vor einigen Monaten fand ich zehntausend Dollar im Tischbackofen«, erklärte Ipsy. »Ich hab ihn dann und wann mit einer Papiertüte und einer Schaufel rausgehen sehen.«

Zehntausend Mäuse waren Grund genug für einen Einbruch. Wir führten Ipsy nach oben ins Büro, zeigten ihr die Holzsplitter am Hintereingang und fragten, ob sie bei ihrem letzten Besuch in diesem Bereich gewischt hatte.

»Als ich am Freitag um drei Uhr abzog, konnte man von diesem Boden essen.«

Mit Remy und mir im Schlepptau nahm sich Ipsy ein paar weitere potenzielle Verstecke vor, an denen Fultz Kohle gebunkert haben könnte. Sie überprüfte jedes einzelne – einen Safe im Wandschrank, ein Regal voller leerer Schuhkartons –, und in keinem fand sich auch nur einen Cent. Die Tresortür war lediglich angelehnt.

»Fällt Ihnen jemand ein, der Mr Fultz vielleicht schaden wollte?«, fragte Remy.

Ipsy zögerte.

Ihr Blick wanderte durch die großen gläsernen Balkontüren nach draußen. »Stört es Sie, wenn ich rauche?«, erkundigte sie sich. »Es war ein höllisch anstrengender Morgen.«

Wir folgten ihr nach draußen auf den Balkon. Dort stand ein lachsfarbener Motel-Aschenbecher, neben dem eine Packung Virginia Slims lag. Ich vermutete, dass dies ihre kleine Erholungsoase war, Fultz hatte ja schließlich an der Sauerstoffflasche gehangen.

Sie zündete sich ihre Zigarette an. Inhalierte tief und stieß den Rauch aus. Auf ihren Zähnen prangten gelbe Nikotinflecken, die älter als meine Partnerin waren. »Glauben Sie, dass Leute sich ändern können, Detective?«

Mit dieser Sorte Frage hatte ich nicht gerechnet.

»Na sicher, wenn sie es denn wollen«, gab ich zurück.

»Tja, Mr Fultz musste letztes Jahr ins Krankenhaus. Und er verließ es als ein anderer Mensch.«

»In welcher Hinsicht?«, fragte Remy.

Ipsy zog abermals an ihrer Zigarette, formte mit den Lippen ein schmales O und blies den Qualm aus.

»Da war dieses Ehepaar«, sagte sie. »Als Ennis begann, das Haus hier zu bauen – sie wohnten auf diesem Grund und Boden. In einer bescheidenen Hütte am Rand des Grundstückes. Die Frau war eine Indianerin. Möglich, dass ihre Familie seit Ewigkeiten hier lebte. Der Mann war ebenso weiß wie Sie.«

»Okay.« Ich nickte. »Hat man sie weggejagt? Waren sie sauer?«

»Nein, nichts von alledem«, sagte Ipsy und fummelte an einer hellen Warze an ihrem sonnenverbrannten, runzligen Arm herum. »Ennis hat sie in Ruhe gelassen. Der Mann kümmerte sich um die Wartung der Trampelpfade entlang der Schlucht. Und das hat er auch in der Folgezeit gemacht.«

»Verstehe«, sagte ich.

»Nachdem Ennis aus dem Krankenhaus entlassen worden war, half er dem Ehepaar sogar dabei, ein Kind zu adoptieren. Ließ seine Beziehungen in der Stadt spielen. Hat er bei mir auch gemacht. Kam eines Tages mit einem fetten Bündel Scheine um die Ecke. Lohnnachzahlung, so nannte er es.«

»Welche Summe hat er Ihnen zukommen lassen?«, fragte Remy.

»Sechstausend Dollar.« Ipsy drückte ihre Kippe aus. »Man wird Ihnen ein paar üble Geschichten über Mr Fultz erzählen«, sagte sie. »Dass er ein richtiger Dreckskerl war.«

»Und, war er das?«

»Für die Leute, mit denen er Geschäfte machte, wohl schon, schätze ich«, sagte sie. »Aber einer, der da oben einbricht und ihm was antut?« Ipsy deutete auf das Obergeschoss. »Wenn’s nach mir ginge, sollte der Kerl auf dem elektrischen Stuhl schmoren.«

Die Haushälterin schnappte sich ihre Handtasche, ein klobiges Ledermonster, das mindestens fünfundzwanzig Jahre alt war. »Ich muss mich jetzt ausruhen.«

Remy überreichte Ipsy ihre Visitenkarte. »Vergessen Sie Ihre Zigaretten nicht«, meinte meine Kollegin.

Ipsy schüttelte den Kopf. »Oh, das sind gar nicht meine. Ich war bloß ziemlich fertig mit den Nerven und hatte ein paar ordentliche Züge nötig.«

Meine Partnerin tütete die Zigaretten ein. Auch wenn überall Ipsys Fingerabdrücke waren, konnten sie sich vielleicht auf irgendeine Art als nützlich erweisen.

Sarah hatte, bevor die Obduktion Genaueres ergeben würde, die gestrige Spanne zwischen zehn Uhr morgens und zwei Uhr nachmittags schon einmal als vorläufigen Todeszeitpunkt festgesetzt, und ich dachte an die Vielzahl von Ereignissen, die sich hier draußen mitten im Nirgendwo zugetragen hatten.

Sechs Säcke mit Gras waren an der Hintertreppe abgeladen worden. Möglicherweise war jemand durch den Nebeneingang eingebrochen. Und eine geheimnisvolle Frau hatte mit Fultz geschlafen. Wir hatten keinen Schimmer, wann genau auch nur die Hälfte dieser Dinge geschehen waren, aber für einen Typen im Ruhestand schienen die letzten zweiundsiebzig Stunden doch einigermaßen hektisch abgelaufen zu sein.

Chief Pernacek traf ein und gesellte sich auf dem Balkon zu uns.

In manchen Countys wurde generell bei allen Todesfällen, ob es nun ein natürlicher Tod oder Mord war, die Polizei hinzugezogen. Mason Falls gehörte nicht dazu. War man jedoch reich, berühmt oder schlagartig tot, konnte man sich allerdings dennoch einen Hausbesuch von zwei Polizisten samt Boss einbrocken.

»Ich vermute, du gehst von einem natürlichen Tod aus«, sagte Pernacek, mehr zu mir als zu Remy.

»Weiß nicht«, erwiderte ich und dachte an die blaue Farbe an Fultz’ Fingerspitzen. Und an den Schaden an der Hintertür. Andererseits hatte der alte Knabe Sauerstoff gebraucht, um überhaupt atmen zu können.

»Sie kannten das Opfer ja persönlich«, begann Remy ihre Frage. »Wollen Sie es vielleicht der Familie mitteilen?«

Pernacek war groß gewachsen und außergewöhnlich schlank, was ihm die Anmutung eines Ichabod Crane verlieh. Er lächelte meine Partnerin an. »Ich finde es ja großartig, dass inzwischen Mädchen im Dezernat rumlaufen, Morgan«, sagte er. »Verschafft ganz neue Perspektiven. Allerdings habe ich schon seit den späten Neunzigern solche Mitteilungen nicht mehr überbracht.«

Remy hielt dem Blick ihres Chefs stand.

Das war ein klassischer Pernacek. Am Telefon lautes Gebell. Und leibhaftig dann zweifelhafte Komplimente im Altherren-Stil. Ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern, den Kerl während seiner früheren Dienstphase auch nur ein einziges Mal an einem verdammten Tatort gesehen zu haben.

Mir kamen die Schlagzeilen der Magazincover in den Sinn, die Fultz gerahmt in seinem Büro aufgehängt hatte. »Gibt es irgendetwas, das wir über Ennis wissen sollten?«

»Er war ein guter Mann«, sagte Pernacek. »Seine schwache Lunge hat ihn dann wohl im Stich gelassen. Ich gehe davon aus, dass Sie die Sache mit dem gebotenen Respekt angehen. Am besten Kontakt mit seiner Ex-Frau aufnehmen und den Fall zügig abschließen.«

»Natürlich, geht klar«, sagte ich. Obwohl ich mir gar nicht so sicher war, ob ich das gut fand. Sowohl was Ennis’ Status als Stütze der Gesellschaft dieser Stadt betraf, als auch was seinen natürlichen Tod betraf.

Pernacek wandte sich um und verschwand, während ich der Staubwolke nachsah, die Ipsy bei der Abfahrt mit ihrem alten Mazda aufwirbelte.

Beim Bau des Anwesens hatte man mit voller Absicht auf die gute Aussicht gepfiffen. Es war eine Garnison, eine Festung, allzeit bereit, einem von der Straße aus geführten Angriff standzuhalten.

»Woran denkst du?«, fragte Remy und folgte meinem Blick.

Und die Sache ist die – wann immer ich mich am Tatort eines Mordes aufhalte, denke ich meistens darüber nach, warum ich eigentlich hier bin. Und damit meine ich kein esoterisches Deppenzeug, so à la »Warum sind wir alle hier, wo kommen wir her, wo gehen wir hin?«. Ich meine mich.

Ich habe das Begräbnis meiner Frau und meines Sohnes hinter mich gebracht. Man hat mich mitten auf einem Highway für tot gehalten und liegen gelassen. Und doch habe ich mich wieder hochgerappelt. Und weitergeatmet.

Dieser Typ aber nicht.

Ennis Fultz war alt, aber viril genug, um sich flachlegen zu lassen. Auch wenn er Immobilienmagnat war, hatte er sich seine höchst individuell gestaltete Luxusbude jedoch so gebaut, dass er von einer Aussicht, die Millionen Dollar wert war, nichts hatte. Und falls ihm der Einbruch aufgefallen war, hatte er dennoch darauf verzichtet, sich an seine Kumpane im Stadtrat zu wenden.

Der Job eines Detectives läuft unkompliziert. Füge der Reihe nach alle Einzelheiten so zusammen, dass sich eine Geschichte daraus ergibt. Aber achte auf die Details, die nicht reinpassen.

Wenn Fultz keines natürlichen Todes gestorben war und es hier tatsächlich um Mord ging, bedeutete dies, dass sich unter dem halben Dutzend Besucher in seinem Haus ein Mörder befunden haben musste. Und sich irgendwie wieder rausgeschlichen hatte. Mehr oder weniger vor aller Augen. Ein unauffälliger Mensch auf großer, offener Bühne.

»Glaubst du, der Chief liegt richtig?«, wollte Remy wissen. »Ein natürlicher Tod?«

Ich zögerte. »Weißt du, was ich glaube, Partner?«, sagte ich zu Remy. »Es gibt Leute, die haben Eier in der Hose.«

»Das ist eine unbestreitbare Tatsache, Boss«, erwiderte sie.

»Wenn es sich hier aber um Mord handelt …« Ich starrte auf die Straße, die vor uns lag. »Und es nur einen Weg gibt, der hin- und wieder wegführt? Dann braucht unser Killer schon ’ne Schubkarre, um seine Eier durch die Gegend zu schaukeln.«

4

Das Mädchen öffnete die Augen, und alles stand kopf. Da war ein eierndes Geräusch. Als würde sich etwas auf einer unrunden Achse drehen.

Sein Sicherheitsgurt war stramm um den Körper gespannt, das Material aus Polyester schnitt ihm in die Schulter. Sein Kopf, der verkehrt herum knapp unter dem Dach hing, fühlte sich wirr an.

Einen Moment lang machte das Mädchen die Augen nicht auf.

»Zu viel Fantasie kann gefährlich sein«, hatte seine Mutter ihm erst letzte Woche eingeschärft.

Das Mädchen öffnete die Augen. Träumte es?

Der Toyota, den der Mann gefahren hatte, stand parallel zur Brücke, seine Rücklichter orangefarbene Einschusslöcher in der Schwärze der Nacht.

Es hatte das Gesicht des Mannes gesehen. Einen Ausdruck von Seelenruhe.

Das eiernde Geräusch verklang, und ein Knarzen trat an seine Stelle.

Das Mädchen reckte den Hals und schaute zum Vordersitz.

Ein verbogenes Metallstück von der Leitplanke der Brücke hatte die Frontscheibe durchbohrt und hielt den Hyundai an Ort und Stelle, verhinderte, dass der Wagen den Abhang hinab in den Fluss rutschte.

Es blickte zu dem Toyota zurück. Die Scheinwerfer des Trucks leuchteten jetzt hellrot. Er fuhr rückwärts. Auf es zu.

Das Mädchen keuchte.

Der Mann hatte sie absichtlich gerammt.

Und jetzt versuchte er es noch einmal, um es zu Ende zu bringen.

Es versuchte zu schreien, doch seine Brust brannte, und kein Wort drang aus seinem Mund.

5

Während Remy unterwegs war, um Fultz’ Familie zu benachrichtigen, fuhr ich ins Stadtzentrum und fand mich bald im ersten Stock des Lee-F.-Skirter-Strafgerichtsgebäudes wieder.

In dem Jahr nach dem Verlust meiner Familie versank ich in einem tiefen Morast.

Als ich aus dem Sumpf wieder auftauchte, stieß ich unerwartet auf den größten Fall meiner Laufbahn. Und in diesem Zusammenhang tötete ich einen Mann namens Donnie Meadows.

Heute war seine Schwester eingetroffen, um sich anzuhören, welche Summe die Stadt für meine Missetaten zu zahlen bereit wäre.

Ich saß in einem holzgetäfelten Sitzungssaal neben Liz Yugel, der Bezirksstaatsanwältin von Mason Falls. Yugel war Mitte dreißig, und ihre konservative blaue Kluft sah eher wie etwas aus, das man für ein Bewerbungsgespräch anziehen würde.

Zwei Frauen saßen uns gegenüber.

»Detective Marsh.« Die ältere Dame lächelte. »Es ist mir ein Vergnügen, abermals Ihre Gesellschaft zu genießen.«

Im Berufsleben war Catherine Flannery als Tiger-Cat bekannt. Der Spitzname war eine jener wissenswerten Kleinigkeiten, die Liz Yugel mir über die fünfundfünfzigjährige Anwältin erzählt hatte, ergänzt um einen Ratschlag, den sie am Vorabend gar nicht oft genug wiederholen konnte. Dies ist ein Gütetermin, P. T. Sei höflich. Wirf dich angemessen in Schale. Sag kein Wort zu Cat.

Die Anklage gegen das Police Department lautete auf unverhältnismäßige Gewaltanwendung.

Beim Mason Falls Police Department galt ein schriftlich fixiertes Regelwerk, wenn es um die Festnahme eines Verdächtigen ging. Diese Richtlinien blieben nur leider eher vage hinsichtlich des speziellen Falls, dass der Verdächtige zwei Meter zwanzig groß war, hundertfünfzig Kilo wog und einem Cop für eine geraume Weile den Kopf unter Wasser drückte.

Die Frau neben Cat Flannery war Tusila Meadows, die Schwester des Toten.

Mit annähernd eins neunzig und einem Gewicht von schätzungsweise hundertdreißig Kilo war Tusila das schmächtigste Mitglied der Familie Meadows, das mir bislang untergekommen war. Und ich hatte so einige von ihnen kennenlernen dürfen.

Staatsanwältin Yugel kam unverzüglich zur Sache.

»Richter Crocket hat uns hier zusammenkommen lassen, um unseren Vorschlag zur Güte zu unterbreiten.«

Sie schob eine Mappe voller Papierkram über den Tisch. »Ich habe hier ein verbindliches Angebot über 150.000 Dollar. Berücksichtigt hierbei ist polizeiliches Beweismaterial, das Donnie Meadows mit zwei Anklagen wegen Entführung, einer Anklage wegen Mordes und drei Anklagen wegen versuchten Mordes in Verbindung bringt.«

Tiger-Cat würdigte die Mappe keines Blickes.

»Wissen Sie, was ich an der Anwaltstätigkeit so liebe?«, sagte sie. »Wenn man als Anwalt tätig ist und gewinnt, gewinnt man. Und wenn man tätig ist und verliert, verliert man.«

Cat nahm das Angebotsschreiben an sich, schob uns den Rest der Unterlagen jedoch zurück.

»Spielt aber ein Cop den Scharfrichter, kommen wir hier vor Gericht nicht zusammen, um zu untersuchen, ob Donnie tatsächlich schuldig war.«

Ich setzte mich gerader hin.

Donnie Meadows war schuldig. Wir hatten ihn bei mindestens drei der fünf Anklagepunkte auf frischer Tat ertappt, darunter ein Mord und zwei Mordversuche.

Tusila griff nach einem Kugelschreiber, der auf dem Tisch lag. Sie trug ein violettes Kleid mit einem Muster aus winzigen stilisierten Lilien. Als sie sich der zweiten Seite widmete, fischte Staatsanwältin Yugel einen Satz Papiere aus ihrer Aktenmappe.

»Wir erwarten darüber hinaus, dass Mrs Meadows die übliche Vertraulichkeitsvereinbarung unterschreibt«, fügte Yugel hinzu.

Tusila legte den Stift hin. Sie hatte ein vierschrötiges Gesicht und eine Kieferpartie wie ein Brauereipferd. »Was soll das heißen?«, fragte sie ihre Anwältin. »Ich darf nicht mit meinen Freundinnen darüber reden? Die wissen, was ich durchgemacht habe?«

»Die Stadt will verhindern, dass die Öffentlichkeit erfährt, welche Beträge für außergerichtliche Vergleiche gezahlt werden«, erklärte Cat.

Tusila zögerte, unsere Blicke trafen sich. »Dann verlange ich aber eine Entschuldigung.«

»Schriftlich?«, wollte die Staatsanwältin wissen. »Schriftlich können wir leider nichts fixieren, Mrs Meadows.«

»Ich rede nicht von einem Ihrer Schriftstücke.« Tusila starrte Yugel wütend an. »Ich will eine gottverfluchte Entschuldigung von ihm da.«

Ich spürte, wie ich im Gesicht rot anlief, und ballte unterm Tisch die Faust.

Eine Formalität.

So hatte die Staatsanwältin dieses Zusammentreffen genannt. Denn Cat Flannery hatte bereits eine E-Mail mit ebenjenem Vergleichsangebot erhalten und es an ihre Klientin weitergeleitet, die sich am Abend zuvor damit einverstanden erklärt hatte.

Staatsanwältin Yugel blinzelte. »Sie wollen das Dokument nicht unterzeichnen?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Tusila. »Ich muss darüber nachdenken.«

Die Staatsanwältin bedachte mich mit einem kurzen Seitenblick.

Yugel war Strafrechtlerin. Es war nicht ihr Job, Bullen zu verteidigen. Bürgermeister Stems wusste jedoch, dass sie mit dem Fall vertraut war, weshalb er sie gebeten hatte, die Angelegenheit möglichst schnell ins Reine zu bringen. Sonst hätte man Fremdanwälte hinzuziehen müssen, für 350 Dollar pro Stunde und Nase.

Tiger-Cat lächelte. Sie genoss das Chaos. »Es muss ein Heidenspaß sein, mit Ihnen verheiratet zu sein, Detective«, sagte sie, »wenn Sie sich derart renitent weigern, hier unter uns vieren im ansonsten leeren Raum ›Es tut mir leid‹ zu sagen.«

Tusila rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. Wie die anderen Mitglieder ihrer Familie war sie halb samoanischer, halb deutscher Herkunft. »Ich glaube, meine Cousins und Cousinen würden ebenfalls gerne eine Entschuldigung von Ihnen hören«, sagte sie.

Cats Blick blieb stur auf mich gerichtet.

»Gerade ist es mir wieder eingefallen«, sagte sie. »Sie sind gar nicht mehr verheiratet, Detective. Genau das versetzt Sie in diesen Zorn, stimmt’s? Sie haben dieses junge schwarze Mädchen, mit dem Donnie zusammen war, als eine Art Ersatz für Ihre tote Frau betrachtet? Und Sie haben rotgesehen. Aufgehört, an Dinge wie faire Gerichtsverfahren zu denken. Oder Beweislast.«

Eine Schweißperle rollte mir den Nacken herunter.

Als Ermittler begegnet man Opfern an den schlimmsten Tagen ihres Lebens. Und man krallt sich Verdächtige, die zum untersten Bodensatz der Gesellschaft gehören. Und das tagtäglich, kapiert? Von morgens bis abends. Immer und immer wieder.

Doch dann und wann ist ein Fall mehr als das. Dann und wann steht man von Angesicht zu Angesicht dem Bösen in Reinkultur gegenüber.

»Mir ist durchaus bewusst, dass es wichtig ist, zu einer Einigung zu gelangen, Mrs Meadows«, sagte ich. »Und was Ihren Bruder betrifft – der hat sich mit ein paar echt finsteren Leuten eingelassen.«

»Das sage ich doch schon die ganze Zeit.« Tusila riss die Arme hoch.

Aus dem Augenwinkel sah ich Staatsanwältin Yugel nicken.

Sag es, schrie ihre Körpersprache. Entschuldige dich.

»Doch da gibt es ein Ehepaar ohne fünfzehnjährigen Sohn, weil Ihr Bruder ihn umgebracht hat«, fuhr ich fort. »Und das geschah, bevor er meiner Partnerin eine Kugel in den Arm jagte. Und versuchte, mich zu ertränken.«

Ich sah Tusila in die Augen. »Also besteht nicht mal der Hauch einer beschissenen Chance, dass Sie eine Entschuldigung von mir hören werden. Nicht hier. Nicht heute. Nicht vor Gericht. Niemals. Dieses Geld ist alles, was Sie kriegen können.«

Einen Augenblick wurde es totenstill im Raum, und Cat richtete sich an ihre Klientin. »Habe ich Ihnen nicht prophezeit, wie es ablaufen würde, wenn Sie eine schlichte Entschuldigung verlangen?«

Die Anwältin schob die Dokumente zurück. »Einmaliges Angebot, Liz. Machen Sie zweihundert Riesen draus, und ich werde Mrs Meadows nachdrücklich empfehlen, die Schriftstücke auf der Stelle zu unterschreiben.«

»Sie wissen, dass ich dazu nicht befugt bin«, gab Liz Yugel zurück.

»Wollen wir?«, fragte Cat ihre Klientin.

Tusila Meadows stand auf, ohne die Papiere zu unterzeichnen. Und ich erinnerte mich an etwas. Die Klage richtete sich gegen das Dezernat, aber die Staatsanwältin hatte mir erläutert, dass ich als Nächster an der Reihe wäre, falls der Fall nicht rasch erledigt würde. Eine gegen mich persönlich gerichtete Zivilklage.

Tusila glotzte mich an. Und einen kurzen Moment lang verspürte ich geringfügig das Bedürfnis, die Sache aus der Welt zu schaffen. Ich könnte eine Handvoll Wörter stottern, und sie würde sich wieder setzen, den Kugelschreiber nehmen und unterzeichnen.

Doch am Ende des Tages … Wir sind, wer wir sind.

»Dann gehen Sie halt«, sagte ich. »Wenn Sie nicht unterschreiben, haben Sie hier nichts mehr verloren.«

Tusila und Cat verließen den Saal.

6

Um zwei Uhr nachmittags war ich zurück im Dezernat und stieß in der Kantine auf Remy, die sich mit einem Salat und ihrem iPad auf einen Stuhl gepflanzt hatte.

»Gibt’s was Neues?«, fragte ich.

»Der Drogenbefund ist reingekommen«, sagte sie. »Negativ. Keinerlei toxische Substanzen bei Fultz.«

»Und die Nachricht von seinem Tod?«

»Die habe ich Ennis Fultz’ Sohn Cameron überbracht. Er kam gerade aus dem Urlaub zurück. Ich habe ihn abgepasst, als er vom Flughafen in seine Auffahrt einbog. Der Mann ist regelrecht zusammengeklappt. Komplett aufgelöst in Tränen.«

»Du lieber Himmel«, sagte ich. »Woher kam er?«

»Jacksonville«, sagte Remy. »Netter Typ. Anfang dreißig. Sportlich.« Sie nahm ihr iPad zur Hand. »Hat die letzten vier Tage zusammen mit seiner Freundin mit Golfen im Sawgrass Marriott verbracht.«

»Wann hat Cameron seinen Dad zum letzten Mal gesehen?«

»Freitag vor zwei Wochen. Hat gesagt, der alte Herr hätte an COPD gelitten, einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung.«

Das erklärte den Inhalator. Und die Sauerstoffflasche.

»Anscheinend hat der Alte den Sauerstoff ein paarmal die Woche zum Einschlafen gebraucht«, sagte Remy. »Und nach seinen täglichen Spaziergängen entlang der Schlucht.«

»Was hat der Sohn von seiner Mutter erzählt?«

»Fultz und seine Ex haben sich vor zwei Jahren getrennt.« Remy studierte ihre Notizen. »Von da an herrschte Funkstille zwischen ihnen. ›Verbittert‹ war das Wort, das er gebrauchte.«

Ich dachte an das Kondom im Mülleimer.

»Freundin?«

»Cameron hatte keine Ahnung, ob sein Vater sich mit irgendwem traf«, erklärte Remy. »Ach ja, und Sarah braucht bezüglich der Todesursache noch Zeit bis nach Feierabend.«

Ich nickte und ließ die Infos sacken.

Eine Möglichkeit wäre gewesen, unseren Ermittlungsansatz hinsichtlich der Familie auf die Sex-Geschichte zu konzentrieren. Rauszufinden, wer dort im Haus gewesen war. Andererseits mussten wir aufpassen, Fultz’ guten Ruf nicht vor den Augen des Chiefs und seiner Kumpane im Stadtrat in den Schmutz zu ziehen, falls er eines natürlichen Todes gestorben war.

»Ich werde Fultz’ Ex-Frau mal unauffällig unter die Lupe nehmen«, sagte ich. »Grundlagenforschung, die wir ohne Vorladung durchziehen können. Falls Sarah mit einem natürlichen Tod aufwartet, kommen wir hier wahrscheinlich nicht weiter, Kollegin.«

Remy stand auf und schmiss den Rest ihres Hühnersalates weg. »Und ich?«

»Überprüf das Alibi des Sohnes. Wo er sich seit Sonntag überall aufgehalten hat. Grobes Finanzprofil.«

Ich zog mich in mein Büro zurück und öffnete meinen Internetbrowser.

Connie Fultz war eine leicht zu recherchierende Frau und schien so gut wie immer im Abendkleid aufzutreten. Etwa bei Galas in Verbindung mit der Universität von Athens. Oder bei Wohltätigkeitsveranstaltungen in Anwesenheit des Bürgermeisters und des ehemaligen Polizeichefs Miles Dooger.

Sie war groß und trug ihr braunes Haar hochgesteckt, um auf diese Weise die Klunker um ihren Hals zu betonen – Juwelen, die einen locker um einen vier- bis fünfstelligen Betrag ärmer machten.

Und gut die Hälfte der Fotos zeigte Ennis Fultz an ihrer Seite. Die dazugehörigen Zitate von Ennis und Connie machten mir klar, dass Connies Mission auf Menschenliebe hinauslief und Ennis sich ihr auf dieser Mission anschloss – zumindest bei entsprechenden Anlässen.

Mir kam der Einbruch in den Sinn, wenn es einen solchen denn überhaupt gab, dazu Fultz’ Angewohnheit, Bargeld zu bunkern. Die Gegend draußen bei der Schlucht war gottverlassen. Wie zum Geier kam überhaupt jemand auf die Idee, dort rauszufahren?

Ich klickte mich weiter zu einer Online-Landkarte und von da durch den Osten und Westen des Grundstückes.

Gute anderthalb Kilometer entfernt entdeckte ich eine Valero-Tankstelle. Ich schlurfte zu Remys Schreibtisch hinüber und ließ sie dieselbe Karte öffnen.

»Wenn jemand bei Fultz eingebrochen ist«, sagte ich, »ist dieser Jemand höchstwahrscheinlich an der Tankstelle vorbeigefahren, oder?«

»Falls er aus Richtung Stadt kam, dann ja«, meinte Remy. »Denkst du, die Valero-Tanke hat Überwachungskameras?«

»Den ganzen Tag über war bestimmt viel los«, überlegte ich. »Sollte es Kameras geben, haben sie die Aufnahmen möglicherweise zeitnah gelöscht.«

Remy zog die Schreibtischschublade auf, in der sie ihre Knarre aufbewahrte. Sie schnappte sich ihre Glock, und wir eilten nach draußen zum Wagen.

»Der Sohn scheint also sauber zu sein?«, fragte ich.

Remy nickte und berichtete von ihren Anrufen, um Cameron Fultz’ Alibi zu überprüfen.

»Er hat mit seiner Freundin Suzanne diverse Restaurants in Ponte Vedra besucht. Das Spa. Jeden Morgen hat er einen klassischen Vierer-Golf gespielt, auch am Montagmittag um halb zwölf, dem ungefähren Todeszeitpunkt.«

Remy gab ihrem Alfa die Sporen, und ich hörte dieses kehlige Knurren aus dem Auspuff knattern.

»Was macht er beruflich?«, fragte ich.

»Arbeitet für eine genossenschaftliche Holzfällerfirma. Als eine Art Gutachter. Lebt nördlich der Stadt in einem Haus älteren Baujahrs. Verdient gut und gibt das meiste davon aus. Hypothek von der Bauhandwerkerversicherung auf dem Haus. Nichts Besonderes.«

Eine halbe Stunde später saßen wir mit der Filialleiterin zusammen in dem winzigen Personalbüro der Tankstelle.

Tamara Bradley war groß, dunkelhäutig und hatte sich grüne und gelbe Perlen ins Haar flechten lassen. Sie spulte das Band zu den Aufnahmen von Montagmorgen zurück und ließ uns allein, um das Material zu sichten.

Nach ungefähr zehn Minuten bat ich Remy, die Pausentaste zu drücken. Es gab keinen Ton. Nur das nun eingefrorene Bild einer Brünetten, die an Zapfsäule Nummer vier einen weißen BMW der 7er-Serie betankte.

Connie Fultz.

Unseren Unterlagen zufolge war sie neunundfünfzig, aber top in Form. Sie wirkte deutlich jünger. Sogar in Schwarz-Weiß konnte man ihre Rolex funkeln sehen.

Die Zeitangabe stand bei 10:18, der Beginn jener vierstündigen Spanne, die Sarah für den Sterbezeitpunkt angesetzt hatte.

»Tja, verrate es nicht dem Sohn«, sagte ich. »Aber ich glaube, wir haben soeben herausgefunden, um wen es sich bei Fultz’ fester Freundin handelt.«

Remy fummelte an dem Programm herum, bis sie einen anderen Winkel eingestellt hatte.

Connie stieg in ihren Wagen und fuhr um 10:19 Uhr in die Richtung von Ennis Fultz’ Haus davon. Montag. Der Tag, an dem Fultz starb.

Die Managerin kam ins Büro zurück. »Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen eine DVD davon brennen«, bot sie an. »Für die Versicherung machen wir das dauernd. Wenn Leute mit dem Stutzen im Tank losfahren.«

»Danke«, sagte ich.

Wir bekamen unsere DVD, und Remy witzelte, dass wir jetzt nur noch einen antiken Computer mit DVD-Laufwerk auftreiben müssten, um das Ding anzuschauen.

Als wir ins Freie traten, wandte ich mich zu meiner Kollegin um und deutete in die Richtung, in die Connie Fultz gefahren war.

»Was liegt sonst noch auf diesem Weg, Remy?«

»Abgesehen vom Anwesen ihres Ex-Mannes?« Remy runzelte die Stirn. »Nichts, was sich nicht schneller über den Highway erreichen ließe. Das Problem ist nur – es genügt nicht, sich die Ex-Frau zu schnappen. Vor allem bei den Verbindungen, die diese Leute unterhalten.«

»Wer hat davon gesprochen, sie zu schnappen?«, sagte ich. »Ihr Ex-Gatte ist tot. Betrachte es einfach als Benachrichtigung Nummer zwei.«

7

Connie Fultz kreuzte um drei Uhr nachmittags im Revier auf, und Remy führte sie in Verhörraum B. Ich stand in dem kleinen Beobachtungsbereich, von dem aus man Einblick in die Räume A und B hatte.

Connie trug eine weiße Hose und einen dünnen Pullover über einer pinken Bluse mit U-Ausschnitt. Wie auf dem Tankstellenvideo sahen ihr Gesicht und ihr Körper eher nach fünfzig als nach neunundfünfzig aus. Diese Figur war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit das Ergebnis von kostspieligen Fitnesstrainern und Pilates-Kursen.

Remy stand vor der Tür zum Verhörraum, und ich drehte mich zu ihr um.

»Lass uns nicht hier drin sprechen«, sagte ich. »Sie hat keinen Anwalt, und es gibt keine offizielle Vorladung.«

Ich trat hinter meine Partnerin und drückte die Tür zum Verhörraum auf. »Verzeihen Sie«, sagte ich zu Connie. »Wir bauen um und leiden unter einem temporären Mangel an Konferenzräumen. Ich bin Detective Marsh.«

Connie Fultz erhob sich und schüttelte mir die Hand.

»Wir wollten gerade zum Park spazieren und uns ein Eis holen«, sagte ich. »Haben Sie Lust, uns zu begleiten? Wir können uns dann draußen unterhalten.«

»Warum nicht?«, sagte Connie, und ich wies ihr den Weg Richtung Foyer.

Wir durchschritten den Haupteingang und traten auf den Bürgersteig.

»Das mit Ennis tut mir leid«, sagte Remy.

Connie schaute meine Kollegin an. »Sie sind die Beamten, die mit Cameron gesprochen haben?«

Remy nickte, und wir überquerten die Straße hin zu einem Park in unmittelbarer Nähe des Reviers.

»Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, als der Ehemann noch das Zentrum des Universums war«, sagte Connie. »Und Ennis war neununddreißig Jahre lang meines.«

Es gibt eine bestimmte Gruppe von Frauen in den Südstaaten – gebildet, reich oder beides –, die gelernt haben, gewisse Wörter extrem zu dehnen, sie derart in die Länge zu ziehen, dass man den Eindruck bekommt, man werde von einer Debütantin aus einer längst vergangenen Zeit bezirzt. Zu diesem Typ Frau gehörte Connie Fultz.

»Was für ein Mensch war er?«, wollte Remy wissen.

»Ennis war bezaubernd und charmant.« Connie hielt inne. »Er war sehr attraktiv.« Sie setzte ein sanftes Südstaatenlächeln auf. »Und er war ein echter Mistkerl.«

Wir betraten eine Fläche, die von diesem schwammigen, aus recycelten Autoreifen gewonnenen Plastikzeug überzogen war – damit die Kids sich nicht wehtaten, wenn sie hinfielen.

»Wo haben Sie beide sich kennengelernt?«, erkundigte ich mich.

»An der Georgia«, gab sie zur Antwort und meinte damit die Universität. »Ich hatte mich für diesen Erstsemester-Brunch fertig gemacht. Wartete wie eine Idiotin eine volle Stunde lang draußen vor der Mensa, in meinem besten Sommerkleid.«

»Sie wurden versetzt?«, fragte Remy.

»Ja, wurde ich.« Connie nickte. »Dann tauchte plötzlich dieser hübsche Kerl von Ende zwanzig auf. Fragte mich, ob alles in Ordnung wäre.«

»Ennis war älter?«

»Ein siebenundzwanzigjähriger Studienanfänger.« Connie lächelte. »Er hatte nach der Highschool neun Jahre lang auf der Farm seines Vaters gearbeitet.«

Das erklärte ihren Altersunterschied.

»Was geschah dann?«, fragte Remy.

»Nach dem College haben wir geheiratet und sind nach Atlanta gezogen«, sagte sie. »Ennis war der Ansicht, man werde die Friedhöfe in die Vororte verlegen. Die Grundstücke in den Innenstädten seien zu wertvoll.«

»Er hatte recht.«

»Wir betrieben zu guter Letzt sowohl das Friedhofsgeschäft in den Außenbezirken als auch das kommerzielle Immobiliengeschäft in der Stadt. Als ich dreißig war, gehörten uns hundert Objekte. Ennis mochte eher die Friedhöfe. ›Tote Mieter beschweren sich selten‹, pflegte er zu sagen.«

Wir kamen bei dem Eiskarren an, und ich zog einen Zehner aus der Tasche. Der Verkäufer nahm drei dieser spitzen Papiertüten und füllte sie mit geschabtem Sirup-Eis.

Remy bekam Weintraube, ich Kirsche. Und Connie wählte Sauerapfel.

Harmonie und guter Draht waren eine feine und wichtige Sache, aber wir hatten lange genug um den heißen Brei herumgeredet.

Ende der Leseprobe