Cold War Freud - Dagmar Herzog - E-Book

Cold War Freud E-Book

Dagmar Herzog

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Beschreibung

Hitzige Kämpfe tobten in der Folge des Zweiten Weltkrieges um das Erbe Sigmund Freuds. Die verspätete Aufarbeitung des Nationalsozialismus, die sexuelle Revolution und die Dekolonisation stießen fundamentale Transformationsprozesse in der psychoanalytischen Theorie an, die ihrerseits auf die Kultur zurückwirkten. Von den USA über Europa bis nach Lateinamerika schildert Dagmar Herzog die Deutungskämpfe einer Zunft, deren konkurrierende Theorien über Begehren, Angst, Aggression, Lust und Trauma mal konservativen, mal subversiven Zielen dienten – und hält damit ein innovatives Plädoyer für die Psychoanalyse als Erkenntnisinstrument im Dickicht der Verflechtung von Psyche und Gesellschaft.

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Cover

Titel

3Dagmar Herzog

Cold War Freud

Psychoanalyse in einem Zeitalter der Katastrophen

Aus dem Amerikanischen von Aaron Lahl

Suhrkamp

Impressum

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Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Cold War Freud. Psychoanalysis in an Age of Catastrophes bei Cambridge University PressDie deutschsprachige Ausgabe wurde in Zusammenarbeit mit der Autorin geringfügig überarbeitet und aktualisiert.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2393.

© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023 © Dagmar Herzog 2017

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Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-77452-6

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

5Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Einleitung

I

Die Welt draußen lassen

1 Die Libidokriege

Horneys Sexualtheorien

Die Entsexualisierung der Psychoanalyse

Die Menningers

Die Psychoanalyse und der Papst

Schluss

2 Die Beharrlichkeit der Homophobie und die Neuerfindung der Psychoanalyse

Homophobie nach Freud

Homophobie im Amerika des Kalten Kriegs

Die Liebesdoktrin

Von Ödipus zu Narziss: Homophobie nach der sexuellen Revolution

Stollers Einspruch

Schluss

II

Erbschaften des Nationalsozialismus

3 Antisemitismus nach dem Holocaust und der Aufstieg der

PTBS

Die Argumentation der Entschädigungsgegner

Die Argumentation der Entschädigungsbefürworter

Eisslers Kritik

Schluss

4 Der Kampf zwischen Eros und Tod

Mitscherlich, Psychoanalyse und Aggression

Lorenz' Kritiker:innen

Grausamkeit als Arbeit

Die Wiederentdeckung Melanie Kleins

Schluss

III

Freud radikal

5 Ödipus in die Luft jagen

Reich, Klein und Lacan neu interpretiert

Die Unentwirrbarkeit des Persönlichen und des Politischen

Eine kollektive Großmut

Schluss

6 Ethnopsychoanalyse in Zeiten der Dekolonisierung

Eine Mini-Ethnie

Auf der Suche nach Ödipus in der Fremde

Weiße denken zuviel

Die Stellung der Perversionen

Schluss

Nachwort

Anmerkungen

Einleitung

1. Die Libidokriege

2. Die Beharrlichkeit der Homophobie und die Neuerfindung der Psychoanalyse

3. Antisemitismus nach dem Holocaust und der Aufstieg der

PTBS

4. Der Kampf zwischen Eros und Tod

5. Ödipus in die Luft jagen

6. Ethnopsychoanalyse in Zeiten der Dekolonisierung

Nachwort

Textnachweise

Bildnachweise

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7Einleitung

Cold War Freud befasst sich mit den Begegnungen freudianischer Theorien über Begehren, Angst, Aggression, Schuld, Trauma und Lust – also über die Natur des menschlichen Selbst und seiner Motivationen – mit den unheilvollen Ereignissen des Zweiten Weltkriegs und der Folgezeit. Oft wird die Psychoanalyse in ihrer Sicht auf die menschliche Natur für ahistorisch gehalten, doch das Gegenteil ist der Fall. Die Einflüsse epochaler sozialpolitischer und kultureller Transformationen auf die psychoanalytischen Prämissen und Praktiken werden in den Nachkriegsjahrzehnten besonders deutlich. Genau in dieser Zeit erlangte die Psychoanalyse im gesamten Westen die größte Bedeutung sowohl in der Medizin als auch in der Massenkultur. Denn im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat das psychoanalytische Denken nahezu alle anderen Denksysteme beeinflusst – von den großen religiösen Traditionen bis zu den sozialwissenschaftlichen Disziplinen, von der konventionellen Ratgeberliteratur bis zu radikalen politischen Protestbewegungen. Die Psychoanalyse wurde in all ihrer unbändigen Komplexität zu einem integralen Bestandteil der Sozial- und Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Die Blütezeit der intellektuellen und populären Beschäftigung mit der Psychoanalyse erstreckte sich von den 1940er bis in die 1980er Jahre – von der konservativen Konsolidierung der Nachkriegszeit bis zur (erst verzögerten, aber dann sehr intensiven) Auseinandersetzung mit den Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus und des Holocaust, von der Bewegung gegen den Vietnamkrieg und der damit einhergehenden Umkehrung der Moral- und der Generationenordnung bis zur Konfrontation mit den neuen Diktaturen des Kalten Krieges, von der sexuellen Revolution und dem Aufstieg der Frauen- und Homosexuellenbewegungen bis zu einem verstärkten Interesse am globalen Süden sowie daran, von ehemals kolonialisierten Völkern in einer (nur unvollständig) entkolonialisierten Welt zu lernen. Alte Annahmen über das Wesen des Menschen wurden durch neue ersetzt, und die Kämpfe innerhalb und um die Psychoanalyse stellten eine Sprache bereit, um über diese Veränderungen nachzudenken sowie darüber, was im Lichte dessen getan werden 8könnte und sollte, um eine gerechtere Welt herbeizuführen. Doch die Beziehungen zwischen Psychoanalyse und Politik waren eine permanente Quelle von Ambivalenz.

Sigmund Freud starb 1939 im Londoner Exil. Der Geist ständiger kritischer Selbstrevision hatte seinen Umgang mit dem eigenen Theoriegebäude geprägt; regelmäßig hatte er sich zudem zwischen Fragen der klinischen Technik, der anthropologischen Spekulation und der politischen Meinung hin- und herbewegt. Für ihn war die Psychoanalyse zugleich eine therapeutische Methode, eine Theorie der menschlichen Natur und ein Werkzeugkasten für Kulturkritik. Über die unlösbaren Spannungen zwischen den therapeutischen und den kulturdiagnostischen Potenzialen der Psychoanalyse sollte in den folgenden Jahren jedoch nicht nur unter Freuds Kritiker:innen, sondern auch unter seinen Anhänger:innen gestritten werden. Und was dabei auf dem Spiel stand, hatte sich dramatisch verändert. Die Konflikte zwischen den verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten des psychoanalytischen Denkens verschärften sich besonders in der Folge des Zivilisationsbruchs, den der Siegeszug des Nazismus in den 1930er Jahren und der in allen Hinsichten beispiellose Massenmord in den 1940er Jahren herbeiführten. Dies lag nicht nur an der aus dem Aufstieg des Faschismus resultierenden Zerstreuung der psychoanalytischen Gemeinschaft, sondern vor allem an den drastischen Fragen, die durch die historischen Ereignisse selbst aufgeworfen wurden. Die Psychoanalyse, so stellte sich immer wieder heraus, kann sowohl normativ-konservative als auch sozialkritische Implikationen haben. Und obwohl die Praktiker:innen und Sympathisant:innen oft hin- und herschwankten zwischen dem Versuch, Dynamiken in den intimsten Winkeln der menschlichen Fantasien und Körper offenzulegen, und dem Wagnis, sich über Kultur und Politik im weitesten Sinne zu äußern, gab es nie eine selbstverständliche Beziehung zwischen den möglichen politischen Implikationen psychoanalytischer Grundsätze – seien diese im Einklang mit linken, zentristischen oder rechten politischen Positionen – auf der einen Seite und den Feinheiten in der psychotherapeutischen Methode oder den theoretischen Formulierungen auf der anderen. Auch entlang der von allen Seiten abgegebenen Erklärungen des Bruchs mit beziehungsweise der Treue zu Freud ließ sich diese komplexe Sachlage nicht ohne Weiteres sortieren.

9Im Jahre 1949 fand in Zürich der erste Kongress der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) nach dem Zweiten Weltkrieg statt. Das Weltgeschehen hatte die IPV für mehr als ein Jahrzehnt daran gehindert, sich zu treffen. In Zürich wandte sich der in Wales geborene und in London lebende Neurologe und Psychoanalytiker Ernest Jones – Präsident der IPV, einer der angesehensten Exponenten der Psychoanalyse in Großbritannien, langjähriger Herausgeber des International Journal of Psycho-Analysis und bald darauf Freuds offizieller Biograf – mit der Bitte an das Publikum, sich von allem fernzuhalten, was als politisch subversiv ausgelegt werden könnte. Tatsächlich forderte er seine Kolleg:innen sogar auf, sich aus jeglichen Diskussionen über extrapsychische Faktoren herauszuhalten.

Vielleicht war es auch eher ein Befehl als eine Bitte. Jones wies seine Zuhörer:innen an, sich strikt auf »die primitiven Kräfte des Geistes« zu fokussieren und dem »Einfluss soziologischer Faktoren« aus dem Weg zu gehen.1 Ihm zufolge sollte aus der jüngsten Vergangenheit – der Eroberung eines Großteils des europäischen Kontinents durch die Nationalsozialisten und der damit einhergehenden rasanten Vergrößerung der psychoanalytischen Diaspora sowie der Tatsache, dass in den Ländern jenseits des Eisernen Vorhangs die während des Krieges stillgelegten psychoanalytischen Vereinigungen zum damaligen Zeitpunkt nicht wieder aufgebaut werden durften – die Lehre gezogen werden, dass Politik jeglicher Art am besten auf Distanz zu halten sei. Jones' offizielle Begründung für das Gebot der streng apolitischen Haltung beruhte, kurz gesagt, auf politischen Ereignissen (und war zudem insofern merkwürdig, als sie die Tatsache verdrängte, dass in den 1930er und 1940er Jahren von Fachkolleg:innen eine ganze Reihe von Schriften über Themen wie Krieg, Aggression und Vorurteile verfasst worden war, und zwar auch von britischen einschließlich Jones selbst).2 Oder, wie er sein Argument formulierte: »Wir müssen der Versuchung widerstehen, uns hinreißen zu lassen, emotionale Abkürzungen in unserem Denken zuzulassen, dem Weg der Politiker zu folgen, denen es schließlich nicht besonders gut gelungen ist, zum Glück der Welt beizutragen.« Doch seine Anweisung war multifunktional. Denn die Vermeidung von Diskussionen über Politik und allgemein extrapsychische Dynamiken hatte den zusätzlichen Effekt, dass sie von der geheimen Absprache zwischen Jones und Sigmund und Anna Freud 10ablenkte, die dazu führte, dass der marxistische Psychoanalytiker Wilhelm Reich (aufgrund seiner politischen Toxizität, so die Begründung) von jenen Hilfsaktionen ausgeschlossen wurde, die sehr vielen Analytiker:innen, die während des Krieges auf der Flucht waren, das Leben retteten.3 Darüber hinaus brachte die antipolitische Anweisung den zusätzlichen Vorteil mit sich, dass sie eine formelle Zurückweisung der eher soziologisch orientierten »neofreudianischen« Tendenzen darstellte, die während der Kriegsjahre vor allem in den Vereinigten Staaten an Bedeutung gewonnen hatten (und die Jones gern kaltgestellt gesehen hätte). Jones war unerbittlich. Während »die Versuchung verständlicherweise groß ist, zu den Faktoren, die uns ein besonderes Anliegen sind, auch noch sozialpolitische Faktoren hinzuzufügen und unsere Erkenntnisse in soziologischer Hinsicht neu zu lesen«, sei dies, so mahnte er – in einer Beschreibung, die eigentlich eine Anordnung war – »eine Versuchung, der, wie man mit Stolz feststellen kann, mit sehr wenigen Ausnahmen entschieden widerstanden wurde«.4 Viele Psychoanalytiker:innen – in den USA, in West- und Mitteleuropa und in Lateinamerika – sollten auf Jones' Rat hören, ob aus persönlicher Vorliebe, auf institutionellem Druck hin oder aus einer Kombination von beidem.

Mehr als zwei Jahrzehnte und zehn (alle zwei Jahre stattfindende) Kongresse später, beim IPV-Kongress 1971 in Wien – eine Tagung, die auf den von Anna Freud zwei Jahre zuvor gebilligten Vorschlag des pakistanisch-britischen Psychoanalytikers Masud R. Khan, des Amerikaners Martin Wangh und des Argentiniers Arnaldo Rascovsky dem Thema »Aggression« gewidmet wurde –, sprach der angesehene westdeutsche Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich zu seinen internationalen Kolleg:innen und forderte sie auf, soziologische und politische Fragen ernst zu nehmen. Die Geschichte werde »alle unsere Theorien [hinwegfegen]«, so Mitscherlich in seinem Vortrag zum Thema »Psychoanalyse und die Aggression großer Gruppen« (über den die Kansas City Times ebenso berichtete wie die Pariser Ausgabe der Herald Tribune), wenn die Psychoanalyse nicht auf soziale Probleme angewandt werde.5 Ein offensichtlicher Kontext für Mitscherlichs Bemerkung war der Krieg, der zu jenem Zeitpunkt in Vietnam wütete. Tatsächlich stellte Mitscherlich einen ziemlich direkten Bezug zu diesem speziellen Konflikt her, als er seinen Kolleg:innen sodann vorrechnete, warum ihre Mo11delle und Konzepte der menschlichen Natur bald irrelevant werden würden: »Ich fürchte, dass uns niemand mehr sehr ernst nehmen wird, wenn wir weiterhin behaupten, dass Krieg entsteht, weil Väter ihre Söhne hassen und sie töten wollen, dass Krieg Filizid ist. Wir müssen stattdessen danach streben, eine Theorie zu finden, die das Gruppenverhalten erklärt, eine Theorie, die dieses Verhalten auf die gesellschaftlichen Konflikte zurückführt, die die individuellen Triebe in Bewegung setzen.«6 Mitscherlich zögerte auch nicht, sich auf die Geschichte seiner eigenen Nation zu berufen, und merkte an, dass »kollektive[ ‌] Phänomene ein anderes Verständnis [verlangen], als es in der Neurosenbehandlung erarbeitet werden kann. Die Verhaltensweisen der deutschen Bevölkerung während der Naziherrschaft und danach haben gezeigt, wie präformierte Charakterstrukturen und aggressive Propagandatechniken sich in spezifischer Weise miteinander verzahnen können, um Undenkbares Wirklichkeit werden zu lassen.«7 Darüber hinaus rief Mitscherlich unter Verweis auf Texte wie »Massenpsychologie und Ich-Analyse« (1921) und »Das Unbehagen in der Kultur« (1930) seinen Zuhörer:innen ins Gedächtnis, dass Sigmund Freud selbst ein großes Interesse an politischen und kulturellen Phänomenen hatte – und dass folglich die Beschäftigung mit extrapsychischen Bedingungen und Kräften keineswegs eine Abkehr vom Weg des Meisters bedeuten würde. Nichtsdestotrotz lagen die Zeitungen darin richtig, als sie schrieben: »Mitscherlichs Behauptung, dass destruktiv-aggressives Verhalten mit sozialen Faktoren zusammenhängt, läuft der gegenwärtigen freudianischen Orthodoxie zuwider – der zufolge Aggression sich aus internen psychischen Quellen herleitet, die triebhaft [instinctual]8 sind.«9 Und während Mitscherlichs politisch engagierte Kommentare »einen Beifallssturm unter den jüngeren Teilnehmern hervorrief[en] […], saßen manche ältere in steinernem Schweigen«.10 Die sich seit längerem abzeichnende intergenerationale, geografische und ideologische Kluft innerhalb der IPV war nun unübersehbar geworden.

Um 1970 herum war die IPV dominiert von einer Handvoll ihrer britischen, vor allem aber von ihren amerikanischen Mitgliedern, darunter viele gute Bekannte Mitscherlichs, der häufig zu Forschungszwecken in beide Länder reiste.11 Warum fand seine Botschaft nicht die erwünschte Resonanz bei seinen älteren Kolleg:innen? Mitscherlichs Spitze – »Alle unsere Theorien werden von der Geschichte weg12gefegt werden« – konnte nicht zuletzt deshalb seine amerikanischen Peers treffen und Beachtung in der internationalen Presse finden, weil sich die US-amerikanische Psychoanalyse damals tatsächlich in einer regelrechten Notlage befand. Das »goldene Zeitalter« der amerikanischen Psychoanalyse, das ungefähr von 1949 bis 1969 währte, sollte durch das Zusammenwirken einer Reihe von Faktoren seinem Ende entgegengehen: die feministischen und schwul-lesbischen Bewegungen mit ihren zahlreichen, höchst berechtigten Klagen über die in der Nachkriegspsychoanalyse endemische Misogynie und Homophobie; der Aufstieg neuer verhaltensorientierter Therapieformen, die weniger langwierig sind als die klassische Psychoanalyse, sowie – noch schwerwiegender – die explosionsartige Entwicklung der populären Selbsthilfekultur, die sich großenteils ausdrücklich gegen den Aufwand und die unterstellte Vergeblichkeit der Jahre auf der Couch profilierte; und schließlich ganz allgemein das antiautoritäre Klima. Kurzum: Die Strategie der Wendung nach innen und der Betonung intrapsychischer, allenfalls intrafamiliärer Dynamiken, die so bemerkenswert erfolgreich in den ersten beiden Nachkriegsdekaden war, erschien nun als hoffnungslos aus der Zeit gefallen.

Bereits zwei Jahre zuvor, also 1969, hatten einige jüngere, sich teilweise noch in Ausbildung befindende Analytiker:innen aus der Bundesrepublik, der Schweiz, Frankreich und Italien einen »Gegenkongress« zum zeitgleich stattfindenden IPV-Kongress in Rom organisiert, um ihre Stimme gegen den von ihnen wahrgenommenen Autoritarismus und die unzureichende Beschäftigung mit den sozialen Fragen der Zeit seitens der Führungsriege der internationalen psychoanalytischen Gemeinschaft zu erheben. Über 100 Teilnehmer:innen waren zu den mehrtägigen, engagierten Diskussionen erschienen (in einem Restaurant unweit des noblen Cavalieri Hilton-Hotels, in dem die registrierten Teilnehmer:innen des IPV-Kongresses residierten). Wie die Dollar-Zeichen auf dem Poster, das den Haupt-»Kongre$$« kritisierte, nur allzu klar machten, wurde der IPV vorgeworfen, sich mehr ums Monetäre und den beruflichen Selbstschutz zu kümmern als um Spitzenleistungen in der klinischen Praxis, von den drängenden politischen Fragen ganz zu schweigen (siehe Abb. 1).12 Dieser Gegenkongress fand bei nur wenigen prominenten Figuren der IPV Unterstützung. Dazu zählten die Schweizer Psychoanalytiker Paul Parin und Fritz Morgenthaler sowie der 14ohnehin mit der IPV im Clinch liegende Jacques Lacan, der extra aus Paris eingeflogen kam, nachdem er von der Aufregung und dem Medieninteresse am Gegenkongress gehört hatte. Und eben Alexander Mitscherlich, der auf dem Hauptkongress eine Rede hielt, in der er seine starke Sympathie für »Protest und Revolution« der Jugend zum Ausdruck brachte.13 In Rom sollten die jungen europäischen Dissident:innen dann gemeinsam mit mehreren (nicht nur jungen) Analytiker:innen aus Lateinamerika, vor allem Argentinien – von denen sich einige irritiert zeigten, dass Lateinamerikaner:innen in den Rednerlisten des IPV-Kongresses nicht hinreichend vertreten waren – ein Netzwerk namens »Plataforma« gründen.14 Dieses Netzwerk sollte die lateinamerikanischen und europäischen Radikalen in der psychoanalytischen Community für die folgenden beiden Jahrzehnte miteinander verbinden – eine Verbindung, die sowohl die klinische als auch die theoretische Arbeit der Beteiligten nachhaltig prägen sollte.15

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Abb. 1: Marianna Bolko, Elvio Fachinelli und Berthold Rothschild – Organisator:innen des »Gegenkongresses« in Rom, Juli/August 1969 – hängen ein Plakat auf, welches das Programm und die fachlichen Prioritäten des Kongresses der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung kritisiert. Der begleitende Artikel in der italienischen Zeitung L'Espresso berichtete sowohl über den Kongress als auch über den Gegenkongress, war aber vor allem von dem angeblich auf dem Gegenkongress artikulierten Vorwurf fasziniert, dass die amerikanischen Psychoanalytiker:innen »die Hegemonie über das Unbewusste erlangen wollen«.

Denn tatsächlich war die Psychoanalyse im globalen Maßstab keineswegs im Niedergang begriffen. Vielmehr verschoben sich bloß die geografischen und generationalen Zentren der Kreativität und des Einflusses. Die Psychoanalyse war im Begriff, ein zweites »goldenes Zeitalter« zu erleben, diesmal in West- und Mitteleuropa sowie in Lateinamerika (wenngleich dort verkompliziert durch sowohl brutale Repressionen vonseiten diverser diktatorischer Regime als auch eigennützige Komplizenschaft mit diesen).16 Diese zweite Hochblüte, die von Ende der 1960er Jahre bis in die späten 1980er Jahre dauerte, wurde nicht zuletzt von der 1968er-Generation sowie von den Älteren getragen, die – wie Mitscherlich, Parin und Morgenthaler – mit den Anliegen der Neuen Linken sympathisierten. Die Neue Linke war schlicht und ergreifend der Hauptmotor der Erneuerung und kulturellen Konsolidierung der Psychoanalyse in West- und Mitteleuropa sowie ihrer Weiterentwicklung in Lateinamerika.17 Doch es war ein ganz anderer Freud, den diese Rebellen wieder aufleben ließen. Ja, man könnte sagen, dass es in der Ära des Kalten Krieges generell mehr als einen Freud gab. Es waren aber nicht bloß zwei oder drei oder ein Dutzend Freuds im Umlauf. Sondern eher Hunderte.

In den letzten Jahren ist das Interesse an Freud und der Geschichte der Psychoanalyse wieder deutlich aufgelebt. Bereits 2006 beobach15tete der amerikanische Historiker John C. Burnham die Entstehung einer »historiografischen Wende«, aus der ein Forschungszweig hervorgehe, den er als die »Neuen Freud-Studien« bezeichnete. Dass ein riesiges Archiv an Primärquellen nun erstmals für die Forschung geöffnet und der Öffentlichkeit zugänglich sei – insbesondere die Sammlung der Sigmund Freud Archives in der Library of Congress –, werde, so stellte Burnham damals fest, unvermeidlich einen Strom neuer Arbeiten anregen. (Für einen Großteil des Materials dieser Sammlung, die 1951 begonnen wurde und eine Fülle von Korrespondenzen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie umfangreiche Interviews umfasst, die in den frühen 1950er Jahren mit Dutzenden von Personen geführt wurden, die Freud persönlich kannten, wurden die Zugangsbeschränkungen in der Tat erst zwischen 2000 und 2015 aufgehoben.)18

Da die Geschichte der Psychoanalyse so lange von Insider:innen (zumeist praktizierende Psychoanalytiker:innen) und nicht von Historiker:innen geschrieben worden sei und diese Insider:innen ihre jeweiligen Versionen »der Geschichte der Psychoanalyse als Waffen in ihren Kämpfen um die Kontrolle über das medizinische, psychologische und philosophische Verständnis Freuds und der Freudianer benutzten« – und daher zum Verfassen von Schriften neigten, die »ihren Ausgangspunkt in eher whiggistisch angelegten Rechtfertigungen späterer Versionen der Theorie und der klinischen Praxis hatten« –, vermutete Burnham, dass die Einbeziehung von Außenstehenden die Art und Weise, wie die Geschichte des Feldes erzählt wird, verändern werde.19 Und so sollte es auch kommen – wenngleich hinzugefügt werden muss, dass auch Insider:innen absolut hervorragende historische Arbeiten verfasst haben und wohl auch mit Blick auf manche Themen, etwa die Entwicklung der Behandlungstechnik, nicht selten besser qualifiziert sind (und natürlich gibt es auch Personen, die sowohl Analytiker:in als auch Historiker:in sind und diese doppelte Sichtweise kreativ einbringen).20

Seit den 1990er Jahren und den »Freud-Kriegen« – Kriege um den wissenschaftlichen Zugang zum Archiv, aber auch um die Bedeutung des Freud'schen Vermächtnisses sowie um die Reputation der Psychoanalyse überhaupt – wurden mehrere bahnbrechende historische Arbeiten veröffentlicht, die von außen kommende Perspektiven auf die Geschichte der Psychoanalyse entwickeln und die Verflechtung des psychoanalytischen Denkens mit der Kulturge16schichte aufzeigen.21 Diese Untersuchungen profitierten nicht nur von den neuerdings zugänglich gemachten Quellen, die ihnen originelle Perspektiven auf das Denken Freuds eröffneten, sondern erschlossen sich auch ganz neue Gegenstandsbereiche, wie zum Beispiel die Internationalisierung der Psychoanalyse, das komplizierte Verhältnis von Psychoanalyse und Feminismus oder die fast unendlichen Permutationen, Zirkulationen und Zweckentfremdungen der Freud'schen Konzepte in der Post-Freud-Ära.22

In der jüngeren Vergangenheit ordnet sich das Feld solcher Arbeiten – zu dem auch Cold War Freud gehört – entlang zweier Hauptachsen. Die eine Achse umfasst geschichtswissenschaftliche Werke, die die Post-Freud-Akteur:innen entweder in nationalen Kulturen oder in transnationalen politischen Konflikten verorten und auch die Rolle psychoanalytischer Ideen in kolonialen und postkolonialen Kontexten untersuchen.23 Einige Bücher – besonders Lewis Arons und Karen Starrs A Psychotherapy for the People. Toward a Progressive Psychoanalysis (2013) oder Eli Zaretskys Political Freud. A History (2015) – bemühen sich speziell um die Rekonstruktion und Würdigung politisch engagierter Versionen der Psychoanalyse (Zaretsky etwa untersucht, welchen Gebrauch afroamerikanische Aktivist:innen im historischen Verlauf von der Psychoanalyse gemacht haben).24 Auf der anderen Achse sehen wir ein florierendes Feld von (auch historischen) Arbeiten, die sich – bei gelegentlichen Überschneidung mit der ersten Gruppe und in Anknüpfung an eine frühere Welle der Auseinandersetzung mit feministischen Kritiken an der psychoanalytischen Bewegung – queeren Lesarten der Psychoanalyse widmen und versuchen, die Tiefe und Hartnäckigkeit der Homophobie zu verstehen, die in der psychoanalytischen Bewegung nahezu endemisch wurde, obwohl Freud selbst sie abgelehnt hatte. Man könnte sagen, dass diese Gruppe ihre Wurzeln in einem 1995 erschienenen Sonderheft der Zeitschrift GLQ hat, das die Literaturkritikerin Diana Fuss herausgegeben hat und den Titel Pink Freud trägt.25 Seither ist dieser Forschungszweig stetig gewachsen, wenngleich er eher Psychoanalytiker:innen und Kulturwissenschaftler:innen als Historiker:innen anzieht.26

Cold War Freud ergänzt diese Studien auf vielfältige Weise. Jedes der sechs Kapitel beschäftigt sich mit einem anderen Komplex von zugleich ethisch und politisch herausfordernden, nachhaltig verwirrenden, ja sogar hartnäckig widerspenstigen Themen. Dazu gehö17ren: das Verhältnis der Psychoanalyse zur organisierten Religion am Anfang des Kalten Krieges; die sich immer wieder frisch erneuernde und selbstlegitimierende Feindseligkeit gegenüber der Homosexualität; die auffallende Zeitverzögerung bei der Anerkennung der Existenz massiver psychischer Traumata in der Folge des Holocaust; der spezifische Verlauf von sich in der Folgezeit des Nazismus entfaltenden und intergenerational ausgefochtenen Konflikten darüber, ob Aggressivität eine angeborene Eigenschaft des menschlichen Tieres sei; die Grenzen eines ödipalisierten Modells des Selbst für das Verständnis der Funktionsweise der Politik unter Bedingungen eines sich globalisierenden Kapitalismus; und die Möglichkeiten, durch Einbeziehen der Perspektiven der ehemals Kolonisierten einen kritischen Blick auf die Kulturen der ehemaligen Kolonisator:innen zu gewinnen. Wie diese kurze Aufzählung bereits andeutet, geht es bei all diesen Themen, so verschieden sie auch sein mögen, in immer anders wiederkehrender Weise um Begehren, um Gewalt und um Machtbeziehungen. Oder um es mit den Worten des ehrwürdigen konservativen Soziologen, Kulturkritikers und Freud-Experten Philip Rieff zu sagen: Sie beziehen sich alle auf das ewige Ringen der Menschen, »zwischen Kultur und Trieb [instinct] zu vermitteln«.27 Bemerkenswert ist auch, dass die historischen Auseinandersetzungen um alle diese Themen zeigen, wie undurchführbar es für Psychoanalytiker:innen der Nachkriegszeit schlicht war, ihre vorgebliche politische Enthaltsamkeit durchzuhalten. Ambivalenz und Vorsicht gegenüber der Politik ergaben Sinn; immer wieder erklärten nachdenkliche Analytiker:innen, es sei absurd, von Modellen der menschlichen Natur, die durch das Studium von Einzelpersonen entwickelt wurden, auf Gruppen und Nationen zu extrapolieren.28 Und natürlich gab es zahlreiche Analytiker:innen, deren Genie auf dem Gebiet der Behandlungstechnik lag und die über Politik nicht allzu viel zu sagen hatten; der außerordentlich begabte Donald Winnicott ist hier vielleicht das Paradebeispiel, jedenfalls der prominenteste und nachhaltig einflussreichste Vertreter dieses Typs.29 Aber es zeigt sich eben auch, dass eine zu starke Absage an die Welt außerhalb des Behandlungszimmers bei vielen Analytiker:innen dazu führte, dass sie ihren Blick für die Realität verloren und die fortwährende Verflochtenheit von Selbst und Gesellschaft übersahen – oder verleugneten. Die verscheuchte und verdrängte Außenwelt kehrte jedoch immer wieder von selbst zurück und setz18te, wie die historischen Episoden in den folgenden Kapiteln deutlich machen, alle Akteur:innen in den sich entfaltenden Kontroversen unter Druck, moralisch-politische und nicht nur klinische Überlegungen anzustellen, egal auf welcher Seite welchen Streitpunkts sie standen.30

In Teil I dieses Buches erörtere ich den überdeterminierten Trend hin zum sexuellen Konservatismus in den verschiedenen Ausprägungen, die die Psychoanalyse in den Vereinigten Staaten der Nachkriegszeit angenommen hat, ein Trend, der in ihren misogynen und homophoben Tendenzen manifest wurde. Ich zeichne nach, wie die Psychoanalyse sich nach innen wandte, weg von einer kritischen Auseinandersetzung mit jedweder Politik, die nicht Sexualpolitik war. In Kapitel 1 wird die komplexe Gemengelage, die sich aus der gezielten Entsexualisierung der postfreudianischen psychoanalytischen Theorie einerseits und dem nach wie vor schlüpfrigen Ruf des Freudianismus andererseits ergab, untersucht und zur aktiven Annäherung der US-Psychoanalyse an das Mainstream-Christentum – das katholische wie das protestantische – in Beziehung gesetzt, das sich in jenem historischen Moment selbst in einer Transformation befand. Die Psychoanalyse, die so oft verkürzt als »die jüdische Wissenschaft« bezeichnet wird, könnte tatsächlich besser beschrieben werden, so argumentiere ich, wenn man ihre damalige Entwicklung als eine Art »Christianisierung« fasst – während zugleich das Christentum wie auch das Judentum in jener historischen Phase mehr und mehr »psychologisiert« wurden. Des Weiteren plädiere ich in diesem Kapitel für eine neue Auseinandersetzung mit dem Werk der Psychoanalytikerin Karen Horney, und zwar abseits des üblichen Pfads, der zu ihrer feministischen Kritik an Freud führt, sondern mit Blick auf ihre innovativen Thesen, wie man die Wechselwirkungen zwischen Sex und anderen Lebensbereichen besser konzeptualisieren könnte. Im Anschluss daran zeige ich, wie die aus Konkurrenzdenken gespeiste Verärgerung über Horneys Popularität und die daraus folgende Bemühung, sich von ihren Konzepten abzusetzen, den Handlungsspielraum ihrer Widersacher angesichts der Angriffe religiöser Wortführer stark einschränkten. In Kapitel 2 stelle ich das Problem der psychoanalytischen Homophobie in den Mittelpunkt und untersuche die Auswirkungen der zunehmenden Lockerung der sexuellen Sitten und des Aufstiegs der konkurrierenden sexualwis19senschaftlichen Forschung – von Alfred Kinsey bis William Masters und Virginia Johnson – als bisher unterschätzte, aber entscheidende Faktoren in den Entwicklungen, die schließlich zu dem abrupten Prestigeverlust der Psychoanalyse ab den späten 1960er Jahren innerhalb der Psychiatrie und der US-Kultur insgesamt führten. Darüber hinaus beleuchte ich die versuchte Selbsterneuerung der US-amerikanischen Psychoanalyse durch die taktische Verlagerung ihres Schwerpunkts auf Theorien des Narzissmus sowie der Selbst- und Charakterstörungen und widme mich ferner den aufkeimenden Bemühungen, die antiheteronormativen und sexpositiv-feministischen Potenziale der Psychoanalyse zu revitalisieren, unter besonderer Berücksichtigung der scharfsinnigen und anregenden Argumente von Robert Stoller und Kenneth Lewes.

In Teil II stehen die Rückkehr der Nazi-Vergangenheit auf die politische Bühne und deren damals gänzlich unvorhergesehene, aber tiefgreifende Folgen auf beiden Seiten des Atlantiks im Mittelpunkt. In Kapitel 3 werden die gewaltigen Konflikte zwischen pro- und antipsychoanalytischen Psychiater:innen in den USA, Europa und Israel geschildert, die darüber stritten, wie mit den sich oft erst mit erheblicher Zeitverzögerung manifestierenden emotionalen Schäden bei den Überlebenden der Nazi-Verfolgung sowie mit dem Faktum der grotesken Gewalt und des Sadismus in Konzentrations- und Vernichtungslagern aus psychologischer Sicht umzugehen sei. Gerade in Westdeutschland, so betone ich in diesem Kapitel, kam es zu einem Wiedererstarken antisemitischer Denkmuster und Ressentiments, die sich auch gegen die Überlebenden richteten. Vor diesem Hintergrund untersuche ich sowohl die überraschende Aneignung Freud'scher Konzepte durch Ärzte, die den Überlebenden feindlich gesinnt waren, als auch die spätere konzeptionelle Ausarbeitung des heute als Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) bekannten Syndroms durch empathischere Psychoanalytiker:innen und Psychiater:innen. Dabei erwies sich die kontingente Verbindung der Anliegen von NS-Überlebenden mit denen von Vietnamkriegsveteranen und Antikriegsaktivist:innen als entscheidend. In diesem Zusammenhang gehe ich auf die besonderen Beiträge ein, die Kurt Eissler zu dieser Debatte geleistet hat, der Historiker:innen in erster Linie als Gründungsdirektor des bereits erwähnten Freud-Archivs bekannt ist.31 Es geht aber auch um die inhärenten Grenzen von PTBS als diagnostischer Kategorie sowie darum, wie diese von 20lateinamerikanischen Psychotherapeut:innen, die sich um die Versorgung von Folteropfern kümmerten, auf eine harte Probe gestellt wurde.

In Kapitel 4 befasse ich mich mit dem komplizierten Prozess, der zur Wiederherstellung des kulturellen Prestiges der Psychoanalyse im postnazistischen Deutschland geführt hat. Hier konzentriere ich mich auf das Werk Alexander Mitscherlichs – des führenden Protagonisten des Projekts, die Psychoanalyse in ein Land zurückzubringen, in dem sie so oft als »jüdisch« und »schmutzig« verunglimpft worden war – und unternehme den Versuch einer Neuinterpretation, wobei ich insbesondere Mitscherlichs spezifische strategische Kombination von Ich-psychologischen Konzepten mit linksliberalen Empfehlungen zu mehr Toleranz und sozialem Engagement in den Blick nehme. Allerdings weise ich auch auf die Bedeutung des Ethologen Konrad Lorenz für diese Entwicklung hin, dessen 1963 erschienenem Bestseller Das sogenannte Böse es zunächst zu verdanken war, dass eine ungewöhnlich heftige bundesweite Debatte in Gang gesetzt wurde, und zwar nicht nur darüber, ob menschliche Aggressivität einfach nur natürlich und unvermeidlich oder sogar etwas Positives sei (mit anderen Worten: keine deutsche Spezialität und nichts, wofür sich Deutsche besonders schämen müssten), sondern auch und vor allem darüber, was genau Freud ursprünglich gemeint hatte, als er vorschlug, dass Aggression ein Trieb sein könnte, der in Stärke und Form mit der Libido vergleichbar sei. Im letzten Abschnitt dieses Kapitels widme ich mich schließlich der in Mitteleuropa enorm verzögerten, dann aber umso enthusiastischer ausgefallenen Rezeption von Melanie Kleins Ideen über angeborene Aggressivität.

Teil III befasst sich mit zwei Beispielen des radikalen Freudianismus. Beide Kapitel dieses Teils handeln von innovativen Aneignungen psychoanalytischer Konzepte, die ursprünglich von tendenziell unpolitischen Analytiker:innen in früheren Jahrzehnten entwickelt worden waren – allerdings auf der Grundlage völlig unterschiedlicher psychoanalytischer Modelle: Während sich der eine Protagonist auf ein Modell des Selbst als in ständigem tumultartigen Chaos befindlich stützte, gingen die anderen von einem Verständnis des Selbst als etwas Integriertem, wenngleich zutiefst kulturell Geprägtem und/oder mitunter Beschädigtem, jedoch potenziell Reparierbarem aus. In Kapitel 5 richte ich meinen Blick nach Frankreich 21und auf den 1972 erschienenen gegenkulturellen Klassiker L'Anti-Œdipe (dt.: Anti-Ödipus) des Philosophen Gilles Deleuze und des Psychoanalytikers Félix Guattari – eine so atemberaubende wie inspirierende Fusion von Ideen, die nicht nur aus den Arbeiten offen politisch engagierter Psychoanalytiker:innen (bzw. psychoanalytischer Denker:innen) wie Wilhelm Reich und Frantz Fanon stammten, sondern auch aus denen von Melanie Klein und Jacques Lacan – sowie auf eine Reihe von Guattaris früheren und späteren Schriften. Ich lege dar, warum Guattari nicht nur als Kritiker erstarrter Formen der Psychoanalyse – insbesondere ihrer Ikone Ödipus und ihres verengten familialistischen Interpretationsrahmens für psychische Schwierigkeiten, für den diese Ikone steht – gesehen werden sollte, sondern auch als findiger Revitalisierer des gesamten psychoanalytischen Unternehmens. Dieses Unternehmen war um 1970 nicht zuletzt unter dem Einfluss der sexuellen Revolution, des Feminismus, der Schwulen- und Lesbenbewegung sowie der antikolonialen und pazifistischen Bewegungen einem tiefgreifenden Wandel unterworfen. Guattari unternahm angesichts der neuen Herausforderungen seiner Gegenwart nicht nur den Versuch, ältere psychoanalytische Theorien über die Anziehungskraft des Faschismus zu aktualisieren, sondern er konnte an dieser Stelle auch seine Erfahrungen aus der Arbeit mit schizophrenen Patient:innen in alternativ-experimentellen psychiatrischen Einrichtungen produktiv in seine Beobachtungen der Politik des Kalten Krieges einbringen. In Kapitel 6 geht es dann um ein anderes radikales Experiment: die bahnbrechenden Feldforschungen der Schweizer Ethnopsychoanalytiker:innen Paul Parin, Fritz Morgenthaler und Goldy Parin-Matthèy in Mali, der Elfenbeinküste und Papua-Neuguinea, kontextualisiert vor dem Hintergrund jahrzehntelanger gegenseitiger Entlehnungen und Aneignungen sowie heftiger Konflikte zwischen Psychoanalyse und Ethnologie. Ich erörtere die Versuche dieses Trios, die psychoanalytischen Vorstellungen über psychosexuelle Stadien, Ich-Struktur, ödipale Konflikte, Abwehrmechanismen und Widerstände für das Studium des Selbst in nichtwestlichen Kulturen zu adaptieren, um das anhaltende Rätsel der Beziehung zwischen Natur und Kultur sowie die Art und Weise zu erforschen, wie soziale Kontexte in die innersten Bereiche der individuellen Psyche eindringen und sie formen. Und schließlich erzähle ich vom Aufstieg Morgenthalers und der Parins zu gegenkulturellen 22Berühmtheiten und untersuche, wie ihre kulturübergreifenden Experimente in der »Dritten Welt« die Standpunkte prägten, die sie gegenüber der Politik (auch und insbesondere der Sexualpolitik) der »Ersten« einnahmen.

Durch die in diesem letzten Kapitel des Buches geleistete Rekonstruktion der dialektischen und rekursiven Interaktion zwischen diesen älteren Radikalen und den vielen jungen Linken, die von ihnen inspiriert wurden, nimmt dann auch ein größeres Argument Gestalt an, das in den Kapiteln zuvor nur implizit enthalten ist: Die Geschichte der Psychoanalyse im Allgemeinen war und ist, so wird dann deutlich, eine Geschichte von unzähligen verzögerten Rezeptionen, ungeplanten Zweckentfremdungen, produktiven Missverständnissen und einer sich ständig weiterentwickelnden Umformung der Bedeutungen von Texten und Konzepten. In der Geschichte der Psychoanalyse war das, was eine bestimmte Lesart, ein bestimmtes Verständnis begünstigt hat – emotional, politisch oder intellektuell –, oft weit wichtiger als das, was ursprünglich gesagt wurde. Es gab nie einen essenziellen Kern, einen selbstevidenten Inhalt der vielen Ideen, die in ständig neue Kontexte reisten. Unveränderliche Wahrheiten (oder, wenn man so will, unveränderliche Unwahrheiten) hatte die Psychoanalyse niemals anzubieten. Sie hat sich immer nur und immer wieder als schillernd erwiesen.

Ein weiteres Thema, das sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht, betrifft die Geschichte der Sexualität. Es steht außer Frage, dass die Psychoanalyse als Phänomen des 20. Jahrhunderts ganz und gar in die kulturellen Konflikte um den Status und die Bedeutung der Sexualität verstrickt war. Schließlich ist die Geburt der Psychoanalyse als Denksystem in der Zeit um 1900 selbst ein Symptom – und keinesfalls bloß die Ursache – einer zumindest partiellen Liberalisierung der sexuellen Sitten in Mitteleuropa gewesen; und tatsächlich war die Psychoanalyse lediglich eines aus einer Fülle von miteinander konkurrierenden und sich überlappenden Denksystemen, die sich um die Jahrhundertwende mit Fragen von Geschlecht und Begehren herumschlugen. Sexualwissenschaftler:innen und andere Mediziner:innen, Feminist:innen und Aktivist:innen für die Rechte homosexueller Männer und Frauen sowie Moralreformer:innen aus dem gesamten ideologischen Spektrum stritten vehement über Themen wie Prostitution und Ehe, Empfängnisverhütung und 23Orgasmen, Perversion und sexuelle Orientierung. Die Entstehung der Psychoanalyse kann nicht losgelöst von diesem breiteren Kontext verstanden werden. Freud selbst und seine ersten Gefolgsleute wie auch diejenigen, die seine Lehre ablehnten oder sie reformieren wollten, waren im ständigen Gespräch mit den Trends ihrer Zeit. Darüber hinaus sollte die weitere Entwicklung des psychoanalytischen Theoriegebäudes zutiefst von dem in späteren Jahrzehnten zu beobachtenden – und sich in jedem Land anders gestaltenden – Schwanken zwischen sexuell konservativen Rückschlägen und Bemühungen um eine erneute Liberalisierung geprägt werden.32

Was die Erforschung der Geschichte der Psychoanalyse auch für Sexualhistoriker:innen so interessant macht, ist die Tatsache, dass die Psychoanalyse sowie die vielen Denkschulen, die Anleihen bei ihr machten, nicht nur Sex an sich theoretisierten, sondern ständig mit dem Rätsel der Wechselbeziehungen zwischen sexuellem Begehren und anderen Aspekten der menschlichen Motivation rangen – von nichtsexuellen Sehnsüchten nach zwischenmenschlicher Verbindung und Anlehnung bis hin zu Angst, Aggression und Ambition. Für manche psychoanalytische Kommentator:innen erklärte die Sexualität, erklärten sexuelle Wünsche und Probleme nahezu alles. Für andere lief die Kausalkette nachgerade umgekehrt: Beim Sex gehe es um alles außer um Sex; nichtsexuelle Themen – darunter eben auch Angst, Aggression und Ambition – würden kontinuierlich auf dem Feld der Sexualität durchgearbeitet. Das Rätsel, wie man solche Phänomene wie die Sexualisierung nichtsexueller Impulse zu verstehen habe, beschäftigte Analytiker:innen mit politisch komplett divergierenden Ansichten. Die Frage, was genau Menschen in der Sexualität suchen – wovon vieles in den Ursprüngen vielleicht gar nicht sexuell sei –, half einigen von ihnen, völlig neue Rahmen für das analytische Denken zu entwickeln. Das Beharren darauf, dass die sexuellen und die ökonomischen Lebensbereiche nicht einfach kategorisch voneinander zu trennen seien, bot anderen die Möglichkeit, die emotionalen Anziehungskräfte, mit der jede Politik arbeitet, neu zu theoretisieren. Und die Faszination darüber, wie Hetero- und Homosexuelle gleichermaßen frühe Traumata umarbeiten, um sie in sexuelle Erregung zu verwandeln, half wieder anderen, Empathie mit sexuellen Minderheiten zu fördern und die Ansichten derjenigen ihrer Kolleg:innen ad absurdum zu führen, die hartnäckig an ihren Vorurteilen festhielten.

24Es gibt noch vieles, worüber wir nachdenken müssen, wenn wir den Anteil der sexuellen Revolution am Ansehensverlust der Psychoanalyse in den USA besser verstehen möchten, der sich just in einer Zeit vollzog – in den späten 1960er und den 1970er Jahren –, als die Psychoanalyse in West- und Mitteleuropa sowie in Lateinamerika wieder auf dem Vormarsch war. Insbesondere dort (und dann), wo (und wenn) sich die Sexualmoral lockerte, behaupteten immer mehr Kommentator:innen, dass es keinen Sinn mehr habe, von verdrängten sexuellen Impulsen als Hauptursache der menschlichen Probleme auszugehen.33 Doch wieder und wieder, in einer Kultur nach der anderen und sobald Konflikte um Sexualität in neuen Formen wiederkehrten, stellten scharfsinnige Beobachter:innen und leidenschaftliche Aktivist:innen gleichermaßen fest, dass psychoanalytische Konzepte, wenn auch angepasst an die jeweils aktuelle Problemstellung, nach wie vor unverzichtbar waren, um die menschlichen Sehnsüchte und Schwierigkeiten an den Schnittstellen zwischen der Sexualität und den übrigen Bereichen des Lebens zu verstehen. Sicherlich: Theorien der »Verdrängung« oder gar der »Unterdrückung« mögen dafür längst nicht mehr der beste Weg sein. Doch psychoanalytische Konzepte bleiben weiterhin entscheidende Bezugspunkte für die Auseinandersetzung mit so unterschiedlichen Phänomenen wie der Unentwirrbarkeit von psychischer Innerlichkeit und sozialem Kontext, der Rolle von Ambivalenzen und Konflikten in Intimbeziehungen, der augenscheinlichen Komplexität – oder gar Unergründlichkeit – der Beziehungen zwischen Erregung und Befriedigung und der außerordentlichen Macht des Unbewussten sowohl in Fantasien als auch im Verhalten.

All dies wirft wiederum faszinierende Fragen zur Opazität historischer Kausalitäten im Feld von Deutungskämpfen auf. Fast alle Kapitel dieses Buches beschäftigen sich mit großen Paradigmenwechseln, die sich allesamt in Gebieten abspielten, wo sie handfeste Folgen für die Gesetzgebung, die Ausgestaltung politischer Leitlinien und den kulturellen Commonsense hatten, sowie mit einigen ihrer meist unbeabsichtigten Nebenwirkungen. Wie kommt es, dass manche Ideen triumphieren und sich dauerhaft durchsetzen, während andere besiegt werden oder aus dem Blickfeld geraten? Und wie lässt sich die Tatsache erklären, dass sehr ähnliche, ja sogar identische Konzepte für vollkommen gegensätzliche politische Agenden verwendet werden können? Wie war es möglich, um ein Beispiel zu 25nennen, dass ein inbrünstiges Festhalten am Konzept der Triebe sich mit kulturkonservativen politischen Ansichten ebenso vertrug wie mit tolerant-liberalen und mit subversiv-transgressiven?34 Oder dass die Überzeugung, im menschlichen Selbst herrsche blankes Chaos, sowohl erklärtermaßen apolitische als auch passionierte anarcho-politische Projekte inspirieren konnte? Wie kam es umgekehrt dazu, dass Analytiker:innen, die auf der Basis komplett entgegengesetzter Modelle menschlicher Motivation arbeiteten – sodass zum Beispiel einige von der Universalität des Ödipuskomplexes überzeugt waren, andere hingegen diese Idee nachgerade für absurd hielten –, sich nichtsdestotrotz auf derselben Seite eines harten politischen Konflikts zusammenfanden? Es war eines meiner Ziele in diesem Buch, jeden Paradigmenwechsel in der Komplexität seines historischen Ursprungskontextes zu verorten, zu zeigen, wie und warum Debatten auf bestimmte Weise gerahmt wurden – und mit welchen oft kontraintuitiven Ergebnissen. Ein weiteres Ziel bestand darin, zu erkunden, was passiert, wenn Theorien auf Reisen gehen und Konzepte sich aus ihren ursprünglichen Verankerungen lösen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Lektüre psychoanalytischer Texte aus mehreren Jahrzehnten eine Geschichte der Wandlungen der menschlichen Natur, Kultur, Politik und Sexualität nicht zuletzt deshalb bieten kann, weil die Psychoanalyse mehr als nur eine (wechselweise stolze, defensive, banale, aufschlussreiche, bizarre und einflussreiche) Bewegung-Sekte-Zunft-Profession-Glaubensgemeinschaft-Wissenschaftsdisziplin sowie eine interaktive Behandlungstechnik für psychische Störungen war und ist. Denn die Praktiker:innen und Befürworter:innen der Psychoanalyse haben in der langen und merkwürdigen Karriere der Bewegung auch eine Reihe konzeptueller Werkzeuge hervorgebracht, die für eine kritische Analyse politischer und kultureller Verhältnisse recht nützlich bleiben. Die pharmazeutische und die neurowissenschaftliche Forschung des 21. Jahrhunderts – die oft dazu neigen, den sozialen Kontext und die zwischenmenschlichen Beziehungen zu ignorieren, und die darauf abzielen, das Selbst hauptsächlich als eine Angelegenheit chemischer Reaktionen und/oder genetischer Dispositionen zu definieren – haben zum Beispiel sehr wenig über entscheidende Merkmale der menschlichen Existenz zu sagen, etwa über konfligierende Wünsche, die Instabilität von Bedeutungen oder die 26stets rätselhaften Beziehungen zwischen psychischer Innerlichkeit und sozialem Kontext. Die Psychoanalyse, in all ihren Widersprüchen, Absurditäten und Selbstrevisionen, kann zu genau diesen Fragen viel beitragen.

27IDie Welt draußen lassen

291 Die Libidokriege

»Nicht alles ist Sexualität, was nach ihr aussieht.«

– Karen Horney, 19371

In den Vereinigten Staaten von Amerika durchlief das, was in den ersten sieben oder acht Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg im allgemeinen Bewusstsein und in den Köpfen der Expert:innen als Psychoanalyse galt, mehrere Transformationen, hervorgerufen durch eine Reihe brisanter Kontroversen, die mal subtil, mal offen ausgetragen wurden. Eine der wichtigsten Effekte dieser Kontroversen bestand darin, dass sich der Stellenwert der Sexualtheorien in der Psychoanalyse veränderte; denn dass bezüglich des Wesens der Libido und ihres Platzes im menschlichen Leben Unklarheit, ja Verwirrung herrschte, hatte einen Einfluss auf die Form und den Inhalt aller großen analytischen Schulen, die sich in den USA herausbildeten. Tatsächlich könnte man die Geschichte der US-amerikanischen Analyse als eine der vielfachen (aber sich gegenseitig widersprechenden) Bemühungen erzählen, der Zentralstellung der Sexualität in Freuds ursprünglicher Mission zu entfliehen.

Eine der wichtigsten und bislang kaum untersuchten Dynamiken, die die Psychoanalyse in der Nachkriegszeit prägten, hatte mit den komplexen Veränderungen im amerikanischen religiösen Leben zu tun. In den Nachkriegsjahren bildete sich in den USA eine eigentümliche Kombination heraus, bestehend einerseits aus einer wieder auflebenden Religiosität (in Form eines vermehrten Besuchs von Gotteshäusern und einer verstärkten Selbstidentifikation als »Gläubige« – ein Trend, der von Wirtschaftsführern und Politikern gezielt gefördert wurde), die wiederum häufig mit offensivem Patriotismus und einem diffusen, aber glühenden Antikommunismus vermischt war, andererseits aus einer fortschreitenden Säkularisierung (da Religion zunehmend »psychologisiert« und auf Selbstoptimierung sowie »die Macht des positiven Denkens« ausgerichtet wurde) und einer zunehmenden Akzeptanz des religiösen Pluralismus (da jüdische, katholische und protestantische Formen der Frömmigkeit und Selbstdefinition einander immer ähnlicher wurden).2 Zahlreiche 30Wissenschaftler:innen haben die prägende Wirkung hervorgehoben, die die fast 200 (meist, wenn auch nicht ausschließlich) jüdischen Analytiker:innen, die dem Nationalsozialismus entflohen waren, auf die amerikanische Psychoanalyse ausgeübt haben; andere haben allgemeiner die wachsende Rolle jüdischer Intellektueller, auch einheimischer, für das amerikanische Kulturleben in der Nachkriegszeit betont – ein Prozess, der manchmal sogar als »Entchristianisierung«3 bezeichnet wird.

Dagegen möchte ich die These vertreten, dass wir die Psychoanalyse in den USA besser verstehen, wenn wir erkennen, dass sie, obwohl sie oft als »die jüdische Wissenschaft« bezeichnet wird, im Laufe der ersten Nachkriegsjahre tiefgreifend christianisiert wurde. Dieser Punkt ist allerdings mit dem Vorbehalt verbunden, dass diese Christianisierung von ganz besonderer Art war, insofern sie nämlich aus genau jener eigentümlichen Mischung aus wiederbelebter Religiosität, Säkularisierung-plus-Psychologisierung und einem größeren religiösen Pluralismus geboren wurde, die die Nachkriegszeit bestimmte.4 Kurzum, das Phänomen des tiefgreifenden sexuellen Konservatismus, das die US-Psychoanalyse dieser Zeit charakterisierte – neben und in kontrapunktischer Spannung zu ihrem anhaltend schlüpfrigen Ruf –, sollte nicht allein als ein Produkt allgemeiner Trends des Kalten Krieges untersucht werden, sondern auch ganz speziell als eine der großen Nebenwirkungen der massiven und breit geführten Auseinandersetzungen rund um das Verhältnis von Religion und Psychoanalyse, die insbesondere die Jahre 1947 bis 1953 prägten. In der Tat wären diese Konflikte nicht annähernd so folgenreich gewesen, wenn sie nicht genau zu dem Zeitpunkt stattgefunden hätten, als die Psychoanalyse einer Ausweitung ihrer Popularität in die allgemeine US-Öffentlichkeit entgegensah.

Horneys Sexualtheorien

Tatsächlich bezog die psychoanalytische Richtung, die ab den frühen 1950er Jahren gleichermaßen die Psychiatrie und die Popkultur durchdrang – innerhalb des Berufsstandes als »Ich-Psychologie« bezeichnet, auch wenn das, was von der Öffentlichkeit rezipiert wurde, eher ein Mischmasch aus konkurrierenden Tendenzen war –, sowohl ihren Schwung als auch ihre Autorität, nicht aber ihren Inhalt 31aus den Formen der Psychoanalyse, die ursprünglich Mitte bis Ende der 1930er und Anfang der 1940er Jahre vor allem von einer Gruppe entwickelt worden waren, welche lose als »neofreudianisch« bezeichnet wird. Es waren diese Neofreudianer:innen, die in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten den »halkyonischen Tagen«, dem »goldenen Zeitalter« der amerikanischen Psychoanalyse den Boden bereitet hatten, auch wenn ihre Nachfolger:innen sie aufs Abstellgleis schoben und ihre Theorien für abwegig hielten.5 Anders gesagt, die Ich-psychologische Form der Psychoanalyse, die sich – obwohl sie immer noch Gegenstand ständiger Auseinandersetzungen blieb – im Laufe der ersten Hälfte des Kalten Krieges konsolidieren und außerordentlich einflussreich werden sollte, unterschied sich nicht nur von der Psychoanalyse, die zuerst eine Handvoll Mediziner:innen und Literat:innen in den 1910er und 1920er Jahren bezaubert hatte (und die stark mit Boheme-Experimenten zur sexuellen Emanzipation in Verbindung gebracht wurde6), sondern auch und vor allem von ihrer unmittelbareren Vorgängerin: der neofreudianischen Psychoanalyse, die in der breiten Öffentlichkeit, in der Psychiatrie und insbesondere in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen eine wirklich große Faszination hervorgerufen hatte. Diese Neofreudianer:innen, die die fortschreitende Lockerung der Sexualmoral in den 1930er und 1940er Jahren nicht nur aufmerksam verfolgten, sondern tatsächlich sehr wohlwollend aufnahmen, theoretisierten die Beziehung zwischen dem Sexuellen und anderen Bereichen der Existenz gänzlich anders als ihre Ich-psychologischen Nachfolger:innen.

Die Neofreudianer:innen zeichneten sich vor allem durch ihre Betonung der Kultur, der gesellschaftlichen Zwänge und der interpersonellen Beziehungen aus, mit der sie über die Untersuchung individueller intrapsychischer Dynamiken hinausgingen. Zu ihnen gehörten Emigrant:innen wie Franz Alexander in Chicago sowie Karen Horney und Erich Fromm in New York, aber auch die gebürtigen Amerikaner:innen Harry Stack Sullivan in Washington, D. ‌C. und Maryland sowie Clara Thompson in New York. Obwohl es zwischen ihnen natürlich einige Unterschiede gab und sie sich im Laufe der Zeit individuell weiterentwickelten (Sullivan und Thompson zum Beispiel wurden stark vom Werk Sándor Ferenczis, des einstigen ungarischen Weggefährten Sigmund Freuds, beeinflusst, von seinem aktiveren und einfühlsameren Umgang mit Pa32tient:innen und seinem Interesse an der dyadischen Reziprozität zwischen Analytiker:in und Analysand:in), war ihnen allen gemeinsam, dass sie ihr Interesse nicht nur klassisch psychoanalytisch auf die Kindheit der Patient:innen richteten, sondern auch auf das Erwachsenenleben mit seinen alltäglichen Belastungen. Sie nahmen häufig Stellung zu Fragen von allgemeinem sozialen und politischen Interesse (insbesondere Fromm und Horney), und Horney stützte sich zudem auf anthropologische Beweise, um ihr Argument zu untermauern, dass selbst die scheinbar ausschließlich biologisch begründeten Verhaltensweisen stark von kulturellen Bedingungen geprägt seien. Vor allem Alexander und Horney machten erste Versuche auf dem Gebiet der Kurzzeittherapien, Horney trug wesentlich zur Popularisierung der »Selbstanalyse« bei, Alexander entwickelte klinische Ansätze für psychosomatische Probleme. Derweil leisteten Sullivan und seine Kollegin Frieda Fromm-Reichmann Pionierarbeit bei der Anpassung der bis dahin ausschließlich auf Neurosen fokussierten Psychoanalyse an die Arbeit mit Patient:innen bei denen eine Schizophrenie oder andere Psychosen diagnostiziert wurden.7

Eines der markantesten gemeinsamen Merkmale der Neofreudianer:innen ist die Aufmerksamkeit, die sie dem Problem der Angst und den mit ihr verbundenen Gefühlen von existenzieller Unsicherheit widmeten – ob den kulturellen Bedingungen in der Konkurrenzgesellschaft entsprungen oder aus zwischenmenschlichen Spannungen in der Herkunftsfamilie oder im laufenden Alltag. Diese Schwerpunktsetzung hatte erhebliche Konsequenzen für ihre Vorstellungen von Sexualität. Wie Alexander (geboren in Budapest, ausgebildet in Berlin und seit 1930 in Chicago) in einem Essay von 1946 bemerkte, als er über das Überflüssigwerden der Individuen angesichts ständiger technologischer Innovationen nachdachte: »Das Ergebnis wird sein, dass die regelmäßig wiederkehrende Arbeitslosigkeit uns als eine ständige Quelle der Unsicherheit und eine ständige Bedrohung der Selbstachtung begleiten wird, die dem Gefühl Vorschub leistet, dass man seinen Nutzen für die Gesellschaft verloren hat.« Bezeichnenderweise nahm Alexander als selbstverständlich an, dass dieser Zustand ein grundlegendes Überdenken der basalen Prinzipien des Freud'schen Erbes erforderte. Zusammenfassend erklärte er nämlich sodann: »Diese Unsicherheit und die Frustration, keine Möglichkeit zur produktiven Nutzung seiner Fähig33keiten zu haben, sind die Hauptursache für emotionale Fehlanpassung in unserer Zeit und treten an die Stelle der sexuellen Unterdrückung, die während der viktorianischen Ära die Szene beherrschte.«8

Die anderen Neofreudianer:innen hatten längst zahlreiche Variationen dieses Themas aufgeboten. Sullivan zum Beispiel distanzierte sich von Freuds Kernkonzept der Libido und seiner Überzeugung, dass Säuglinge vor allem Lust suchten, und betonte demgegenüber, dass Kinder während der Entwicklung ihres Selbstbewusstseins nach Sicherheit und Anerkennung strebten.9 Hingegen legte Fromm (geboren in Frankfurt am Main, ausgebildet in Berlin, seit 1934 in New York), der für seinen virtuosen Aufsatz »Das Gefühl der Ohnmacht« von 1937 auf seine soziologischen Kenntnisse ebenso wie auf eine analytische Ausbildung zurückgreifen konnte, sein Augenmerk besonders auf die ohnmächtige Wut und Angst, die durch buchstäbliche wirtschaftliche Unsicherheit verursacht wurden (sicherlich ein triftiges Thema in einer Zeit, als die Erinnerungen an die Große Depression noch frisch waren), aber auch durch ein emotional lähmendes ideologisches Klima, ob autoritär oder demokratisch, das den gewöhnlichen Menschen jenseits der Eliten immer wieder suggerierte, ihr Schicksal liege in ihren eigenen Händen – obwohl die tatsächlichen Wirkkräfte und Mechanismen der wirtschaftlichen und politischen Machtarrangements keineswegs in den Händen der einfachen Leute lagen und darüber hinaus oft schwer zu fassen oder geradezu unmöglich zu entziffern waren, so Fromm.10

Horney, die sowohl Sullivan als auch Fromm nahestand und von ihnen inspiriert war, vereinte deren Erkenntnisse in ihrem Bestseller The Neurotic Personality of Our Time, der 1937 erschien (siehe Abb. 2). Darin erforschte sie die Widersprüche in der amerikanischen Kultur zwischen »christlichen Idealen, die erklären, es sei egoistisch, etwas für uns selbst zu wollen«, und den ständigen Aufforderungen, »mit den anderen Schritt zu halten« und am eigenen »Erfolg« zu arbeiten (»was heißt, daß wir uns nicht nur durchsetzen, sondern auch aggressiv […] sein müssen«) – und all dies in einem Kontext, in dem »[j]eder […] der wirkliche oder potentielle Konkurrent des anderen [ist]«, sodass »der Wettbewerb und die potentielle Feindseligkeit, die er im Gefolge hat, sämtliche menschlichen Beziehungen durchdringt« (einschließlich und bezeichnenderweise enger Freundschaften). Gleichzeitig wies auch sie Freuds Annahme 34ausdrücklich zurück, »daß die Triebe [instinctual drives] oder Objektbeziehungen, die häufig in unserer Kultur vorkommen, eine biologisch bestimmbare ›menschliche Natur‹ darstellen oder aus unabänderlichen Situationen stammen (die biologisch sogenannten ›prägenitalen‹ Stufen, der Ödipus-Komplex)«.11 In New Ways in Psychoanalysis, ihrem einflussreichen Nachfolgeband von 1939, stellte Horney noch direkter fest, dass Freuds »einseitige Bezugnahme auf das in der Libidotheorie enthaltene Lustprinzip« durch eine »soziologische Orientierung« ersetzt werden müsse, in der »das Sicherheitsbedürfnis« in einer ausweglos überwältigenden Umgebung 35das vorrangige menschliche Ziel sei. Und sie argumentierte weiter – indem sie ein ganzes Kapitel darauf verwendete, die Idee des Ödipuskomplexes zu widerlegen –, dass die Ödipus-Geschichte nicht bloß neu geschrieben werden müsse; sie solle einfach verworfen werden. »Der entscheidende Faktor bei Entstehung der Neurosen ist dann weder der Ödipus-Komplex noch irgendeine Art kindlichen Lust-Strebens, sondern entscheidend sind alle jene widrigen Einflüsse, die einem Kind das Gefühl der Hilflosigkeit und Wehrlosigkeit geben und es die Welt als potentiell bedrohlich empfinden lassen.« Ganz allgemein sah Horney bei Freud die unsinnige Tendenz, alles in Richtung Sexualität zu überinterpretieren – einschließlich der »vielfältigen Begierden und Haltungen, die offenbar nichts mit Sexualität zu tun haben, […] z. ‌B. Habgier, Geiz, Mißtrauen und andere charakterliche Eigenarten, künstlerischer Ehrgeiz, irrationale Feindseligkeiten, Angstzustände. Der Sexualtrieb [sexual instinct], wie wir ihn zu sehen gewohnt sind, kann dieses riesige Feld unmöglich abdecken.« Immer wieder betonte Horney selbstbewusst, »daß die Libido-Theorie unbewiesen ist. Was als Beweis geboten wird, besteht aus nicht gerechtfertigten Analogien und Verallgemeinerungen, und die Gültigkeit des auf die erogenen Zonen bezüglichen Materials ist höchst zweifelhaft.«12

Abb. 2: Cover von Karen Horneys Bestseller The Neurotic Personality of Our Time (New York 1937). Der Blurb stammte von dem angesehenen amerikanischen Psychiater und Kindererziehungsexperten Lawson Lowrey. Eine andere Ausgabe des Buches wurde mit einem Zitat des britisch-amerikanischen Anthropologen Ashley Montagu geschmückt, der erklärte: »Zweifellos muss dieses Buch von jedem gelesen werden, der einen wirklich klaren Einblick in den Zusammenhang zwischen Kultur und Persönlichkeit gewinnen möchte.«

Horney (nichtjüdisch, geboren in Hamburg, ausgebildet in Berlin, seit 1932 in den USA, zunächst in Chicago und ab 1934 in New York) hatte sich in freudianischen Kreisen zunächst als hochbegabte Lehranalytikerin (die das Ausbildungsprogramm des Berliner Psychoanalytischen Instituts mitgestaltete und leitete und sowohl in einem Krankenhaus als auch in privater Praxis arbeitete), aber auch als scharfsinnige und robuste Feministin einen Namen gemacht. Bis heute bekannt ist sie vor allem für ihr Beharren darauf, dass, wenn es so etwas wie einen weiblichen Penisneid gibt, dieser in erster Linie durch unterschiedliches elterliches Verhalten gegenüber den Kindern sowie durch das Bewusstsein des Mädchens für männliche Privilegien verursacht werde (hier kann man bereits die werdende Kulturalistin in Horney erkennen), sowie ihre Behauptung, dass es durchaus Männer gebe, die angesichts der Fortpflanzungsfähigkeit von Frauen unter einem »Gebärneid« leiden; zudem hatte sie interessante Dinge zu sagen über die bei Männern vorliegende, offenbar tief verwurzelte »unbewußte Tendenz zur Abwertung« von Frauen.13 Was nicht so bekannt ist: Horney hat sich auch ausführlich 36mit dem Problem beschäftigt, wie die Beziehungen zwischen dem Sexuellen und anderen Bereichen der Existenz zu theoretisieren seien.

Zunächst hatte Horney versucht, innerhalb des freudianisch-ödipalen Rahmens zu arbeiten – und obwohl dieser in einigen Hinsichten einengend war, nutzte sie ihn, um verblüffend originelle Aperçus vorzubringen. Ihren Aufsatz »Die monogame Forderung« von 1928 (der auf einen Vortrag zurückging, den sie 1927 auf dem 10. Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Innsbruck gehalten hatte) begann sie beispielsweise mit dem Bekenntnis, dass »es kaum eine andere Lebenssituation gibt, die so innig und so offensichtlich mit der Ödipus-Situation zusammenhängt wie die Ehe« (und stellte auf dieser Grundlage weiter fest, dass Hemmungen, Wut, eifersüchtige Besitzansprüche, Schuldgefühle oder geheime Feindseligkeit in der Ehe ihre Quellen in Gefühlen gegenüber den Eltern haben könnten, für die der Partner oder die Partnerin – wie Horney zu diesem Zeitpunkt noch ganz im Sinne Freuds beteuerte – einen unbewussten Ersatz darstelle). Doch dann nutzte sie diese Feststellung als Sprungbrett, um darüber nachzudenken, ob und inwiefern die Forderung nach exklusivem Besitz einer Partner:in ihren Ursprung weniger in leidenschaftlicher Liebe oder Anlehnungsbedürfnissen haben könnte als vielmehr in »analsadistischen« und »narzisstischen Elementen« – oder gewissermaßen umgedreht in einer geradezu zwanghaften Verleugnung des ureigenen »Impulses, nach frischen Objekten zu suchen«. Bezugnehmend auf das Werk Freuds (insbesondere auf »Die ›kulturelle‹ Sexualmoral und die moderne Nervosität« sowie »Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens«), aber auch auf Ferenczis »Zur Psychoanalyse von Sexualgewohnheiten« sowie das 1927 erschienene Buch Die Funktion des Orgasmus des sexradikalen Analytikers Wilhelm Reich hielt sie es ferner für nötig, die häufig aufgestellte These einer »größeren polygamen Veranlagung des Mannes« infrage zu stellen, und zwar »nicht nur, weil wir uns klar sind, daß wir gerade über Fragen der Veranlagung so wenig Sicheres wissen«. Horney wies darauf hin, dass neben biologischen (»Sollte nicht doch der Umstand, daß der Koitus für die Frau durch die Möglichkeit der Konzeption eine größere physiologische Tragweite hat, irgendeine psychische Repräsentanz bei ihr gefunden haben?«), auch »historische und soziale« Faktoren (»die wirtschaftliche Abhängigkeit der Frau, […] die drakonischen Bestrafungen 37der weiblichen Ehebrecher« sowie die Forderung der Männer nach der vorehelichen Jungfräulichkeit der Partnerin, »um ein gewisses Maß von Hörigkeit von seiten der Frau« sicherzustellen) einen Einfluss hätten und folglich das Wissen um das »Natürliche« zu einer Angelegenheit von größter Unsicherheit machten.14

Gelegentlich klingen die von ihr ins ödipale Gehäuse gepressten Überlegungen im Nachhinein einfach nur überspannt. So ihre in »Die monogame Forderung« geäußerte Behauptung, dass die Begehrensobjekte in den frühesten Masturbationsfantasien des Kindes die erste Untreue gegenüber den geliebten und begehrten Eltern repräsentierten und daher auch mit Schuld assoziiert seien; und dass es diese Furcht vor elterlicher Bestrafung sei, die sich später auf die Furcht vor der potenziellen Wut des Partners übertrage. Aber immer wieder gelang es ihr auch in diesem Text, mittels freudianischer Terminologie überzeugende Argumente vorzubringen, etwa indem sie die Aufmerksamkeit auf die ambivalente – wenn auch oft verleugnete – Kombination von Hass und Liebe lenkte, die in intimen Beziehungen unvermeidlich sei, gerade in der monogamen Partnerschaft. Dementsprechend verwies Horney erneut auf den Ödipuskomplex und die unbewusste Verbundenheit mit den Eltern, als sie schneidend bemerkte, dass »die Elemente des Hasses« in der Ehe »ein Ventil finden können, nicht nur, wenn das Prinzip der Monogamie verletzt wird, sondern auch, wenn es eingehalten wird«. Zum Schluss ihrer Abhandlung lenkte sie jedoch ein und betonte, dass die ödipalen Wurzeln der Wahl und der Einstellung zur oder zum Ehepartner:in auch das Potenzial hätten, »den polygamen Wünschen« beider Partner:innen den Boden zu entziehen – sodass »ein Auskämpfen der Konflikte überhaupt möglich wird« und endlich das Ideal der »zärtliche[n] Bindung« zwischen Ehemann und Ehefrau verwirklicht werden könne.15 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass dieser etwas unbändige Aufsatz, der zugleich angeregt und eingeengt durch ererbte Logiken war, eine von Horneys späteren Haupteinsichten ankündigte, die sie in ihrem Buch von 1937 (The Neurotic Personality) auf die Formel brachte, dass, genauso wie »›nicht alles Gold ist, was glänzt‹«, auch gelte: »›Nicht alles ist Sexualität, was nach ihr aussieht‹.« Denn, wie sie weiter erklärte: »Ein großer Teil dessen, was als Sexualität erscheint, hat in Wirklichkeit sehr wenig mit ihr zu tun, sondern ist Ausdruck des Wunsches nach Bestätigung.«16

38Horney sollte sich aus mindestens vier Gründen von Freuds Theoretisierung der Sexualität abwenden (auch wenn sie, nicht zuletzt aufgrund ihres Bekenntnisses zu den Konzepten des unbewussten Konflikts und der Verdrängung, weiterhin betonte, dass »meine Interpretation [letzten Endes] auf Freud'schem Boden gewachsen [ist]«). Der erste Grund war ihre allmählich sich herausbildende Idee, dass Charaktereigenschaften wie Kreativität, Gier oder Ängstlichkeit besser zu verstehen sind, wenn man sie nicht auf eine libidinöse Quelle zurückführt und damit als Ausdruck ursprünglich sexueller Impulse interpretiert, die dann sublimiert, fehlgeleitet oder verdrängt worden seien, sondern vielmehr annimmt, dass sie einen nicht