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Der Überfall ist bis ins Kleinste ausbaldowert. Alles verläuft nach Plan, bis der Raub unerwartet aus dem Ruder läuft, denn der Tod des Juweliers gehörte nicht dazu. Dank einem schnellen und umsichtigen Einsatz der Londoner Polizei werden zwei der drei Täter gefasst und der gestohlene Schmuck sichergestellt – doch einer der Täter kann abtauchen und ein hochkarätiger seltener Edelstein bleibt dauerhaft verschwunden. Die Sache entwickelt sich zum ›Cold Case‹ und es braucht erst einen weiteren Mord – einen ohne Zeugen – bis wieder Bewegung in den Fall kommt …
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Seitenzahl: 161
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Colin Bradley
WITHOUT WITNESSES
Crime Novel
Blossom Rydell
Bibliografische Information durch
die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.de abrufbar
1. Auflage 2020
2. Auflage 2025
ImpressumCopyright: © 2025 Blossom Rydell
Bissenkamp 1, 45731 WaltropDruck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.deISBN siehe letzte Seite des Buchblock
»Vergebens wird die rohe Hand
am Schönen sich vergreifen,
man kann den einen Diamant
nur mit dem andern schleifen.«
Friedrich von Bodenstedt (1819-1892)
Kapitel 1
London, Mitte der 1920er
In dem ›Crossley‹-Lieferwagen saßen drei Männer, die in weiten blaugrauen Overalls steckten, deren großen Taschen derart ausgebeult waren, dass wohl eine ganze Kängurufamilie problemlos darin Platz gefunden hätte.
Genau zwei Dutzend Mal waren sie in den vergangenen Wochen die gleiche Strecke um diese Tageszeit gefahren – immer zwischen neun und zehn Uhr am Vormittag.
Ihr Zeitplan war so präzise abgestimmt wie das Triebwerk einer Rakete von Robert Goddard.
»Verdammt!« Unvermittelt trat der Fahrer auf die Bremse, denn quer über die ›Braintree Street‹ war auf Höhe der ›Sceptre Road‹ eine breite Warnbake aufgestellt worden.
»Hey Leute, ihr müsst die Umleitung nehmen!«, rief ihnen einer der Arbeiter zu, der mit seinen Kollegen gerade einen Graben aufriss.
»Was ist denn los?!«
»Hier hat es in der Nacht einen Rohrbruch gegeben!«
Nickend und vor sich hin knurrend, als hätte es ihm heftig die Petersilie verhagelt, gab der Fahrer dem Arbeiter ein verstehendes Handzeichen.
»Macht nichts, Richard«, murmelte der Beifahrer und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Dann nehmen wir halt die Umleitung.«
Der Mann, den er mit Richard angesprochen hatte, legte murrend den ersten Gang ein, fuhr die ›Sceptre Road‹ hinauf bis zum Park, und dann die ›Wessex Street‹ hinunter, bis er wieder auf der ›Braintree Street‹ einscherte. »Der verfluchte Mist hat uns glatt zwölf Minuten gekostet.«
Sein Beifahrer warf einen erneuten Blick auf die Uhr. »Exakt zwei Minuten vor halb. Nur die Ruhe«, versuchte er die Lage zu entspannen.
Genau um halb zehn passierte der Lieferwagen mit der auffälligen Aufschrift ›Charly’s Window Cleaning Service‹ die südliche Ecke des ›Bethnal Green Gardens‹, wo ihnen ein Bobby mit weißen Handschuhen, der den Verkehr an der Kreuzung regelte, ein Haltesignal gab.
»Angst?« Der Beifahrer sah ihn prüfend an.
Richard schüttelte den Kopf, indessen der Dritte im Bunde, der auf der rückwärtigen Sitzbank vor dem Laderaum saß, nicht einen Muckser von sich gab.
»Wie besprochen: Es wird nicht rumgeballert«, schärfte der Beifahrer, der offensichtlich der Anführer zu sein schien, seinen Kumpanen noch einmal ein. »Haltet euch einfach an meinen Plan.« Ein verrückter Plan, wie ihm die beiden zunächst vorgehalten hatten. Doch letztlich war es ihm gelungen, ihre Bedenken und Zweifel aus dem Weg zu räumen. »Wie gesagt: Geschossen wird nur im absoluten Notfall«, wiederholte er gelassen wie ein professioneller Schachspieler, der zum Matt des Gegners nur noch einen weiteren Zug brauchte.
In diesem Moment winkte ihnen der Bobby mit der behandschuhten Rechten zu, derweil er den Fahrern in der Gegenrichtung die linke Handfläche zeigte und zum Anhalten aufforderte.
Mit einem Ruckeln zog der Lieferwagen an und ließ die Eimer und Schrubber im Laderaum heftig scheppern, derweil das rot geziegelte ›Bradbeer House‹ zur linken Hand an ihnen vorbeiglitt.
Drei Straßen weiter fand Richard eine Parklücke vor ihrem Ziel. Es war der Standplatz des Arztes, dessen Praxis sich im Obergeschoss des Gebäudes befand und von dem die drei wussten, dass er an diesem Wochentag stets pünktlich um zwanzig vor zehn zur Runde seiner häuslichen Visite aufbrach.
Es war neun Uhr einundvierzig, als die drei aus dem ›Crossley‹ kletterten.
Sofort lief Richard nach hinten, öffnete die Hecktür und holte eine Holzleiter heraus, gefolgt von drei Eimern und Schrubbern mit langen Stielen. Dann schlenderte er mit seinen beiden Kumpanen auf das Geschäft im Erdgeschoss zu, über dessen Eingang in vergoldeten Buchstaben drei Worte eingelassen waren: ›Brooks Jewelry Company‹.
Allerdings genügten diese drei Worte den Damen der Londoner Gesellschaft – denn die Gebrüder ›Brooks‹ gehörten neben ›Albert Weiss & Co‹ zu den bedeutendsten Juwelieren an der ›Braintree Street‹.
Während Richards Kumpanen das Geschäftslokal betraten, nahm er seinen Platz unmittelbar unter dem Gitter der schmalen Eingangstür ein und sah, dass sich im Inneren – abgesehen von Jerry Brooks und drei Verkäufern – noch fünf kaufwillige Damen befanden.
Jerry Brooks, ein weißhaariger Mittfünfziger in korrektem dunklen Tweed, warf dem Beifahrer einen fragenden Blick zu, indessen sich seine Kundinnen und Verkäufer nicht um die beiden kümmerten, die sie ganz offensichtlich für Fensterputzer hielten.
In dieser Sekunde trat der Beifahrer noch einen Schritt näher an Brooks heran. »Es geht um die Rechnung der letzten Reinigung …«, setzte er murmelnd an, gefolgt von einem scharfen: »Keine Bewegung!« Die letzten Worte kamen wie aus der Pistole geschossen, während er zeitgleich eine Waffe in seiner Hand aufblitzen ließ.
Auch der dritte Mann hatte jetzt einen ›Webley‹-Revolver hervorgezaubert.
Durch den ständigen Umgang mit kostbaren Juwelen waren Jerry Brooks und sein Personal an die immerwährende Gefahr eines Überfalls gewöhnt, weshalb es ihm gelang, Ruhe zu bewahren. »Sie werden nicht weit kommen«, erwiderte er kühl und wich einen kleinen Schritt zurück.
»Dort rüber! An die Wand!«, herrschte der Dritte im Bunde die Damen an.
Brooks Kundinnen gehorchten alle, bis auf eine ältere Frau, die ins Schwanken geriet und zu Boden stürzte. Es schien als hätte bei ihr der Schock eine Ohnmacht oder einen Herzanfall ausgelöst.
»Sie werden noch hier im Laden festgenommen«, prophezeite der Juwelier, wobei er noch einen Schritt nach hinten trat.
»Stehenbleiben!«, gellte der Beifahrer warnend. »Sofort!«
Wenngleich Brooks dem Befehl folgte, straffte sich jeder Muskel in seinem Körper. Ausdruckslos schaute er zu, wie der dritte Mann einen Hammer aus einer Tasche seines Overalls holte und direkt auf die Glasscheibe seiner großen Schauvitrine einschlug. Scharfkantige Splitter flogen zu Boden und knirschten unter seinen Sohlen, derweil er mit den behandschuhten Händen in die Auslage griff und sie abräumte.
»Der wird Ihnen kein Glück bringen«, merkte der Juwelier kühl an und richtete seinen Blick auf den nussgroßen Diamanten, der das Prunkstück seiner Auslage bildete. Unmerklich trat er einen weiteren Schritt, wissend, dass er zum Auslösen des Alarms nur kurz die Fußleiste der Theke berühren musste und trat auch schon dagegen.
Noch im gleichen Moment löste sich ein Schuss aus der Waffe des Beifahrers, und Brookes buschige Augenbrauen hoben sich in unendlichem Erstaunen, ehe er langsam nach vorne kippte und zu Boden fiel. Zeitgleich heulte außen am Gebäude eine Sirene auf und noch während der Alarm im benachbarten Polizeirevier einging, krachten die massiven Schutzgitter, die außerhalb der Öffnungszeiten sowohl den Eingang und die beiden Schaufenster schützten, ungebremst in ihren Führungsschienen auf ihre Verankerungen herunter.
Doch mit dem sich schließenden Fallgitter an der Tür hatten die Gangster gerechnet. Genau deshalb hatte Richard die hölzerne Klappleiter so darunter gestellt, dass eine Lücke von knapp eineinhalb Yard blieb.
»Fertig?«, erkundigte sich der Beifahrer ruhig.
Der Dritte nickte, folgte ihm eilig zum Ausgang und zwängte sich hinter ihm an der Leiter vorbei.
Um neun Uhr zweiundvierzig hatten sie mit dem Überfall begonnen, und bereits wenige Minuten später war ihre Aktion beendet.
***
Kapitel 2
»Verdammte Scheiße! Was sollte das?! … Es war doch ausgemacht, dass nicht geschossen wird«, knurrte Richard außer sich vor Wut, dessen Hände schweißnass auf dem Lenkradkranz lagen.
Sein Beifahrer blieb ihm eine Antwort schuldig.
Erst als sie die ›Malcolm Road‹ erreichten, beugte sich der Dritte von hinten vor. »Jetzt beruhige dich mal wieder … Die nächste links … und dann in die ›Colebert Avenue‹.«
Richard zog den Lieferwagen über die ›Mantus Road‹ und kurvte in der ›Colebert Avenue‹ gleich darauf in die Einfahrt einer kleinen Werkstatt.
Ein sommersprossiger Junge mit roten Haaren, der hier aushilfsweise als Tankwart arbeitete, grinste die Männer an, als sie aus dem ›Crossley‹ kletterten. »Sagt nur nicht, dass ihr schon Feierabend macht ... Mann, ehrlich, Fensterputzer müsste man sein. Ihr verdient euer Geld ja im Schlaf. Ein Glück, dass ich euren anderen Wagen schon abgeschmiert habe.«
Unwillkürlich machte sich in der Magengrube des Beifahrers ein unangenehmes Gefühl breit. Er dachte daran, was gewesen wäre, hätte ihr Wagen noch immer auf der Grube gestanden, während durch den allgemeinen Verkehrslärm das laute Gellen einer Polizeisirene von der ›Braintree Street‹ herübertönte.
Der Junge mit den Sommersprossen spitzte die Ohren. »Also heute ist ja ganz schön was los«, meinte er und fuhr sich mit einer Hand durch sein wirr in die Stirn hängendes Haar. »Vor zwei Stunden ging’s schon mal rund da vorne. Da hat jemand eine ältere Frau angefahren.«
Der Beifahrer schmunzelte. »Schau ruhig nach, was jetzt wieder los ist, wenn du willst … Hier.« Er drückte dem Burschen zwei Shilling in die kleine schmutzige Hand.
»Danke, Mister«, freute sich der Junge. »Werde Sie dem Verein zur Rettung halbwüchsiger Mädchen als Ehrenpräsidenten empfehlen …«
Die restlichen Worte hörten die drei Männer in den blaugrauen Overalls nicht mehr. Sie verschwanden in der Garage der Werkstatt. Ein ums andere Mal hatten sie das Wechseln der Arbeitskluft geübt.
Der Beifahrer riss die hintere sonnengelbe Tür des ›Austin‹ auf. Dann flogen die Arbeitsanzüge hinein und wurden mit frischen Leinentüchern zugedeckt. Da das Fahrzeug die Aufschrift einer Wäscherei trug, hatte er dem Jungen erklärt, dass der Wagen der Firma seiner Frau gehören würde.
Seelenruhig verließ das Wäscherei-Fahrzeug die Werkstatt der kleinen Tankstelle und fädelte sich in den Verkehr der ›Colebert Avenue‹ ein.
Erst jetzt, nach dem Wechsel der Kleidung und des Wagens, wich allmählich die Anspannung des Trios.
»Wir haben den Diamanten, … zahlreiche Ringe, Colliers und Armbänder«, hielt der Dritte zufrieden fest. »Schätze, der Wert liegt um die fünfzigtausend Pfund. Das hat sich doch wirklich mal gelohnt.«
Von wegen gelohnt, dachte Richard. Der Mord wird uns noch alle an den Galgen bringen! Er presste die Lippen zusammen und trat das Gaspedal fester durch – denn noch bevor ›Scotland Yard‹ sein Netz über alle Ausfallstraßen werfen würde, wollte er den ›Rotherhithe‹-Tunnel bereits passiert haben …
*
Als der sommersprossige Tankwart von seinem neugierigen Ausflug in die Garage zurückkehrte, dachte er an das, was ihm zu Ohren gekommen war. Es war von einem Überfall auf den Juwelier Brooks gemunkelt worden, aber niemand wusste Genaueres zu berichten. Bis zu dessen Geschäft war es zu weit gewesen, schließlich durfte er seinen Arbeitsplatz nicht allzu lange im Stich lassen. Zumindest hatte er aufgeschnappt, dass es drei Täter in blauen Overalls gewesen sein sollten – was ihn unwillkürlich an die drei Fensterputzer denken ließ. Ohne es sich wirklich erklären zu können, spürte er, wie es ihn plötzlich bis in die Fingerspitzen kitzelte. Mit schnellen Schritten begab er sich zum Abstellplatz des Wäscherei-Fahrzeugs …
… Aber der Wagen stand nicht mehr an seinem Platz.
Doch dafür machte er eine andere interessante Entdeckung. Denn direkt neben einem der öligen Putzlappen lag etwas auf dem Boden, das golden und gläsern schimmerte. Es war ein kostbarer Ring mit einem taubeneigroßen Stein – einem prächtigen Smaragd. Er kannte sich damit zwar nicht aus, erinnerte sich aber genau, wie der sonnengelbe ›Austin‹ ausgesehen und welche Aufschrift er gehabt hatte.
Den Namen einer Wäscherei, der, wie sich kurz darauf herausstellte, ein ihrer Lieferwagen gestohlen worden war: ›Collins Laundry, 24 Cornwall Street‹.
***
Kapitel 3
Um diese Zeit rollte der auffällige ›Austin‹ durch die ›Sutton Road‹ in ›Chiswick‹.
Der Beifahrer warf einen kontrollierenden Blick auf seine Taschenuhr: Es war zehn Uhr fünfundzwanzig. »Klappt wie am Schnürchen«, murmelte er, als sich aus der eintönigen Fassade der Straße der Turm von ›St. James‹ abhob.
In einem stillen Winkel zwischen Pfarrhaus, Kirche und Friedhof wartete der dritte Wagen, den sie für ihre Flucht einsetzen wollten: ein blaugraues ›Ford Model T‹, das dem Beifahrer gehörte.
»Gib mir mal eine Zigarette«, kam es Richard heiser über die Lippen, während er ihm bereits eine Hand entgegenstreckte.
»Später«, knurrte der, weil in diesem Augenblick ein Streifenwagen aus einer der Nebenstraßen schoss, auf dessen Dach sich das Rundumlicht wie eine wildgewordene Roulettekugel drehte, während die Sirene im Daueralarm heulte.
»Verdammt! Das gilt uns!«, krächzte Richard.
»Quatsch nicht! Gib Gas!«, befahl der Beifahrer hart und zog seine Automatik.
Noch ehe Richard dazu kam, sprangen bereits mehrere Polizisten mit Schusswaffen in den Händen aus dem Fahrzeug, von denen sich einer direkt vor der Kühlerhaube in Stellung brachte und feuerte.
Die Kugel durchschlug die Windschutzscheibe und ließ einen Scherbenregen auf die beiden vorne Sitzenden rieseln. Als Richard einer der Splitter ins Auge flog, trat er das Gaspedal ungewollt mit voller Kraft durch, ließ den sonnengelben Lieferwagen dabei mit laut quietschenden Reifen ausbrechen und streifte einen Laternenmast. Für einige Sekunden klang das knirschende Blech der Karosserie wie das erboste Trompeten eines angreifenden Elefanten. Dann legte sich der ›Austin‹ zur Seite, überschlug sich auf der Querachse und kam wieder auf die Räder.
Von jetzt an lief nahezu alles gleichzeitig ab. Während von hinten die Polizisten auf das Fahrzeug zu jagten, versuchte der Mann, der auf Rücksitzbank saß und die Auslage des Juweliers geleert hatte, sein Heil in der Flucht. Vor ihm lag der Kirchplatz von ›St. James‹ mit der aus rotem Sandstein errichteten Kirche und das ärmlich wirkende Pfarrhaus mit dem kleinen Friedhof dahinter. Seine Wahl fiel auf den Eingang zur Kirche.
Auch seine Kumpane stürmten aus dem Wagen und als einer der Beamten Richard in die Quere kam, gab er zwei Schüsse auf ihn ab. Er sah, wie sich der Mann mit der rechten Hand an die Schulter griff und wusste, dass er ihn getroffen hatte. Er spürte, wie er selbst schwankte. Mit dem Glassplitter im Auge und benommen, wie er war, versprach er sich nichts mehr von einem weiteren Fluchtversuch. Hinzu kam all das Blut, das ihm ins Gesicht lief, nachdem er bei dem Überschlag mit voller Wucht gegen den Rahmen der Windschutzscheibe geschlagen war. »Ich gebe auf! Nicht schießen!«, rief er laut und ließ sich ohne weitere Gegenwehr festnehmen.
»Einer ist hinüber in die Kirche gerannt!«, brüllte der Dienstgradhöchste, ein Sergeant. »Der andere ist dort entlang!« Er deutete gerade in die Richtung, als ein zweiter Streifenwagen auftauchte und mit kreischenden Bremsen stoppte. Schnell wies er seine Kollegen in die aktuelle Lage ein, sorgte dafür, dass die Kirche umstellt wurde, derweil weitere in sie eindrangen und andere die Verfolgung des Beifahrers übernahmen.
Der Mann vom Rücksitz, der in die Kirche getürmt war, hatte keine Chance. Er wurde nur wenig später im Dachstuhl gestellt und ohne jede Gegenwehr arrestiert. Nur der Beifahrer und Dritte im Bunde blieb verschwunden …
***
Kapitel 4
Joel Murphy war ein attraktiver Bursche, der sich nicht nach Mädchen umzudrehen brauchte. Denn die schauten ausnahmslos ihm hinterher. Er war fast sechs Fuß groß, besaß dunkles, leicht gekräuseltes Haar und die Figur eines durchtrainierten Boxers der Mittelgewichtsklasse. Sein Kinn war energisch und die Hände eindrucksvoll. Seine Freunde waren der Meinung, dass er Rudolph Valentino glich und das Zeug zum Filmstar besaß. Aber darauf gab er nichts, denn er war sich sicher, eher das moralische Rüstzeug eines Dandys zu haben. Dass er keiner war, lag einzig und allein an der permanenten Ebbe in seinem Portemonnaie.
An diesem Tag steuerte er einen ›Wolseley‹ – der so betagt schien, als habe er bereits im ›Großem Krieg‹ gedient – über die ›London Road‹ in Richtung ›Watford‹.
Nach einer halben Stunde Fahrzeit, gerechnet vom Gelände der Weltausstellung aus, tauchten die ersten Häuser der Ortschaft vor ihm auf. Eingebettet in gestutzte grüne Rasenflächen lagen die Gebäude da, umstanden von sauber geschnittenen Büschen – so ordentlich wie die ›Horse Guard‹ des Königs.
Das Haus von Richard Kauffman machte da keine Ausnahme – zweistöckig und aus rotem Backstein gemauert, besaß es eine geräumige Garage und sogar einen Swimmingpool, der sich an die Terrasse anschloss und im hinteren Teil des Gartens befand.
In diese wohlhabende Umgebung passte sein in die Jahre gekommener ›Touring Car‹ wie ein Stadtstreicher an die Tafel eines Staatsbanketts im ›Buckingham Palace‹. Doch für ihn war das kein Grund, um schamhaft zu erröten. In der Auffahrt brachte er seinen Wagen zum Stehen und kletterte heraus. »Hey, Mandy!«, rief der verhinderte Dandy. »Mandy! «
Als sich die Erwartete nicht zeigte, klopfte er noch mehrfach gegen die Tür, ehe er die Klinke drückte und sie unverschlossen fand. Er öffnete und zögerte einen Augenblick. Doch auch jetzt zeigte Mandy sich nicht, und er wagte es, einzutreten.
Auf den dicken Teppichen des Hauses waren seine Schritte so leise wie Katzenpfoten auf einem gepflegten Rasen. Zielsicher steuerte er den luxuriös eingerichteten Salon an und schritt auf den Wandschrank mit dem Whisky zu, wo er sich je einen Drink auf das Wohl seiner Freundin und Richard Kauffman, seinen zukünftigen Schwiegervater, genehmigte. Er musste sich etwas Mut für das bevorstehende Gespräch mit ihm antrinken – denn jeder halbwegs aufmerksame Beobachter hätte mühelos bemerken können, dass er sich fürchtete. Deshalb fiel ihm auch das Glas aus der Hand, als plötzlich ein Schuss fiel …
… Sekundenlang stand er regungslos da. So starr, dass man ihn ohne weiteres mit einer der Wachsfiguren aus Madame Tussauds Kabinett hätte verwechseln können. Doch im Gegensatz zu diesen Figuren mit ihren natürlichen Gesichtsfarben wirkte seines wie aus Stearin modelliert.
Dann kam das Leben in ihn zurück, und er rannte aus dem Salon. Er war sich sicher, dass der Schuss aus Kauffmans Arbeitszimmer gekommen war und erwartete Geräusche zu hören. Aber in dem Raum herrschte die Stille einer Bibliothek. Sein Ohr fest gegen das Holz der Tür pressend, ging er gedanklich sämtliche Möglichkeiten durch – von denen die erste ›Mord an Richard Kauffman‹ lautete. Und er glaubte, einen guten Grund für diese Vermutung zu haben. Als er an der Tür rüttelte, stellte er fest, dass sie verschlossen war. Aber ein harter Stoß mit der Schulter gegen das Türblatt genügte, und das Schloss löste sich mit einem berstenden Krachen aus der Zarge.
Sofort nahm er den unverkennbaren Pulvergeruch wahr und als er seinen Blick auf den Boden richtete, die bäuchlings auf dem Teppich liegende Leiche. In diesem Moment erwartete er einen zweiten Schuss zu hören – einen, der ihm galt. Denn er vermutete, dass sich der Mörder noch in dem Zimmer befinden musste. Schließlich waren die Fenster, die sich nur von innen öffnen ließen, fest verschlossen, und er hatte die Tür aufbrechen müssen.
Plötzlich vermeinte er einen winzigen Luftzug zu verspüren, fuhr herum und bemerkte, dass er von der Tür herkam, die jetzt schief in den Angeln hing. Verwundert konstatierte er, dass das Zimmer leer war und wandte sich erneut dem Toten zu. Er war sich sicher, den Mann zu kennen – diese Gestalt im schäbigen Anzug mit dem eingefallenen Wangen und den tief in den Höhlen liegenden Augen. Ohne den Schuss hätte man denken können, ein leichter Luftzug habe die hagere Gestalt von den Beinen gefegt.
Er schaute ihm ins ausgemergelte Gesicht. Es war Harold Handsome, den er schon immer für paradox gehalten hatte, denn gut aussehend, wie es sein Name andeutete, war der Bursche nie gewesen.