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Alle wissen, wie eifersüchtig der Kellner Harvey Roberts ist, der eines Abends einen mysteriösen Anruf erhält und erfährt, dass sich seine Frau gerade mit ihrem Liebhaber vergnügt. Nur wenig später wird Roberts in seiner Wohnung erschossen. Alle Hinweise deuten auf Matthew Bennett, doch dessen Anwalt glaubt nicht an die Schuld seines Mandanten. Allerdings hegen die Geschworenen daran keinen Zweifel und sprechen Bennett des Mordes schuldig, worauf dem Verteidiger nur die Revision bleibt. Er schaltet Colin Bradley ein, um nach dem rettenden Hinweis zu suchen, der seinen Klienten in einem neuen Verfahren noch vor dem Galgen retten kann. Als Bennetts Schwester Harriett entführt wird, überschlagen sich die Ereignisse …
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Seitenzahl: 168
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Colin Bradley
A FATAL ERROR
Crime Novel
Blossom Rydell
Bibliografische Information durch
die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.de abrufbar
1. Auflage 2020
2. Auflage 2025
Cover- und Buchgestaltung:
© 2025 Blossom Rydell
Impressum
Copyright: © 2025 Blossom Rydell
Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
ISBN siehe letzte Seite des Buchblocks
»Wenn der Mensch zu viel weiß,
wird das lebensgefährlich.
Das haben nicht erst die Kernphysiker erkannt,
das wusste schon die Mafia.«
Norman Mailer (1923-2007)
Kapitel 1
London, in den 1920er Jahren
Kimme und Korn der alten ›Remington R1‹ bildeten eine perfekte Linie, deren Verlängerung genau zwischen die Augen des Mannes führte, dessen vor Zorn gerötetes Gesicht jetzt plötzlich aschfahl wurde. Er öffnete den Mund um etwas zu sagen. Maßloses Erstaunen lag in dem Blick, den er auf die schwere Pistole und auf den warf, der sie auf ihn richtete. Er löste seine schweißnassen Hände vom Treppengeländer und wich zurück – zwei oder drei Schritte in die Wohnung hinein, an deren Tür mit zwei Reißzwecken eine abgegriffene Visitenkarte mit dem Namen ›Harvey T. Roberts‹ befestigt war. Noch immer brachte er nicht einen einzigen Ton heraus.
In dieser Sekunde bellte die Handfeuerwaffe bösartig auf und schlug in der behandschuhten Rechten des Schützen ruckartig zurück. Keine Sekunde darauf lief der Mörder auch schon die Stufen im Flur hinunter, als sei nicht das Geringste geschehen, während sich über und unter ihm Wohnungstüren öffneten und Stimmen laut wurden.
Die Treppenhausbeleuchtung erlosch.
Ungehindert spazierte er aus dem Mehrfamilienhaus hinaus und sah sich prüfend um. Kein Mensch war um diese späte Zeit auf der Straße. Er warf einen Blick auf die goldene Uhr an seinem Handgelenk. Die Zeiger standen auf kurz nach halb elf.
*
Eine halbe Stunde zuvor:
Dicker Nebel wirbelte von der nahegelegenen Themse herüber, der ›Big Ben‹ schlug zum zehnten Mal und die zahlreichen Nebelhörner auf dem zweitgrößten Fluss der britischen Insel klangen, als wollten sich alle Dampfer und Lastkähne zeitgleich dem Londoner Hafen nähern.
Schon seit kurz vor neun standen zwei Frauen vor einer Haustür in der ›Castle Baynard Street‹ und gingen plappernd die neuesten Gerüchte vom Tage durch. Es war nicht zu erkennen, ob sie jung oder alt waren. Die Nacht und der Nebel ließen es nicht zu, und auch nicht das fahle Licht Straßenlaterne, die an einem quergespannten Kabel über der Straße leicht pendelte.
Auf der gegenüberliegenden Seite stand ein Mann, der sich eng in einen Hauseingang presste. Er hielt sich ein Taschentuch vor Mund und Nase.
Selbst wenn ihn die beiden Frauen bemerkt hätten, wären sie wohl nicht sonderlich erstaunt gewesen. Nicht jeder mochte den penetranten Fischgestank des unweit gelegenen Fischmarktes, wo jährlich Millionen Tonnen Fisch und sonstige Meeresfrüchte aus-, umgeladen und verkauft wurden. In den Pubs und Restaurants bekam man kaum etwas anderes als maritime Gerichte vorgesetzt. Es herrschte ein Duft, der wohl bis in alle Ewigkeit halten würde.
Aus Richtung der ›White Lion Hill‹ tuckerte ein Wagen heran. Mit funkelnden milchigen Scheinwerfern bog er in die ›Castle Baynard Street‹. Er fuhr hoch bis zur ›Upper Thames Street‹, wendete dort derart heftig, dass sein Heck auf dem schmierigen Pflaster ins Schleudern geriet und rollte dann langsamer auf den Hauseingang mit den beiden Frauen zu.
»Sag‘ mal«, meinte die etwas Fülligere der beiden, »ist das nicht der klapprige ›Peugeot‹ von Roberts?«
»Sicher«, kicherte die Spindeldürre. Ihr geschminktes Gesicht unter den Lockenwicklern wirkte im Licht der milchigen Autoscheinwerfer mumienhaft. »Der wird sich freuen. Einmal musste es ja dazu kommen!«
Der graublaue ›Peugeot‹, der schon deutlich bessere Zeiten gesehen hatte, hielt vor der Haustür, und das Geräusch des Motors starb ab. Ein schlanker und, nach der Silhouette zu urteilen, eleganter Mann stieg aus. Er griff noch einmal in das Fahrzeuginnere des französischen Linkslenkers, worauf die Scheinwerfer erloschen, und näherte sich über den Bürgersteig.
Niemand hatte darauf geachtet, dass der Mann mit dem Taschentuch vor dem Gesicht seinen Standort auf der anderen Straßenseite verlassen hatte. Er ging ein Stück in westlicher Richtung, überquerte dort die Fahrbahn und kam zurück.
Der schlanke Mann aus dem Wagen war unschlüssig bei den Frauen stehengeblieben.
»Guten Abend, Mr. Roberts«, begrüßte ihn die Hagere honigsüß.
»Heute einmal zeitig Feierabend?«, erkundigte sich die andere mit vor verhaltener Spannung deutlich vibrierender Stimme.
Zwei Finger der linken Hand flüchtig an den ›Bowler‹ tippend, ging in diesem Moment hinter Roberts‘ Rücken der Fremde mit abgewandtem Gesicht ins Haus.
Es war unklar, ob eine der drei Personen vor der Tür ihn überhaupt wahrgenommen hatten. Die Blicke der Frauen versuchten jedenfalls, den Nebel zu durchdringen, um Roberts‘ Gesicht zu erkennen.
Er holte tief Luft, nickte flüchtig und ging ebenfalls ins Haus.
»Jetzt wird es gleich scheppern. Da halte ich jede Wette«, kicherte die Hagere schadenfroh.
»Na, hoffentlich.« Die Füllige fischte ein Päckchen Zigaretten aus ihrem weiten Ausschnitt, klemmte sich eine zwischen die Zähne, trat an die Eingangstür heran und ließ ihr Sturmfeuerzeug aufflammen. In ihren Augen funkelte es sensationslüstern. »Wird höchste Zeit«, fügte sie hinzu, während die Flamme erlosch. Nur die Glut ihrer Zigarette leuchtete jetzt in hektischen, kurzen Abständen auf.
Aus einem nicht ganz geschlossenen Fenster über ihren Köpfen brüllte plötzlich eine Männerstimme: »Ich hab’s nicht glauben wollen! Alle möglichen Schlechtigkeiten habe ich dir zugetraut, aber nicht das!«
Die Spindeldürre streckte ihren Daumen nach oben und kicherte. »Geht schon los.«
»Die Arme«, gluckste die andere hämisch. »Ist ja auch eine echte Gemeinheit von ihm, bereits heimzukommen, wenn er noch gar nicht fällig ist.«
Aus dem Fenster hörte man eine Frau beschwörend sagen: »Hör‘ mir doch wenigstens erst mal zu, Harvey …«
Überschnappend fiel ihr die männliche Stimme ins Wort: »Hören?! Warum?! Meine Augen sind mindestens ebenso zuverlässig wie meine Ohren!«
»Kommen Sie.« Die Hagere packte die andere am Handgelenk. »Jetzt wird’s spannend.«
Schon rannten die beiden mit klackenden Absätzen auf die andere Straßenseite und starrten gebannt auf das erleuchtete Fenster im dritten Stock. Sie konnten von dort zwar nicht fiel erkennen, aber wenigstens die hin und her wischenden Schatten.
»Ich will jetzt auf der Stelle wissen, was hier gespielt wird!«, schrie Roberts.
Die Erwiderung seiner Frau war nicht zu verstehen. Auch das Liebespärchen, welches jetzt engumschlungen vorbeikam, schaute hinauf.
»Ehekrach?«, grinste der junge Mann breit, ohne seine Freundin loszulassen.
»Und wie!«, lachte die Hagere.
»Gleich gibt’s Mord und Totschlag. Wartet mal ab!«, ergänzte die andere, nicht ahnend, dass sie auf grausige Weise recht behalten würde.
Plötzlich hörte man wieder Harvey Roberts‘ polternde Stimme. Diesmal nicht schreiend, aber doch immer noch in einer Lautstärke, als stünde er direkt neben ihnen auf der Straße. »Habt ihr beiden mich in eine Falle gelockt? … Sind Sie etwa der Kerl, der mich im Club angerufen hat?«
Die weibliche Stimme hinter dem leicht geöffneten Fenster lachte hysterisch. »Ausgerechnet er?! Was denkst du von mir?! Bei deiner Eifersucht!«
Die Füllige warf den Rest ihrer Zigarette weg. »Los«, zischte sie, »gehen wir nach oben. Da können wir besser lauschen!«
Atemlos hasteten die beiden die Treppe hinauf. Aber sie brauchten nicht einmal bis in den dritten Stock zu gehen. Schon eine halbe Etage tiefer wurde ihre Neugier ausreichend befriedigt, wenngleich die Tür zum Korridor bei den Roberts geschlossen zu sein schien. Doch auch so waren die klatschenden Schläge deutlich zu hören.
»Nein, Harvey!«, schluchzte Mrs. Roberts.
»Das geht jetzt echt zu weit!«, folgte eine wütende Männerstimme. »Lassen Sie sofort Ihre Frau los!«
Ein unartikulierter, zorniger Schrei folgte – ein weiterer Schlag und ein Aufstöhnen.
Im Treppenhaus knarrte eine Stufe über den Frauen, und ein harter Gegenstand schlug gegen Holz. Es schien, als seien nun auch andere Mieter aus ihren Wohnungen gekommen, um dem Streit beizuwohnen. Doch die beiden hatte keine Zeit mehr, sich dessen zu vergewissern. Es polterte – krachend schlug die Tür zu – hastige, stolpernde Schritte näherten sich, und dann flog ihnen jemand buchstäblich in die Arme.
»Wer sind Sie?«, keuchte Mrs. Roberts.
»Beruhigen Sie sich, Kindchen«, erwiderte die Füllige. »Kommen Sie.«»«
Die drei Frauen gingen in die zweite Etage hinunter, wo die Füllige ihre Wohnung aufschloss und Mrs. Roberts hineinschob. Ihr folgte die Spindeldürre mit den vielen Lockenwicklern im Haar – zappelnd vor Sensationslust.
In der Küche flammte kaltes, weißes Licht auf. Auf einer durch den Raum gezogenen Leine trocknete Wäsche, und es roch nach Bohnensuppe und Kraut.
Kraftlos setzte sich Mrs. Roberts an den Küchentisch. Trotz ihrer verweinten Augen und der roten Schlagmarken im Gesicht sah sie wie einem Kinofilm oder Modemagazin entsprungen aus. Sie trug ein hochgeschlossenes, raffiniert geschnittenes Kleid, dessen Wirkung explosiver war, als eine noch so gewagte Kreation. Ihr langes, gescheiteltes, schwarzes Haar war beidseits zu einer kleinen Schnecke geflochten. Ihr Make-up war gekonnt, und dennoch blieb ihre auf Wirkung berechnete Erscheinung plakativ. Sie war sehr schön – aber nicht hübsch. Sie glich so sehr dem Schönheitsideal der britischen Männer, dass es einfach zu viele von ihrer Sorte gab, um sie auseinanderzuhalten. So vergaßen die Männer sie viel zu schnell. Und obwohl sie gescheit war, hatte sie diesen Grund ihres Versagens niemals begriffen.
Vor drei Jahren hatte sie in Ammanford, nahe Swansea, den Kellner Harvey Roberts geheiratet und es bereits am nächsten Tag bereut. Sie war vor drei Jahren mit ihm nach London übergesiedelt und hasste ihn, weil er sie zu einer Kellnersfrau mit Zweizimmerwohnung im stinkenden Fischmarktviertel gemacht hatte und keine Ambitionen zeigte, es im Hotelgewerbe weiter nach oben zu bringen. Und sie war bestrebt, es ihm heimzuzahlen.
Die Füllige hatte Kaffee auf dem Herd heiß gemacht, stellte klappernd eine Tasse auf den alten Küchentisch und nahm aus dem Eisschrank einen Teller mit Sandwiches und eine halbvolle Flasche Brandy. Dann goss sie eine großzügige Portion in Mrs. Roberts‘ Tasse und füllte aus der Kanne mit Kaffee auf. »Trinken Sie, Kindchen. Das hilft«, sagte sie auffordernd, während sie die Packung mit den Zigaretten aus ihrem Ausschnitt fischte, auf den Tisch warf und das Feuerzeug danebenlegte.
Mrs. Roberts nahm die Tasse mit beiden Händen und trank vom ›Pharisäer‹.
»Jetzt beruhigen Sie sich erst mal«, sprach die Füllige weiter.
Ihre hagere Bekannte hatte die ganze Zeit nach draußen in den Hausflur gelauscht. Aber dort gab es nicht mehr viel zu hören. Alles was sie mit ihrem ans Türblatt gedrückten Ohr wahrnahm, war, dass jemand die Treppe hinablief.
Auf der Küchenuhr war es eine Minute nach halb elf, als unten die Haustür ins Schloss fiel.
»Hat Ihr Mann Sie umbringen wollen?«, fragte die Spindeldürre gierig.
Mrs. Roberts blieb ihr die Antwort darauf schuldig. In ihrem Gesicht zuckte es, und ihre Augen starrten auf die Flasche Brandy, ohne sie bewusst zu sehen.
»Was hat er denn gemeint?«, bohrte die Dürre weiter, »als er sie fragte, ob ihr ihn in eine Falle gelockt hättet?«
Mrs. Roberts hob schwach die Schultern und ließ sie direkt wieder herabfallen. Sie protestierte nicht, als ihr die Füllige noch einmal Brandy und Kaffee einschenkte. Dann nahm sie sich eine der Zigaretten, hielt sie mit zitternden Fingern in die Flamme des Feuerzeugs, dass ihr die Hagere entgegenstreckte und schloss die Augen. »Jemand hat ihn im Club angerufen und gemeint, ich hätte Herrenbesuch.« Sie lachte trocken. »Darauf hat er sofort alles stehen und liegen gelassen und ist direkt hergekommen, der Trottel.«
»Maiiisiieee …!«, brüllte jetzt Roberts‘ Stimme durch das Treppenhaus. »Komm‘ raus, oder ich hole dich, du verdammtes Flittchen!«
Seine Frau kniff den Mund zu einem schmalen Strich zusammen und griff nach der Brandy-Flasche.
Die Füllige hüstelte leise. »Vielleicht ist es ja besser«, meinte sie dann ruhig, »wenn Sie ´raufgehen. Bei allem Verständnis …«
»Oh, nein«, flüsterte Mrs. Roberts entschieden, derweil sie den Korken aus dem Flaschenhals zog und eine Menge der bernsteinfarbenen Flüssigkeit in ihre Tasse gluckern ließ. »Nicht jetzt!« Sie trank in kleinen Schlucken aus.
Die Füllige knetete ihre Hände. »Ich möchte aber auf keinen Fall, dass er ´runterkommt und mir hier alles kurz und klein schlägt. Einem Mann in seiner Verfassung ist alles zuzutrauen.«
In diesem Augenblick dröhnte durch das Treppenhaus ein scharfer Knall, und zwei Herzschläge später polterte etwas zu Boden.
Maisie Roberts war von ihrem Platz aufgestanden. In ihren Augen flackerte es. »Bitte. Lassen Sie mich jetzt nicht allein«, flüsterte sie flehend und schlug die Hände vors Gesicht. »Ich habe es ja geahnt. Das musste einmal schlimm ausgehen.«
Die Spindeldürre packte sie an den Gelenken, riss die Hände wieder herunter und starrte sie an. »Was haben Sie gewusst? Jetzt aber heraus mit der Sprache! Was genau ist passiert, Herzchen? Das war doch ´ne Falle, wie?«
»Ach, Quatsch«, widersprach die Füllige. »Reden Sie doch nicht solchen Blödsinn!« Aber man sah ihr an, dass ihr nicht besonders wohl zumute war.
Die Hagere schüttelte Mrs. Roberts hin und her. »Ich will auf der Stelle wissen, was hier vorgeht ... Schließlich sind wir Nachbarn und mitverantwortlich. Jedenfalls in einem gewissen Sinn. Ihr Mann hat doch recht, sie ist ein verdorbenes Flittchen, und wir haben es gewusst und den immer den Mund gehalten, jedes Mal, wenn sie Besuch hatte, während er auf Arbeit war … Und das eben war ein Schuss! So was höre ich genau! Mein Gatte ist Wachmann. Er gibt manchmal im Keller Übungsschüsse ab. Ich bin ein paar Mal dabei gewesen … Und jetzt ist alles still. Darüber sollten wir uns mal Gedanken machen!«
»Oh, Gott!«, röchelte die Füllige.
»Sie können bezeugen«, fuhr die Frau des Wachmanns fort, »dass sie gerade gesagt hat, sie hätte ja gewusst, was kommt. Und sie ist doch nur zu Ihnen heruntergekommen, damit sie ein Alibi hat.«
»Ihr beide habt mich doch förmlich in die Wohnung hereingezerrt!«, begehrte Maisie Roberts auf. »Wie hätte ich wissen können, dass ihr auf der Treppe gestanden und neugierig gelauscht habt! Ich habe nicht gesagt, dass ich es gewusst habe, sondern geahnt …«
Sie wurde unterbrochen, denn jemand klopfte heftig an die Korridortür, gefolgt von lautem Stimmengewirr aus dem Treppenhaus.
Mit weichen Knien schritt die Füllige zur Tür und öffnete.
Ein älterer Mann in einem Regenmantel, unter dem das Nachthemd hervor sah, stand draußen, und wechselte mit ihr einige leise Worte.
Maisie riss sich von der Hageren los und taumelte in den Korridor. »Ich weiß von nichts!«, rief sie. »Mein Mann hat ihn umgebracht, weil er dachte, ich hätte etwas mit ihm. Ich bin die ganze Zeit hier unten gewesen!«
Der ältere Mann blickte sie an, sagte aber nichts.
Maisie Roberts lehnte sich an die Wand und wurde von einem Weinkrampf geschüttelt. »Jetzt bin ich mit einem Mörder verheiratet«, stöhnte sie, »aber ich werde mich scheiden lassen.«
Weitere Hausbewohner, die zumeist ebenfalls noch ihre Nachtwäsche trugen, kamen die Treppe herunter und starrten neugierig herein.
Langsam tastete sich Anne Roberts an der Wand des Korridors den Leuten entgegen. »Glaubt nur nicht«, lachte sie schluchzend, »dass er das aus Liebe zu mir getan hat. Das war reine Wut, blanker Hass!«
Auch jetzt antwortete niemand. Aber sie bildeten eine Gasse, als die Füllige und Spindeldürre sie hinausführten, und folgten ihr alle über die Treppe hinauf in den dritten Stock.
Sie alle waren noch nicht oben angelangt, als es dunkel wurde. Aber schon im selben Augenblick drückte jemand wieder auf den Knopf.
Der Tote lag mit dem Kopf neben der Garderobe im Korridor der Wohnung. Um ihn herum war viel Blut, und es roch süßlich.
Mit weitaufgerissenen, verwunderten Augen starrte Anne Roberts ihren toten Mann an. »Harvey«, flüsterte sie ungläubig. »Du?«
Der ältere Mann im Regenmantel fasste sie an den Schultern. »Sie sind nicht mit einem Mörder verheiratet, Mrs. Roberts. Sie sind gerade Witwe geworden ... Ich gratuliere, denn genau das wollten Sie doch, nicht wahr?« Er spitzte die Lippen, als wollte er vor ihr ausspucken, entschied sich dann aber anders. drehte sich um und ging.
Die anderen schwiegen und starrten sie feindselig an.
***
Kapitel 2
Der Morgen war hässlich. Nass und grau, ganz so, wie man es von London erwartete.
An dem Schreibwarengeschäft ›H. & M. Bennett‹ in der ›Carter Lane‹, gegenüber der Einmündung zum ›St. Pauls Church Yard‹ wurden die Rollläden hochgezogen. Hinter den schmalen Schaufenstern sah man Reklamekartons für diverse Schreibwaren, bunte Paperbacks und Mappen.
Menschen, die sich auf dem Weg zu ihrer Arbeitsstelle befanden, hasteten unausgeschlafen an dem Geschäft vorbei.
Auch der schlaksige Mann im Ledermantel sah nicht eben ausgeruht aus. Er lief quer zum Strom der Passanten auf den Schreibwarenladen zu und öffnete die Tür.
Ein Glöckchen bimmelte hell. Im Laden war es düster, und es roch nach Leim und Druckerschwärze.
Der Mann blickte sich kurz um und machte sich an einem der Ständer mit Glückwunschkarten zu schaffen, als er niemanden sah.
Die junge Frau, die jetzt hinter den Verkaufstresen trat, war von großer, schlanker Statur, aber dennoch erfreulich proportioniert. Ihre Frisur entsprach nicht ganz der gerade vorherrschenden Mode, denn sie hatte ihr wie Kupfer schimmerndes Haar schlicht nach oben gekämmt und zu einem losen Knoten geschlungen. Ihr Gesicht war ein wenig blass und wirkte trotz ihres Lächelns, mit dem sie ihren Kunden begrüßte, reserviert. »Haben Sie denn etwas Passendes gefunden, Sir?«, erkundigte sie sich, während sie zu den Kartenständern hinüberschaute.
Der Mann nahm seinen Hut ab, legte ihn neben die Zahlschale und stemmte seine Hände rechts und links davon auf den Tresen. »Sind Sie Mrs. Bennett?«
»Miss Bennett«, korrigierte sie.
Er atmete tief und sichtlich erleichtert auf. »Sorry, Miss Bennett! Dann ist der andere Inhaber dieses Geschäftes ein Verwandter von Ihnen?«
Misstrauisch und recht ungehalten über so viel Neugier musterte sie ihren eigenartigen Kunden. »Das M steht für Matthew, meinen Bruder.«
»Ausgezeichnet«, nickte der Mann. »Ist es möglich ihn sprechen?«
»Würden Sie mir verraten, in welcher Angelegenheit Sie ihn zu sprechen wünschen?«
Wie beiläufig sah er an ihr vorbei zum Schaufenster auf die Straße hinaus. »Ich bin Detective Chief Inspector Duncan Reynolds von Scotland Yard.«
»Ach«, entfuhr es ihr ohne sonderliches Erstaunen. Dann schritt sie in den dunklen Hintergrund des Ladens und rief: »Matthew, komm‘ doch mal bitte herunter! Aber beeil‘ dich!« Sie kam wieder zurück. »Sie kommen sicher noch einmal wegen des Einbruchs zu uns, nicht wahr?«
»Ja …«, erwiderte Reynolds gedehnt. »So könnte man es ausdrücken.«
»Haben Sie denn eine Spur gefunden?«
»Kann ich noch nicht genau sagen. Aber deswegen bin ich zu Ihnen gekommen. Störe ich gerade sehr? Ihr Bruder hat sicher noch im Bett gelegen.«
»Nein, nicht im Bett. Er war bereits im Bad und dabei sich zu rasieren, als ich herunterkam.«
»Für Ihren Bruder ist es in der letzten Nacht wohl ein wenig spät geworden«, grinste Reynolds vielsagend und zwinkerte ihr vertraulich zu.
»Nein«, erwiderte sie in einem Ton, der andeutete, dass sie derlei Vertraulichkeiten nicht mochte.
»Ich darf wohl rauchen?«, erkundigte sich der Chief Inspector höflich.
»Bitte!«
Er zündete sich eine Zigarette an. »Das ist schon eine komische Sache, nicht wahr?«
»Was meinen Sie?« Sie ließ den Staublappen sinken, mit dem sie die Theke poliert hatte.
Reynolds hob die Schultern und betrachtete für einen Augenblick interessiert seine Fingernägel. »Der Einbruch bei Ihnen. Das war doch am vorigen Donnerstag, nicht wahr?«
»Warten Sie mal … Ja, stimmt, Donnerstag.« Sie schaute ihn misstrauisch an. »Aber was soll daran komisch gewesen sein?«
Chief Inspector Reynolds nahm sein Notizbuch aus der Manteltasche und blätterte darin. »Seltsamerweise haben die Kollegen vom zuständigen Revier nirgends auch nur den geringsten Ansatz von Gewaltanwendung feststellen können.«
Um ihre Mundwinkel zuckte es spöttisch. »Die Haustür stand offen. Kennen Sie die?«
»Woher denn?«, lachte er gemütlich. »Ich bin das erste Mal in meinem Leben in Ihrem Warenhaus.«
»Herzlichen Dank für das Warenhaus.« Ein verhaltenes Schmunzeln huschte über ihr Gesicht. »Die Hälfte tut es auch. Und die Hintertür, die Sie ja nicht kennen, können Sie mit einem krummgebogenen Draht öffnen, wenn Sie ein wenig Geschick haben.«
Für einige Sekunden starrte er in sein abgegriffenes Notizbuch. In diesem Moment passte ihm sein Auftrag gar nicht mehr. Am liebsten wäre er auf der Stelle gegangen und hätte einen seiner Kollegen geschickt. Er stellte sich vor, wie die junge Frau in zehn bis zwanzig Minuten reagieren würde, und es war ihm nicht wohl bei dem Gedanken. »Bei dieser Gelegenheit wurde eine Pistole entwendet, nicht wahr?«
»Warum fragen Sie, Chief Inspector? Wir haben das doch am Freitag früh bereits zu Protokoll gegeben.«