Commissaire Le Floch und das Geheimnis der Weißmäntel - Jean-François Parot - E-Book
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Commissaire Le Floch und das Geheimnis der Weißmäntel E-Book

Jean-François Parot

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Beschreibung

»Ein neuer Maigret wurde geboren: Nicolas Le Floch… Der Roman ist mit einem Realismus von halluzinatorischer Suggestivkraft geschrieben.« Le Figaro

Der erste Roman in der Commissaire-Le-Floch-Reihe.

Paris, 1761: Als ein Polizeibeamter der Korruption verdächtig wird, betreut man den jungen Nicolas Le Floch mit dem Fall. Was als Bagatelle beginnt, wird schon bald zum Mordfall, da der verdächtigte Beamte verschwindet, und zu einem Skandal, der auch König Ludwig XV und seinen Hofstaat treffen könnte. Während die Pariser Gesellschaft sich dem wilden Treiben des Karnevals hingibt, führen Nachforschungen Nicolas Le Floch in Spielhöllen, Abdeckereien, Edelbordelle und die Verliese der Bastille. Wird er das Geheimnis lüften und den König retten?

Schon der erste Band zeigt, warum die Reihe um Commissaire Nicolas Le Floch in vielen Ländern Bestseller wurden: rasante Plots, geheimnisvolle Charaktere und detailgenaue atmosphärische Beschreibungen, die uns das Paris des 18. Jahrhunderts sehen, schmecken, riechen und fühlen lassen.

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Seitenzahl: 563

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Ähnliche


Zum Buch

Nicholas wurde als Säugling in einer Kirche in der Bretagne ausgesetzt. Der Chorherr und Notar Le Floch nahm ihn an sich und zog ihn in dem Örtchen Guérande auf. Nachdem er bei den Jesuiten studiert hatte, arbeitete Nicolas kurz als Notariatsgehilfe in Rennes. Finanziert wurde seine Ausbildung von seinem Patenonkel, dem adeligen Marquis de Ranreuil. In dessen Tochter Isabelle hat sich Nicolas verliebt, und sie scheint seine Liebe zu erwidern, wenn sie sich heimlich treffen und harmlose Zärtlichkeiten austauschen. Umso verwirrter ist Nicolas, als sie nicht zu seinem sehr plötzlichen Abschied erscheint. Der Marquis de Ranreuil hat ihm ein Empfehlungsschreiben ausgestellt, mit dem er sich bei dem Polizeipräfekten von Paris einfinden soll. Mit neunzehn Jahren verlässt er seine Heimat, die Bretagne.

In Paris dringt er erst nach mehrmaligen Versuchen zum Polizeipräfekten vor. Monsieur de Sartine ist streng, misstrauisch und auf der Höhe der Zeit. Er merkt rasch, dass das Nicolas Le Floch ungewöhnlich ehrgeizig, loyal und scharfsinnig ist. So vertraut er ihm gleich als ersten Fall eine besonders heikle Mission an.

Zum Autor

Jean-François Parot, 1946 geboren, wuchs in einem cineastischen Umfeld auf, studierte an der Sorbonne in Paris Geschichte und Ethnologie, absolvierte eine Ausbildung als Ägyptologe und spezialisierte sich auf das 18. Jahrhundert. 1969 verfasste er eine Arbeit über die Strukturen dreier typischer Pariser Stadtviertel der Aufklärungsepoche. Nach dem Militärdienst schlug er die diplomatische Laufbahn ein, war Vize-Konsul in Sofia, Athen, Tunis und französischer Botschafter in Guinée-Bissau. Er lebt heute in Guérande, Bretagne.

Jean-François Parot

CommissaireLE

FLOCH

und das Geheimnis der Weißmäntel

Roman

Aus dem Französischen von

Michael von Killisch-Horn

BLESSING

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Originaltitel: L’Énigme des Blancs-ManteauxLes Enquêtes de Nicolas Le Floch, Commissaire au ChâteletOriginalverlag: JC Lattès, Paris
Copyright © 2000 by JC Lattès, ParisCopyright © 2017 by Karl Blessing Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenCovergestaltung: Geviert Grafik & Typografie, MünchenSatz: Leingärtner, NabburgISBN: 978-3-641-19161-0V004
www.blessing-verlag.dewww.penguinrandomhouse.de

Für Madeleine und für Édouard

Inhalt

Liste der handelnden Personen

Prolog

I

Paris

II

Guérande

III

Geheimnisvolles Verschwinden

IV

Entdeckungen

V

Thanatos

VI

Eros

VII

Lärm und Wut

VIII

Zwischen Skylla und Charybdis

IX

Frauen

X

Wege und Umwege

XI

Far niente

XII

Der alte Soldat

XIII

Halali

XIV

Finsternis

XV

Jagd

Epilog

Danksagungen

Anmerkung

Historische Persönlichkeiten, die in dem Roman auftreten oder erwähnt werden

Glossar

Liste der handelnden Personen

NICOLAS LE FLOCH: Bretone, vom Polizeipräfekten von Paris mit einer Untersuchung beauftragt

STIFTSHERR FRANÇOIS LE FLOCH: Vormund von Nicolas Le Floch

JOSÉPHINE PELVEN (FINE): Haushälterin des Stiftsherrn Le Floch

MARQUIS LOUIS DE RANREUIL: Patenonkel von Nicolas Le Floch

ISABELLE DE RANREUIL: Tochter des Marquis

MONSIEUR GABRIEL DE SARTINE: Polizeipräfekt von Paris

PÈRE MARIE: Amtsdiener im Châtelet

CHARLES HENRI SANSON: Henker

MONSIEUR DE LA BORDE: Erster Kammerdiener des Königs

GUILLAUME LARDIN: Polizeikommissar

PIERRE BOURDEAU: Polizeiinspektor

RABOUINE: Spitzel von Inspektor Bourdeau

LOUISE LARDIN: zweite Ehefrau von Kommissar Lardin

MARIE LARDIN: Tochter aus erster Ehe von Kommissar Lardin

MAÎTRE DUPORT: Notar

CATHERINE GAUSS: ehemalige Marketenderin, Köchin der Lardins

KOMMISSAR CAMUSOT: Leiter der Abteilung für Glücksspiel der Pariser Polizei

MAUVAL: Scherge von Kommissar Camusot

HENRI DESCART: Arzt, Cousin von Louise Lardin

GUILLAUME SEMACGUS: Marinechirurg

SAINT-LOUIS: ehemaliger schwarzer Sklave, Diener von Semacgus

AWA: Gefährtin von Saint-Louis, Köchin von Semacgus

AIMÉ DE NOBLECOURT: ehemaliger Staatsanwalt

MARION: Haushälterin von Aimé de Noblecourt

POITEVIN: Diener von Aimé de Noblecourt

PATER GRÉGOIRE: Apotheker des Klosters der Unbeschuhten Karmeliter

PIERRE PIGNEAU: Seminarist

LA PAULET: Bordellbesitzerin

ANTOINETTE LA SATIN: Kammerzofe eines Parlamentspräsidenten; dann Prostituierte

BRICARD: ehemaliger Soldat, der das rechte Bein verlor

RAPACE: ehemaliger Metzger

DIE ALTE ÉMILIE: ehemalige Prostituierte, Suppenverkäuferin

MEISTER VACHON: Schneider

JEAN TIREPOT: Inhaber eines ambulanten Toilettendienstes und Spitzel

*

Namen, Orte oder Begriffe, die bei der ersten Nennung im Text kursiv gesetzt sind, werden im Anhang (Verzeichnis der historischen Persönlichkeiten und Glossar) näher erläutert.

Prolog

Prudens futuri temporis exitum

Caliginosa nocte premit Deus …

Ein kluger Gott drängt den Ausgang

künftiger Zeit in undurchsichtige Nacht …

HORAZ

In der Nacht von Freitag, dem 6. Februar 1761, bewegte sich ein Gefährt mühsam auf der Straße voran, die von La Courtille nach La Villette führt. Der Tag war finster gewesen, und bei Einbruch der Dunkelheit waren aus schweren Wolken Regen und Sturm losgebrochen. Wer auf die unwahrscheinliche Idee verfallen wäre, diese Straße zu beobachten, hätte den von einem klapprigen Pferd gezogenen Wagen bemerkt. Auf dem Bock starrten zwei Männer, gehüllt in Umhänge, deren schwarze Zipfel von einer kümmerlichen Laterne halb beschienen wurden, in die Dunkelheit. Das Pferd rutschte auf dem matschigen Boden aus und blieb alle zehn Klafter stehen. Durch die Stöße der Spurrillen aus dem Gleichgewicht gebracht, schlugen zwei Fässer dumpf gegeneinander.

Die letzten Häuser der Vororte verschwanden, und mit ihnen die wenigen Lichter. Der Regen hörte auf, und der Mond erschien zwischen zwei Wolken und warf ein bleiches Licht auf die Landschaft, über die Nebelschwaden waberten. Mit Dornengestrüpp bedeckte Hügel erhoben sich jetzt zu beiden Seiten des Weges. Das Pferd warf bereits seit einiger Zeit heftig den Kopf hin und her und zog nervös an den Zügeln. Ein hartnäckiger Geruch lag in der kalten Nachtluft, dessen beharrliche Süßlichkeit bald in einen entsetzlichen Gestank überging. Die beiden Männer hatten ihre Mäntel vor das Gesicht gezogen. Das Pferd blieb stehen, stieß ein ersticktes Wiehern aus, blähte seine Nüstern und versuchte diese widerwärtige Welle zu identifizieren. Obwohl es von Peitschenschlägen gegeißelt wurde, weigerte es sich weiterzugehen.

»Ich glaube, diese Mähre wird uns im Stich lassen!«, rief Rapace. »Natürlich wittert sie das Fleisch. Steig ab, Bricard, nimm sie am Zügel und zieh uns hier weg!«

»Ich habe das schon 1745 in Bassignano gesehen, als ich mit dem alten Chevert im Regiment Royal Dauphin diente. Die Tiere, die die Kanonen zogen, weigerten sich, zwischen den vielen Leichen weiterzugehen. Das war im September, es war heiß, und die Fliegen …«

»Hör auf, ich kenne deine Feldzüge. Zeig dem Gaul, wer Herr ist, und beeil dich! Schau dir an, wie widerspenstig er ist!«, rief der Mann und schlug zweimal auf die abgemagerte Kruppe.

Bricard sprang murrend vom Wagen. Er berührte den Boden, sank ein und musste beide Hände zu Hilfe nehmen, um die Holzprothese, in der sein rechtes Bein endete, aus dem Schlamm zu ziehen. Er näherte sich dem Tier, das, von panischer Angst erfasst, ein letztes Mal versuchte, sich heftig zu wehren. Bricard packte das Gebiss, doch das verzweifelte Pferd bewegte den Kopf hin und her und traf Bricard an der Schulter. Er stürzte der Länge nach hin und stieß erneut einen Schwall schrecklicher Flüche aus.

»Der Gaul macht keinen Schritt mehr. Wir werden hier abladen müssen. Es kann nicht mehr weit sein«, sagte Rapace.

»Ich kann dir in diesem Schlamm nicht helfen, dieses verdammte Bein macht nicht mit.«

»Ich werde die Fässer abladen, und wir rollen sie zu den Gruben«, entschied Rapace ungerührt. »Zu zweit müssten wir das schaffen. Halt das Pferd, ich schau mich mal um.«

»Lass mich nicht allein«, jammerte Bricard, »dieser Ort ist mir nicht geheuer. Stimmt es, dass man hier die Toten aufgehängt hat?« Er massierte seinen Beinstumpf oberhalb der Prothese.

»Du bist mir ein toller Kriegsveteran! Spar dir dein Gequatsche, bis wir fertig sind. Wir gehen in Marthes Schenke. Ich zahl dir den Wein und die Wirtin dazu, wenn dir danach ist! Dein Großvater war noch nicht geboren, da wurde schon niemand mehr hier gehängt. Jetzt ist es das Vieh, das in der Stadt und anderswo verreckt ist. Sie haben die Abdeckerei aus Javel hierher, nach Montfaucon, verlegt. Riechst du, wie es hier stinkt? Im Sommer, wenn ein Gewitter aufzieht, kribbelt es dir sogar in Paris bis zu den Tuilerien in der Nase!«

»Du hast recht, es stinkt.« Er hielt inne, horchte und sah sich um. »Ich spüre, dass hier irgendjemand ist«, murmelte Bricard.

»Halt’s Maul. Dein Irgendjemand sind Ratten, Raben und Hunde, fette, Furcht einflößende. Dieses Gezücht streitet sich um die Gerippe. Ganz zu schweigen von dem Abschaum der Hungerleider, die sich hier bedienen, um was in den Magen zu bekommen. Wenn ich nur daran denke, krieg ich eine trockene Kehle. Wo hast du den Krug versteckt? Ah, da ist er ja.«

Rapace trank in langen Schlucken, bevor er vom Kutschbock hinuntersprang und den Krug Bricard reichte, der ihn gierig leerte. Hohes Quieken ertönte.

»Da, die Ratten! Die sind aber ziemlich gesprächig. Nimm die Laterne und bleib bei mir, du wirst mir leuchten. Ich nehme die Axt und die Peitsche. Wer weiß, wem wir begegnen …«

Langsam bewegten die beiden Männer sich durch den Schlamm voran, auf die Gebäude zu, die im Schein der Laterne sichtbar wurden.

»So wahr ich Rapace heiße, da haben wir die Abdeckerei und die Talgbottiche. Die Kalkgruben sind etwas weiter entfernt. Klafter um Klafter Mauern der Verwesung, das kannst du mir glauben.«

Ein paar Schritte entfernt kauerte hinter einem Gerippe ein schattenhaftes Wesen. Es hatte die Arbeit unterbrochen, mit der es beschäftigt gewesen war, als das Wiehern des Pferdes, die Flüche der beiden Männer und der Schein der Laterne es alarmiert hatten. Der Schatten hatte gezittert, da er anfangs glaubte, das wären die Nachtwachen. Diese patrouillierten hier immer häufiger, sie stöberten auf Befehl des Königs und des Polizeipräfekten jene Unglücklichen auf, die, vom Hunger gequält, hierherkamen, um den Aasfressern ein paar Stücke ihres Festmahls streitig zu machen.

Dieses zusammengekauerte Gespenst war eine in Lumpen gekleidete alte Frau. Sie hatte bessere Zeiten gekannt und in der Blüte ihrer Jahre an den Soupers der Regentschaft teilgenommen. Dann war die Jugend gegangen, und die schöne Émilie war in die schlimmste Prostitution abgerutscht, die der Kais und Zollschranken, aber auch das hatte nicht lange gedauert.

Inzwischen war sie krank und entstellt und verkaufte in einem rollenden Kessel eine unappetitliche Restesuppe, die im Wesentlichen aus den Stücken bestand, die sie in Montfaucon stahl. An die Gefahr, damit ihre Kunden zu vergiften und die Stadt und die Vororte zu infizieren, verschwendete sie keinerlei Gedanken.

Jetzt sah sie, wie die beiden Männer die Fässer abluden und sie ein Stück weit rollten, bevor sie den Inhalt auf den Boden ausleerten. Ihr Herz schlug schneller, und in ihrer Aufgeregtheit hörte sie nicht, was die Männer sagten. Die alte Émilie riss die Augen auf, um die beiden dunklen – wie ihr schien roten – Formen zu erkennen, die nun neben dem Gebäude mit den Talgbottichen lagen. Leider war das Licht der Laterne schwach, und ihre Flamme flackerte im wieder auffrischenden Wind.

Ihr wurde nicht bewusst, was sie da sah, denn nicht nur ihr Körper, auch ihre Vorstellungskraft wurde von einer namenlosen Angst gepeinigt. Zugleich wuchs ihre Neugierde dadurch, dass sie nicht verstand, was da vor sich ging und was ihr doch intuitiv schändlich vorkam, ins Unermessliche.

Jetzt legte einer der beiden Männer etwas auf die Erde, das wie Kleidung aussah. Funken wurden geschlagen, und ein Licht flammte auf, kurz und hell. Dann war ein heftiges Knistern zu vernehmen. Die Alte drückte sich noch mehr gegen das Aas, dessen beißende Ausdünstung sie gar nicht mehr wahrnahm. Sie atmete nicht mehr, die Angst hatte ihr die Luft geraubt. Ihr Blut erstarrte, sie sah nur noch ein Licht, das immer größer wurde, und sie sank zu Boden, während sie das Bewusstsein verlor.

Die Stille senkte sich wieder auf das Gelände um den ehemaligen Galgen herab. In der Ferne wurde der Wagen immer kleiner und nahm das leise Echo der Worte mit sich. Die Nacht herrschte wieder allein, und der Wind war zum Sturm geworden. Was auf dem Boden abgelegt worden war, wurde nach und nach von einem unabhängigen Leben bewegt. Die Sache schien zu wogen und sich von innen her zu verzehren. Leise Schreie wurden vernehmbar, und schattenhafte Kämpfe begannen. Noch vor Tagesanbruch kamen die großen Raben und nur kurz darauf ein Rudel Hunde …

I Paris

I

Paris

Paris ist voller Abenteurer und Junggesellen, die ihr Leben damit verbringen, von Haus zu Haus zu laufen, und die Menschen scheinen sich wie die Arten durch das Zirkulieren zu vermehren.

J.-J. ROUSSEAU

August 1759

Nicolas Le Floch kam erst wieder zu sich, als er sich der Stadt näherte. Bis zu diesem Tag war Paris für ihn nur ein Punkt auf der Frankreichkarte gewesen, die an der Wand des Arbeitssaals im Collège in Vannes gehangen hatte. Jetzt sah er eine weite Ebene vor sich, übersät von zahllosen Windmühlen, deren Flügel sich drehten und die ihm wie eine Truppe gefiederter Riesen vorkamen, direkt dem Roman von Cervantes entstiegen, den er mehrmals gelesen hatte. Der Lärm und das Treiben, die in den Faubourgs auf ihn eindrangen, machten ihn fassungslos. Zugleich faszinierte ihn aber auch das unaufhörliche Kommen und Gehen der zerlumpten Menschenmassen an den Schranken.

Seine ersten Eindrücke von der großen Stadt waren: enge Gassen, über alle Maßen hohe Häuser, schmutzige, schlammige Straßen, Unmengen von Reitern und Kutschen, Schreie und diese unbeschreiblichen Gerüche …

Tatsächlich war alles zu schnell gegangen. Er hatte als Notariatsgehilfe in Rennes gearbeitet, nachdem er bei den Jesuiten in Vannes ein geisteswissenschaftliches Studium absolviert hatte. Ganz plötzlich war er von seinem Vormund, dem Stiftsherrn Le Floch, nach Guérande, in die Bretagne, gerufen worden. Dort hatte er eine Ausstattung, ein Paar Stiefel, einige Louisdor und jede Menge Ratschläge und Segenssprüche bekommen. Er hatte sich von seinem Patenonkel, dem Marquis de Ranreuil, verabschiedet, der ihm ein Empfehlungsschreiben für Monsieur de Sartine, einen Freund und hohen Beamten in Paris, mitgegeben hatte. Der Marquis hatte auf Nicolas zugleich bewegt und verlegen gewirkt. Das herzzerreißende Weinen von Fine, der Haushälterin des Stiftsherrn, hatte Nicolas den Abschied noch schwerer gemacht. Er hatte sich nicht einmal mehr von Isabelle, der Tochter seines Patenonkels, verabschieden können, die soeben nach Nantes zu ihrer Tante de Guénouel abgereist war. Gleichwohl war der junge Mann sich sicher, dass sie wusste, dass er nach Paris abgordert worden war.

Nach seiner Ankunft irrte er viele Stunden durch Paris und stieß ständig auf den großen Fluss oder fand sich am Ende von Sackgassen wieder. Endlich sprach ihn ein junger Mann an, der verschiedenfarbige Augen hatte und freundlich ausschaute und ihn zur Kirche Saint-Sulpice führte und von da aus in die Rue de Vaugiraud, zum Kloster der Unbeschuhten Karmeliter. Dort wurde er wort- und gestenreich von einem beleibten Mönch empfangen, Pater Grégoire, einem Freund seines Vormunds. Der Pater war für die Apotheke des Klosters verantwortlich. Da es schon spät war, wies man ihm sofort einen Schlafplatz in einem Verschlag zu.

Der herzliche Empfang tröstete ihn über die Bitterkeit des übereilten Weggangs aus der Bretagne hinweg. Er sank in einen traumlosen Schlaf. Erst am Morgen bemerkte er, dass man ihn um seine silberne Repetieruhr, ein Geschenk seines Patenonkels, erleichtert hatte. Das konnte nur sein Cicerone, der Mann mit den verschiedenfarbigen Augen, gewesen sein. Nicolas fasste den Entschluss, in Zukunft Unbekannten gegenüber misstrauischer zu sein. Zum Glück war seine Börse, die seine bescheidenen Ersparnisse enthielt, immer noch in einer Geheimtasche. Fine hatte sie am Tag vor seiner Abreise in seinen Reisesack eingenäht.

Im gleichförmigen Rhythmus des Klosterlebens fand Nicolas sein Gleichgewicht wieder. Er nahm seine Mahlzeiten mit der Gemeinschaft im großen Refektorium ein. Er begann, sich in die Stadt vorzuwagen, bewaffnet mit einem notdürftigen Stadtplan, auf dem er mit einem Bleistift die Routen seiner zaghaften Erkundungen einzeichnete, damit er den Rückweg fand. Der Schmutz und der Lärm der Hauptstadt stießen ihn immer noch ab, doch ihr Charme begann seine Wirkung zu entfalten. Der fortwährende Verkehr auf der Straße allerdings blieb ihm noch lange nicht geheuer. Mehrere Male war er kurz davor, von einer Kutsche niedergemäht zu werden. Wie aus dem Nichts tauchten sie unvermutet auf, mit schwindelerregender Geschwindigkeit. Er gewöhnte es sich ab, im Stehen oder auf einem Spaziergang tagzuträumen, und gab auch mehr auf den allgegenwärtigen Schlamm acht, dessen Flecken die Kleidung verdarben, auf die Wasserfälle, die sich aus den Dachrinnen über die Köpfe der Passanten ergossen und die Straßen, ebenso wie jeder Regen, in Sturzbäche verwandelten. Er sprang, hüpfte und wich aus inmitten des Unrats und tausender anderer Klippen, ganz so wie die erfahrensten Einwohner der Stadt. Nach jedem Ausflug musste er seinen Anzug bürsten und seine Strümpfe waschen; er besaß nur zwei Paar und hob das andere für seine erste Begegnung mit Monsieur de Sartine auf.

Die allerdings ließ auf sich warten. Mehrere Male begab er sich zu der Adresse, die auf dem Schreiben des Marquis de Ranreuil notiert war. Stets wies ihn ein misstrauischer Lakai ab, nachdem er einen nicht minder herablassenden Pförtner geschmiert hatte. Lange Wochen verstrichen auf diese Weise.

Nicolas’ Kummer blieb dem Pater Grégoire nicht verborgen. Dieser bot dem jungen Mann an, mit ihm gemeinsam zu arbeiten, damit er Ablenkung und Beschäftigung hatte. Seit 1611 stellte das Kloster der Unbeschuhten Karmeliter nach einem Rezept, dessen Geheimnis die Mönche eifersüchtig hüteten, ein Heilwasser her, das im ganzen Königreich verkauft wurde. Nicolas wurde mit dem Zermahlen der Heilpflanzen beauftragt. Er lernte, Melisse, Engelwurz, Kresse, Koriander, Nelke und Zimt zu erkennen, und entdeckte fremde und exotische Früchte. Lange Tage, damit verbracht, mit Stößel und Mörser umzugehen und die Ausdünstungen der Destillierkolben einzuatmen, stumpften ihn so sehr ab, dass sein Mentor es bemerkte und ihn nach seinen Sorgen befragte. Er versprach ihm sofort, sich nach Monsieur de Sartine zu erkundigen. Vom Pater Prior bekam er ein Einführungsschreiben, das Nicolas helfen sollte, alle Hindernisse zu überwinden. Monsieur de Sartine war gerade erst zum Polizeipräfekten ernannt worden, als Nachfolger von Monsieur Bertin. Pater Grégoire schmückte diese guten Nachrichten mit einer Flut von Bemerkungen aus, deren Präzision hinreichend bezeugte, dass es sich wirklich um Neuigkeiten handelte.

»Nicolas, mein Sohn, du stehst kurz davor, mit einem Mann in Kontakt zu treten, der den Verlauf deines Lebens verändern kann, sofern du es verstehst, ihm zu gefallen. Der Polizeipräfekt ist der oberste Chef der Behörden, die Seine Majestät damit beauftragt hat, über die öffentliche Sicherheit und die Ordnung zu wachen, nicht nur auf der Straße, sondern auch im Leben eines jeden seiner Untertanen. Monsieur de Sartine hatte bereits als Richter im Châtelet eine große Macht. Was wird er jetzt machen? Es wird behauptet, dass er nicht davon ablassen wird, willkürlich zu entscheiden … Und wenn man bedenkt, dass er gerade erst dreißig Jahre alt geworden ist!«

Pater Grégoire, der gewöhnlich laut sprach, senkte seine Stimme und vergewisserte sich, dass kein indiskretes Ohr seine Worte hören konnte.

»Der Pater Abt hat mir im Vertrauen gesagt, dass der König Monsieur de Sartine beauftragt habe, in schwerwiegenden Fällen außerhalb seines Gerichts und unter größter Geheimhaltung zu entscheiden. Du weißt von nichts, Nicolas«, sagte er und legte einen Finger auf seinen Mund. »Vergiss nicht, dass dieses wichtige Amt vom Großvater unseres Königs – möge Gott diesen großen Bourbonen behüten – geschaffen wurde. Das Volk erinnert sich noch an Monsieur d’Argenson, den es ›den Verdammten‹ nannte, so sehr hasste es dessen Gesicht und Gestalt.«

Er goss einen Krug Wasser über einem Kohlenbecken aus, das knisternd erlosch und beißenden Rauch aufsteigen ließ.

»Aber genug davon, ich rede zu viel. Nimm dieses Schreiben. Morgen früh gehst du die Rue de Seine hinunter und am Fluss entlang bis zum Pont-Neuf. Du kennst die Île de la Cité, du kannst dich nicht verlaufen. Du überquerst die Brücke und folgst dem Quai de la Mégisserie rechter Hand. Er wird dich zum Châtelet führen.«

In dieser Nacht fand Nicolas kaum Schlaf. In seinem Kopf hallten die Sätze von Pater Grégoire nach, und er wurde sich seiner Bedeutungslosigkeit bewusst. Wie würde er, allein in Paris, abgeschnitten von denen, die er liebte, den Mut aufbringen, sich einem so mächtigen Mann zu nähern, der Zugang zum König hatte?

Vergeblich versuchte er, das Fieber zu vertreiben, das in seinem Schädel hämmerte, und sich auf ein friedliches Bild zu konzentrieren, das seinen Geist beruhigen würde. Isabelles zarte Gestalt tauchte auf und stürzte ihn nur in weitere Zweifel. Warum war die Tochter seines Patenonkels, obwohl sie wusste, dass er Guérande für lange Zeit verließ, abgereist, ohne sich von ihm zu verabschieden?

Er sah wieder den Erdwall inmitten der Sümpfe vor sich, wo sie sich Treue und Liebe geschworen hatten. Wie hatte er nur glauben und so verrückt sein können, sich einzubilden, dass er, der als Kind auf einem Friedhof gefunden worden war, seine Augen zu der Tochter des hohen und mächtigen Herrn de Ranreuil erheben könnte? Dabei war sein Patenonkel immer so gut zu ihm gewesen … Diese zärtlichen und bitteren Gedanken gewannen schließlich die Oberhand, und gegen fünf Uhr schlief er endlich ein.

Pater Grégoire weckte ihn eine Stunde später. Nachdem er sich gewaschen hatte, zog er sich an, frisierte sich sorgfältig und wagte sich, geschubst von dem Mönch, in die Kälte der Straße hinaus.

Trotz der Dunkelheit verlief er sich diesmal nicht. Vor dem Palais Mazarin ließ der heraufziehende Tag nach und nach die Gebäude in ihrer Gesamtheit sichtbar werden. An den Ufern des Flusses, die schlammigen Stränden ähnelten, herrschte bereits reges Treiben. Da und dort drängten sich Gruppen um Feuer. Die ersten Schreie von Paris erhoben sich von überall her, ein Zeichen, dass die Stadt erwachte.

Plötzlich wurde er von einem jungen Limonadenverkäufer angerempelt, der leise fluchte, da er beinahe sein Tablett mit Bavaroises hätte fallen lassen. Nicolas hatte dieses Getränk schon einmal probiert, es war ein heißer Tee, gesüßt mit Frauenhaarfarnsirup, veredelt mit Likör. Pater Grégoire hatte ihm erklärt, woher die Bezeichnung Bavaroises rührte: Das Getränk wurde früher in Paris im berühmten Café Procopio gereicht, das der Sizilianer Francesco Procopio, der als Leibkoch des französischen Königs nach Paris gekommen war, eröffnet hatte. In diesem Café schauten häufig bayerische Prinzen aus dem Hause Wittelsbach vorbei, die diesen Tee oft bestellten.

Der Pont Neuf war bereits schwarz von Menschen, als er die Brücke betrat. Er bewunderte die Statue von Heinrich IV. und La Samaritaine – eine hydraulische Wasserpumpe, die den Louvre und die Tuilerien mit Wasser versorgte. Auf dem Gebäude, in dem sich die Pumpe befand, prangte ein Relief, das die Begegnung von Jesus mit den Samaritern darstellte, und darüber war eine Uhr angebracht, mit der mechanischen Figur eines Glockenschlägers. Die Werkstätten des Quai de la Mégisserie öffneten nach und nach, die Handwerksgesellen begannen ihren Arbeitstag bei Sonnenaufgang. Er ging diese Uferböschung entlang und hielt sich das Taschentuch vor die Nase, so ekelhaft war der Gestank.

Das Grand Châtelet erhob sich streng und düster vor ihm. Der Anblick des quadratisch angelegten Kastells mit den beiden großen Türmen hatte etwas Einschüchterndes. Unentschlossen ging er hinein, durch einen Gewölbegang, der von Öllaternen schwach beleuchtet wurde. Ein Mann in langer schwarzer Robe kam ihm entgegen. Nicolas sprach ihn an:

»Monsieur, ich bitte Sie um Hilfe. Ich suche das Büro des Herrn Polizeipräfekten.«

Der Mann musterte ihn von Kopf bis Fuß, bis er endlich wichtigtuerisch sagte:

»Der Herr Polizeipräfekt hält seine Privataudienz ab. Normalerweise lässt er sich vertreten, aber heute beginnt Monsieur de Sartine sein Amt und ist persönlich anwesend. Sie wissen vermutlich, dass seine Dienste sich in der Rue Neuve-Saint-Augustin in der Nähe der Place Vendôme befinden, aber dass er ein Büro im Châtelet behält. Sprechen Sie mit seinen Leuten in der ersten Etage. Vor der Tür sitzt ein Amtsdiener, Sie können ihn nicht verfehlen. Haben Sie das erforderliche Einführungsschreiben?«

Nicolas nickte nur, verabschiedete sich höflich und ging zur Treppe. Am Ende der Galerie kam er, nachdem er durch die Glastür gegangen war, in einen riesigen Saal mit nackten Wänden. Ein Mann saß an einem Tisch aus Tannenholz und schien an seinen Händen zu nagen. Als er näher trat, erkannte Nicolas, dass es sich um einen dieser trockenen und harten Kekse handelte, welche die Seeleute essen.

»Monsieur«, sagte er, »ich grüße Sie und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir sagen könnten, ob ich von Monsieur de Sartine empfangen werden kann.«

»Das nenne ich Kühnheit, Monsieur de Sartine empfängt nicht!«

»Erlauben Sie mir, darauf zu beharren.« Nicolas spürte, dass in der Tat alles von seiner Beharrlichkeit abhing, und bemühte sich, seiner Stimme Festigkeit zu verleihen. »Monsieur, ich habe heute Morgen Audienz.«

In einer Anwandlung instinktiver Klugheit wedelte Nicolas vor dem Gesicht des Amtsdieners mit dem großen Schreiben, das mit einem Wappensiegel des Marquis de Ranreuil versehen war. Hätte er das Briefchen des Priors gezeigt, wäre er vermutlich sofort abgewiesen worden. Sein Geistesblitz verschlug seinem Gegenüber die Sprache. Murrend, aber auch voller Respekt nahm er den Brief und deutete auf eine Bank.

»Wie Sie wünschen, aber Sie werden warten müssen.«

Er zündete seine Pfeife an und verschanzte sich hinter einem Schweigen, das Nicolas nur zu gern durchbrochen hätte, um seine Angst zu vertreiben. So blieb ihm nichts weiter übrig, als die Wand anzustarren. Gegen elf Uhr füllte sich der Saal mit Menschen. Ein kleiner Mann in Richterrobe, eine in Saffianleder gebundene Dokumentenmappe unter dem Arm, trat ein, empfangen von respektvollem Gemurmel. Er verschwand durch eine Tür, durch deren Spalt man einen hell erleuchteten Salon erkennen konnte. Einige Augenblicke später kratzte der Amtsdiener an der Tür und verschwand ebenfalls. Als er wiederkam, bedeutete er Nicolas einzutreten.

Die Richterrobe lag auf dem Boden, und der Polizeipräfekt stand, schwarz gekleidet, vor einem Schreibtisch aus Edelholz, dessen Bronzeapplikationen leicht schimmerten. Er studierte den Brief des Marquis de Ranreuil, und seine angespannten Gesichtszüge verrieten, dass er mit großer Aufmerksamkeit las. Der Schreibtisch war unverhältnismäßig groß. Er war gleichsam ein Bindeglied zwischen dem nackten, rauen Steinfußboden, der Pracht des Mobiliars und der an bestimmten Stellen ausgelegten Teppiche. Mehrere brennende Kandelaber, deren Licht sich mit den Strahlen einer bleichen Wintersonne und dem roten Schein des Feuers in dem großen gotischen Kamin vermischte, erhellten das elfenbeinfarbene Gesicht von Monsieur de Sartine. Er wirkte älter als die dreißig Jahre, die er erst vollendet hatte. Als Erstes fiel seine Stirnglatze auf. Sein natürliches, bereits leicht ergrautes Haar war sorgfältig frisiert und gepudert. Eine spitze Nase betonte die schroffe Kantigkeit eines Gesichtes, aus dem zwei stahlgraue, vor Ironie funkelnde Augen leuchteten. Er war von eher kleinem Wuchs, aber seine aufrechte, straffe Haltung unterstrich die schlanke Figur und die Autorität und Würde, die er ausstrahlte. Nicolas spürte, wie er von Panik erfasst wurde, doch er erinnerte sich an die Lektionen seiner Lehrer und unterdrückte das Zittern seiner Hände. Sartine fächelte sich jetzt mit dem Brief Luft zu und betrachtete seinen Besucher neugierig. Lange Minuten verstrichen.

»Wie heißen Sie?«, fragte er, obwohl er das bereits wissen musste.

»Nicolas Le Floch, zu Ihren Diensten, Monsieur.«

»Zu meinen Diensten, zu meinen Diensten … Das werden wir sehen. Ihr Patenonkel schreibt mir nur Gutes über Sie. Sie reiten, Sie sind geschickt im Umgang mit Waffen, Sie besitzen juristische Kenntnisse … Für einen Notariatsgehilfen ist das allerhand.«

Er stand auf und begann, die Hände auf den Hüften, langsam um Nicolas herumzugehen, der angesichts dieser Musterung, errötete.

»Ja, ja, wirklich, nun ja, das ist durchaus möglich …«, fuhr der Polizeipräfekt fort.

Sartine betrachtete nachdenklich den Brief, dann ging er zum Kamin und warf ihn hinein. Er flammte auf in einem gelben Blitz.

»Monsieur, kann man sich auf Sie verlassen? Nein, antworten Sie mir nicht, Sie haben keine Ahnung, wohin Sie das führt. Ich habe Pläne mit Ihnen, und Ranreuil vertraut Sie mir an. Wissen Sie Bescheid? Nein, Sie wissen nichts, nichts.«

Er trat hinter seinen Schreibtisch, setzte sich, zwickte sich in die Nase und betrachtete erneut Nicolas. Dieser stand mit dem Rücken dem knisternden Feuer zugewandt und hatte das Gefühl, in seinem Anzug zu zerschmelzen.

»Monsieur, Sie sind sehr jung, und ich wage mich weit vor, indem ich so offen mit Ihnen spreche. Die Polizei des Königs braucht ehrliche Leute, und ich brauche treue Diener, die mir blind gehorchen. Verstehen Sie?«

Nicolas hütete sich zuzustimmen.

»Ah! Ich sehe, dass man schnell versteht.«

Sartine trat ans Fenster und schien gefesselt von dem, was er draußen erblickte.

»Viel zu säubern …«, murmelte er. »Mit den Mitteln, die man zur Verfügung hat … Nicht mehr, nicht weniger. Nicht wahr?«

Nicolas hatte sich gedreht, um dem Polizeipräfekten gegenüberzustehen.

»Es ist nötig, Monsieur, dass Sie Ihre juristischen Kenntnisse erweitern. Sie werden täglich mehrere Stunden darauf verwenden, in Ihrer freien Zeit. Denn Sie werden arbeiten, so viel ist gewiss.«

Er eilte zu seinem Schreibtisch und nahm ein Blatt Papier. Mit einer Handbewegung forderte er Nicolas auf, in dem großen, mit rotem Damast bezogenen Sessel Platz zu nehmen.

»Schreiben Sie, ich will wissen, ob Sie eine gute Handschrift haben.«

Nicolas, mehr tot als lebendig, tat, wie ihm geheißen. Sartine überlegte ein paar Augenblicke, holte eine kleine goldene Schnupftabakdose aus der Tasche seines Anzugs, nahm eine Prise und platzierte sie vorsichtig auf seinem Handrücken. Er schnupfte, zuerst mit dem einen, dann mit dem anderen Nasenloch, schloss die Augen vor Befriedigung und nieste laut, wobei er schwarze Krümelchen durch die Gegend und auf Nicolas schleuderte, der das Unwetter tapfer ertrug. Der Präfekt schnäuzte sich und seufzte wohlig.

»Also, schreiben Sie: ›Monsieur, es erscheint mir zweckmäßig für die Dienste des Königs und für meine, dass Sie von heute an Nicolas Le Floch als Sekretär beschäftigen, bezahlt aus meiner Kasse. Ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie ihn bei sich aufnähmen, ihm Kost und Logis böten und mir haargenau berichteten, wie er sich anstellt.‹ Schreiben Sie die Adresse: An Monsieur Lardin, Kommissar im Châtelet, in seiner Wohnung, Rue des Blancs-Manteaux.«

Mit einer raschen Bewegung nahm er den Brief an sich, näherte ihn seinen Augen und betrachtete ihn aufmerksam.

»Gut, ein wenig krakelig, ja, ein wenig krakelig«, erklärte er lachend. »Aber für einen Anfänger mag es hingehen. Die Feder ist das eine, die Tat das andere.«

Er setzte sich wieder in seinen Sessel, aus dem Nicolas aufgestanden war, und im Handumdrehen hatte er den Brief unterschrieben, Sand darüber gestreut, ihn gefaltet, ein Stück Wachs in der Glut erwärmt, die sich in einem Topf aus Bronze befand, es auf das Papier gedrückt und sein Siegel eingeprägt.

»Monsieur, das Amt, das Sie bei Kommissar Lardin übernehmen sollen, verlangt Eigenschaften, die unter den Begriff der Redlichkeit fallen. Wissen Sie, was Redlichkeit ist?«

Nicolas sprang ins kalte Wasser.

»Das ist, Monsieur, die Gewissenhaftigkeit in der Erfüllung der Verpflichtungen eines ehrlichen Menschen und …«

»Er kann ja sprechen! Gut. Das klingt noch etwas angelernt, aber es ist nicht falsch. Es wird von Ihnen verlangt werden, dass Sie diskret und umsichtig sind, dass Sie imstande sind, zu lernen und zu vergessen und mit vertraulichen Mitteilungen richtig umzugehen. Sie werden lernen müssen, Berichte zu schreiben auf der Grundlage der Dinge, die Ihnen anvertraut werden, und ihnen die angemessene Form zu geben. Sich zu merken, was man Ihnen sagen wird, und zu erraten, was man Ihnen nicht sagt, kurz, etwas zu machen aus den wenigen Worten, die Sie verstanden haben.«

Er unterstrich seine Worte mit dem erhobenen Zeigefinger.

»Und nicht nur das, Sie müssen auch der gerechte und aufrichtige Zeuge dessen sein, was Sie sehen werden, ohne etwas herunterzuspielen, das dessen Bedeutung verändern könnte. Bedenken Sie, Monsieur, dass von Ihrer Genauigkeit das Leben und die Ehre von Menschen abhängen werden, die, selbst wenn sie das schlimmste Lumpengesindel sind, vorschriftsgemäß behandelt werden müssen. Sie sind wirklich sehr jung, ich frage mich … Aber Ihr Patenonkel war schließlich auch in Ihrem Alter, als er bei der Belagerung von Philippsburg im Kanonenfeuer den Schützengraben durchbrach mit Marschall Berwick, der dabei übrigens sein Leben ließ. Und ich selbst …«

Er wirkte nachdenklich, als er diese in das Jahr 1734 zurückreichende Erinnerung erzählte, und zum ersten Mal sah Nicolas in seinem Blick so etwas wie Mitgefühl aufblitzen.

»Sie werden wachsam, schnell, aktiv und unbestechlich sein müssen. Ja, vor allem unbestechlich.« Und er schlug mit der flachen Hand auf die kostbare Einlegearbeit des Schreibtisches. »Also, Monsieur«, sagte Sartine abschließend und stand auf, »Sie stehen ab sofort im Dienst des Königs. Verhalten Sie sich so, dass man stets mit Ihnen zufrieden sein wird.«

Nicolas verneigte sich und nahm den Brief, der ihm gereicht wurde. Er näherte sich der Tür, als die leise spöttische Stimme ihn kichernd zurückhielt.

»Wirklich, Monsieur, für einen Niederbretonen sind Sie zum Niederknien gekleidet, aber jetzt sind Sie Pariser. Gehen Sie zu Meister Vachon, meinem Schneider in der Rue Vieille du Temple. Lassen Sie sich mehrere Anzüge, Wäsche und die entsprechenden Accessoires machen.«

»Ich habe nicht …«

»Auf meine Kosten, Monsieur, auf meine Kosten. Man soll nicht sagen, ich würde den Patensohn meines Freundes Ranreuil in Lumpen herumlaufen lassen. Ein hübscher Patensohn übrigens. Entfernen Sie sich und gehorchen Sie unverzüglich, sobald Sie gerufen werden.«

Erleichtert kehrte Nicolas an die Ufer des Flusses zurück und atmete tief die kühle Luft ein. Er hatte das Gefühl, diese erste Prüfung bestanden zu haben, auch wenn Monsieur de Sartine nicht mit Spott gegeizt hatte. Er legte den Rückweg zum Kloster der Unbeschuhten Karmeliter im Laufschritt zurück. Der gute Pater erwartete ihn, während er wütend unschuldige Pflanzen zermahlte.

Grégoire musste Nicolas’ Leidenschaft zügeln, und schließlich ließ dieser sich überzeugen, dass es besser war, sich nicht noch am selben Abend zum Haus von Kommissar Lardin zu begeben. Trotz der nächtlichen Patrouillen war die Unsicherheit auf den Straßen groß, und der Pater fürchtete, sein Schützling könnte sich verirren und in einen Schlamassel geraten. Er dämpfte den Schwung des jungen Mannes, indem er sich haarklein die Audienz beim Polizeipräfekten erzählen ließ und zu endlosen Kommentaren anhob.

Pater Grégoire staunte trotz seiner anfänglichen Vorahnungen nicht schlecht, dass Monsieur de Sartine aus dem kleinen, unbekannten Provinzler, der von der Stadt noch halb betäubt war, so rasch ein Werkzeug seiner Polizei machen wollte. Für ihn war klar, dass sich hinter diesem Beinahe-Wunder ein Geheimnis verbergen musste, das sich ihm nicht erschloss. Daher betrachtete er Nicolas entgeistert als ein Geschöpf, das er in Bewegung gesetzt hatte und das ihm nun zu entgleiten drohte. Es erfüllte ihn mit einer Traurigkeit ohne Säuerlichkeit, und er begleitete seine Bemerkungen mit endlos wiederholten »Donnerwetter« und »Ich fasse es nicht«.

Über ihr Gespräch vergaßen die beiden Kumpane fast, dass es Zeit fürs Abendessen war, und so eilten sie zum Refektorium. Anschließend bereitete Nicolas sich auf eine Nacht vor, die nicht erholsamer war als die vorhergehende. Er musste versuchen, seine Fantasie zu bändigen. Sie war häufig fiebrig und zügellos und spielte ihm böse Streiche, indem sie ihn die Zukunft unter düsteren Vorzeichen sehen ließ oder im Gegenteil aus seinen Gedanken entfernte, was eigentlich Anlass zu Sorge und Vorsicht geben sollte.

Nachdem er am nächsten Morgen die letzten Ratschläge von Pater Grégoire aufmerksam entgegengenommen hatte, verabschiedete Nicolas sich von ihm. Beide versprachen einander, dafür zu sorgen, dass sie sich wiedersahen. Der Mönch hatte eine aufrichtige Zuneigung zu dem jungen Mann gefasst und hätte ihn gern noch tiefer in die Wissenschaft der Heilpflanzen eingeführt. Die ausgeprägte Beobachtungsgabe und Intuition seines Schülers waren ihm nicht verborgen geblieben. Er ließ ihn zwei Briefe für seinen Vormund und für den Marquis de Ranreuil schreiben, um deren Zustellung er sich kümmern würde. Nicolas traute sich nicht, eine Nachricht für Isabelle hinzuzufügen, nahm sich aber vor, seine neue Freiheit dazu zu nutzen, dies bald nachzuholen.

Kaum hatte Nicolas das Kloster verlassen, begab Pater Grégoire sich zum Altar der Heiligen Jungfrau und betete für ihn.

Nicolas nahm denselben Weg wie am Tag zuvor, aber sein Schritt war munterer. Als er am Châtelet vorbeiging, rief er sich das Gespräch mit Monsieur de Sartine in Erinnerung und einen Dialog, an dem er sich kaum beteiligt hatte. Er stand also kurz davor, »in den Dienst des Königs« zu treten … Er hatte sich bis jetzt noch gar nicht so recht bewusst gemacht, was diese Worte genau bedeuteten. Wenn er darüber nachdachte, hatten sie keine Bedeutung für ihn.

Seine Lehrer und der Marquis de Ranreuil hatten mit ihm über den König gesprochen, aber all das schien ihm einer anderen Welt anzugehören. Er hatte Stiche und ein Profil auf Münzen gesehen, und er hatte die endlose Liste der Herrscher stockend aufgesagt, aber das hatte für ihn nicht mehr Realität gehabt als die Aufeinanderfolge der Könige und Propheten des Alten Testamentes. In der Stiftskirche von Guérande hatte er am 25. August, dem Tag des heiligen Ludwig, das Salve fac regum gesungen. Sein Verstand hatte nicht die Verbindung hergestellt zwischen dem König, der Figur auf Kirchenfenstern, dem Symbol des Glaubens und der Treue, und dem Menschen aus Fleisch und Blut, der die Staatsgewalt ausübte.

Diese Gedanken gingen ihm bis zur Rue de Gesvres im Kopf herum. Dort entdeckte er, wieder aufmerksam auf seine Umgebung geworden, zu seiner Verblüffung eine Straße, welche die Seine überquerte. Nachdem er den Quai Pelletier erreicht hatte, stellte er fest, dass diese Brücke dicht von recht großen Häusern bestanden war. Ein kleiner Savoyer, der, ein Murmeltier auf der Schulter, auf Kundschaft wartete, informierte ihn, dass es sich um den Pont Marie handele. Er drehte sich noch mehrere Male zu diesem Wunder der Baukunst um, während er zur Place de Grève eilte. Er erkannte sie, weil er sie einmal auf einem Stich gesehen hatte, den ein Hausierer mitgebracht hatte und der die Hinrichtung des Banditen Cartouche durch Rädern im November 1721 vor einem großen Volksauflauf darstellte. Als Kind hatte Nicolas davon geträumt und sich vorgestellt, er würde in das Bild eintreten und sich in der Menge verlieren, in große Abenteuer verstrickt. Es war wie ein Schock für ihn: Sein Traum war Wirklichkeit geworden, er stand auf der Bühne der großen Hinrichtungen.

Er ließ den Getreidehafen zu seiner Rechten und betrat das Herz des alten Paris durch die Arcade Saint-Jean des Hôtel de Ville. Pater Grégoire hatte ihn, als er ihm den Weg beschrieb, ausdrücklich vor diesem Ort gewarnt: »Das ist«, hatte er gesagt und die Hände gefaltet, »ein ebenso trauriger wie gefährlicher Ort, durch den alle müssen, die von der Rue Saint-Antoine her und aus dem Faubourg kommen.« Die Arcade sei der bevorzugte Ort der Diebe und falschen Bettler, die den Passanten unter ihrer einsamen Wölbung auflauerten. Er wagte sich vorsichtig hinein, begegnete aber nur einem Wasserträger und einigen Tagelöhnern, die zur Place de Grève unterwegs waren, um dort Arbeit zu finden.

Über die Rue de la Tissanderie und die Place Baudoyer gelangte er zum Marché Saint-Jean. Das sei, hatte sein Mentor ihm gesagt, der größte Markt von Paris nach Les Halles, und er würde ihn an einem Springbrunnen in seiner Mitte neben dem Wachhaus erkennen sowie an der Menschenmenge, die sich dort mit Wasser aus der Seine versorgte.

Nicolas, der an das ruhige Treiben der Provinzmärkte gewöhnt war, musste sich seinen Weg durch ein chaotisches Gewimmel bahnen. Die Nahrungsmittel waren kunterbunt durcheinander auf dem Boden aufgetürmt, nur das Fleisch wurde auf eigenen Ständen angeboten. Die milde Herbstwärme verstärkte die Gerüche, in der Nähe des Wassers stank es sogar. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es größere und belebtere Märkte als diesen geben könnte. Die Waren wurden in drangvoller Enge angeboten, Verkehr war so gut wie unmöglich, aber trotzdem drängten Kutschen sich dazwischen und drohten auf ihrem Weg alles zu überfahren. Überall wurde heftig gefeilscht und gestritten. Die vielen fremden Trachten und Dialekte überraschten ihn: Zahlreiche Bauern aus dem Umland verkauften hier ihre Erzeugnisse.

Mitgerissen von den Strömen und Gegenströmen, umrundete Nicolas drei- oder viermal den Markt, bevor er die Rue Sainte-Croix-de-la-Bretonnerie gefunden hatte. Diese führte ihn ohne weitere Hindernisse zur Rue des Blancs-Manteaux, in der er, zwischen der Rue du Puits und der Rue du Singe, das Haus von Kommissar Lardin entdeckte.

Unschlüssig betrachtete er das kleine dreistöckige Gebäude, das auf beiden Seiten von Gärten hinter hohen Mauern gesäumt wurde. Er hob den Türklopfer, der zurückfiel und dumpf widerhallte. Die Tür öffnete sich einen Spalt, und ein Frauengesicht erschien, gekrönt von einer weißen Haube, aber so breit und pausbäckig, dass es die Verlängerung eines gewaltigen Körpers zu sein schien, dessen oberer Teil in eine rote Bluse gezwängt war; das Ganze wurde von triefnassen Armen ergänzt, deren Ausmaße zur Gesamterscheinung dieser Frau passten.

»Was wollen Sie?«, fragte sie mit einem sonderbaren Akzent, den Nicolas noch nie gehört hatte.

»Ich habe hier einen Brief von Monsieur de Sartine für Kommissar Lardin«, sagte Nicolas und biss sich sofort auf die Lippe, weil er damit seinen einzigen Trumpf ausgespielt hatte.

»Geben Sie ihn mir.«

»Ich muss ihn persönlich übergeben.«

»Niemand zu Hause. Warten Sie.«

Sie schloss abrupt die Tür. Nicolas blieb folglich nichts anderes übrig, als jene Geduld zu beweisen, die, wie sich immer mehr bestätigte, die wichtigste Tugend in Paris war. Da er sich nicht vom Haus entfernen wollte, ging er auf und ab. Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße, in die sich nur wenige Passanten verirrten, sah er ein Kloster und eine Kirche, die inmitten von hohen, kahlen Bäumen verschwanden.

Erschöpft von seinem morgendlichen Marsch, der Arm taub vom Gewicht seines Reisesacks, setzte er sich auf die Außentreppe des Hauses. Er hatte Hunger, da er am Morgen im Refektorium der Karmeliter nur ein in eine Suppe getunktes Brot gegessen hatte. Eine nahe Glocke schlug drei Uhr, als ein kräftiger Mann mit einer grauen Perücke und auf einen Stock gestützt, der stark an einen Knüppel erinnerte, ihn schroff aufforderte, den Weg freizugeben. Da er ahnte, mit wem er es zu tun hatte, trat Nicolas zur Seite, verneigte sich und sagte:

»Ich bitte Sie um Verzeihung, Monsieur, aber ich warte auf Kommissar Lardin.«

Zwei blaue Augen sahen ihn eindringlich an.

»Sie warten auf Kommissar Lardin? Ich warte seit gestern auf einen gewissen Nicolas Le Floch. Sie kennen ihn nicht zufällig?«

»Das bin ich Monsieur, Sie sehen mich …«

»Keine Erklärungen …«

»Aber …«, stotterte Nicolas und reichte ihm Sartines Brief.

»Ich weiß besser als Sie, was der Polizeipräfekt Ihnen befohlen hat. Dieser Brief interessiert mich nicht, Sie können ihn als Reliquie aufbewahren. Er teilt mir nichts mit, was ich nicht schon weiß, und kann mir nur bestätigen, dass Sie sich nicht an die Anweisungen gehalten haben, die Sie bekommen hatten.«

Lardin klopfte an die Tür, und die Frau erschien erneut auf der Schwelle.

»Monsieur, ich wollte nicht …«

»Ich weiß das alles, Catherine.«

Mit einer herrischen Handbewegung unterbrach er seine Dienerin und forderte Nicolas auf, einzutreten. Er entledigte sich seines Mantels, unter dem er ein dickes ärmelloses Lederwams trug, und als er seine Perücke abnahm, wurde ein vollkommen kahl geschorener Schädel sichtbar. Sie traten in eine Bibliothek, deren Schönheit und Ruhe Nicolas überraschten. Ein Feuer, das in einem Kamin aus behauenem Marmor glomm, ein schwarz-goldener Schreibtisch, mit Utrechter Samt bezogene Ohrensessel, helle Holztäfelungen, gerahmte Stiche und prachtvolle gebundene Bücher in den Regalen – alles trug dazu bei, eine Atmosphäre zu schaffen, die jemand, der durchtriebener als Nicolas wäre, als wollüstig bezeichnet hätte. Er spürte undeutlich, dass dieser erlesene Rahmen so gar nicht zum ungehobelten Erscheinungsbild seines Gastgebers passte. Der große, noch halb mittelalterliche Salon im Schlosse des Marquis de Ranreuil war bis dahin sein einziger Vergleichsmaßstab auf diesem Gebiet gewesen.

Lardin blieb stehen.

»Monsieur, Sie beginnen auf recht merkwürdige Weise eine Laufbahn, in der die Gewissenhaftigkeit von entscheidender Bedeutung ist. Monsieur de Sartine vertraut Sie mir an, und ich habe keine Ahnung, womit ich diese Ehre verdient habe.«

Lardin lächelte ironisch und ließ seine Fingergelenke knacken.

»Aber ich gehorche, und Sie müssen ebenfalls gehorchen«, fuhr er fort. »Catherine wird Sie in den dritten Stock führen. Ich kann Ihnen nur eine armselige Dachkammer anbieten. Sie werden Ihre Mahlzeiten im Amt oder außerhalb einnehmen, wie es Ihnen beliebt. Jeden Morgen werden Sie sich um sieben Uhr bei mir melden. Sie sollen, sagt man mir, die Gesetze studieren. Zu diesem Zweck werden Sie jeden Tag zwei Stunden zu Monsieur Noblecourt gehen, einem ehemaligen Staatsanwalt, der Ihre Talente einschätzen wird. Ich erwarte von Ihnen absoluten Fleiß und Gehorsam ohne Murren. Heute Abend werden wir, um Ihre Ankunft zu feiern, in der Familie essen. Sie können gehen.«

Nicolas verneigte sich und ging hinaus. Er folgte Catherine, die ihn in eine kleine Dachkammer führte. Um dorthin zu gelangen, musste er einen vollgestellten Speicher durchqueren. Das Zimmer überraschte ihn angenehm durch seine Größe und durch ein Fenster, das auf den Garten hinausging. Es war einfach möbliert mit einer Liege, einem Tisch, einem Stuhl und einem Toilettentisch mit Spiegel, Waschschüssel und Krug. Auf dem Parkett lag ein abgewetzter Teppich. Er räumte seine wenigen Kleider ein, zog die Schuhe aus, legte sich hin und schlief ein.

Als er aufwachte, war es bereits dunkel. Er erfrischte sein Gesicht und frisierte sich, bevor er hinunterging. Die Tür der Bibliothek, in der er empfangen worden war, war jetzt geschlossen, doch diejenigen der anderen Zimmer, die auf den Flur gingen, standen offen; so konnte er eine vorsichtige Neugier befriedigen. Zunächst sah er einen Salon in Pastellfarben, neben dem die Bibliothek ihm plötzlich sehr nüchtern vorkam. In einem anderen Zimmer waren drei Gedecke aufgelegt. Am Ende des Flurs führte eine Tür in die Küche, den Gerüchen nach zu urteilen, die von dort zu ihm drangen. Er trat näher und lugte in den Raum, in dem eine so große Hitze herrschte, dass Catherine sich in regelmäßigen Abständen die Stirn mit einem Lappen trocknete. Als Nicolas eintrat, öffnete sie gerade Austern. Zur Überraschung des jungen Bretonen löste sie den Inhalt aus den Schalen und legte ihn auf einen Teller aus Steingut.

»Darf ich Sie fragen, was Sie da vorbereiten, Madame?«

Überrascht drehte sie sich um.

»Nennen Sie mich nicht Madame, nennen Sie mich Catherine.«

»Gut«, sagte er, »ich heiße Nicolas.«

Sie betrachtete ihn, ihr wenig anziehendes Gesicht wurde von einer Freude erleuchtet, die es geradezu schön aussehen ließ. Sie zeigte ihm zwei entbeinte Kapaune.

»Ich mache eine Kapaunsuppe mit Austern.«

Als Kind hatte Nicolas es geliebt, Fine zuzuschauen, wenn sie jene Leckereien kreierte, die die kleine Schwäche des Stiftsherrn waren. Nach und nach hatte er sogar gelernt, selbst einen bretonischen Pflaumen-Far, einen Butterkuchen Kouign-Amann oder Hummer mit Cidre zuzubereiten. Auch der Marquis de Ranreuil, sein Patenonkel, hielt es nicht für unter seiner Würde, sich dieser edlen Beschäftigung zu widmen, die er zur großen Empörung des Stiftsherrn mit den »sieben Todsünden« in Verbindung brachte.

»Gekochte Austern!«, rief Nicolas. »Bei uns in der Bretagne isst man sie roh.«

»Igitt, lebende Tiere!«

»Und diese Suppe, wie bereiten Sie die zu?«

Eingedenk der Erfahrungen, die er mit Fine gemacht hatte, rechnete Nicolas damit, von der Köchin fortgejagt zu werden; er hatte sie lange ausspionieren müssen, um an ihre Rezepte zu kommen.

»Sie sind so nett, dass ich es Ihnen sagen werde«, sagte hingegen Catherine. »Sie nehmen zwei schöne Kapaune und entbeinen sie. Sie füllen einen mit dem Fleisch des anderen, dem Sie Speck, Eigelbe, Salz, Pfeffer, Muskat, ein Bouquet garni und Gewürze hinzufügen. Ich binde das Ganze mit einer Schnur zusammen und pochiere es in einer leicht köchelnden Brühe. Während dieser Zeit wende ich meine Austern in Mehl und brate sie in Butter zusammen mit Champignons. Ich zerlege den Kapaun, lege die Austern dazu, übergieße das Ganze mit Bouillon und serviere es mit ein paar Tropfen Zitronensaft und etwas Frühlingszwiebel, schön heiß vor allem.«

Nicolas machte keinen Hehl aus seiner Begeisterung. Während er Catherine zuhörte, war ihm das Wasser im Mund zusammengelaufen, und sein Hunger war noch größer geworden. Auf diese Weise eroberte er Catherine Gauss, gebürtig aus Colmar, ehemalige Marketenderin in der Schlacht bei Fontenoy, Witwe eines französischen Gardisten und Köchin von Kommissar Lardin. Die gefürchtete Dienerin hatte Nicolas endgültig adoptiert. Er hatte bereits eine Verbündete am Ort und war beruhigt, was seine Verführungskraft betraf.

An das Diner bewahrte Nicolas nur verworrene Erinnerungen. Die Pracht des Tisches mit seinen Kristallgläsern, seinem Silberbesteck, dem glänzenden Damast der Tischdecke löste ein Gefühl des Wohlbefindens in ihm aus. Die Wärme des Zimmers mit seinen grauen, goldverzierten Holztäfelungen und die vom Kerzenschein verursachten Schlagschatten schufen eine behagliche Atmosphäre, die Nicolas, dem bereits das erste Glas Wein zu Kopf stieg, in seinem geschwächten Zustand noch müder machte. Der Kommissar war nicht da, nur seine Frau und seine Tochter leisteten ihm Gesellschaft. Sie schienen fast im gleichen Alter zu sein, und Nicolas begriff sehr schnell, dass Louise Lardin nicht Maries Mutter, sondern ihre Stiefmutter war und dass die beiden Frauen keine besondere Sympathie füreinander empfanden. Während Erstere bemüht schien, eine etwas eitle Autorität an den Tag zu legen, blieb die andere reserviert und beobachtete ihren Gast unter ihren gesenkten Wimpern. Die eine war groß und blond, die andere klein und dunkelhaarig.

Die Köstlichkeit der servierten Gerichte überwältigte Nicolas. Auf die Kapaunsuppe mit Austern folgte ein Zwischengang aus marmorierten Eiern, geschmortem Rebhuhn, Mandelsulz und Krapfen mit Marmelade. Da er auf diesem Gebiet eine gute Ausbildung genossen hatte, erkannte der junge Le Floch in dem Wein, der die Farbe schwarzer Johannisbeeren hatte, einen Wein von der Loire, vermutlich einen Bourgueil.

Madame Lardin horchte ihn diskret über seine Vergangenheit aus. Er hatte das Gefühl, dass sie vor allem den Ursprung und die Art seiner Beziehung zu Monsieur de Sartine ergründen wollte. War die Frau des Kommissars von ihrem Mann beauftragt worden, ihn zum Reden zu bringen? Sie schenkte ihm so großzügig nach, dass ihm dieser Gedanke kurz durch den Kopf ging. Er erzählte viel von seiner Bretagne, mit Details, über die seine Zuhörerinnen lächelten. Man schien ihn für eine Kuriosität zu halten, als käme er aus Persien.

Erst später, als er wieder in seiner Dachkammer war, fragte er sich, ob er nicht zu redselig gewesen war. Andererseits wusste er selbst doch so wenig über die Gründe, warum Monsieur de Sartine sich für ihn interessierte, dass ihm eigentlich gar nichts Kompromittierendes herausgerutscht sein konnte. Madame Lardin hatte sich wohl umsonst bemüht. Er erinnerte sich auch an Catherines gereizten Gesichtsausdruck, während sie Louise Lardin bedient oder ihr zugehört hatte, und auch diese hatte das Dienstmädchen distanziert behandelt. Die Köchin hatte wütend vor sich hin gemurmelt. Wenn sie jedoch Marie, die Tochter des Kommissars, bedient hatte, hatte ihr Gesicht sich erhellt und momentweise sogar einen bewundernden Ausdruck angenommen. Mit diesen Betrachtungen beendete der junge Mann seinen ersten Tag in der Rue des Blancs-Manteaux.

Und so begann für Nicolas ein neues, sehr geregeltes Leben. Er stand früh auf und wusch sich in einem Schuppen im Garten, dessen Benutzung er sich mithilfe der guten Catherine gesichert hatte.

Er hatte seine bescheidene Garderobe bei Vachon vervollständigt; der Name de Sartine hatte ihm die Türen geöffnet und das Vertrauen eines Schneiders eingebracht, der die Bestellung sogar großzügig auslegte, was Nicolas einigermaßen peinlich war. Die Spiegel zeigten ihm von nun an das Bild eines jungen, schlicht, aber elegant gekleideten Kavaliers. Maries bedeutungsvoller Blick bestätigte ihm seine optische Aufwertung.

Um sieben Uhr erschien er bei Kommissar Lardin, der ihm seinen Stundenplan mitteilte. Die Unterrichtsstunden bei Monsieur Noblecourt, Liebhaber des Schachs und der Querflöte, waren willkommene Momente der Entspannung. Dank der kundigen Hinweise seines Lehrers wurde er zu einem eifrigen Konzertgänger.

Nicolas setzte seine Erkundung von Paris und der Faubourgs fort. Niemals, nicht einmal in Guérande, war er so viel zu Fuß gegangen.

Sonntags besuchte er die Kirchenkonzerte, die damals in dem großen Saal des Louvre stattfanden. Eines Tages saß er zufällig neben einem jungen Seminaristen. Pierre Pigneau, geboren in Origny, in der Diözese Laon, wünschte sich nichts sehnlicher, als der Société des Missions Étrangères beizutreten. Er erklärte Nicolas, der ihm voller Bewunderung zuhörte, seinen Wunsch, die Finsternis des Götzendienstes durch das Licht des Evangeliums zu vertreiben. Er wollte in der Mission in Cochinchina arbeiten, die seit einigen Jahren schrecklichen Verfolgungen ausgesetzt war. Der junge Mann, ein kräftiger Bursche mit lebhaftem Teint, dem es nicht an Humor fehlte, war sich mit Nicolas einig über die mäßige Qualität der Aufführung eines Exaudi Deus aus der berühmten Musikerdynastie der Philidors. Die Begeisterung des Publikums empörte die beiden so sehr, dass sie den Saal gemeinsam verließen. Nicolas begleitete seinen neuen Freund zum Séminaire des Trente-Trois. Als sie sich trennten, verabredeten sie sich für die nächste Woche.

Die jungen Leute gewöhnten sich an, ihre Treffen bei Stohrer, dem Konditor des Königs, ausklingen zu lassen, dessen Geschäft in der Rue Montorgueil ein beliebter Treffpunkt war, seit der Konditormeister den Hof mit Torten eigener Erfindung belieferte, die vor allem der Königin Maria Leszczyńska gut schmeckten. Stohrer hatte einen runden Napfkuchen aus süßem Hefeteig kreiert, der nach dem Backen mit einer Mischung aus Läuterzucker und Rum getränkt wurde. Nicolas fühlte sich in dieser Konditorei und in der Gesellschaft des jungen Priesters Pigneau sehr wohl.

Anfangs musste er Lardin – dessen Amtsbefugnisse sich nicht auf ein bestimmtes Viertel beschränkten –, bei seinen Einsätzen begleiten. Der junge Le Floch lernte in den frühen Morgenstunden die Versiegelungen, die Pfändungen, die Beweisaufnahmen oder auch nur die Schlichtungen der Streitigkeiten zwischen Nachbarn kennen, wie sie in den Mietshäusern der Vororte, in denen die Bedürftigsten auf engstem Raum lebten, an der Tagesordnung waren. Er machte sich mit den Inspektoren, den Männern der Nachtwache, den Wachen der Stadtmauern, den Kerkermeistern und sogar den Henkern bekannt. Es war eine Zeit der Abhärtung, etwa wenn er Folterungen beiwohnte oder im Leichenschauhaus war. Man verbarg ihm nichts, und er begriff, dass die Polizei sich, um zu funktionieren, auf eine große Zahl von Spitzeln und Prostituierten stützen musste. Nur durch diese Verbindungen in eine zwielichtige Welt konnte der Polizeipräfekt derjenige sein, der in die Geheimnisse der Hauptstadt am besten eingeweiht war. Nicolas wurde auch klar, über welch wertvolles Netz der Meinungsüberwachung Monsieur de Sartine verfügte, indem er die Post und die Privatkorrespondenzen kontrollierte. In den Briefen, die er regelmäßig in die Bretagne schickte, hielt sich der junge Le Floch folglich mit Bemerkungen über seine Arbeit oder seinen Dienstherrn sehr zurück.

Seine Beziehungen zum Kommissar hatten sich weder zum Guten noch zum Schlechten weiterentwickelt. Der autoritären Kühle fügte er sich mit stummem Gehorsam. Über lange Zeiträume hinweg schien der Kommissar ihn zu vergessen. Immerhin traf er in dessen Haus mehrmals einen äußerst gebildeten Gast, den Arzt Guillaume Semacgus, der immer für ein geistreiches Aperçu gut war.

Auch zögerte Monsieur de Sartine nicht, sich ihm in Erinnerung zu bringen. Manchmal brachte ein kleiner Savoyer ihm lakonische Briefchen, die ihn ins Châtelet oder in die Rue Neuve-Saint-Augustin bestellten. Diese Begegnungen waren stets kurz. Der Polizeipräfekt horchte Nicolas aus, und zwar, wie es diesem schien, meist über Lardin. Sartine ließ sich ganz genau das Haus des Kommissars und den Alltag der Familie beschreiben, bis hin zu deren Essgewohnheiten. Nicolas waren diese Befragungen manchmal etwas peinlich. Ihren Sinn konnte er sich nicht so recht erklären.

Der Polizeipräfekt befahl ihm, Lardins Verhören beizuwohnen und deren Inhalte für ihn schriftlich zusammenzufassen. Eines Tages beauftragte er ihn, ihm von der Verhaftung eines Mannes zu berichten, der Wechsel ausgegeben hatte, deren Unterschriften gefälscht zu sein schienen. Nicolas sah mit an, wie Polizisten mitten auf der Straße einen Mann mit lebhaften Augen und markanten Gesichtszügen verhafteten, der Französisch mit starkem italienischem Akzent sprach. Der Bedrängte nahm ihn als Zeugen:

»Monsieur, Sie scheinen mir ein ehrlicher Mann zu sein, sehen Sie nur, wie man einen Bürger Venedigs behandelt. Man verhaftet den edlen Casanova. Das ist ein Verbrechen gegen jemanden, der als Philosoph lebt und schreibt.«

Nicolas folgte ihm bis zum Gefängnis Fort l’Évêque. Als er Sartine Bericht erstattete, fing dieser leise an zu fluchen und rief:

»Er wird morgen frei sein: Monsieur de Choiseul beschützt diesen Betrüger, ein angenehmer Mensch im Übrigen.«

Ein anderes Mal sollte er einem vor dem Bankrott stehenden Uhrenhändler, der sich zahlreiche wertvolle Objekte liefern ließ, um sie weiterzuverkaufen, Schmuck zum Kauf anbieten. Nicolas musste sich für einen Abgesandten von Monsieur Dudoit ausgeben, einem Polizeikommissar im Faubourg Sainte-Marguerite, den Sartine im Verdacht hatte, mit dem Händler unter einer Decke zu stecken.

Der Pariser Polizeichef hielt seine Welt fest im Griff. Um jeden Preis wollte er verhindern, dass erneut, wie 1750, Volksaufstände gegen die Unehrlichkeit mancher Kommissare ausbrachen. Selbst die Welt des Glücksspiels blieb Nicolas nicht fremd, schon bald wusste er zu unterscheiden zwischen Werbern, Arbeitgebern, Geschäftsführern, Kundenfängern und Lotterieunternehmern.

In Paris drehte sich in der Welt des Verbrechens alles um das Glücksspiel, die Ausschweifung und den Diebstahl. Diese drei Welten standen durch unzählige Kanäle miteinander in Verbindung.

Innerhalb von fünfzehn Monaten lernte Nicolas seinen Beruf kennen. Und auch den Preis des Schweigens und der Geheimhaltung. Er wurde älter und wusste jetzt besser seine Gefühle zu beherrschen, indem er seine eigenwillige und allzu lebhafte Fantasie zügelte. Dies fiel ihm umso leichter, als er eine junge hübsche Frau kennengelernt hatte, deren Sinnlichkeit er selten, aber in vollen Zügen genoss. Antoinette hieß das Mädchen, sie arbeitete als Kammerzofe, und niemand im Hause des Kommissars ahnte etwas von seiner Affäre. Wenn er sie zum Essen ausführte, dann immer etwas außerhalb der Stadt. Er hatte leichte Gewissensbisse wegen seiner Liebesschwüre, die er in der Bretagne gegenüber Isabelle gemacht hatte, von der er aber nichts mehr hörte. Er war nicht mehr der unschuldige Jugendliche, den Pater Grégoire bei seiner Ankunft in Paris aufgenommen hatte.

Eines Tages erhielt er einen Brief aus Guérande. Vergeblich hoffte er, dass Isabelle ihm endlich auf eine seiner vielen Liebesbeteuerungen geantwortet hatte. Stattdessen wurde ihm in diesem Schreiben mitgeteilt, dass sein Vormund schwer erkrankt war. Ja, sein Zustand schien hoffnungslos zu sein. Unverzüglich machte der junge Le Floch sich auf die Reise.

II Guérande

II

Guérande

Passion da Vener

Maro dar Zadorn

Interramant d’ar Zul

Dar baradoz hec’h ei zur.

Agonie am Freitag

Tod am Samstag

Beerdigung am Sonntag

Ins Paradies kommt er sicher.

SPRICHWÖRTLICHE REDENSART

DER BASSE-BRETAGNE

Donnerstag, den 19. Januar 1761

Bis Angers war die Loire ruhig. Der Schneeregen hatte nicht aufgehört, und während der Nacht war der Pegelstand des Flusses ab Tours ständig gestiegen. Manchmal tauchte in einer Lücke im Nebel eine graue und tote Geisterstadt auf. Nur schemenhaft sichtbar glitten die Ufer vorbei. Als sie Angers erreichten, wurde der Lastkahn von entgegengesetzten Strudeln erfasst. Er prallte gegen den Pfeiler einer Brücke, drehte sich mehrmals um sich selbst und lief, außer Kontrolle geraten und beschädigt, auf eine Sandbank auf. Die Mannschaft und die Passagiere konnten an Bord eines Flachbootes ans Ufer gelangen.

Nachdem er sich mit einem heißen Wein in einem Gasthof für Binnenschiffer gestärkt hatte, erkundigte Nicolas sich nach den Möglichkeiten, nach Nantes weiterzureisen. Es waren schon mehrere Tage vergangen, seit er an Bord gegangen war. Würde er noch rechtzeitig nach Guérande kommen, um seinen Vormund wiederzusehen? Ängstlich malte er sich neuerliche Verspätungen aus, die ihm drohten. Der Fluss wurde immer schwerer befahrbar, kein Schiff würde sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt flussabwärts wagen. Aber auf die nächste Postkutsche zu warten, schien ihm zu zeitraubend zu sein.

Da er ein guter Reiter war, beschloss Nicolas, sich ein Pferd zu besorgen und seinen Weg im Sattel fortzusetzen. Von dem Lohn, den Lardin ihm bezahlte, hatte er einiges beiseitelegen können. Vierzig Meilen trennten ihn von seinem Ziel. Von Angers würde er direkt nach Guérande reiten. Nicolas fühlte sich durchaus in der Lage, es mit Straßenräubern aufzunehmen. Er musste auch mit Rudeln hungriger Wölfe rechnen, die zu dieser Jahreszeit auf der Suche nach Beute herumstreunten. Doch nichts konnte seinen Willen erschüttern, so schnell wie möglich sein Ziel zu erreichen. Er suchte sich daher ein Pferd aus, für das er ein Vermögen bezahlte – der Postmeister zögerte, bei diesem Wetter seine Tiere in Gefahr zu bringen –, und gab ihm die Sporen, sobald er die Stadtmauern hinter sich gelassen hatte.

Er übernachtete in Ancenis, und am nächsten Morgen ritt er durch ländliche Gegenden. Er erreichte ungehindert die Abtei Saint-Gildas-des-Marais, wo die Mönche ihn neugierig empfingen, glücklich über diese unerwartete Abwechslung. In unmittelbarer Nähe der Gebäude machten sich Wölfe über ein Aas her; sie achteten nicht auf ihn.

Im Morgengrauen durchquerte er den Wald von La Bretesche. Sein Patenonkel, ein Freund der Boisgelins, ging dort jeden Herbst auf Wildschweinjagd. In der Ferne ragten die Schlosstürme in den grauen Himmel empor.

In der Nacht war es stürmisch geworden, wie es häufig in diesen Gegenden geschieht. Sein Pferd kämpfte gegen den Wind an, der so laut heulte, dass Nicolas die Ohren gellten. Der matschige Weg, der an den Torfmooren entlangführte, war mit abgerissenen Ästen übersät. Die Wolken zogen so tief, dass die Spitzen der Kiefern sie zu zerreißen schienen.

Manchmal legte sich die Wut der Elemente plötzlich. Alles erstarrte dann, und in der zurückgekehrten Stille hörte man den schrillen Schrei der großen Meeresvögel, die, von der Küste verjagt, über dem Land schwebten.