Commissaire Le Floch und das Gift der Liebe - Jean-François Parot - E-Book
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Commissaire Le Floch und das Gift der Liebe E-Book

Jean-François Parot

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Beschreibung

Der vierte Roman in der Commissaire-Le-Floch-Reihe.

An einem Januarabend 1774 fährt Nicolas Le Floch in einer Kutsche zu einem Festessen, das seine Geliebte Julie de Lastérieux gibt. Nicolas tritt in freudiger Erwartung ein, muss aber miterleben, wie Julie vor seinen Augen mit einem jungen Adeligen kokettiert. Empört verlässt der Commissaire die Szenerie und sucht im Theater Ablenkung. Danach begibt er sich noch einmal zu seiner Geliebten, die ihn aber wieder nicht beachtet.

Wutentbrannt flüchtet er zu seinen Freunden, die ihm am nächsten Morgen eine schreckliche Nachricht überbringen: Julie de Lastérieux ist in der Nacht gestorben. Die Umstände deuten auf einen Giftmord hin. Und da es viele Zeugen seiner Eifersucht gibt, ist Commissaire Le Floch selbst der Hauptverdächtige.

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Seitenzahl: 623

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Zum Buch

An einem Januarabend 1774 fährt Nicolas Le Floch in einer Kutsche in die rue de Verneuil. Seine Geliebte Julie de Lastérieux gibt dort ein Abendessen. Nicolas tritt in freudiger Erwartung ein.

Er hat Julie vor knapp einem Jahr auf einer musikalischen Abendgesellschaft des Organisten von Notre-Dame kennengelernt. Sie verliebten sich rasch und hitzig ineinander. Julie war in jungen Jahren, nach einer Erziehung in einem Konvent, verheiratet worden, an einen älteren Mann, einem Marineintendanten, der nach Guadeloupe beordert wurde. Dort starb er an einem Fieber, und Julie de Lastérieux profitierte von seinem Erbe und kehrte als junge, attraktive Witwe nach Paris zurück. Nach einer Weile drängte sie Nicolas, zu ihr zu ziehen, sie zu heiraten, außerdem sprach sie ihn, sobald sie in Gesellschaft waren, ständig mit seinem Adelstitel an, den er doch bewusst nicht angenommen hatte. An diesem Abend jedoch eskalieren die Konflikte zwischen den beiden, mit Folgen, die das Leben des Commissaires völlig durcheinanderwirbeln.

Zum Autor

Jean-François Parot, 1946 geboren, studierte an der Sorbonne in Paris Geschichte und Ethnologie, absolvierte eine Ausbildung als Ägyptologe und spezialisierte sich auf das 18. Jahrhundert. Nach dem Militärdienst schlug er die diplomatische Laufbahn ein. Seine Romanreihe um Commissaire Le Floch wurde nicht nur in Frankreich, sondern auch in vielen anderen Ländern ein großer Erfolg. Jean-François Parot verstarb am 23. Mai 2018.

Jean-François Parot

CommissaireLE

FLOCH

und das Gift der Liebe

Roman

Aus dem Französischen von

Michael von Killisch-Horn

BLESSING

Originaltitel: L’affaire Nicolas Le Floch

Originalverlag: Édition Lattès, Paris

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2019 der Übersetzung by Karl Blessing Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright de Originalausgabe 2002 Lattès

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-23764-6V002

www.blessing-verlag.de

Für Maurice Roisse

Inhalt

Liste der handelnden Personen

I   Nipptide

II   Verdächtigungen

III   Die Falle

IV   Schandtaten

V   Gaukelei

VI   London

VII   Verwirrung

VIII   Sackgasse

IX   Jagden

X   Der kranke König

XI   Lichtschimmer

XII   Die Thermen des Julian

XIII   Das Siegel der Verschwiegenheit

Epilog

Danksagung

Anmerkung

Verzeichnis der im Roman auftretenden oder genannten historischen Persönlichkeiten

Glossar

Liste der handelnden Personen

NICOLAS LE FLOCH: Polizeikommissar im Châtelet

MONSIEUR GABRIEL DE SARTINE: Polizeipräfekt von Paris

MONSIEUR DE SAINT-FLORENTIN: Minister der Maison du roi

PIERRE BOURDEAU: Polizeiinspektor

PÈRE MARIE: Amtsdiener im Châtelet

TIREPOT: Spitzel und Besitzer eines ambulanten Toilettendienstes

RABOUINE: Spitzel

AIMÉ DE NOBLECOURT: ehemaliger Staatsanwalt

MARION: Köchin und Haushälterin von Noblecourt

POITEVIN: Diener von Noblecourt

CATHERINE GAUSS: ehemalige Marketenderin, Dienerin von Nicolas Le Floch

GUILLAUME SEMACGUS: Marinewundarzt

AWA: Köchin von Semacgus

CHARLES HENRI SANSON: Henker von Paris

MARIE-ANNE SANSON: seine Frau

LA PAULET: ehemalige Bordellbesitzerin

LA SATIN: Bordellbesitzerin

LA PRÉSIDENTE: Prostituierte

JULIE DE LASTÉRIEUX: Nicolas’ Geliebte

CASIMIR: Diener von Lastérieux

JULIA: Köchin von Lastérieux

MONSIEUR DE LA BORDE: Erster Kammerdiener des Königs

KOMMISSAR CHORREY: Polizeikommissar im Châtelet

KOMMISSAR CAMUSOT: ehemaliger Kommissar und Leiter der Abteilung für Glücksspiele in der Polizei

GASPARD: blauer Junge in Versailles

FRIEDRICH VON MÜVALA: Schweizer Reisender

BALBASTRE: Organist von Notre-Dame

THÉVENEAU DE MORANDE: nach London geflohener französischer Pamphletist

CHEVALIER D’ÉON: französischer Geheimagent in London

LORD ASHBURY: Agent des englischen Geheimdienstes

MAÎTRE BONTEMPS: Doyen der Pariser Notargesellschaft

MAÎTRE TIPHAINE: Notar von Julie de Lastérieux

MAÎTRE VACHON: Schneider

MONSIEUR DE SÉQUEVILLE: Sekretär des Königs bei der Conduite des Ambassadeurs

MONSIEUR RODOLLET: Schriftprüfer

NAGANDA: Micmac-Häuptling aus Kanada

MONSIEUR TESTARD DU LYS: Lieutenant criminel

MONSIEUR LE NOIR: Staatsrat

MADAME DE LA ROCHE-FONTENILLES: Äbtissin

Namen, Orte oder Begriffe, die bei der ersten Nennung im Text kursiv gesetzt sind, werden im Anhang (Verzeichnis der historischen Persönlichkeiten und Glossar) erläutert.

I

Nipptide

Seine Hand, der Zwietracht Fackel entflammend,

Markierte mit hundert Kämpfen sein neues Reich

Sie schürte den Zorn …

VOLTAIRE

Donnerstag, den 6. Januar 1774

Die Kutsche verfehlte ihn knapp, der Satz, den er machte, um ihr auszuweichen, ließ ihn mit geschlossenen Füßen in einer Pfütze aus Schlamm und geschmolzenem Schnee landen. Die widerliche Mischung spritzte bis zu seinem Dreispitz hinauf, von dem sie herabzutropfen begann. Er fluchte leise. Ein weiterer Regenumhang aus guter Wolle, den er in die Reinigung bringen musste.

Nicolas Le Floch, Polizeikommissar im Châtelet, hatte sich aus seiner Jugend in der Bretagne die Gewohnheit bewahrt, praktische Kleidung zu tragen. In Paris hatte sich mittlerweile der Gehrock eingebürgert. Der schwere und warme Mantel, den er bevorzugte, wurde nur noch von Kavalleriesoldaten oder fliegenden Händlern getragen. Mâitre Vachon, sein und Monsieur de Sartines angestammter Schneider, den diese hartnäckige Treue zu den alten Gewohnheiten zur Verzweiflung brachte, hatte ihn immerhin überreden können, ein paar modische Extravaganzen zu dulden: einen besonderen Schnitt mit Kragen und einen weiteren Volant ohne Futter. Der Schneider hoffte, ohne allzu sehr daran zu glauben, dass Nicolas, der sowohl in der Stadt als auch bei Hof verkehrte, auf diese Weise helfen würde, eine neue Mode durchzusetzen.

Das Kleidungsstück würde die Demütigungen unerbittlicher Reinigungsbemühungen über sich ergehen lassen müssen; er konnte sich glücklich schätzen, wenn der ätzende Schlamm im Stoff keine unauslöschlichen Spuren hinterlassen hatte. Sachkundigen zufolge besaß er unglaubliche Haftungskräfte. Wenn er es recht überlegte, wäre es besser, ihn der sorgfältigen und liebevollen Pflege von Catherine und Marion, den beiden Schutzengeln des Hôtel de Noblecourt, anzuvertrauen. Wehmütig dachte er bei sich, dass Marion, vom Rheumatismus geplagt, nur noch symbolisch die Arbeiten im Haushalt leitete und alle sich bemühten, sie in dem Glauben zu wiegen, ihr Beitrag, so gering er auch sein mochte, sei immer noch für das reibungslose Funktionieren des Haushalts unentbehrlich.

Dieser kleine Vorfall, wie er sich häufig in den Straßen der Hauptstadt ereignete, hatte ihn für einen kurzen Augenblick aus unangenehmen Überlegungen gerissen. Jetzt grübelte er erneut über die Gründe für seinen Ärger, der fast schon in Wut umschlug. Er hielt es für besser, jetzt gleich darüber nachzudenken und es nicht auf später zu verschieben, wenn er versuchen würde einzuschlafen. Was für ein Jahresende! Seit Tagen quälte ihn eine unbestimmte Angst. Er hatte sich daran gewöhnt, doch alles schien sich verschworen zu haben, um ihm den Jahreswechsel zu vergällen, den er schon immer gefürchtet hatte und der ihm stets Bauchschmerzen bereitete. Das Jahr 1774 hatte begonnen, und er erinnerte sich, dass man an diesem Donnerstag das Fest der Heiligen Drei Könige feierte, doch dieses Detail machte seine Verstimmung nur noch schlimmer.

Die Krise mit Madame de Lastérieux schwelte schon seit Langem, aber die Wahrheit ist eine Frucht, die nur reif gepflückt wird. In seiner Wut stampfte er mit dem rechten Fuß auf und bespritzte sich erneut. Seine Nase juckte, und er nieste mehrmals, während ihm ein Schauer über den Rücken lief. Es fehlte noch, dass er sich den Tod holte, indem er durch den geschmolzenen Schnee lief!

Er rief sich die Ereignisse des Abends in Erinnerung … Alles deutete darauf hin, dass diese Liaison keine Zukunft hatte. Auf seiner recht langen Fahrt hatte das Schiff der Leidenschaft in seinem Kielwasser alle Unvereinbarkeiten und Irritationen beiseitegeschoben, die das Einverständnis der Sinne lange kaschiert hatte. Ein ungetrübter Beginn hatte rasch ein Einvernehmen geschaffen, das die junge Frau in den Augen ihres Anbeters verklärt hatte.

Er sah wieder diesen Abend im Februar 1773 vor sich. Monsieur Balbastre, Organist von Notre-Dame, den er vor mehr als zehn Jahren über Monsieur de Noblecourt, der ein großer Musikliebhaber war, kennengelernt hatte, hatte ihn zum Abendessen eingeladen. Ihrer ersten, für den damals noch jungen Mann demütigenden Begegnung waren weitere gefolgt, bei denen die Liebe zur Musik und eine Art Verehrung für den großen Rameau sie einander angenähert hatten, trotz des sarkastischen Tons, den der Virtuose so liebte. Die Gäste, die in seinem Salon verkehrten, gerieten ins Schwärmen, wenn er auf einem Ruckers-Cembalo spielte, das der ganze Stolz des Hausherrn war. Das Instrument war auf allen Seiten innen wie außen mit einer solchen Sorgfalt bemalt, als hätte es sich um die Karosse oder die Tabakdose des Vertreters eines Königshauses gehandelt. Die Geburt der Venus schmückte die Außenseite, und auf der Innenseite des Deckels war die Geschichte von Castor und Pollux dargestellt, das Thema der berühmtesten Oper von Rameau. Die Erde, die Hölle und das Elysium waren abgebildet, und in Letzterem thronte der berühmte Komponist auf einer Bank, die Lyra in der Hand. Nicolas, der Rameau einige Zeit vor seinem Tod in den Tuilerien begegnet war, hatte gefunden, dass das Porträt ihm sehr ähnlich war.

An einer Wand des Salons stand eine große Pedalorgel. Balbastre spielte eine Fuge, wobei er den plärrenden Klang des Instruments und die Geräusche beklagte, die die Tasten beim Anschlag machten. Aber er brauche es für seine Übungen, zum Leidwesen – er lachte hämisch – seiner Nachbarn. Eine junge Frau mit flammendem Haar, das ein feines, ausdrucksvolles Gesicht rahmte, welches von der grau-schwarzen Kleidung einer im Dienstleistungsgewerbe tätigen Frau oder Witwe noch betont wurde, bewunderte lautstark die Virtuosität des Organisten. Als Freundin des Hauses wurde sie eingeladen, das Cembalo auszuprobieren. Sie spielte mit viel Gefühl eine ausgesprochen schwierige Sonate. Der Gastgeber setzte sich wieder ans Instrument, um eine Melodie von Grétry zu variieren. Der Klang des Instruments kam Nicolas eher zart als mächtig vor. Er wechselte ein paar Sätze mit der jungen Frau, die ihn aus goldbraunen Augen anblickte. Sie erklärte ihm, dass der Anschlag wegen der Vogelfederkiele sehr leicht sei. Sie setzten ihr Gespräch fort und fanden sich auf der Straße wieder. Nicolas bot ihr an, sie in seiner Dienstkutsche nach Hause zu bringen. Als sie in die Rue de Verneuil kamen, in der sie eine große Wohnung besaß, war es bereits zu einer ersten Annäherung gekommen und Nicolas schon ein glücklicher Mann. Die Augenblicke, die auf die Einladung, ein Fortepiano zu bewundern, folgten, besiegelten ihr Einvernehmen. Die folgenden Wochen waren ein einziger Rausch sehnsuchtsvoller Umarmungen, unterbrochen von langen Perioden der Abwesenheit und Ungeduld. Nichts schien dem unstillbaren Verlangen, das sie vereinte, ein Ende setzen zu wollen.

Was hatte er sich eigentlich vorzuwerfen? Ihre Schönheit war nicht zu leugnen in einer Zeit, in der das lange verrufene ins Rötliche gehende Blond wieder in Mode kam. Die Haarfarbe der jungen Dauphine hatte den Ausschlag gegeben, trotz des vehementen Widerstands von Madame du Barry, der amtierenden Favoritin. Geistreich und unendlich elegant, bezauberte Julie de Lastérieux’ Konversation durch die Vielfalt ihrer Themen und die originellen Ansichten, mit denen sie sie spickte. Sie hatte, nachdem sie das Kloster verlassen hatte, sehr jung einen sehr viel älteren Marineintendanten geheiratet, der in Guadeloupe stationiert war. Die Berufung zum Conseiller-Secrétaire du Roi hatte Monsieur de Lastérieux geadelt, der so rücksichtsvoll gewesen war, fast sofort nach seiner Rückkehr von den Inseln zu sterben. Seine Witwe kam durch Erbschaft in den Genuss eines ansehnlichen Vermögens und zog nach Paris in Begleitung ihrer schwarzen Diener.

Auch wenn sie aufgrund ihres Charakters dazu neigte, auf alles Einfluss zu nehmen, achtete sie darauf, Nicolas gegenüber eine gewisse bewundernde Zurückhaltung zu üben, welche diesen stärker beeindruckte als ein fester Wille. Dennoch hatte es immer wieder Misstöne zwischen ihnen gegeben. Anfangs hatte die immer noch heftig lodernde Leidenschaft diese Zerwürfnisse beilegen können, indem sie ihre Liaison mit wundervollen Versöhnungen gewürzt hatte. Im Laufe der Zeit hatten diese wiederholten Geplänkel ihn ermüdet. Sie drehten sich immer um die gleichen Fragen. Ständig lag sie ihm mit dem Wunsch in den Ohren, mit ihm zusammenzuleben. Er weigerte sich, da er hinter diesem Ansinnen einen anderen nicht formulierten Wunsch witterte, den er nicht verstehen wollte. Bei jedem Streit musste er sich erneut die ewige Klage über seine Abwesenheiten und die Fron seines Berufs, die ihm kaum freie Zeit ließ, anhören. Hinzu kam, dass er sie immer wieder ermahnen musste, ihn bei gesellschaftlichen Anlässen nicht als Marquis de Ranreuil vorzustellen. Was er, das spät anerkannte uneheliche Kind, vonseiten des Königs und der Mitglieder der königlichen Familie als eine Ehre akzeptierte, lehnten sein Stolz und sein Sinn für das rechte Maß ab, wenn es von anderen kam. Er spürte sehr wohl, wie heftig das Verlangen an ihr nagte, bei Hofe zu erscheinen, und erkannte die Ambitionen, die Julies Interesse an ihm förderten, und das war ihm peinlich wie eine Ungehörigkeit oder ein Fauxpas. Und er verbarg auch nicht, wie sehr es ihn ärgerte, dass Julie immer wieder versuchte, ihn von seinen engsten Freunden fernzuhalten, mit Ausnahme von Monsieur de La Borde, dem Ersten Kammerdiener des Königs, den seine Nähe zum König und sein persönliches Ansehen in ihren Augen sehr wertvoll machten.

Ein Abendessen bei Monsieur de Noblecourt hatte ein katastrophales Ende genommen. Weder der alte Staatsanwalt noch Doktor Semacgus hatten trotz ihrer Bemühungen, Nicolas gefällig zu sein, die junge Frau aufzuheitern vermocht. Er zog daraus die Lehre, die Menschen, die er liebte, nicht um jeden Preis zusammenzuführen, und quälte sich mit dem Gedanken, dass seine Wahl von seinen Freunden nicht gebilligt wurde. Sobald diese Obsession sich in seinem Kopf eingenistet hatte, war es vorbei mit seiner Vergötterung von Julie. Erschrocken stellte er fest, dass eine Liebe, die den Fehlern des geliebten Wesens gegenüber keine Nachsicht übte, schon keine richtige Liebe mehr war.

Die stumme Bestürzung der ihm nahestehenden Menschen betrübte Nicolas, aber er weigerte sich lange, die Konsequenzen daraus zu ziehen. Er musste sich damit abfinden, dass diese Liaison ein Irrtum war. Sein Stolz bekam einen Dämpfer, und nicht ohne sich Vorwürfe deswegen zu machen, litt er darunter, den sinnlichen Lockungen einer Frau nachgegeben zu haben, die seine Wertschätzung nicht verdiente; dennoch stellte er errötend fest, dass er sie noch immer liebte.

Die letzte Szene hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Warum hatte er dieses Souper unter vier Augen akzeptiert? Im Grunde wusste er es nur zu gut … Diese Zusage zwang ihn, Monsieur de Noblecourt zu enttäuschen, der an diesem Abend den Dreikönigskuchen mit ein paar Freuden hatte teilen wollen: Nicolas, Semacgus und Inspektor Bourdeau, denen sich, falls sein Dienst für den König es erlaubte, Monsieur de La Borde anschließen würde. Schweren Herzens hatte Nicolas absagen müssen.

Er war am späten Nachmittag in die Rue de Verneuil gekommen und hatte dort zu seiner großen Überraschung eine fröhliche Gesellschaft angetroffen. Der ironische Gesichtsausdruck, mit dem Julie ihre Verlegenheit darüber verbarg, dass er so früh auftauchte, missfiel ihm ebenso wie die Ankündigung eines großen Soupers mit einem Dutzend Personen, von denen manche bereits da waren. Sie ließ ihn stehen und lief fröhlich davon, um für einen jungen Mann die Noten umzublättern, der auf dem Fortepiano spielte. Balbastre begrüßte Nicolas, sein übertrieben geschminktes pausbäckiges Gesicht verzog sich ironisch, und seine schwarzen Augen fixierten Nicolas ohne jede Liebenswürdigkeit. Vier Unbekannte, ebenfalls jung, spielten Karten an einem kostbaren Lacktisch aus Coromandel-Holz. Abgesehen von dem Organisten, einem Stammgast des Hauses, war Nicolas der Älteste. Das erfüllte ihn mit Bitterkeit, zugleich warf er sich aber auch vor, wie lächerlich es von ihm war, sich so gekränkt zu fühlen. Für wen hielt er sich eigentlich, dass eine junge Frau in den Zwanzigern, eine Alceste, umgeben von Stutzern, ihn dazu bringen konnte, sich wie ein alter Knacker zu fühlen? Er lehnte sich an ein Fenster. Das Gesicht des jungen Manns am Fortepiano, der auffällig spitze Wangenknochen hatte, beunruhigte ihn wie das verblichene und unscharfe Bild eines Überbleibsels aus der Vergangenheit, das Antlitz eines Ertrunkenen, der aus der Tiefe des Wassers nach oben kommt; es kam ihm bekannt vor, aber er wusste nicht woher. Alles schien sich verschworen zu haben, um ihn zu beunruhigen.

Und im Übrigen, warum hatte Julie ihn nicht ihren Gästen vorgestellt? Auch das verletzte seinen Stolz und verlängerte die Liste der täglichen Kränkungen, unter denen er litt.

Casimir und Julia, die beiden Dienstboten von den kleinen Inseln der Antillen, servierten Säfte, Schokolade mit Macarons und ein köstliches Getränk, das Nicolas in intimeren Situationen durchaus schätzte, eine gelungene Mischung aus Zuckersirup und weißem Rum, dem die Dienerin Bergamottezesten und ein paar Tropfen eines mysteriösen Tranks hinzufügte, deren Geheimnis zu enthüllen sie sich stets mit schallendem Gelächter weigerte.

Wenige Augenblicke nach seinem Eintreffen beobachtete er, wie der junge Mann eine Sammlung von Trinkliedern aus der Tasche seines Anzugs zog. Konnte es sein, dass er so etwas wie Eifersucht verspürte? Julie beugte sich über seine Schulter und warf den Kopf mit einem kehligen Lachen zurück. Sie blickte Nicolas spöttisch an und bedeutete ihm näher zu kommen. Was wollte sie von ihm? Sie richtete sich auf, als er neben ihr stand.

»Monsieur, machen Sie mir eine Eiermilch, mein Mund ist so trocken, dass ich ihn erfrischen muss.«

Sie begleitete ihre Bestellung mit einem kurzen, heftigen Schlag ihres Spitzenfächers, mit dem sie spielte. Diese Geste zerriss Nicolas, der sie als Demütigung empfand, das Herz. Julie hatte sie mit provozierendem Blick und in einem hochmütigen Ton in Gegenwart eines anderen Mannes gemacht. Ganz zu schweigen davon, dass sie damit etwas Intimes zwischen ihnen beiden entwertete, denn diese Eiermilch hatte er zu Beginn ihrer Leidenschaft jede Nacht für sie zubereitet. Er, der sonst so geduldig war, verlor die Selbstbeherrschung und konnte seine Wut nicht länger verbergen.

»Madame, ich werde Ihr Personal von Ihrem Wunsch verständigen. Ich wünsche Ihnen einen guten Abend.«

Sie sah ihn an, mit hartem Blick und krampfhaftem Lächeln. Die übrigen Gäste hatten geschwiegen. Nicolas verbeugte sich und durchquerte den Salon so rücksichtslos, dass er Balbastres Glas umstieß, ohne sich dafür zu entschuldigen. Er warf seinen Mantel über die Schultern, wartete nicht, dass Casimir ihm die Tür öffnete, sondern stürmte die Treppe hinunter und stürzte sich in die Kälte und den Schnee der Rue de Verneuil. Er wusste nicht mehr, wohin er seine Schritte lenken sollte, und trat auf der Fahrbahn verstört von einem Bein aufs andere. In diesem Augenblick tauchte eine Kutsche auf, und er kehrte in die Wirklichkeit zurück.

Sein erster Impuls war, in die Rue de Montmartre zu seinen Freunden zu eilen. Aber er änderte schnell seine Meinung; es war weder ihm noch ihnen zuzumuten, sie spüren zu lassen, dass ihre Gesellschaft für ihn nur ein Notbehelf war, damit sein Abend nicht gänzlich verdorben war. Das hätte nicht der Wertschätzung und Zuneigung entsprochen, die er für sie empfand.

Er blickte auf seine Repetieruhr. Sie war ein Geschenk von Madame Adélaïde, der Tochter des Königs, als Dank für eine Untersuchung, in welcher er Schmuck, der ihr gestohlen worden war, wiedergefunden hatte. Monsieur Caron de Beaumarchais, der Uhrmacher der Mesdames und ihr Faktotum, hatte sie ihm geliefert. Der Bote, ein fröhlicher Mann, war ihm sympathisch gewesen. Er hatte ihm erklärt, wie die Uhr funktioniert, welche die Stunden und die Minuten mit zwei verschiedenen zarten Tönen schlug. Er hatte ihm tausend Ratschläge gegeben: den Deckel nicht zuschlagen, auf dessen Innenseite das feine Porträt der Prinzessin abgebildet war, den Mechanismus langsam aufziehen und die wertvolle Uhr niemals auf dem kalten Marmor liegen lassen. Nicolas hatte sich verwundert nach dem Grund für diese Vorsichtsmaßnahme erkundigt und erfahren, dass das Öl, das diesen Mechanismus am Laufen hielt, durch zu starke Kälte fest werde, was den Stillstand des Räderwerks verursache. Er drückte auf eine Feder: sechs tiefe Schläge und sechs kristallklare Schläge, es war sechs Uhr dreißig abends. Er wartete noch eine Weile an der Ecke der Rue de Beaune und wurde dabei versehentlich von einer Gruppe angeheiterter Musketiere angerempelt, die aus ihrer nahe gelegenen Kaserne kamen.

Er überlegte einen Augenblick, bevor er wusste, wohin er seine Schritte lenken sollte. Nein, er würde seine traurige Gestalt nicht in die Rue Montmartre schleppen. Er hatte schon lange den Wunsch, den neuen aufsteigenden Stern des Théâtre-Français zu hören, Mademoiselle Raucourt. Sie hatte vor einem Jahr in der Rolle der Dido debütiert. Le Mercure und La Gazette hatten von einer Sensation gesprochen. Seit Menschengedenken habe man so etwas nicht erlebt. Sie war noch keine siebzehn und schien wie geschaffen dafür, mit einer von allen zauberhaft genannten Stimme und einem außergewöhnlichen Rollenverständnis eine Ausnahmegestalt zu verkörpern. Er würde sich das Stück anhören, das heute Abend gegeben wurde, das könnte ihn von seinen Sorgen ablenken, und nebenbei dürfte er ein paar pikante oder erbauliche Nachrichten aufschnappen, die am nächsten Tag den Polizeipräfekten erfreuen würden.

Der Schnee hatte sich in Eisregen verwandelt, als er an der dunklen Masse der Wasserpumpe des Pont Royal vorbeiging. Die Laternen des Wegs, der das rechte Ufer des Flusses und die Terrasse der Tuilerien säumte, glänzten, umgeben von einem schwachen Hof, in der Nässe der Umgebung. Mit einem Dauerpassierschein ausgestattet, ließ er sich, nachdem er am Schalter geklopft hatte, vom Concierge der Wache identifizieren. Dieser öffnete ihm brummend das Gittertor, weil er beim Genuss eines Glühweins gestört worden war, dessen Gewürze in seinem weißen Schnurrbart blühten. Sobald er in den Gärten war, bedauerte Nicolas seine Initiative. Weit davon entfernt, ihm den Weg zu erleichtern, führte die Abkürzung ihn in eine unendliche Schneewüste, in der die Wege verschwunden waren. Er dachte bei sich, dass er sich jetzt endgültig die Schuhe ruinieren würde, was ihn umso mehr ärgerte, weil sie wie Filzpantoffeln waren, in denen er stundenlang auf den Beinen bleiben konnte, ohne zu ermüden und ohne dass sie drückten. Den Weg über den Säulengang des Louvre zu nehmen wäre klüger gewesen. In der Stille des Abends hätte er sich ein Bild von den äußeren Verschönerungen machen können, welche die Stadt dort vornahm, indem sie den Platz von den kleinen Verkaufsbuden befreite, die sich seit Ewigkeiten dort angesiedelt hatten. Geplant war, sie, sobald der Boden eingeebnet worden wäre, durch eingerahmte Rasenflächen zu ersetzen. Ohne die Stände hatte man von hier einen schönen Ausblick auf den Point-du-Jour.

Die großen dunklen Gestalten der Statuen dienten ihm als Orientierung, um watend in einer halbwegs geraden Linie bis zum Schalter des Pont-Tournant zu folgen. Am Ende des Wegs stieß er auf den hohen Sockel der Cäsar-Statue von Coustou. Das achteckige Becken befand sich ihm gegenüber, sein Wasser schimmerte leicht in der Dunkelheit. Er musste nach rechts abbiegen, um zu der Passage der Orangerie zu gelangen und das Théâtre-Français zu erreichen. Dieses hatte lange im Jeu de Paume de l’Étoile in der Rue des Fossés-Saint-Germain gespielt. Als das Gebäude 1770 einzustürzen drohte und die im Palais Royal wiedererrichtete Oper den Maschinensaal von Servandoni in den Tuilerien leer zurückließ, zog es in diesen Saal. Nicolas teilte die Meinung zahlreicher Kritiker, welche die Einrichtung dieses provisorischen Theaters nicht für zweckdienlich hielten.

Die Vorstellung würde jeden Moment beginnen. An der Kasse wurde er als alter Stammgast begrüßt. Er fand sich hier immer ein, wenn er Bereitschaft hatte oder wenn Mitglieder der königlichen Familie oder ausländische Herrscher inkognito im Saal waren. Im Foyer wurde seine Aufmerksamkeit auf eine lebhafte Gruppe gelenkt, aus welcher der alte Chorrey, sein Kollege und Zweitältester der Kompanie, mit seiner langen Gestalt herausragte. Er trat näher an ihn heran. Ein Mann mit fahlem Gesicht in einer abgewetzten Sergejacke wurde von zwei Gardes françaises festgehalten, während der Polizist ihn durchsuchte. Er förderte immer neue Funde zutage und legte sie auf den Marmor eines Geländepfeilers.

»Und er behauptet, unschuldig zu sein. Dieser Tagedieb ist ja ein wahrer Hehlerladen im Temple! Ach, da ist ja Le Floch! Sie kommen gerade richtig, mein Freund! Dabei haben Sie doch gar keine Bereitschaft? Sollte ich mich im Dienstplan geirrt haben?«

»Keineswegs, mein Lieber. Ich bin als Zuschauer da.«

»Na, da werden Sie auf Ihre Kosten kommen! Dieser Spitzbube hat sich die Taschen gut gefüllt. Zwei goldene Uhren, eine aus Bronze, einen Double Louis d’or Barbette, sechs englische Guinees, und dann das noch …«

Er näherte die Münzen seinem Gesicht.

»Drei Berner Dukaten, einen Ducato aus Venedig, ein paar alte französische Écus. Man könnte glauben, ganz Europa hat sich heute Abend ein Stelldichein gegeben, um die Raucourt zu bewundern. Jedenfalls bist du reif für die Kette.«

Der Mann zitterte, als hätte er Fieber.

»Holen Sie mir den Oberleutnant der Wachen«, sagte Chorrey zu einem Jungen des Theaters, »und ein bisschen plötzlich.«

Nicolas war überrascht, dass ein alter Polizist, der mehr als vierzig Dienstjahre auf dem Buckel hatte, nicht zwischen einem lieutenant des gardes, das heißt der Leibwache, und einem lieutenant aux gardes, das heißt einem Offizier der Gardes françaises, unterschied. Er machte sich sogleich Vorwürfe wegen seines Urteils, da ihm klar wurde, dass sein Kollege nicht wie er bei Hof verkehrte und mit dessen Feinheiten nicht vertraut war. Der Oberleutnant erschien; mit arrogantem Gesichtsausdruck hörte er Chorrey zu, der ihm nahelegte, den Schuldigen zu übernehmen und die Nachtwache zu verständigen, damit sie ihn abholte und ins Châtelet brachte. Dann wandte er dem Offizier abrupt den Rücken zu und zog Nicolas in den Saal.

»Dieser Ganove bringt mich zur Verzweiflung; seine Geburt hindert ihn vermutlich daran, höflich zu sein. Es ist schon ein Kreuz, dass man sich die Kränkungen eines Boudoir-Emporkömmlings gefallen lassen muss!«

Sie nahmen in einer Loge auf der linken Seite Platz, von der aus man den ganzen Saal überblicken konnte, dessen eigenartige Form an seine ursprüngliche Bestimmung erinnerte. Mit dem Geräusch raschelnder Stoffe und unter dem Knacken des Fußbodens füllte er sich nach und nach im Halbdunkel.

»Ach, der Prince de Conti ist auch wieder da. Dieser alte Schlawiner. Die Neue hat es ihm wirklich angetan. Sie fehlt noch in seiner Sammlung!«

»Tja, die minderjährigen Mädchen der königlichen Theater sind eine leichte Beute«, sagte Nicolas. »Sie genießen, wie Sie wissen, ein ganz besonderes Privileg. Sie sind der väterlichen Autorität entzogen, und diejenigen unserer Beaus, die sie aushalten, sind von jeder Verfolgung befreit.«

»Wem sagen Sie das! Ich habe aufgehört, diejenigen zu zählen, die auf diese Weise angefangen haben und in der Gosse endeten. Für den Augenblick ist sie der Liebling der großen Damen, weil sie so anständig und sittsam wirkt, und sie überhäufen sie mit Schmuck und Kleidern, überglücklich vermutlich, weil sie in diesem seltenen Vogel keine neue Rivalin sehen. Der alte Vater ist übrigens immer da und behält sie im Auge. Wird das von Dauer sein? Warten wir den fünften Akt ab. Nun ja, es ist ein wahres Wunder, so recht geeignet, ihre schärfsten Konkurrentinnen vor Neid erblassen zu lassen.«

»An Erfahrung mangelt es Ihnen wahrlich nicht«, sagte Nicolas. »Mehr als vierzig Jahre, glaube ich?«

»Dreiundvierzig, um die Wahrheit zu sagen. Kein Wunder, dass man abstumpft und abgekämpft ist.«

»Aber wie viele Abenteuer! In unserem Beruf wird einem nie langweilig.«

»Na ja, kommt drauf an«, sagte Chorrey und kratzte sich unter der Perücke. »Mir ist die Verbrecherjagd immer lieber gewesen als die langweilige Büroarbeit. Am Anfang meiner Karriere beauftragte man mich immer mit Hausdurchsuchungen, Tag und Nacht. Ich habe sie schon sehr bald gegen Ermittlungen und Überwachungen von Wucherern, Betrügern und Geldverleihern eingetauscht, bevor die Pfandleihe aufmachte. Der übelste Abschaum, das können Sie mir glauben!«

»Das ist alles Routine!«, sagte Nicolas. »Sie haben doch sicher sehr viel ungewöhnlichere Dinge erlebt?«

»Ja, gewiss. 1757 hat der Polizeipräfekt, der würdige Vorgänger von Monsieur de Sartine …«

»Der Sie sehr schätzt.«

Chorrey errötete bei dem Kompliment.

»Das freut mich sehr. Ich sagte also, dass ich mich 1757 krumm gemacht habe, als ich die Gegend von Arras und Saint-Omer und die gesamte Provinz Artois durchquerte, um die Verwandtschaft von Damiens, dem Mörder des Königs, ausfindig zu machen und zu befragen. 1760 hielten mich endlose Diebstahlsserien in den Theatern pausenlos auf Trab. Das führte mich zu einem Lager gestohlener Gegenstände in Briare: bergeweise Börsen, Netze, Uhren, Tabakdosen und Münzen aller Art. Und letztes Jahr schließlich habe ich eine Kompanie Grenadiere aus Enghien, die in Bouillon stationiert war, begleitet, um Druckereien und Buchhandlungen nach verbotenen Büchern zu durchsuchen.«

»Ein wahres Kreuz, das wir da zu tragen haben, diese ständige Suche nach der Nadel im Heuhaufen!«, sagte Nicolas seufzend.

Die Rampe leuchtete auf, und die drei Schläge unterbrachen ihr Gespräch. An diesem Abend wurde Athalie von Racine gegeben. Da Nicolas diese Tragödie bestens kannte, richtete er seine ganze Aufmerksamkeit auf die Schauspieler. Er war fasziniert von der Physiognomie der jungen Mademoiselle Raucourt, doch die Schauspielkunst ihres Partners, Lekain, überzeugte ihn weit mehr. Man vergaß als Zuschauer vollkommen, dass er unbeschreiblich hässlich war Er stellte die Figur des Heerführers der Könige von Juda, Abner, perfekt dar. Umgekehrt schien ein Teil des Publikums Mademoiselle Raucourt übelzunehmen, dass sie eine Rolle übernommen hatte, in der zuvor Mademoiselle Dumesnil und die Clairon geglänzt hatten. Die Berichte der Spitzel der Polizeipräfektur wiesen schon seit Wochen auf eine immer höhere Wellen schlagende Intrige hin, die von Mademoiselle Vestris, selbst Mitglied des Théâtre-Français, inszeniert wurde. Sie gehörte einer berühmten Tänzerdynastie an und wurde vom Duc de Choiseul, der immer im Exil in Chanteloup weilte, seit er in Ungnade gefallen war, und vom Duc de Duras protegiert. Diese hochrangigen Beziehungen bestärkten sie in ihrer Selbstgefälligkeit und verliehen ihr genug Macht, Rivalen zu schaden.

Plötzlich hörte man das Miauen einer Katze. Ob sie zum Theater gehörte oder unbemerkt eingedrungen war, die Wirkung des Schreis dieser Katze war jedenfalls erstaunlich; die Schauspieler unterbrachen fassungslos die Aufführung, und die jüngsten Mitglieder des Chors wurden von einem Lachkrampf geschüttelt, der sich augenblicklich aufs Publikum übertrug. Der Höhepunkt wurde erreicht, als ein junger Mann im Parkett mit näselnder Stimme laut rief: »Ich wette, das ist die Katze von Mademoiselle Vestris.« Die Heiterkeit breitete sich wie eine Welle im Saal aus. Lekain nahm von sich aus den Faden wieder auf und brachte das Publikum zum Schweigen, als ein weiterer Zwischenfall die Vorstellung erneut unterbrach. Ein Mann war von seinem Parkettsitz aufgestanden und hatte sich über die Rampe auf die Bühne geschwungen. Dort stieß er die Schauspieler, die ihn von der Bühne entfernen wollten, zurück und erklärte, sein Name sei Billard und er sei nach Paris gekommen, um dort ein eigenes Stück mit dem Titel Der Verführer zu präsentieren. Er behauptete, dieser Text sei von zahlreichen Leuten mit Geschmack gelobt, von den Schmierenkomödianten dieses Theaters jedoch abgelehnt worden. Der Saal, amüsiert von dieser zweiten Einlage, hörte ihm mit einer Aufmerksamkeit zu, die ihn ermutigte fortzufahren.

Er habe es satt, durch immer neue Ablehnungen ständig zurückgewiesen zu werden, und ihm bleibe daher nichts anderes übrig, als dieser Truppe offen den Krieg zu erklären. Er würde ihren schlechten Geschmack anprangern, ihren Mitgliedern im Allgemeinen und jedem im Besonderen die Pest an den Hals wünschen und sich rühmen, nicht mehr von solchen Richtern abhängig zu sein. Er appellierte an das versammelte Parkett, ihn doch seine Komödie vorlesen zu lassen. Sollte es sie für würdig erachten, würde er diesen »unwürdigen Areopag«, wie er die Theaterleitung nannte, zwingen, sie zu akzeptieren.

Man wollte ihn daran hindern, seine Ankündigung wahr zu machen. Er fuchtelte wild mit seinem Degen herum, der ihm sehr schnell von einem Garde français entrissen wurde. Eine wirre Masse von Soldaten und Angestellten des Theaters schleppte ihn gewaltsam ins Foyer.

Die Vorstellung wurde augenblicklich fortgesetzt, um den Tumult so schnell wie möglich vergessen zu machen, doch aus dem Parkett stieg ein einstimmiger Schrei auf, der nach dem Autor rief. Der Lärm wurde immer stärker, die Gardes françaises kehrten zurück und verhafteten mehrere Zuschauer in einem heftigen Handgemenge und gegen den Widerstand anderer Theaterbesucher. Es herrschte ein unbeschreibliches Chaos.

Nicolas eilte Kommissar Chorrey hinterher, der, rot vor Aufregung, wie ein Blasebalg schnaufte. Sie kamen ins Foyer, wo sie den Sonderling vorfanden, der auf einem Stuhl stand und feixenden Wachmännern sein Stück vorlas. Als die Nachtwache eintraf, wies Chorrey den Beamten an, den Mann nach Charenton zu bringen, zu den Verrückten, um mehr zu erfahren. So bestürzend diese Ereignisse auch waren, halfen sie dem gekränkten Nicolas doch, seine Wut und seinen Groll zu vergessen. Er hielt seine Anwesenheit nicht länger für notwendig, da er keine Lust hatte, Mademoiselle Raucourt weiter zuzuhören, die, wie ihm schien, mit gewissen wenig natürlichen Klangeffekten das Verführerische ihrer Erscheinung und der Anmut ihres Spiels verdarb. Tatsächlich zerstörte sie mit ihrer rauen exzessiven Deklamation zuweilen auch die Musik der Verse. Er verabschiedete sich von Chorrey, der ihm das Versprechen abnahm, sobald wie möglich zum Abendessen in seine kleine Wohnung in der Rue Maquignonne zu kommen, in der Nähe des Pavillons der Polizei des Pferdemarkts. Nicolas erinnerte sich, dass er in seiner Lehrzeit vor etwa zwölf Jahren der Einweihung dieses eleganten Gebäudes durch Monsieur de Sartine beigewohnt hatte. Und ihm fiel auch wieder ein, dass Chorrey von seinem Vater, einem Pferdehändler, ein nicht unbeträchtliches Vermögen geerbt hatte.

Die feuchte Kälte der Nacht brachte seine Angst zurück. Nicolas spürte entsetzt, dass ihn das Dauerproblem seiner Jugend wieder heimsuchte, diese Unfähigkeit, eine Vorstellungskraft im Zaum zu halten, die, sich selbst überlassen, zu delirieren begann und keinen einzigen der Wege, die sich anboten, außer Acht ließ. Dann quälte ihn seine Manie so lange, bis die Untersuchung mit all ihren Schlenkern beendet war. Er machte sich diese Überreiztheit des Geistes, die er vergeblich zu verscheuchen versuchte, zum Vorwurf. Bei der geringsten Unausgeglichenheit, der geringsten Verärgerung kehrte sie mit großen Schritten zurück. Was tat er nicht alles, um Wege zu finden, auf denen das Drama auf sein normales Maß reduziert wurde, und das Glück, diesen flüchtigen Augenblick, ohne große Umstände anzunehmen. Monsieur de Noblecourt, dieser perfekte Ehrenmann, hatte ihm Genesung versprochen: Die Weisheit würde mit dem Alter und der Abkühlung der Leidenschaften kommen.

Nicolas überdachte noch einmal mit gespielter Gleichgültigkeit die heutige Situation. Wieso denn aus der Laune einer Frau ein Drama machen! Und obendrein einer alleinstehenden Frau, mit einem Liebhaber, den seine Aufgaben die meiste Zeit von ihr fernhielten, eitel wie ihre Geschlechtsgenossinnen, empfänglich für die Schmeicheleien müßiger junger Männer und vielleicht ermuntert, in ihm die Eifersucht zu wecken, die allein ihr erlaubte, die Ernsthaftigkeit seiner Zuneigung zu ermessen. Und er, der Herr und Meister, tobte bei der ersten Provokation gleich los und bauschte zum Drama auf, was eigentlich nur ein kleiner Streit sein sollte, um eine aufrichtige Leidenschaft wiederzubeleben. Er beschloss, Julie mit seiner unvermuteten Rückkehr zu überraschen, und rasch entflammte ihn der Wunsch, sie wiederzusehen. Er hielt einen Fiaker in der Rue Saint-Honoré an, der ihn durch ein leeres und durch die Kälte erstarrtes Paris in die Rue de Verneuil brachte. Er bezahlte die Fahrt so großzügig, dass der überraschte Kutscher ihn mit Monseigneur anredete.

Er blickte hoch. Die Fenster der Wohnung von Madame de Lastérieux waren immer noch erleuchtet, und er sah Schatten tanzen. Seine Glut kühlte ab; er hatte sich eine leere und dunkle Wohnung vorgestellt, in der seine Geliebte niedergeschlagen über seinen vorzeitigen Aufbruch war. Aber er wollte die Hoffnung auf eine schöne Versöhnung noch nicht aufgeben und trat ins Haus. Als er im ersten Stock war, öffnete er die Tür mit seinem Schlüssel. Lautes Gelächter und das Aneinanderschlagen von Kristallgläsern empfingen ihn. Die Enttäuschung schnürte ihm das Herz ab. Was für ein Irrtum zu glauben, sein überstürzter Aufbruch hätte das Fest vorzeitig beendet!

Casimir erschien mit einem Tablett. Nicolas drückte sich in eine dunkle Ecke. Der Domestik kam, die Arme voller Flaschen, aus der Küche. Nicolas fiel, nicht ohne Schadenfreude, in einer ungewohnten Anwandlung kleinlicher Rache die wertvolle Flasche alter Tokaier aus Ungarn wieder ein, die er teuer von dem Maître d’hôtel des österreichischen Botschafters erworben hatte. Dieser Schlawiner besserte sein Gehalt auf, indem er mit Wein aus seinem Land handelte, den sein Herr in seinem Gepäck mitbrachte, und versorgte im Übrigen Monsieur de Sartine mit interessanten Informationen. Julie war ganz versessen auf diesen Wein, den sie zu Trüffeln, Wachteln und der Gänseleberpastete nach Art des Maréchal de Soubise zu kredenzen pflegte. Nicolas beschloss, die Flasche wieder an sich zu nehmen, die er am späten Nachmittag in die Küche gestellt hatte. Zum Glück war sie im Laufe der Schlemmerorgie des Abends noch nicht angerührt worden, vermutlich geschützt von dem dünnen Schleier aus Staub und Spinnennetzen und dem Stapel leer gegessener Platten. Er verbarg die Flasche in der Innentasche seines Mantels, auf diese Weise würde er nicht mit leeren Händen in die Rue Montmartre kommen, in die er sich jetzt doch noch begeben wollte. Als er sich umdrehte, stand er dem jungen Mann, der am Fortepiano gesessen hatte, gegenüber. Er lehnte am Türrahmen und sah ihn spöttisch an. Wo zum Teufel hatte er diesen Blick schon einmal gesehen? Nicolas ignorierte ihn und hätte ihn beinahe umgerannt. Casimir sah überrascht, wie er wie ein Wahnsinniger die Treppen hinunterstürmte.

Er irrte lange durch die Nacht und den Schlamm, an den Kais entlang, hin und wieder von Prostituierten angesprochen, deren zahnlose Münder anzügliche Obszönitäten ausstießen und unanständige Angebote machten. In einer von ihnen, die übermäßig geschminkt war und der die Nase fehlte, glaubte er die alte Émilie wiederzuerkennen, ein Gespenst aus der Vergangenheit, die er einst zum Galgen von Montfaucon geführt hatte, wo sie Fleisch aus den Pferdekadavern zu schneiden pflegte, um daraus Suppe zu kochen. Die Erinnerung an die alte Frau zog ihn in einen Strudel von Bildern und Gesichtern, unter denen wie eine Obsession immer wieder das Gesicht des jungen Mannes aus der Rue de Verneuil auftauchte. Er machte halt, um in einer verräucherten Schenke einen grauenhaften Rachenputzer zu trinken, und nach zahlreichen Umwegen stand er schließlich vor dem Hôtel de Noblecourt in der Rue Montmartre.

In der Küche herrschte die Unordnung einer lebhaften Abendgesellschaft. Lautes Stimmengewirr drang aus der ersten Etage, Worte und Gelächter, aus der die Bassstimme von Guillaume Semacgus herausstach. Als er die halb offene Tür der Bibliothek erreicht hatte, in der wie üblich der Tisch gedeckt worden war, blieb er stehen, drückte seine glühende Stirn an das Holz, dessen Lackgeruch in seine Nase drang, und hörte dem Gespräch seiner Freunde zu.

»Angesichts eines solchen Wunders«, rief Semacgus, »muss man mit der größten Behutsamkeit vorgehen. Ein zu langer Einschnitt würde die Luft draußen eindringen lassen, und der Kontakt mit derjenigen, die entweicht, könnte ein empfindliches Gleichgewicht bedrohen und das Ganze zusammensacken lassen. Das erinnert mich an eine Operation, die ich mitten im Sturm auf offener See vor der Île Bourbon durchführte. Es handelte sich um eine Trepanation, und die Hirnhaut …«

»Pfui! Da kommt der Marinewundarzt zum Vorschein«, sagte Monsieur de Noblecourt. »Was will er uns da beschreiben? Ich fürchte, das passt nicht so recht zu unserem Vergnügen. Was sagen Sie, La Borde?«

»Der König«, erwiderte La Borde, »versteht sich meisterhaft auf diese Art von Operation. Er verbindet Entschlossenheit mit Sanftheit. Wie bei einem Schätzchen, das man lockermachen möchte!«

»Wollen Sie wohl schweigen, Sie böser Bube!«, sagte der alte Staatsanwalt und schluckte. »Es sind Damen anwesend. Ich habe in meinem Alter nicht mehr die nötige Kraft für diese Dinge, und meine Hand zittert.«

»Bei meiner Ehre als Marinewundarzt, das ist eine Antwort, die moralisch sein will und die die Anzüglichkeit der Bemerkung noch verstärkt!«

Bourdeau mischte sich ein.

»Nicolas hätte sie uns im Handumdrehen geöffnet. Jetzt müssen Sie sich dazu durchringen. Zu lange zu warten würde ihrem vorzüglichen Geschmack schaden und die inneren Schichten aufweichen.«

»Ah! Uns fehlt unser Nicolas«, sagte Monsieur de Noblecourt seufzend, »aber er liebt, und zu sehr ist bei ihm, der in Gefühlsdingen so empfindlich ist, noch nicht genug.«

Semacgus schimpfte. »Unser Freund war ein fröhlicherer Gefährte, als er die junge Dame aus der Rue Saint-Honoré frequentierte.«

Alle schwiegen bei der Erwähnung von La Satin, Nicolas’ erster Liebe in Paris; jetzt leitete diese Frau das Etablissement Le Dauphin couronné. Die zarten Bande zwischen ihr und Nicolas hatten sich nie ganz gelockert. Nicolas war überrascht, dass seine Freunde so gut über sein Privatleben Bescheid wussten, aber es tröstete ihn, dass er aus ihren Bemerkungen keine Bissigkeit heraushörte, sondern im Gegenteil den aufmerksamen und nachsichtigen Ausdruck ihrer Zuneigung zu ihm.

»Nun denn«, sagte La Borde, »möge, während wir auf die Rückkehr des verlorenen Sohns warten, die Staatsanwaltschaft ihres Amtes walten. Meine Damen, ans Werk!«

Nicolas hörte Geräusche, die ihn so neugierig machten, dass er einen Blick durch den Türspalt warf. Das Bild, das sich seinem Blick bot, erinnerte ihn an jene, welche die Kunstliebhaber schätzten und jedes Jahr im Salon de Paris bewunderten. Die Ansicht eines von der Außenwelt abgeschlossenen Innenraums, dessen Harmonie den Genuss der Annehmlichkeiten der Natur und der Gesellschaft zu begünstigen schien. Das Licht der schmalen Kerzen erhellte sanft einen bezaubernden Moment vertrauter Privatheit. In diesem schönen Zimmer, in dem drei Wände mit wertvollen Büchern in Bücherregalen aus hellem Holz geschmückt waren, saßen die vier Tischgenossen an einem ovalen Tisch, auf dem ein Tafelaufsatz aus Silber thronte, der Die Entführung der Omphale darstellte. Poitevin reinigte ihn mit pedantischer Sorgfalt und rückte ihn nur widerwillig heraus, wenn ein eingeläutetes Fest oder ein bedeutender Anlass die Zurschaustellung dieses Gegenstandes auf dem Tisch als Monstranz einer großartigen Schlemmerliturgie rechtfertigten. Zwei Leuchter aus dem gleichen Metall flankierten dieses Meisterwerk. La Borde, Semacgus und Bourdeau beobachteten Monsieur de Noblecourt, der sich in seinem schwarzen Anzug und eine große Régence-Perücke auf dem Kopf anschickte, eine eigenartige Zeremonie einzuleiten.

Reglos vor dem Serviertisch stehend, hielt Poitevin eine Flasche in der Hand, die er halb aus einem Weinkühler gezogen hatte; sein Blick war auf eine gewaltige goldbraune runde Pastete gerichtet, die vor seinem Herrn stand. Marion, die am Fenster in einem Lehnsessel saß, das Kinn auf dem Knauf ihres Stocks, schaute fasziniert zu. Wie zwei Leviten, die dem Hohepriester assistierten, hielten Awa, Semacgus’ afrikanische Köchin, und Catherine Gauss ein dünnes Tuch in ihren Händen, das sie nach und nach auf den Kopf von Monsieur de Noblecourt senkten, während dieser sich vorbeugte, um den besten Ansatzpunkt für den Anschnitt der goldbraunen Pracht zu finden. Die Spitze des scharfen Messers drang in die Kruste ein; das Tuch verbarg den Kopf des Opferpriesters. In andächtiger Stille war ein leises zischendes Pfeifen zu vernehmen, dem ein tiefes Einatmen des Staatsanwaltes folgte, begleitet von einem freudigen, fast wollüstigen Seufzen, mit dem ein anerkennendes Murmeln der Anwesenden korrespondierte. Marion, welche diese Meisterleistung vermutlich inspiriert, wenn nicht sogar geschaffen hatte, seufzte ebenfalls zufrieden. Poitevin zog die Flasche heraus und begann einzuschenken. Die beiden Köchinnen falteten das Tuch vorsichtig wieder zusammen, und die Gäste applaudierten der zeremoniellen Handlung, die mit größter Perfektion vollzogen worden war. Mit einer Behändigkeit, die man ihm nicht zugetraut hatte, schnitt der Hohepriester eine runde Öffnung in den Deckel der Pastete und schickte sich an, die Gabel in den Brunnen der Wunder zu tauchen, als Semacgus, der ihn beobachtete, ihn unterbrach.

»Was hatten Sie vor? Sollte Ihnen der Gedanke gekommen sein, im weichen Inneren unter dieser Kruste zu stochern, um die Herrlichkeiten herauszufischen, die sie einschließt? Und was ist mit Ihrer Gicht, Monsieur? Wollen Sie vor der Nase der Medizinischen Fakultät das Feuer eines Humors, der den Charme Ihrer Rede ausmacht und den Ihre Freunde so lieben, allein für das sinnlose Vergnügen einer Naschhaftigkeit löschen, unter der Ihre Hände, Ihre Knie und Ihre Füße tagelang zu leiden haben werden? Zählen der Kummer und das Leid von Marion nicht für Sie, die diese Bastion der Köstlichkeit, die im Sturm zu nehmen Sie sich anschicken wie ein Jüngling, geschaffen hat und die sich die Schuld für Ihre Pein geben wird? Die Folge wird ein Wiederaufflammen Ihres Rheumas sein, dem eine Melancholie folgen wird, für die ich Sie allein verantwortlich mache. War nicht abgemacht, dass Sie, indem wir Ihnen das Privileg der ersten duftenden Dampfwolke, die aus diesem Gericht aufsteigt, überlassen, ein einzigartiges Privileg genießen, nach dem wir uns seufzend sehnen, da wir uns mit der Schwere der Grundprodukte begnügen müssen?«

»Ich würde mich gern mit diesen Grundprodukten beschweren!«

Zerknirscht kitzelte Monsieur de Noblecourt mit der Spitze seiner Gabel die verborgenen Schätze der so begehrten Festung. »Das ist sehr grausam«, murrte er, »und ich bitte um die Gnade, ein winziges Stückchen dieses Schatzes probieren zu dürfen. Ein kleines Stück Trüffel zum Beispiel. Schließlich ist er nur ein Pilz.«

»Keineswegs«, fuhr Semacgus fort, »selbst ein kleines Stück Trüffel hat eine verstopfende Wirkung! Ich rate Ihnen, eher ein Stück Teig zu nehmen, aber selbst das könnte noch zu viel sein.«

»Verflucht sei das Alter, das uns alles nimmt, sei es, dass das Feuer fehlt, sei es, dass der Körper nicht mehr mitmacht. Muss man deswegen auf all diese Köstlichkeiten verzichten, verglichen mit denen die Rezepte unserer Nachbarn sich geradezu armselig ausnehmen und die am ehesten bei den brasilianischen Urvölkern genießbar sind als in einem reinen Klima wie dem unseren, in dem die Sauberkeit, das Feingefühl und der gute Geschmack das Ziel und der Gegenstand unserer beharrlichen Bemühungen sind.«

»Sie können noch so philosophisch argumentieren, Herr Staatsanwalt, wir lassen uns nicht erweichen«, murmelte Semacgus.

Monsieur de Noblecourt ließ sich genüsslich die Beute schmecken, die er sich hart erkämpft hatte, während Catherine die dampfende Festung in vier Stücke schnitt.

»Und warum vier Stücke?«, fragte er erstaunt. »Hast du etwa vergessen, dass ich gerade dazu verdammt wurde, nicht davon zu kosten?«

»Ja, ja«, sagte Marion im gleichen Ton. »Da zeigt sich der Kirchenvorstand von Saint-Eustache, der den Teil für die Armen vergisst! Und wenn ich eine Portion für Nicolas aufheben will? Auf einer Ecke des Herds, der Teller halb abgedeckt, bleibt er schön warm, ohne allzu trocken zu werden. Das ist eine schöne Stärkung für ihn nach dem ständigen Hin-und-her-Gerenne.«

»Das ist zu viel für einen Undankbaren, der in letzter Zeit häufig unseren Schlemmermahlen fernbleibt«, protestierte Semacgus.

Monsieur de Noblecourt warf ihm einen strengen Blick zu.

»Sind Sie denn nie jung gewesen? Und haben wir nicht alles versucht, was in unseren Kräften stand, um ihn besser zu verstehen und zu unterstützen in einer Situation, von der ich annehme, dass sie schmerzhaft für ihn ist?«

Um vom Thema abzulenken, ergriff Marion errötend das Wort.

»Wenn der Herr Staatsanwalt befiehlt, werde ich mein Rezept preisgeben.«

Die alte Köchin blickte Monsieur de La Borde von der Seite an.

»Ich muss als Erstes sagen, dass ich das Rezept von dem Herrn hier habe.«

Die Rufe der Gäste übertönten ihre Stimme, und der Erste Kammerdiener des Königs bedeckte sein Gesicht mit der Serviette, um eine gespielte Verlegenheit zu verbergen. Seine Stimme nahm einen kläglichen Ton an.

»Ich bin einfach nur bestrebt, das asketische Leben unseres Gastgebers aufzuheitern. Und im Übrigen ist das keineswegs mein Rezept. Es stammt von Seiner Königlichen Hoheit Louis-Auguste de Bourbon, Fürst von Dombes und Gouverneur des Languedoc.«

»Donnerwetter«, sagte Bourdeau spöttisch. »Ein Enkel des Großen Bourbonen, ein Mann, der sich vor allem in Malta und im Kampf gegen die Türken verdient gemacht hat!«

Der Staatsanwalt fügte eine weitere leicht spöttische Bemerkung hinzu, dass hier ein Festschmaus noch mit Berichten von Heldentaten gewürzt werde.

Marion ließ sie lächelnd scherzen und nutzte ein kurzes Schweigen, um das Wort zu ergreifen, ungeduldig, ebenfalls eine Rolle bei dieser Feier zu spielen.

»Ich brauche einen sehr dünnen Mürbeteig«, begann sie, »den ich im Kühlen ruhen lasse. Ich bereite eine Farce aus Gänseleber mit viel geriebenem Speck, Petersilie, Frühlingszwiebeln, Champignons und gehackten Trüffeln zu. Je länger sie durchziehen, desto intensiver der Geschmack. Ich öffne ein paar Dutzend grüne Austern aus Cancale, blanchiere sie in ihrem Wasser und lasse sie über einem Sieb abtropfen, um die Flüssigkeit zu bewahren. Dann streiche ich die Füllung auf den Boden der Form, darauf kommt eine Schicht Austern, und das wiederhole ich mehrmals. Das Ganze bedecke ich mit ausgerolltem Teig, den ich mit Eigelb bestreiche. Wenn der Ofen schön heiß ist, stelle ich die Pastete hinein und lasse sie so lange drin wie nötig. Die Flüssigkeit meiner Austern koche ich ein und füge zwei Stück Butter aus Vanvre hinzu, die ich mit sehr klein gehackten Kräutern habe schmelzen lassen. Diese Sauce …«

Sie deutete auf eine Sauciere aus Silber.

»… wird mit Zitronensaft abgeschmeckt. Das ist Geschmacksache, aber ich finde, das ist ein gutes Mittel, um die Farce zu befeuchten und den Austern ihre Natürlichkeit zurückzugeben, die in dieser pikanten Sauce aufblüht.«

»Und wie heißt dieses Wunderwerk?«, erkundigte sich Noblecourt, dem die Augen vor lauter Gier aus den Höhlen traten. »Ich wusste gar nicht, dass Marion sich so gut darauf versteht, die Handgriffe ihres Berufs so poetisch zu schildern.«

»Undankbarer!«, sagte Semacgus. »Jetzt erst entdeckt er sie, obwohl sie schon seit vierzig Jahren in seinen Diensten steht!«

»Dreiundvierzig, um genau zu sein«, korrigierte Marion ihn bescheiden. »Aber um Monsieur zu antworten, das ist eine gefüllte Pastete mit grünen Austern. Ich füge hinzu, dass das Geheimnis ein Mürbeteig ist, der so lange geknetet wird, dass er fast wie ein Blätterteig wirkt, in der Form aber fest genug ist, um die ganze Füllung zu halten.«

»Man isst sie tatsächlich zweimal«, sagte La Borde lächelnd, »wenn man Ihnen zuhört.«

»Ich frage mich«, sagte Semacgus, »ob nicht schon das Anhören dieses Berichts die Gicht bei unserem Gast wieder aufleben lässt.«

Alle brachen in Gelächter aus. Nicolas hörte ihnen traurig und zugleich glücklich zu. Es war ein komisches Gefühl, diesem Fest beizuwohnen, ohne dass seine Freunde etwas von seiner Anwesenheit ahnten. Er brachte es nicht fertig, die Tür zu öffnen und die Schwelle zu überschreiten und im Licht der Bibliothek zu erscheinen. Er war fiebrig und fröstelte. Widersprüchliche Gefühle bedrückten ihn: die Traurigkeit, die aus einer Art Sehnsucht nach einer Vergangenheit rührte, die nicht zurückkehren würde, und das Bedürfnis nach einem tiefen Schlaf, der ihm Vergessen schenken würde. Er versuchte sich wieder in den Griff zu bekommen, indem er seine Aufmerksamkeit auf die Unterhaltung konzentrierte, die munter weiterging.

»Seine Majestät«, sagte La Borde, »hat lange Zeit seine Gäste bei den Soupers in den kleinen Gemächern bekocht und bedient. Nicolas könnte es bestätigen, wenn er bei uns wäre. Der König hat ihm einmal einen Teller Hühnerflügel serviert, hocherfreut, dass der kleine Ranreuil, wie er ihn zu nennen pflegt, seine Vorliebe für dieses schmackhafte Fleisch teilte.«

»Wie geht es dem König?«, erkundigte sich Noblecourt mit ernster Stimme.

»Gut und schlecht zugleich. Er spielt den jungen Mann, obwohl er schon die Erschöpfungszustände des Alters spürt, das ihn besiegt.«

»Na, na, ich bin zehn Jahre älter als er, und ich fühle mich …«

»Wie ein Mann, den seine Freunde vor den Versuchungen und den Unbesonnenheiten schützen, die sehr viel Rüstigere umbringen würden«, unterbrach ihn Semacgus.

»Da haben wir den Scheinheiligen, der sich berechtigt glaubt, darüber zu sprechen!«

»Ich zwinge mich selbst seit Jahren dazu, Monsieur le Procureur, mich an jene Vorsichtsmaßnahmen zu halten, die es mir erlauben, das Leben so lange wie Sie, hoffe ich, in guter Kondition zu genießen.«

»Das ist ja gerade das Problem«, sagte La Borde, »der König ist unvernünftig. Und die Jugend, die ihn umgibt, nutzt das aus. Madame du Barry reizt ihn mit ständigen Provokationen und schürt seine letzte Glut. Sie ist nicht die Pompadour und hat keine politischen Ambitionen, aber sie stellt ihren Einfluss in den Dienst derjenigen, die ihr einreden, welche zu haben.«

»Sie meinen, die sie anstacheln«, sagte Bourdeau seufzend.

Diese Anspielung auf den Ersten Minister den Duc d’Aiguillon, wurde mit Applaus bedacht. La Borde seufzte.

Nicolas erinnerte sich, dass sein Freund sich jüngst mit der Guimard überworfen hatte, der Maitresse, die er sich mit dem Prince de Soubise teilte. Dieser hatte die Beendigung einer Situation, die alle befriedigte, verlangt unter dem Vorwand, dass der Erste Kammerdiener des Königs die Schauspielerin mit einer Geschlechtskrankheit angesteckt hatte, die diese dem Prince weitergegeben hatte, der sie auf die Comtesse de l’Hospital übertragen hatte, und diese wiederum auf weiß der Teufel wen, eine Kette von Ursachen und Wirkungen, die sich in der Komplexität der Liaisons der Stadt und des Hofes verlor. La Borde hatte Nicolas anvertraut, dass er sich auf Rat des Maréchal de Gontaut-Biron, Oberst der Gardes françaises, mit den Dragees zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten eines Scharlatans namens Keyser beholfen hatte, ein Mittel, das der alte Soldat an den Männern seines Regiments erprobt hatte, welche die Stadt verdorben hatte.

»Stimmt es«, fragte Noblecourt, »dass Madame du Barry für zwanzigtausend Livres in bar einen van Dyck gekauft hat, ein ganzfigürliches Porträt von Karl I. von England, das sie gegenüber dem des Königs aufgehängt haben soll, um ihn damit an das Schicksal zu erinnern, das ihm drohen würde, sollte er den Parlements nachgeben!«

»Ich weiß nicht, ob diese Erklärung wirklich stimmt. Jedenfalls habe ich dieses Porträt häufig bei der Favoritin bewundert. Es ist vielleicht ein Einfall von d’Aiguillon, der auf diese Weise der Vorliebe meines Herrn für alles Morbide schmeicheln wollte. Wie auch immer, sein Anblick bereitet mir jedes Mal Unwohlsein. Denn der König ist geschwächt. Er braucht jetzt eine Trittleiter, um in den Sattel zu steigen. Er zieht in Erwägung, sich der Erfindung des Comte d’Eu zu bedienen, der, da er sich bei der Jagd nicht mehr bewegen kann, einen besonderen Wagen benutzt, der ihm dieses Vergnügen erleichtert. Der Graf dreht sich auf einem Drehzapfen, sodass er schnell alle Kehrtwendungen mitmachen kann, die die Bewegungen des Wildes erfordern. Und dauernd diese düsteren Gedanken.«

»Mein Freund, der Maréchal de Richelieu«, fuhr Noblecourt fort mit einem leichten Anheben seiner Perücke, womit er die Nennung dieses illustren Namens würdigen wollte, »hat mir erzählt, dass im letzten November, während einer Partie Whist, der Marquis de Chauvelin, da er sich nicht wohlgefühlt habe, sich auf den Sessel der Maréchale de Mirepoix gelehnt und gescherzt habe. Plötzlich habe Seine Majestät eine Veränderung seines Gesichtsausdrucks bemerkt. Und im selben Augenblick fiel de Chauvelin tot zu Boden.«

»Das stimmt«, erwiderte La Borde. »Alle Versuche, ihn wiederzubeleben, waren vergeblich. Seine Majestät hat dieses Erlebnis sehr erschüttert, umso mehr, als sein alter Freund erst siebenundfünfzig gewesen war. Danach hat der König sich, beunruhigt wegen einiger gesundheitlicher Probleme, seinem ersten Wundarzt anvertraut, den er sehr schätzt. Er hat ihm seine Ängste hinsichtlich seines schlechten Gesundheitszustands mit folgenden Worten geschildert: ›Ich erkenne sehr wohl, dass ich nicht mehr jung bin und dass ich bremsen muss.‹ ›Sire‹, erwiderte La Martinière, ›noch besser wäre es abzuschirren.‹«

Langes Schweigen trat ein, in dem jeder damit beschäftigt schien, sich den Ernst und die Folgen dieser Bemerkung bewusst zu machen. Nicolas spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Ja, dachte er bei sich, das sind die Folgen dieses verrückten Herumlaufens in der eiskalten Nacht. Plötzlich rutschte er zu Boden, und die ehrwürdige Flasche Tokaier glitt aus seiner Hand und zerbrach. Cyrus, der alte Malteser, der zu Füßen seines Herrchens vor sich hin döste, richtete sich bei diesem Lärm auf und fing an, laut zu jaulen. Alle Gäste und Bediensteten stürzten los unter dem erschrockenen Blick von Monsieur de Noblecourt, der bleich und zitternd versuchte, sich aus seinem Sessel zu erheben.

II

Verdächtigungen

Ritter, antwortet der Ritter, ich sehe, dass ich von meiner Schande und meinem Schmerz sprechen muss … um meine Loyalität zu beweisen.

BUCH VOM GRAL

Freitag, den 7. Januar 1774

Durch die Nebelschleier, die alles einhüllten, konnte Nicolas kaum die Gesichter der drei alten Knacker erkennen, die mit dem Haupt wackelten und einen vierten beobachteten, der, den Kopf mit einer Serviette bedeckt, unverständliche Worte von sich gab. Eine kleine Alte, deren Gesichtszüge unter dicken schwarzen Spitzen verschwanden, teilte mit einem Gegenstand, der wie eine Hippe aussah, einen Dreikönigskuchen. Nachdem jeder bedient worden war, kauten alle etwas mühselig ihren Anteil am Festschmaus. Gelegentlich sprachen sie kurze und undeutliche Worte. Plötzlich stieß diejenige, deren Kopf noch immer verborgen war, einen kurzen Schrei aus, steckte ihre Hand unter das Tuch und holte eine schwarze Bohne hervor. Nicolas fragte sich, was diese Szene zu bedeuten hatte, als die alte Frau mühsam aufstand und mit ihrer behandschuhten Hand eine Krone nahm, die sie zu ihrem Schädel hob, während die Serviette herunterfiel. Er erbebte vor Entsetzen beim Anblick des gekrönten Totenkopfes, der ihn aus leeren Augenhöhlen anstarrte. Die Alte schob ihre Spitzen zur Seite, und er stellte mit einem Gefühl heftiger Angst fest, dass ihr abgemagerter Körper, als gehörte er nicht dazu, den reizenden und gepuderten Kopf von Madame du Barry trug. Er schrie und schloss die Augen, um dieses Bild zu verscheuchen.

»Halten Sie ihn fest, Bourdeau. Er bewegt sich so heftig, dass er fallen wird.«

»Ihn plagt ein Albtraum.«

Semacgus fühlte Nicolas den Puls und legte die Hand auf seine Stirn.

»Das scheint ganz so. Das Fieber ist gesunken, und der Puls wird wieder normal. Kräuter wirken Wunder bei so heftigen Anfällen. Ich freue mich jeden Tag von Neuem, dass ich mir vor meiner Abreise aus Saint-Louis große Vorräte davon besorgt habe.«

»Er schläft aber auch schon zwölf Stunden«, sagte Bourdeau. »Es ist gleich ein Uhr nachmittags.«

Er hatte einen raschen Blick auf eine große Messinguhr geworfen und fuhr fort:

»Glauben Sie, er ist stark genug, um die Nachricht zu ertragen?«

»Zweifellos. Die Situation ist so, dass er nicht bewusstlos bleiben kann, und im Übrigen haben Sie ja selbst darauf bestanden, ihn zu wecken.«

»Was wollen Sie, Semacgus, Monsieur de Sartine will ihn so schnell wie möglich sehen und verlangt, dass er zu ihm ins Hôtel de police kommt. Allerdings frage ich mich, ob wir es Sartine überlassen sollten, ihm die Wahrheit zu sagen.«

»Das ist ein größeres Risiko als das, was wir ihm ersparen wollen. Und wir sind ein bisschen brutal. Mir wäre doch daran gelegen, dass wir Monsieur de Noblecourt bitten, damit er mit seiner gewohnten Klugheit und Ruhe mit ihm spricht.«

»Zu Ihren Diensten«, sagte der Staatsanwalt hinter ihnen, außer Atem, weil er die kleine Treppe hinaufgestiegen war, die zu Nicolas’ Gemächern führte. »Lassen Sie mich mit ihm allein, aber tun Sie mir vorher noch den Gefallen, den Sessel da an sein Bett zu rücken.«

»Er öffnet die Augen«, sagte Bourdeau. »Wir lassen Sie mit ihm allein.«

Nicolas kam zu sich, und die Umrisse des vertrauten Ortes führten ihn in die Wirklichkeit zurück. Die ernste Miene des alten Staatsanwaltes erschreckte ihn. Er erinnerte sich an den Gesichtsausdruck des Stiftsherrn Le Floch, als dieser ihm vor vielen Jahren mitgeteilt hatte, dass er Guérande endgültig verlassen müsse. Ebendiese Beunruhigung und diese liebevolle Aufmerksamkeit erkannte er jetzt auch in den Gesichtszügen, die sich über ihn beugten.

»Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen, Nicolas.«

»Habe ich lange geschlafen?«

»Länger, als Sie denken. Es ist Freitag und bald zwei Uhr nachmittags. Sie hatten gestern Abend an der Tür meiner Bibliothek das Bewusstsein verloren. Ihre Freunde haben Sie im Tokaier liegend gefunden, von dem man einen besseren Gebrauch hätte machen sollen.«

»Der süße Wein war ein Geschenk für Sie, mit dem ich mich für mein Fernbleiben von der Feier entschuldigen wollte. Mir war bewusst, wie undankbar ich mich Ihnen gegenüber verhalten habe.«

»So etwas gibt es zwischen uns nicht. Sie sind hier zu Hause. Der Wind der Rue Montmartre befreit. Ich erinnere mich, Ihnen, als Sie in dieses Haus einzogen, gesagt zu haben, dass es eine Dependance der Abbaye de Thélème sei, in der die Freiheit und die Unabhängigkeit verehrt wurden.«

Er begleitete seine Worte mit einem Nicken. Der geistreiche Mund ließ ein leichtes Lächeln erkennen, während sich die kräftige und gerötete Nase vor Zufriedenheit in Falten legte. Er fuhr fort:

»Also, was ist Ihnen passiert? Ihr Anzug stank nach billigem Schnaps. Er war dreckig und schlammig wie das Fell eines jungen Hundes, der sich auf dem Quai Pelletier verirrt. Sind Sie so viel herumgelaufen, Monsieur le Commissaire, weil Sie in einem Zustand sind, den man an Ihnen nicht kennt und der so gar nicht zu der Würde Ihres Amtes passt?«

»Sie haben leider nur allzu recht«, sagte Nicolas, der sich wie ein Schüler vor seinem Lehrer fühlte, »und ich werde Sie nicht mit dem Bericht über meinen Abend langweilen.«

Monsieur de Noblecourts Augen blickten ihn mit jenem Scharfsinn an, der ihn ausgezeichnet hatte, als er sich noch an Kriminaluntersuchungen beteiligt hatte.

»Kurz und gut«, sagte Nicolas mit erloschener Stimme, »ich bin in die Rue de Verneuil zu Madame de Lastérieux gegangen, wo ich zum Abendessen mit ihr verabredet war. Da sie es mir gegenüber an Achtung hat fehlen lassen, bin ich wieder gegangen. Ich begab mich zum Théâtre-Français, wo ich mir den ersten Akt von Athalie angesehen habe … Wieder beruhigt, beschloss ich, zu Julie zurückzukehren, aber die Fröhlichkeit, die dort herrschte, führte mir meinen Irrtum vor Augen. Gekränkt und wütend, bin ich durch Paris geirrt, bevor ich in die Rue Montmartre zurückkehrte, wie der verlorene Sohn.«

»Sie haben sich in der Tat wie ein dummer Junge aufgeführt, Sie, ein gestandener und erfahrener Mann. Haben Sie im Theater Bekannte getroffen?«

»Ja, meinen Kollegen, den diensthabenden Kommissar Monsieur Chorrey.«

Nicolas hatte geantwortet, ohne nachzudenken, doch plötzlich wurde ihm bewusst, dass Monsieur de Noblecourt ihn befragte, als erkundigte er sich nach dem Alibi eines Verdächtigen.

»Monsieur, darf ich Sie fragen, warum Sie mir diese Frage stellen?«

Der Staatsanwalt strich sich mit der bleichen Hand eines Prälaten über seine Hängebacken.

»Ihr Urteilsvermögen kehrt zurück, Nicolas. Ich habe eine schlimme Nachricht für Sie. Ich würde verstehen, wenn diese Sie erschüttert, aber ich bitte Sie, einen kühlen Kopf zu bewahren, den Sie in den nächsten Stunden dringend brauchen werden.«

»Was bedeuten diese Worte, Monsieur?«