Commissario Tasso stochert im Nebel - Gianna Milani - E-Book

Commissario Tasso stochert im Nebel E-Book

Gianna Milani

0,0
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: Lübbe
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Verschneite Berglandschaften. Der Geschmack von Kastanienherzen. Und ein verschwundener Polizeichef

Als der Bozener Polizeichef Bruno Visconti im Januar 1963 nicht zum Dienst antritt, ahnt sein alter Freund und Kollege Commissario Tasso Schlimmes. Bei der Untersuchung von Viscontis Wohnung am Obstplatz in Bozen findet Tasso Hinweise auf eine Entführung. Aber wer hätte seinen Chef entführen sollen? Südtiroler Separatisten? Neo-Faschisten? Ein ausländischer Geheimdienst? Bald schon stellt Tasso fest, dass die Gründe für dieses Verbrechen weiter zurückreichen, als er sich je hätte vorstellen können. Und zu allem Unglück ist er erneut auf die Hilfe von Mara Oberhöller angewiesen. Dabei hatte er sich geschworen, die junge Frau nie wieder auf einen Außeneinsatz mitzunehmen ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumIl Passato – Die VergangenheitEinige Personen, denen Sie vielleicht begegnenProlog, in welchem Falko bei einer wichtigen Aufgabe beinahe versagt hätte1. Kapitel, in welchem Tasso gar nicht einmal so schlechte Laune hat – für einen ersten Arbeitstag mit einsetzendem Schneefall2. Kapitel, in welchem Mara einer süßen Verführung erliegt3. Kapitel, in welchem Falko beginnt, sich selbst Fragen zu stellen – und sich redlich bemüht, die von Bruno Visconti nicht zu beantworten4. Kapitel, in welchem Tasso eine Krise bekommt, weil es (k)eines Krisenstabs bedürfte5. Kapitel, in welchem Mara Tasso davor bewahrt, wegen Zechprellerei verhaftet zu werden6. Kapitel, in welchem Tasso sich einem sehr großen und dann eher schemenhaften Geist der Vergangenheit stellt7. Kapitel, in welchem Mara die Ermittlungen in einem nicht minder wichtigen Fall aufnimmt8. Kapitel, in welchem Falko den amerikanischen Traum träumt9. Kapitel, in welchem Tasso die Stunde schlägt10. Kapitel, in welchem Mara ein Déjà-vu hat – nur mit Pizza statt mit Braten11. Kapitel, in welchem Tasso zu hohen Besuch bekommt12. Kapitel, in welchem Falko eine schreckliche Entdeckung macht13. Kapitel, in welchem Mara zu ermittlerischer Hochform aufläuft – und das an einem Montagmorgen14. Kapitel, in welchem Tasso nicht nur sprichwörtlich unter der Last der Bürokratie zusammenbricht15. Kapitel, in welchem Mara das Kommando übernimmt – notgedrungen; aber wenn der Signor Commissario seinen Pflichten auch nicht nachkommt?16. Kapitel, in welchem Tasso, obwohl er doch Katzen mag, seinen Kater lieber los wäre17. Kapitel, in welchem Falko auf sein Herz hört18. Kapitel, in welchem Tasso mehrere entscheidende Entscheidungen trifft19. Kapitel, in welchem Mara internationale Töne anschlägtIl gatto randagio – die Straßenkatze1. Epilog, in welchem Mara sich mit einem gut aussehenden Mann trifft und es nicht bereut2. Epilog, in welchem Tasso und Bruno für ihr Abendessen die Bunte Kuh bevorzugenL’epilogo: la finzione e la realtà – das Nachwort: Fiktion und Wirklichkeit

Über dieses Buch

Verschneite Berglandschaften. Der Geschmack von Kastanienherzen. Und ein verschwundener Polizeichef Als der Bozener Polizeichef Bruno Visconti im Januar 1963 nicht zum Dienst antritt, ahnt sein alter Freund und Kollege Commissario Tasso Schlimmes. Bei der Untersuchung von Viscontis Wohnung am Obstplatz in Bozen findet Tasso Hinweise auf eine Entführung. Aber wer hätte seinen Chef entführen sollen? Südtiroler Separatisten? Neo-Faschisten? Ein ausländischer Geheimdienst? Bald schon stellt Tasso fest, dass die Gründe für dieses Verbrechen weiter zurückreichen, als er sich je hätte vorstellen können. Und zu allem Unglück ist er erneut auf die Hilfe von Mara Oberhöller angewiesen. Dabei hatte er sich geschworen, die junge Frau nie wieder auf einen Außeneinsatz mitzunehmen …

Über die Autorin

Gianna Milani ist das Pseudonym einer deutschen Autorin, die sich seit vielen Jahren für Südtirol und seine wechselvolle Geschichte interessiert. Dabei haben es ihr besonders die sagenhaften Dolomiten angetan. Ein Haus in Norditalien wäre ihr Traum, bis dahin schreibt sie Bücher über ihre Lieblingsregionen.

LÜBBE

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Die Arbeit an diesem Roman wurde mit dem Stipendium »Neustart Kultur« der VG Wort unterstützt

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München

Copyright © 2022 by Gianna Milani

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Frank Weinreich, Bochum

Umschlaggestaltung: U1berlin / Patrizia Di Stefano

Umschlagillustration: © Michael Pleesz

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-2828-7

luebbe.de

lesejury.de

Il Passato – Die Vergangenheit

Ist es doch die Vergangenheit, die unsimmer wieder einholt und ihre Schattenauf die Gegenwart wirft.

Einige Personen, denen Sie vielleicht begegnen

Bei der Polizia di Stato

Aurelio Tasso, Commissario in Bozen

Mara Oberhöller, seine Praktikantin, Tochter des Bürgermeisters von Meran, Jakob Oberhöller

Johann Vierweger, ehemaliger Ispettore im Ruhestand

Valerio Amirante, Ispettore, Schreibtischnachbar

Dottore Bruno Visconti, Questore in Bozen

Alessia Rosso, Sekretärin des Questore

Gianluca Ferrara, Vice-Questore in Bozen (in Urlaub)

Pino Mancuso, Agente

Mauro Cosentino, Agente

Gustavo Lombardi, Phantombildzeichner

Dottore Simone Agnelli, Rechtsmediziner

Dottore Nicola Ranieri, Questore in Trient

Paolo Dacosta, Ispettore in Meran

Renato Dalmaso, Commissario in Brixen

Elisabeth Unterbachner, Vice Sovrintendente in Brixen

Aurelio Tassos Familie

Corrado Tasso, Vater

Emma Tasso, geborene Vernatscher, Mutter

Aurora Tasso, jüngere Schwester

Hedwig Vernatscher, Tante mütterlicherseits, wohnhaft in Bozen

Mara Oberhöllers Familie

Jakob Oberhöller, Vater, Bürgermeister von Meran

Marianne Oberhöller, geborene Lechner, Mutter

Friedrich Oberhöller, älterer Bruder

Robert Oberhöller, jüngerer Bruder

Weitere Personen

Enrico und Marta Isidoro, Inhaber einer Konditorei in der Silbergasse in Bozen

Giuseppe Bellomino, ein Straßenreiniger

Davide Gallo, Bürgermeister von Bozen

Ricardo Bosco, persönlicher Sekretär des Bürgermeisters von Bozen

Salvatore Girolamo, freier Reporter

Spartaco Girolamo, Salvatores Bruder

Prolog, in welchem Falko bei einer wichtigen Aufgabe beinahe versagt hätte

Falko wischte sich die schweißnassen Hände an der Hose ab. Obwohl der Maggiore ihnen allen zuvor einen klaren Fusel zu trinken gegeben hatte, fühlte sich sein Mund an, als würde Sägemehl am Gaumen kleben. Er klopfte die behandschuhten Hände ineinander, um sie zu wärmen.

»Komm!«, zischte es neben ihm.

Endlich. Es war eisig in dieser Nacht auf den 28. Dezember, aber vor allem die Nervosität machte das Warten noch schlimmer.

Ein Schatten huschte voraus über die Straße, vorbei am Neptunbrunnen über den Obstplatz nach Norden bis zu einem Eingang linker Hand. Falko schaute sich mehrmals nervös zu allen Seiten um, bevor er den geschützten Posten unter den Lauben verließ und seinem Kumpel Sandro folgte. Überall an den Straßenecken türmten sich Berge von Neuschnee, der tagsüber zusammengeräumt worden war.

Obwohl die Wege zwischen den Häusern dick mit Sand und Salz eingestreut waren, kam Falko ins Straucheln. Beinahe wäre er der Länge nach hingeschlagen, konnte sich aber taumelnd fangen und kam vor der Tür des Wohnhauses schlitternd zum Stehen. Dabei umklammerte er die groben Säcke in seinen Händen, als könne er sich daran festhalten.

»Idiot!« Sandro lachte leise und unbekümmert. Er hatte bereits das Schloss am Eingang geknackt und drückte die Tür auf. Die Scharniere protestierten quietschend.

»Vorsicht!« Abermals schaute sich Falko um. »Was, wenn das jemand hört?«

»Und wenn schon? Das ist eine Eingangstür. Hier im Haus gibt’s ein Dutzend Wohnungen. Da wird schon mal jemand nachts nach Hause kommen. Gerade jetzt, wo die Feiertage vorbei sind und die Leute wieder mehr unterwegs sind. Dieses Geräusch sollte niemanden wundern.«

Falko war nicht überzeugt, doch er hielt den Mund. Sandro war schon lange bei der Truppe, der Mann kannte sich aus. Sie betraten den stockfinsteren Flur. Das Haus schien alt, die Treppe war schmal und steil.

»Wohin?«

»Erster Stock links. Hast du den Knebel griffbereit?«

»Ja.« Falko klopfte auf seine rechte Manteltasche, in der sich ein Tuch und das Chloroform befanden. Als er vorhin warten musste, hatte er aus Neugier an der dunkelbraunen Apothekerflasche geschnüffelt, und ihm war beinahe übel geworden. Aber der Maggiore hatte gesagt, er solle mit dem Mittel nicht geizen. Es würde ihre Zielperson nicht umbringen.

Zielperson. Als Falko das Wort gehört hatte, fühlte er sich sofort viel wichtiger. Er war Teil einer großen Sache. Doch sein Enthusiasmus war schnell verflogen. Was, wenn etwas schieflief? Was, wenn sie erwischt wurden? Er würde seiner Mutter nie mehr in die Augen schauen können. Er wusste sehr genau, dass sie nicht guthieß, was er hier tat. Sie war zwar verbittert und hegte einen ziemlich großen Hass auf die Regierung und überhaupt die gesamte Obrigkeit. Aber das, nein, das würde ihr dennoch nicht gefallen. Und er war ja nicht einmal großjährig. Das hieß, dass sie in all das hineingezogen wurde, falls sie ihn einkassierten.

Sandro stieg im Dunkeln die Treppe hinauf, als ob er sich im Haus bestens auskannte. Falko folgte ihm, so leise es ging, wobei sein Kumpel natürlich sagen würde, dass nächtliche Schritte auf der Treppe in einem Wohnhaus ebenfalls ein gewohntes Geräusch sein dürften. Dennoch, Falko setzte die Tatsache unter Druck, dass sie etwas Verbotenes taten. Hoffentlich ging alles gut. Hoffentlich wehrte der Mann sich nicht allzu heftig. Die Zielperson. Der Maggiore hatte entschieden, dass zwei Leute ausreichten, um sie aus der Wohnung zu schaffen. Hoffentlich irrte er da nicht.

Sie standen vor einer braun gestrichenen Wohnungstür. Aus den oberen Stockwerken klang leise das Wimmern eines Babys, ansonsten war alles still.

Sandro beugte sich über das Schloss. Metall klickte sanft, dann ein lauteres Schnappen, und die Tür öffnete sich einen Spalt.

»Jetzt gilt’s, Kleiner. Bist du bereit?«

»Ja.« Das war eine glatte Lüge.

Falko hob die Säcke wie einen Schutzschild vor die Brust und folgte Sandro in die Wohnung. Ihm lief der Schweiß den Rücken hinab, seine dünnen schwarzen Haare klebten auf der Stirn.

Sie betraten einen langen, schmalen Flur mit je zwei Türen zu beiden Seiten. Nur aus der hinteren rechts drang etwas Licht durch einen Türspalt.

»Die Maske auf.« Sandro holte eine Skimaske aus der Tasche und zog sie über den Kopf. Falko tastete in seinen Manteltaschen, fürchtete einen schrecklichen Moment lang, er hätte seine Maske vergessen, und fand sie dann in der Tasche mit dem Tuch. Mit zitternden Händen zog er sie über.

»Der Knebel.«

»Alles klar.« Falko klemmte die Säcke unter die Achsel und holte Tuch und Flasche hervor, um seinem Kumpel beides anzureichen.

Sandro schraubte die Flasche auf und kippte den gesamten Inhalt auf das Tuch. Ein beißender Geruch breitete sich im Flur aus. Falko drückte sich den Unterarm vor Mund und Nase. Was, wenn die Zielperson davon wach wurde? Sandro ließ die Flasche achtlos fallen. Zielstrebig ging er zu der linken vorderen Tür und öffnete sie lautlos. Rasch betrat er den Raum.

»Mach Licht.«

Falko folgte, tastete neben der Tür und fand einen Drehschalter. Es klickte. Einen Moment lang blinzelte er geblendet. Er befand sich in einem winzigen Schlafzimmer. Der Raum war gerade einmal so breit, wie das Bett lang war, das gegenüber der Tür seinen Platz hatte. Es gab keine Fenster, nur eine Doppelreihe Glasbausteine, die zum Nebenraum gingen. Sofort überfiel Falko Panik. Er hasste enge Räume.

Die Zielperson fuhr unter der Bettdecke auf und riss erschrocken die Arme hoch, um die Augen zu beschatten. Es war ein Mann Mitte fünfzig, mit grauen Haaren und einem ebensolchen Schnauzbart.

Sandro sprang auf ihn zu, das Tuch vor sich ausgestreckt.

»Was zum Teufel …?« Obwohl der Mann gerade erst aufgewacht war, wurde er sich sofort der drohenden Gefahr bewusst. Er wand sich unter Sandros Arm hindurch und warf sich nach vorne. Hektisch versuchte er, sich von seinem dicken Federbett zu befreien.

Sandro machte einen Schritt zur Seite, warf sich von hinten über ihn und wollte ihm das Tuch ins Gesicht pressen. Doch der Mann holte mit dem Ellbogen aus und traf seinen Gegner am Kinn. Es knackte unheilvoll.

Sandro ruderte mit den Armen und taumelte nach hinten. »Was stehst du da rum?«, rief er über die Schulter. »Beweg dich und hilf mir!«

Der Mann duckte sich nach vorne und ließ sich neben seinem Gegner zu Boden gleiten. Seine Bewegungen wirkten unbeholfen und grotesk. Sandro hatte inzwischen sein Gleichgewicht wiedergefunden und langte nach ihm. Der Mann schaffte es, sich Sandros Griff ein zweites Mal zu entwinden.

»Jetzt mach schon!«

Falko starrte auf den Mann hinunter, der da auf ihn zugerobbt kam. »Der hat ja …«

»So nicht, Freundchen!« Sandro warf sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Mann und drückte ihn zu Boden. Der schlug mit den Armen um sich, doch jetzt hatte er keine Chance mehr gegen seinen gut dreißig Jahre jüngeren, athletischen Gegner. Sandro klemmte ihm einen Arm unterm Knie fest, ignorierte seine ziellosen Schläge und drückte ihm endlich das Tuch ins Gesicht. Es dauerte nur Sekunden, und sein Opfer erschlaffte. Sandro wand die Enden des Tuchs um seinen Nacken und verknotete sie. Er wartete noch einige Sekunden, dann erhob er sich.

Wütend kam er auf Falko zu und stieß ihm gegen die Brust. »Was stehst du da herum wie eine Statue? Danke auch, du warst wirklich eine großartige Hilfe.« Er betastete vorwurfsvoll seinen von einigen Treffern geröteten Kiefer und öffnete und schloss mehrmals den Mund.

»Der … der hat nur ein Bein.«

»Ja, und? Sehe ich, weiß ich. Würdest du ihm jetzt wenigstens einen Sack über den Kopf ziehen oder muss ich alles allein machen?«

»Aber wie sollen wir den rausschaffen?«

Sandro rollte mit den Augen. »Tragen! Du hast da mehr als einen Sack, wenn ich mich nicht irre? Jetzt komm schon, beweg dich endlich. Ja, dem fehlt ein Bein. Deshalb reicht es ja auch, dass wir nur zu zweit sind. Der mag graue Haare haben und schon älter sein, aber täusch dich nicht. Das ist ein alter Haudegen. Wenn der noch beide Beine hätte, hätt’ ich den nicht erledigt.« Das klang nach echter Anerkennung für seinen Gegner.

Falko erwachte endlich aus seiner Erstarrung. Je schneller er den Anweisungen folgte, umso eher war er aus dieser winzigen Kammer wieder raus. Es war ihm ein Rätsel, wie hier jemand ruhig schlafen konnte. Er hätte ständig Sorge, dass ihn die Wände zerquetschten oder ihm die Decke auf den Kopf fiele. Natürlich wusste er, dass das rational betrachtet völliger Blödsinn war, aber das minderte seine Panik in der Regel nicht.

Der Mann mit nur einem Bein rührte sich nicht. Sie zogen ihm einen kleinen Sack über den Kopf und zwei größere über den Rest des Körpers. Gemeinsam hoben sie den Bewusstlosen an. Er war viel leichter, als Falko erwartet hatte. Zum Glück hatte Sandro ihm erlaubt, ihn an den Schultern zu packen. Er hätte es nicht über sich gebracht, in die Nähe des Stumpfes zu greifen.

Sie trugen den Mann hinaus, schlossen die Wohnungstür und tasteten sich durch den dunklen Hausflur. Nirgendwo rührte sich etwas. Bevor sie auf die Straße traten, zogen sie die Skimasken ab. Vor der Tür warteten zwei Männer mit einem Handkarren, auf dem allerlei Gerümpel, Besen und Schaufeln lagen.

»Wird auch Zeit. Einfach abladen.« Einer der beiden deutete auf den Karren.

Falko bemühte sich, den Kopf des Mannes so zu legen, dass er nicht mit dem Gesicht im Müll lag. Er trug nur eine lange Unterhose – das eine Bein umgekrempelt – und eine Schlafanzugjacke; würde er nicht frieren? Den anderen schien das egal zu sein.

Einer der beiden falschen Straßenkehrer nahm einen Besen und kehrte lustlos über die Straße. Der andere packte die Griffe und schob den Karren in Richtung Neptunbrunnen.

»Komm.« Sandro zupfte Falko am Ärmel. »Das heißt, warte. Hast du das Heft im Schlafzimmer hinterlassen?«

»Das Heft?«

Sandro gab ihm eine rüde Kopfnuss. »Die Kladde, das Heft, den Papierhaufen, du Vollidiot. Nein? Dann los, zurück mit dir. Ich warte am Auto auf dich. Wofür habe ich dich bloß mitgenommen? Mann, was bist du dämlich!«

Falko schluckte und rannte los. Die Haustür war noch angelehnt. Mit wenigen Sprüngen schoss er die Treppe hoch und scherte sich dieses Mal nicht darum, wie viel Lärm er dabei machte. Panik wütete in seinen Eingeweiden. Noch im Laufen zog er die zerschlissene Kladde aus der Innentasche seines Mantels.

Die Wohnungstür ihres Entführungsopfers war verschlossen. Und jetzt?

Falko bückte sich und versuchte, das Heft unter der Tür durchzuschieben. Zu dick. Panisch zerriss er das Papierpaket. Dabei schaute er sich immer wieder in dem stillen Treppenhaus um. Nacheinander stopfte er die Teile unter der Tür hindurch, bis er eine Tür in einem der oberen Stockwerke schlagen hörte. Er sprang auf und sah zu, dass er hinauskam.

Draußen lag der Obstplatz genauso verlassen da wie zuvor.

Falko schaute sich ein letztes Mal hektisch nach allen Seiten um, bevor er in nördlicher Richtung davonlief, den Weg nehmend, den sein Kumpel kurz zuvor eingeschlagen hatte. Hoffentlich wartete Sandro auch noch auf ihn. Je länger er durch die dicht stehenden Häuser der Altstadt rannte, desto mehr wich die Angst, entdeckt zu werden, erwartungsvoller Anspannung. Morgen früh würde er erfahren, wie es mit der Zielperson weiterging. Diesem merkwürdigen Mann mit nur einem Bein.

1. Kapitel, in welchem Tasso gar nicht einmal so schlechte Laune hat – für einen ersten Arbeitstag mit einsetzendem Schneefall

Skeptisch betrachtete Commissario Aurelio Tasso den grauen Himmel über Bozen. Das sah ganz nach Neuschnee aus. Es war auch wieder kälter geworden. Die Fahrbahn des Corso della Libertà schimmerte silbrig-weiß vom nächtlichen Frost. Die Luft war feucht und roch nach Kaminfeuern und Abgasen.

Kein Wetter für eine Fahrt mit der Vespa.

Tasso ließ die Haustür hinter sich zufallen, vergrub die Hände tief in die Manteltaschen und machte sich zu Fuß auf den Weg in die Questura. Es wurde gerade hell. Außer ihm waren nicht viele Menschen unterwegs. An diesem Mittwoch, dem 2. Januar 1963, hatten die meisten Menschen noch Urlaub, Schulen und Behörden waren geschlossen.

Da er jede Menge Zeit hatte – er ging ohnehin nicht davon aus, dass in dieser ersten Woche des Jahres allzu viel los sein würde –, bummelte er gemächlich die Straße entlang, stoppte an einer Bar und trank einen Schwarzen an der Theke. Als er wieder durch die Glastür nach draußen trat, hatte es angefangen zu schneien. Grummelnd zog er den Schal enger und stellte den Mantelkragen auf. Solange sein Weg unter den Arkadenbögen auf dem Corso entlangführte, konnte ihm das Wetter gleichgültig sein. Aber spätestens ab dem Siegesdenkmal, diesem Schandmal, das längst nicht nur den Südtirolerinnen und Südtirolern ein Dorn im Auge war, würde er sich dem Schnee ausgesetzt sehen. Warum hatte er vorhin keinen Schirm mitgenommen?

Kurz hielt er inne und überlegte, ob er zurück zu seiner Wohnung gehen sollte. Aber dann schritt er zügig voran. In Wahrheit suchte er vielleicht nur einen Grund, noch etwas später an seinem Arbeitsplatz einzutreffen. Der Ort, an dem er wieder die Probleme anderer Leute lösen und freundlich zu seinen Mitmenschen sein musste. Letzteres war stets der schwierigere Teil. Vor allem, wenn er längere Zeit allein gewesen war. Am Silvesterabend war er mit seiner Tante Hedwig zum Essen ausgegangen, aber davon abgesehen hatte er seit Tagen keinen Kontakt mit seiner Umgebung gehabt, der über ein Buongiorno oder Grazie im Tabakladen hinausging.

Und dann war da noch die Sache mit dieser Mara Oberhöller, die er klären musste. Seiner »Praktikantin«, wie Questore Bruno Visconti sie bezeichnet hatte. Eine Tätigkeit, die bedeutete, dass sie ihm auf Schritt und Tritt folgen und sich sogar in seine Ermittlungen einmischen durfte.

Tasso schickte ein kurzes Stoßgebet an seine Schutzheiligen Santo Pietro e Santo Paolo, dass es in den verbleibenden Wochen von Signorina Oberhöllers Anwesenheit keine großen Vorfälle oder gar gefährliche Einsätze gab. Wenn es nach ihm ginge, sollte diese unerfahrene Frau im Archiv Akten sortieren oder andere Tätigkeiten erledigen, bei denen sie nicht der Gefahr ausgesetzt war, erschossen zu werden. Als sie kurz vor Weihnachten gemeinsam rund um den Mord an dem Maler Carlo Colori ermittelt hatten, war sie dieser Möglichkeit entsetzlich nahegekommen.

Nicht auszudenken, wenn … Nein, einfach nicht weiter darüber nachgrübeln.

Es war alles gut gegangen.

Der Schneefall wurde immer stärker. Als Tasso die Questura erreichte, lag bereits ein Fingerbreit auf den geräumten Wegen und Straßen und schmolz nicht mehr weg. Rasch stieß er die Tür auf und begab sich über die Treppe ins zweite Stockwerk, wo in einem Großraumbüro sein Schreibtisch auf ihn wartete. Um fünf Minuten vor neun klopfte er den Schnee von Mantel und Hut und hängte beides samt Schal an den Garderobenständer. Weitere Kleidungsstücke tropften dort bereits vor sich hin. Jenseits des Ständers winkte sein Schreibtischnachbar Valerio Amirante ihm einen lässigen Gruß zu. Der Nachbar auf der anderen Seite war noch im Weihnachtsurlaub.

Tasso ging in die Küche und stellte den Wasserboiler an. Er wartete, bis der Kaffee durch den Porzellanfilter gelaufen war, und nahm die Kanne sowie zwei Becher mit. In seinen gab er einen großzügigen Schluck Milch.

Er saß bereits wieder an seinem Schreibtisch und wollte gerade die braune Pappmappe aufschlagen, die ihm jemand bereitgelegt hatte, da stürmte Mara Oberhöller außer Atem auf ihn zu.

»Tut mir leid, Scusatemi, Tasso, dieses Mistwetter, der Schnee hat mich auf der Hinfahrt völlig überrascht und …« Wassertropfen sprühten zu allen Seiten, als sie die Mütze abnahm.

Hastig klappte Tasso die Mappe zu, damit die Papiere nicht nass wurden. »Buongiorno, Signorina Oberhöller e buon anno. Haben Sie schön gefeiert?« Sollte noch einmal jemand zu ihm sagen, er wäre unhöflich.

Mara grinste verlegen. Schweigend zog sie den Mantel aus und hängte ihn neben Tassos. Sie trug eine schwarze Stoffhose und einen dicken blassgelben Rollkragenpullover, der farblich mit ihren blonden Haaren harmonierte.

»Kaffee?« Tasso hob die Kanne.

»Sehr gern. Danke.« Falls sie sich wunderte, dass er den Kaffee bereits zubereitet hatte, ließ sie es sich nicht anmerken. Was war schon dabei? Wenn sie erst ihr nutzloses Praktikum beendet hatte, musste er das ohnehin wieder selbst erledigen.

Mara stellte ihre Handtasche neben den Stuhl. Aus den Ausbeulungen schloss Tasso, dass seine Praktikantin auch dieses Mal wieder ihre Kamera mitschleppte.

Tasso füllte beide Becher, stellte seinen neben sich ab und klopfte auf die Pappmappe. »Dass wir uns nicht falsch verstehen, Signorina Oberhöller: Es wird keine weiteren Einsätze wie in Brixen geben. Sie werden nicht mehr auf Verbrecherjagd gehen. Sie sind dafür nicht ausgebildet, und deshalb ist so was viel zu gefährlich. Haben wir uns da verstanden?«

Sie nickte eifrig und zog ihren Becher zu sich heran. »Voll und ganz. Das ist auch in meinem Sinne. Ich mache gern Innendienst. Oder schaue dem Polizeizeichner über die Schultern. Oder gehe einem Handtaschendiebstahl nach. Was immer sich ergibt. Aber nein, mein Bedarf an Mord und Totschlag ist gedeckt.«

»Wie? Heißt das, Sie haben Ihre Pläne für das Jurastudium aufgegeben?«

»Das nicht. Aber das ist ein weites Feld. Zwischen der Jagd auf einen Mörder und der theoretischen Analyse, welches Strafmaß für einen Mord angemessen wäre, besteht doch ein erheblicher Unterschied. Besser gesagt ist es wenig wahrscheinlich, während Letzterer in die Mündung einer Pistole zu schauen.« Sie hielt mit einem erschrockenen Gesichtsausdruck inne. »Ich hoffe, das war nicht zu offen gesprochen. Das sollte kein Vorwurf sein. Es war ja meine Entscheidung, mitzukommen.«

Erstaunt spürte Tasso, dass ein Lächeln seine Mundwinkel hob. »Va bene. Innendienst, Taschendiebstahl – das ist ganz in meinem Sinne. Dann lassen Sie uns nachsehen, ob wir etwas für Sie zu tun finden.«

Er schlug die Mappe auf. »Das hier sind Vorgänge, die in den letzten Tagen eingegangen sind. Hier haben wir zum Beispiel …« Er trank einen Schluck. »Was ist das denn!« Gerade noch rechtzeitig wandte er sich nach links und spuckte den Kaffee in hohem Bogen aus.

Mara nippte an ihrem Kaffee. »So schlimm ist der doch gar nicht.«

Tasso riss ein Stofftuch aus seiner Hosentasche und wischte sich über den Mund. Er betrachtete die hellbraune Flüssigkeit in seinem Becher. Weiße Flocken schwammen darin. Argwöhnisch schnüffelte er. »Die Milch ist sauer.«

»Die hat vermutlich jemand über die Feiertage stehen lassen. Ich hole Ihnen einen neuen Becher.«

»Nicht nötig.« Er stellte den Becher möglichst weit weg an die Schreibtischkante. »Ohne Milch trinke ich dieses gefilterte Zeug nicht.«

Mara nickte mitfühlend.

Er unterdrückte einen Fluch, wandte sich wieder den Unterlagen zu und entnahm der Mappe zwei Protokollbögen, die er seiner Praktikantin zuschob. »Ich hätte zwei Aufgaben für Sie. Besser gesagt ist es ein und dieselbe Aufgabe, nämlich die Befragung der Personen, die diese Anzeige erstattet haben. Nur die Vorgänge sind andere. Zum einen handelt es sich um den Diebstahl eines Kartons Panettone, der aus einer Konditorei verschwunden ist. Und zum Zweiten wurden im Magazin der Stadtreinigung eine Handkarre und zwei Overalls gestohlen. Fahren Sie zu den Tatorten und machen Sie sich ein Bild.«

Mara nahm die Protokolle entgegen. »Panettone? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein.«

»Mögen Sie keinen?«

»Nein, ganz und gar nicht.« Sie lachte auf. »Ich meine jedoch eher diese Anzeige. Eine Kiste Kuchen. Wie viele Pakete mögen da drin sein? Fünf? Zehn? Klingt das nicht vielmehr nach einem Lausbubenstreich?«

Tasso verschränkte die Hände und lehnte sich vor. »Wir müssen dem trotzdem nachgehen. Aber ja. Ich vermute sogar, dass der Bäckergeselle oder eine Verkäuferin den Karton im Trubel des Weihnachtsgeschäftes irgendwo hingestellt und vergessen hat. Und da steht er jetzt und wartet auf ihre Wiederentdeckung. Das ist Ihre Gelegenheit, Signorina Oberhöller! Lassen Sie Ihren detektivischen Spürsinn walten.«

»Und dann werde ich in die Annalen der polizia di stato eingehen. Als Die Frau, die den Kuchen wiederfand.«

»Wenn kommende Woche so wenig los ist wie jedes Jahr um diese Zeit, könnten Sie es damit in die Zeitungen schaffen.« Er hob den Zeigefinger. »Und das meine ich jetzt durchaus ernst.«

»Also gut. Sie haben mich überzeugt.« Sie stand auf und faltete die beiden Papierbögen. »Kann ich die mitnehmen?«

»Machen Sie sich besser je eine Kopie.«

»Capito. Ich werde erst in die Stadt gehen und dann zur Stadtreinigung. Das liegt ja beides nah beieinander. Und was steht bei Ihnen heute an?«

»Keine Ahnung. Das war alles. Ich werde hinauf zu Bruno gehen, um ihm ein gutes Neues Jahr zu wünschen. Vielleicht hat er etwas zu tun für mich.« Er erhob sich ebenfalls. »Was halten Sie davon, wenn wir uns zum Mittagessen in der Stadt treffen?«

»Sehr gern. Im Wirtshaus Vögele? Um ein Uhr?«

»Ich … na gut.« Ihm stand mehr der Sinn nach einer Pizza als nach deftiger Alpenküche. Und eigentlich hatte er sich geschworen, keine anderen Knödel mehr als die von Rosa Marthaler in der Bunten Kuh in Meran zu essen. Aber er wollte nicht mit Mara diskutieren. Sie wirkte so entspannt und fröhlich. Das erleichterte ihn, weil dieses schlechte Gewissen, sie bei diesem Einsatz in Brixen in Gefahr gebracht zu haben, weiterhin beständig nagte, da mochte sie sagen, was sie wollte. Sie schien es ja ganz gut weggesteckt zu haben. Daran wollte er einfach nicht rühren.

Mara nahm ihren Mantel, und sie gingen gemeinsam zum Treppenhaus und verabschiedeten sich voneinander.

* * *

Gemächlich stieg Tasso hinauf in die dritte Etage und klopfte kurz darauf am Vorzimmer von Bruno Visconti, der nicht nur der Questore war, sondern auch seit langen Jahren ein guter Freund.

Die helle Stimme von Signorina Rosso rief ihn herein.

»Buongiorno e buon nuovo anno.«

»Das wünsche ich Ihnen auch, Commissario. Schön, Sie gesund und munter wiederzusehen.« Alessia Rosso hob den Kopf, strahlte ihn hinter ihrer Schreibmaschine an und unterbrach dafür nicht einmal ihr Tippen. Das Geräusch gehörte in diesen Raum wie der Duft nach Jasmin und Vanille des Parfums, das die Vorzimmerdame des Questore häufig auflegte. Sie trug heute eine dunkelviolette Bluse mit einer Schleife am Hals und hatte die dunkelbraunen Haare zu einer kunstvollen Frisur aufgesteckt.

»Ist Bruno schon im Haus?«

Jetzt hielt Alessia Rosso doch inne und lehnte sich ein wenig zurück. »Nein, noch nicht. Und das ist seltsam, denn er hat nichts davon gesagt, dass er heute später kommt.«

Tasso runzelte die Stirn. »Er hat sich in all den Jahren, die ich mit ihm zusammenarbeite, noch nie verspätet.«

»Das kann ich nur bestätigen.«

»Haben Sie in seinem Büro nachgesehen? Vielleicht eine Nachricht oder ein spontan unterzeichneter Urlaubsantrag?«

Sie lachte auf. »Ein was? Nein, keine Ahnung, ich habe keine Hinweise gefunden. Gehen Sie durch, die Tür ist offen. Vielleicht finden Sie etwas, das mir entgangen ist.«

»Mache ich gern. Obwohl ich bezweifle, dass Sie etwas übersehen würden. Ist alles in Ordnung? Jetzt wirken Sie auf einmal beunruhigt.«

»Nun, ja, etwas.« Sie glättete die Kanten eines Papierstapels neben der Schreibmaschine. »Bis jetzt hatte ich angenommen, Sie wüssten etwas über den Verbleib des Questore. Dass er einfach verschwindet, das sieht ihm ja gar nicht ähnlich, finden Sie nicht auch? Jetzt mache ich mir schon ein paar Gedanken. Was, wenn er in seiner Wohnung gestürzt ist und nicht um Hilfe rufen konnte?«

»Jetzt machen Sie sich keine unnötigen Sorgen. Für all das gibt es ganz sicher eine harmlose Erklärung. Bruno kann auf sich aufpassen, das weiß ich sehr gut. Aber ich schaue mich mal in seinem Büro um.«

Alessia Rosso nickte zuversichtlicher und wandte sich wieder der Schreibmaschine zu. Noch bevor Tasso die Verbindungstür zum Büro des Questore erreicht hatte, hörte er das Ratschen, mit dem die Sekretärin in die nächste Zeile wechselte.

Abgestandene Luft empfing ihn, dazu war seit Tagen nicht geheizt worden. Tasso ließ die Tür offen stehen und ging zu Brunos Schreibtisch. Nicht einmal ein Schnipsel Papier lag dort, die lederne Schreibtischunterlage war leer, Füller und Tintenfass standen ordentlich daneben. Er brauchte nur wenige Sekunden, um zu erkennen, dass der Questore seit einigen Tagen nicht dagewesen war. Genauer gesagt, seit seinem letzten Arbeitstag vor Weihnachten, an dem er den Großeinsatz koordiniert hatte, bei dem Tasso mit Mara und der polizia di stato in Brixen auf Verbrecherjagd gewesen war.

Das Büro machte einen fast schon sterilen Eindruck. Die Aktenordner in dem Regal neben der Tür standen in militärischer Präzision nebeneinander. Die Promotionsurkunde hinter dem Schreibtisch war der einzige persönliche Gegenstand des Bruno Visconti. Er führte die Questura streng, aber gerecht, und von dem privaten Menschen hinter der Führungsrolle kannte bis auf Tasso kaum jemand Details. Vielleicht Mara, aber das konnte er nicht einschätzen. Sie hatte angedeutet, dass Bruno ein Freund der Familie sei.

»Commissario Tasso?«, klang es durch die offen stehende Tür.

Er fuhr herum und kam sich vor, als wäre er bei etwas Verbotenem ertappt worden. Alessia Rossos Gestalt erschien im Türrahmen.

»Was denn?«

»Ich habe hier noch ein Schreiben des Bürgermeisters von Bozen. Es ist streng vertraulich an Vice-Questore Ferrara gerichtet.«

»Na und?«

»Ricardo Bosco hat es heute Morgen persönlich abgegeben. Es wies darauf hin, es wäre dringend.«

Ihrem Tonfall nach zu urteilen, war irgendetwas nicht so, wie es sein sollte. Und Tasso würde eine Wette darauf abschließen, dass es mit genau diesem Ricardo Bosco zusammenhing. Der junge Mann war seit zwei Jahren der persönliche Sekretär und die rechte Hand des Bürgermeisters von Bozen. Und nebenberuflich Herzensbrecher. Sein Ruf war sogar bis zu Tasso gedrungen, der für solche Klatschgeschichten nichts übrighatte. Er sah Paul Newman ziemlich ähnlich und ahmte den erfolgreichen Schauspieler in Frisur und Kleidungsstil offen nach. Damit verdrehte er allen weiblichen Geschöpfen zwischen zwanzig und vierzig den Kopf. Er hatte sogar die ansonsten stets korrekte Alessia Rosso um seinen kleinen Finger gewickelt.

Tasso zwang sich zu Geduld. »Warum haben Sie das Schreiben nicht längst Dottore Ferrara gegeben? Wenn es doch dringend ist?«

Sie hob den Umschlag. »Das ist es ja. Der ist noch in Urlaub. In der Karibik. Unerreichbar.«

»Signorina Rosso, was wollen Sie mir sagen?« Tasso schlenderte auf sie zu.

»Nun, es ist persönlich an den Vice-Questore gerichtet, und der ist nicht da. Es ist aber dringend. Ich dachte, Sie könnten vielleicht …?«

»Diesen Brief öffnen? Sind Sie verrückt geworden? Das übersteigt meinen Dienstgrad um einige Stufen.«

»Aber Sie sind der Ranghöchste, der in der Questura ist.« Ihre Stimme wurde immer leiser. »Zumindest, wenn Dottore Visconti heute nicht kommt.«

»Wieso haben Sie Bosco nicht gesagt, dass Ferrara noch in Urlaub ist?«

Sie biss sich auf die Unterlippe und schwieg.

»Sie haben nicht daran gedacht, was? Sie waren so mit Schmachten beschäftigt, dass Sie dem Laufburschen des Bürgermeisters nicht gesagt haben, dass hier heute niemand ist, der diese Post öffnen darf.«

Er hatte sie erreicht und schob sie sanft durch die Tür ins Vorzimmer zurück.

»So war es nicht. Na ja, gut, ich war wohl ein wenig abgelenkt. Aber dann dachte ich, was soll’s? Sobald Dottore Visconti kommt, kann der das doch aufmachen. Das wäre ja normalerweise kein Problem. Ich habe sowieso nicht verstanden, warum dieser Brief nicht an ihn ging, sondern an seinen Stellvertreter. Weil es nach etwas Offiziellem klang, von Bürgermeister Gallo persönlich.«

»Ich nehme an, dass Sie nicht weiter nachgefragt haben? Aus dem gleichen Grund, aus dem Sie vergessen haben, dass Ferrara in Urlaub ist?«

»So, wie Sie das jetzt sagen, klingt das, als wäre ich ein dummes Huhn.«

»Genau das sind Sie normalerweise nicht, daher finde ich es schade, dass Sie sich wie eines benehmen, wenn da so ein Romeo des Wegs kommt.«

Sie senkte schuldbewusst den Kopf. »Vielleicht haben Sie ganz recht.«

Tasso schwieg. Das war ihm nicht weniger unangenehm als ihr.

»Und was soll ich jetzt machen?«

»Keine Ahnung. Hoffen, dass Bruno in den nächsten Stunden auftaucht und ihm diese Panne gestehen. Er wird das sicher in Ordnung bringen.«

Sie nickte wenig enthusiastisch.

Er lächelte versöhnlich. »Keine Sorge, der taucht sicher bald auf. Ich mache Ihnen dazu einen Vorschlag. Ich bin gleich ohnehin in der Stadt. Ich erkundige mich im Rathaus. Vielleicht finde ich etwas über diese so fürchterlich dringende Angelegenheit heraus.«

»Glauben Sie, dass es gar nicht dringend ist?«

»Ich habe keine Ahnung. Aber das Jahr beginnt gerade erst. Die meisten Menschen befinden sich noch in der Winterpause. Es gibt keine Naturkatastrophen oder anderes dergleichen, was schnelles Handeln erfordert. Sogar die große Politik macht noch Pause. Was also sollte es so Dringendes geben?«

Alessia Rosso nickte wieder zuversichtlicher. »Das stimmt. Ich danke Ihnen. Wir sehen uns dann später.«

2. Kapitel, in welchem Mara einer süßen Verführung erliegt

Panettone aus Südtirol? Mara schüttelte verständnislos den Kopf, während sie durch den schneegrauen Vormittag in die Stadt stapfte. Wer war auf solch eine Idee gekommen? Wenn eine Gebäckspezialität für die Region stand, dann war es der Apfelstrudel. Oder neuerdings auch diese Herzen aus Kastanienmehl mit dunkler Schokolade. Aber Panettone? Der kam aus der Lombardei. Bruno Visconti hatte ihr einmal diese Geschichte erzählt, nach der ein Küchenjunge am Hof des Herzogs von Mailand, irgendein Sforza, ihn erfunden hatte. Bruno interessierte sich sehr für die Zeit der beginnenden Renaissance, als die Ära der Visconti zu Ende ging. Diese Familie, der Mailand sein Stadtwappen mit der blauen, einen Menschen verschlingenden Schlange zu verdanken hatte – und dessen Namen Bruno selbst trug. Wenn er erst in Rente wäre, hatte er erklärt, würde er herausfinden wollen, ob er mit den Herzögen verwandt war. Natürlich aus Spaß, betonte er, und nicht, um das große Stadtschloss in Mailand zu beanspruchen. Dann lachte er und fuhr fort, dass der Unterhalt eines solchen Bauwerks ihm viel zu teuer wäre. Außerdem fühlte er sich Mailand zwar verbunden, doch seine Heimat lag am Comer See, wo er geboren und aufgewachsen war.

Mochte Bruno Panettone? Mara wusste es nicht. Vor ein paar Jahren hatte er ihrem Vater Jakob Oberhöller einmal einen zu Weihnachten mitgebracht. Den hatten sie dann später im Kreise der Familie gegessen, wobei die Begeisterung unter den Familienmitgliedern arg differierte. Mara und ihre Brüder hatten den Panettone alle nicht gemocht. Weshalb es ihr umso unverständlicher war, dass ein Südtiroler Konditor welche zubereitete.

Mara hatte die Altstadt von Bozen erreicht und überquerte den Obstplatz, wo wie an allen Tagen Marktstände aufgebaut waren und Ware angeboten wurde. Trotz des stetigen Schneefalls herrschte ein munteres Treiben. Gäste aus aller Welt, die über die Feiertage ihren Winterurlaub hier verbrachten, und Einheimische betrachteten das Angebot an Würsten und Schinken, Käselaiben, Südfrüchten und winterlichem Gemüse oder Kräutermischungen. Gekauft wurde wenig, wie Mara feststellte. Vermutlich waren die Menschen noch satt von den Feiertagen.

Sie gönnte sich einen Augenblick und beobachtete, wie sich ein Familienvater ein freundliches Duell mit einer Händlerin lieferte. Sie feilschten um eine Tüte kandierter Früchte, wobei die beiden Kinder bereits kurz davor waren, die Tüte aufzureißen. Die Händlerin gab sich böse, hob immer wieder drohend den Zeigefinger und rollte unter dem bunten Kopftuch mit den Augen. Ein junger Mann, der etwas versetzt neben ihr stand und ihr Sohn oder Enkel sein mochte, zwinkerte der Kundschaft aber hinter ihrem Rücken zu und hielt dabei zwei Zuckerstangen in die Höhe. Die bekam der Vater schließlich als Dreingabe und bezahlte dafür den vollen Preis.

»Kann ich Ihnen helfen? Suchen Sie etwas?«, erklang eine undeutliche Stimme in Maras Rücken.

Sie wandte sich um. Ein Mann Mitte fünfzig mit einer Schubkarre voller Heuballen stand hinter ihr. Er trug einen Filzhut, eine Arbeitshose, den traditionellen blauen Schurz der Südtiroler Bauern und darüber eine dicke Strickjacke.

Er grinste sie an und nahm die Pfeife aus dem Mund. »Das ist nur Dekoration für den Stand da drüben. Wir verkaufen kein Heu auf dem Markt.« Er wies auf eine Bude mit grün gestreifter Marktmarkise. Vor der Verkaufsfläche, wo verschiedenste Käsesorten präsentiert wurden, waren Heuballen aufgestapelt, von denen jeder mit einem Laib gekrönt war.

»Verstehe, sehr hübsch.«

»Alles für die Touristen. Damit die in Kauflaune kommen.« Er nahm die Pfeife wieder zwischen die Lippen und grinste ihr verschwörerisch zu. Mara hatte keine Ahnung, was er damit meinte. Falls die Marktstände auf dem Obstplatz eine der sogenannten Touristenfallen war, bei der die auswärtigen Gäste übers Ohr gehauen wurde, so wusste sie nichts darüber.

»Vielleicht können Sie mir weiterhelfen. Ich suche die Konditorei von Enrico Isidoro in der Silbergasse.«

»Ach, dann sind Sie gar nicht von hier?«

»Kommt drauf an, was Sie mit von hier meinen. Ich bin aus Meran und arbeite für ein paar Wochen in Bozen. Hier kenne ich nur die Lauben.« Vor ihrem Praktikum war sie vielleicht ein gutes Dutzend Mal in der Stadt gewesen. Meistens auf Schulausflügen oder wenn ihr Vater sie einmal mitgenommen hatte.

»Na, dann machen Sie jetzt erst mal auf dem Absatz kehrt und gehen zurück bis zur nächsten Straßenecke. Die Silbergasse ist gleich da vorne links.« Er deutete mit der Pfeife in der Hand über seine Schulter.