Completely - Gesamtausgabe - Mej Dark - E-Book

Completely - Gesamtausgabe E-Book

Mej Dark

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Beschreibung

Neuerscheinung 2018 +++ Der junge Millionärssohn Percy sucht die ganz große Liebe mit Hilfe seiner besonderen Gabe. Für wen soll er sich nur entscheiden? Da gibt es zum Beispiel die wunderschöne Grace aus Manhattan und die mysteriöse Gaya. Was hat das alles mit einer alten Legende, einem Fluch und Vampirblut zu tun? Und wieso muss er unbedingt eine echte Hexe finden? Das ungewöhnliche Abenteuer bietet so manche mysteriöse Überraschung. Diese Gesamtausgabe enthält alle Teile der Reihe Completely. Das Buch wurde im Mai 2018 zum Monatsfavorit gewählt.

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Seitenzahl: 613

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Mej Dark

Completely - Gesamtausgabe

Von Anfang an + Immer diese Hexen + Immer diese Vampire + Auf immer und ewig

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Autorin

Buch

Prolog

Meine Mission

Wer ist schon vollkommen

Das kann doch nicht wahr sein

Seltener Besuch

Die seltsame Wahrsagerin

Die lange Reise

Ringlein, Ringlein, du musst wandern

Immer diese Hexen

Der Schamanenopa

In Trance

Das Mädchen Gaya und die Zwillinge

Ein Brief von Grace

Große Gefahr

Der Überfall

Wie kann man das nur überleben

Die hilfreiche Alte

Hilfe, mein Blut wird geklaut

Was für eine Nacht

Jeder Abschied ist ein kleines Sterben

Immer diese Vampire

Der Kreisel aus dem Nirgendwo

Der neue Lex

Falsche Diagnose

Bellas Tagebucheintrag

Mama, Schwesterchen und Onkel Schlachter

Bellas Tagebucheintrag

Die Zwillinge

Bellas Tagebucheintrag

Der Boxkampf

Bellas Tagebucheintrag

Madame Bourier

Irrwitziges Halloween

Der Tag danach

Bellas Tagebucheintrag

Auf immer und ewig

Herzklopfen

Bellas Tagebucheintrag – Der Plan

Der Gewinn

Die Falle

Vollmondprobleme

Die Reise zum Reservat

Déjà-vu

Die uralte Gaya

Bellas Tagebucheintrag - Die Hochzeit

Das Ritual

Die gefangene Braut

Das Baumhaus

Der Hexenkuss

Weitere Bücher

Impressum neobooks

Autorin

Mej Dark veröffentlicht seit vielen Jahren unter verschiedenen Pseudonymen beliebte Bücher und Reihen, die in das Reich der Abenteuer, der Leidenschaft, der Geschichte als auch der Fantasy entführen. Completely ist ihr neuestes Werk und wendet sich an die Freunde von origineller Fantasy. Es wurde im Mai 2018 zum Monatsfavorit gewählt.

Buch

 

Der junge Millionärssohn Percy sucht die ganz große Liebe mit Hilfe seiner besonderen Gabe. Für wen soll er sich nur entscheiden? Da gibt es zum Beispiel die wunderschöne Grace aus Manhattan und die mysteriöse Gaya. Was hat das alles mit einer alten Legende, einem Fluch und Vampirblut zu tun? Und wieso muss er unbedingt eine echte Hexe finden? Das ungewöhnliche Abenteuer bietet so manche mysteriöse Überraschung. Die Gesamtausgabe enthält alle Teile der Reihe.

Prolog

Normalität und gewöhnlicher Verstand sind wahre Hindernisse für die große Liebe.

Es gibt keine Auswirkungen ohne Ursachen.

Meine Mission

Das Jahr 1927 neigte sich. Vor meinen nachdenklichen Blicken wiederholte sich draußen ein ewiger Zyklus. Der Herbst ließ erste Blätter von den Bäumen und Sträuchern zu Boden fallen, gelbe, rote und braune. Der Wind formte sie zu bunten Häufchen. Wenn Kinder diese mit den Füßen auseinander stießen, raschelten sie zärtlich. Das knisternde Geräusch und der lustige Anblick erinnerten jeden erwachsenen Menschen an die vergangene eigene Kindheit. Die unbeschwerte Freude an diesem natürlichem Spiel erstarb jedoch mit jedem Lebensjahr.

Für mich war es noch immer eine wunderschöne Jahreszeit, denn ich war erst achtzehn Jahre jung. Allerdings verbrachte ich sie inzwischen doch lieber daheim.

„Percy, was ist nur mit dir los?“, drang eine zuckersüße Stimme bestimmt in meine träumerischen Gedanken vor.

Ertappt zuckte ich zusammen. Etwas brauner Tee ergoss sich dabei ungewollt auf die Untertasse. 

„Ich habe mich verliebt!“, gestand ich errötend die Wahrheit. Es wurde Zeit. Ein innerer Zwang zum Teilen dieses wundervollen Zustandes hatte mich verleitet. Geteilte Freude verdoppelt sich nun einmal.

„Wie wunderbar!“, hauchte meine Besucherin.

Grace sah mich mit ihren warmen Augen geradezu inniglich an. Die Hübsche sah sich offenbar am Ziel ihrer Wünsche. Aufgeregt kratzte ihr abgespreizter kleiner Fingernagel in den blonden Locken, die einen minimalen Rotstich aufwiesen. Gerade dieser verlieh ihr eine ganz besondere Note. Sie war eine gottesfürchtige hellhäutige anglikanische Schönheit, aus guter Familie, reich und somit der Traum eines jeden Heiratswilligen. Die bezaubernde Grace war die Tochter einer mit Mama befreundeten Unternehmergattin. Ihr wohlproportionierter Anblick brachte bei jungen Männern das Blut zum Kochen. Aus einer eigenwilligen Laune heraus hatte sie sich vor einiger Zeit in mich verguckt und anscheinend in den Kopf gesetzt, mich mit ihrer Zuneigung zu beglücken.

Seit drei Monaten besuchte sie uns daher auffällig oft. Mehrmals in der Woche schaute sie angeblich zufällig vorbei. Als Vorwand dafür dienten zumeist kleine Einkäufe, die sie meiner Mutter und auch zunehmend mir präsentierte. In der Nähe unseres Domizils gab es glücklicherweise einige Geschäfte, die sie regelmäßig beehrte. Mama schickte den hübschen Gast dann jedes Mal aus irgendeinem fingierten Grund zu mir. Heute war es eine Tasse Tee und etwas frisches Gebäck.

Der sinnliche Busen meiner Besucherin sprengte fast die Enge der weißen Bluse. Grace wusste natürlich genau um ihre erotische Ausstrahlung, gab sich äußerlich jedoch für gewöhnlich züchtig und naiv. Dies fesselte Männer noch mehr. Schalkhaft ließ sie in manchen Momenten diese Hülle fallen und verdeutlichte so, welche reizvollen Möglichkeiten sie einem Auserwählten bieten konnte. Ihr Auftritt wirkte jedoch immer vollkommen natürlich und nett. Grace war einfach ein Kind des Glückes. Reichtum, Schönheit und Grazie hatten sich in ihrem Wesen natürlich vereint. Auch ich fühlte mich in ihrer Nähe ausgesprochen wohl und genoss sogar die Momente unseres Beisammenseins auf gewisse Art.

Grace erhob sich und trat nun jeden Schritt bewusst wählend ganz dicht an mich heran. Ihr blumiges Parfüm erfüllte kraftvoll die Luft meiner Umgebung. Sacht berührte sie mit ihren weichen Fingern meinen Arm. Ich empfand dies als sehr angenehm und war zugleich erstaunt darüber.

„In wen?“ Die Frage war kurz und prägnant.

Die Neugierige wollte unbedingt die Wahrheit wissen. 

„Sie ist einfach vollkommen!“, erklärte ich begeistert mit leuchtenden Augen.

Die Schöne kam noch näher. Ihr Atem roch etwas nach Kaviar. Sogar das wirkte bei ihr nicht unangenehm, obwohl ich Fisch nicht mochte. Es war nur eine kleine Brise, so als stände man am Rand des Ozeans und ließ dessen erhabenen Odem ganz bewusst auf sich wirken.

„Wer ist sie?“, flüsterte sie sinnlich und erhoffte dabei eine ganz bestimmte Antwort.

Ich entfernte mich kurz und holte geschwind ein Blatt von meinem Schreibtisch.

Grace sah es sich mit einem äußerst verblüfften Ausdruck im Gesicht an. Sie verstand rein gar nichts. Mathematik gehörte nicht zu den Dingen, mit denen die Hübsche sich gern beschäftigte. 

„Was ist das?“ Ihre blauen Augen musterten unverständig und geradezu geringschätzig die langen Zahlenreihen.

„Das ist der Beweis, dass es sie geben muss?“ Ich war innerlich euphorisch. Das Ergebnis stellte einen Durchbruch dar und bewies, dass meine Theorie absolut richtig war.

„Wen?“ Meine Besucherin war schockiert und riss ihre großen Augen noch erstaunter auf. Diese schienen fast aus den Höhlen zu fallen. Ihre Augäpfel waren mir noch nie so groß erschienen.

„Na die Vollkommenste!“, stieß ich abermals enthusiastisch hervor. 

„Percy, das sind doch nur ganz blöde Zahlen!“, brachte es Grace gekonnt auf den Punkt. Man sah, dass das Mädchen in diesem Augenblick maßlos von mir enttäuscht war. Ich ahnte unterbewusst, dass sie offenbar etwas anderes erwartet hatte, doch ich wollte sie keinesfalls belügen oder ihr falsche Hoffnungen machen. Mit uns konnte es nun leider nichts werden, obwohl sie mir keineswegs unsympathisch war. Nein es war noch mehr, ich mochte sie. Es war Grace sogar gelungen, ein Teil meines Lebens zu werden. Mich konnte mit ihr aber nur eine platonische Freundschaft verbinden, da ich mein Herz urplötzlich an eine Andere vergeben hatte. Was kann man schon gegen machtvolle Gefühle tun? Sie sich aus dem Herz reißen? 

Die inzwischen äußerst aufgebrachte Besucherin tat mir in diesem Moment natürlich sehr leid. Sie rang um Beherrschung. Wie hatte ich nur denken können, dass sie sich über diese Offenbarung freuen würde.

Ich lächelte tapfer.

„Das sind nicht nur Zahlen!“, erklärte ich bestimmt. Ein wenig gekränkt war ich schon, dass sie dahinter nicht das erkannte, was mein junges Herz zum Klopfen brachte.

„Du musst vollkommen verrückt sein!“, brach es aus ihr heraus.

Wütend warf sie das Blatt auf die Erde, trat symbolisch mit ihrem feinen Schuh darauf und brachte demonstrativ ihre bezaubernde weibliche Figur in Erscheinung

„Hallo, bist du blind?“ Sie reckte ihre großen prallen Brüste vor. Ja, die waren sehenswert. In ihren Augen standen erste kindliche Tränen. Das leicht geschminkte Gesicht wirkte vollkommen fassungslos, als hätte sie den Boden unter den Füßen verloren.

„Du siehst selbstverständlich wundervoll aus!“, gestand ich ihr stammelnd zu.

„Was heißt denn das? Percy, ich mag dich wirklich, besonders deinen merkwürdigen Humor!“, murmelte sie. Noch immer hoffte sie wohl, dass alles sich als ein dummer jungenhafter Scherz entpuppen würde.

Das machte es noch schwerer. Nun wurde es mir sogar etwas peinlich.

„Tut mir leid, ich liebe eben eine andere!“, zog ich mutig den Schlussstrich. Gerade, weil wir Freunde waren und ich Grace schätzte, musste ich vollkommen ehrlich zu ihr sein.

Eine Trennung ist immer dann schwierig, wenn eine Seite Gefühle entwickelt, die andere jedoch nicht. Das war mir schon klar. Was sollte ich aber sonst tun? Mir blieb nur Aufrichtigkeit.

Die Aufgebrachte nahm fassungslos und von Zorn erfüllt ihren Mantel. Sie fühlte sich gekränkt und zudem ihrer weiblichen Würde beraubt.

„Mein Gott, ich verliere gegen eine Zahlenreihe!“

Tränen liefen ihre Wangen hinunter. 

Einen kurzen Moment hielt sie inne und zog ein kleines Päckchen heraus. Sie warf es in meine Richtung. Es verfehlte mich jedoch. 

„Fast hätte ich dein Geschenk vergessen!“ 

Ohne Gruß schmetterte sie wütend die Tür hinter sich zu. Das Mädchen besaß viel Temperament. Für eine Sekunde bereute ich meine Offenheit. Ich hatte sie keineswegs aus meinem Leben vertreiben wollen.

Vielleicht war das aber am besten für uns beide. Es gibt vielleicht keine platonische Freundschaft zwischen einem richtigen Mann und einer Frau. Nur Dummköpfe halten so etwas offenbar für möglich.

Wer ist schon vollkommen

Den Kopf voll wirrer Gedanken und noch immer aufgewühlt ging ich in meinen Sportraum und schlug wütend immer wieder auf den Punchingball ein. Körperliche Betätigung half mir in solchen Momenten, wieder zu mir zu finden. Ich war nicht nur ein guter Mathematiker, sondern auch ein ziemlich guter Faustkämpfer, Pistolenschütze und Reiter. Schon manches sportliche Turnier hatte ich zur Freude meiner Mutter auf dem Pferderücken oder im Ring für mich entschieden. Auf einem Sideboard standen einige Pokale und an der Wind hingen mehrere Urkunden als Zeugnis meiner Siege. Wie heißt es so schön? Gegensätze ziehen sich an. Meine ganze Persönlichkeit war dafür ein Beispiel. 

Ich galt gemeinhin als ein ganz besonderes Wunderkind, so etwas wie ein mathematisches Genie. Das Schicksal oder der Zufall hatte mich mit einem sogenannten eidetischen Gedächtnis gesegnet. Unter Milliarden Menschen besaß dieses Talent meist nur einer. Ganze Buchseiten speicherte ich binnen Sekunden für immer in meinem Gehirn ab. Das Wissen war dort jederzeit abrufbar, wie aus einem Lehrbuch. 

Trotz meiner wissenschaftlichen Interessen und des fotografischen Merkvermögens war ich also kein bleicher Bücherwurm oder einer dieser mit dicken Gläsern bebrillten Klugscheißer. Mein fröhliches Lachen, die muskulöse, aufrechte Gestalt, mein Witz und die schalkhaften Augen wirkten wie der Zauber einer Fee auf die Menschen. Das hatte anscheinend auch bei Grace zu Gefühlen für mich geführt. Die Welt liebte und bewunderte mich zumeist. Durch diese Fähigkeiten, meine vornehme Erscheinung und das große Erbvermögen galt ich im Moment als eine gute Partie. 

Wir zählten zu den zehn reichsten Familien in Manhattan. In etwa drei Jahren, zum 21. Geburtstag, würde ich zudem große Reichtümer erben. Mein Vater hatte sie mir als einzigem Nachkommen zugedacht. Er war seit drei Jahren verschollen und ich sein einziger Sohn. Man vermutete, dass Banditen ihn auf einer Geschäftsreise getötet hatten. Sein spurloses Verschwinden blieb ein Rätsel und konnte bisher nicht aufgeklärt werden. Von einem auf den anderen Tag war er einfach aus unserem Leben verschwunden. Fast so, als hätte es ihn niemals gegeben und sein Leben wäre nur eine dieser Geschichten. 

Unser Domizil befand sich im Zentrum von Manhattan. Zusammen mit Mama und unseren Bediensteten lebte ich in einem repräsentativen Penthouse. Das gesamte marmorverkleidete Hochhaus gehörte uns allein. Unter der riesigen Wohnung, die sich über zwei Stockwerke erstreckte, befanden sich die zahlreichen Büroräume unserer Handelsfirma. Man munkelte, dass ihn vielleicht ein Konkurrent entführt und ermordet hatte. Die Polizei tappte jedoch noch immer im Dunklen. Wir hatten uns inzwischen mit dieser Situation arrangiert. 

Im Nachhinein erschien es mir als ein Fehler, dass ich Grace mein besonderes Geheimnis offenbart hatte. Mir war klar, dass ich sie verletzt hatte und sie mein Vorhaben vielleicht für verrückt hielt. Besonders nach der Lektüre ihres Geschenkes. Es handelte sich um eine in Leder gebundene Ausgabe von Gogols Die Nacht vor Weihnachten. Der Teufel, Hexen und durchtriebene Dorfbewohner lieferten sich darin eine geradezu verrückte Partie an Hinterhältigkeiten und Lügen. Grace wollte mir damit scheinbar aufzeigen, dass es noch eine andere Seite als die der Wissenschaft gab, etwas Magisches, das hinter der Realität verborgen war. Lustig war das Ganze schon, doch wer nahm Geschichten von Hexen und Pferdefüßlern denn ernst? Dergleichen existierte genauso wenig wie Werwölfe und Vampire. Solche Geschichten waren etwas zum wohligen Gruseln und kein wahrer Gegenpart zu meinem Vorhaben.

In den nächsten Tagen stürzte ich mich noch intensiver auf weitere Berechnungen. Ich musste Grace, mir und der Welt beweisen, dass es die ideale Gefährtin oder den idealen Partner für jeden - also auch für mich und Grace - gab und dass man sie mit Hilfe der Mathematik finden konnte. Es gab die ganz große Liebe wirklich. Sie war nicht nur ein Zufall der Gefühle und unserer gewöhnlichen Biologie. Die intensive Arbeit bewahrte mich auch vor den unangenehmen Schamgefühlen. Ich unterbrach sie nur durch gelegentliche Ausritte und sportliche Betätigungen mit dem Punchingball.

Ich versank regelrecht in das erhabene Vorhaben und lebte zunehmend in meiner entrückten Welt. Diese Tätigkeit wollte ich bald nicht einmal zum Essen unterbrechen, denn ich hatte das Gefühl kurz vor dem Durchbruch zu stehen. Mein Herz pochte wild gegen die Brust, da es nun von der Gewissheit angetrieben wurde, dass es möglich war, das Alter meiner Vollkommenen einzugrenzen. 

Das erste Zwischenergebnis lautete: Es gab sie. Das zweite: Sie wäre zwischen 13 und 99, sofern sie ein weibliches und zudem menschliches Wesen war! 

Dieses mit langer Formel errechnete Wissen erschien mir geradezu genial. Ein fiebriger Sinnenrausch erfasste mich wie ein reißender Strom. Oh, wie gern hätte ich meine Vollkommene schon jetzt in meine Arme genommen und ihr Gesicht mit wilden Küssen bedeckt. Wie sah sie nur aus? Aus welchem Land stammte sie? War sie überhaupt ein Mensch? Sie war schon jetzt meine Göttin.

„Oh Liebste“, hauchten meine Lippen voller Inbrunst.

Ein unscharfes Bild füllte meine Gedanken und nahm Gestalt an. Das musste sie sein!

„Grace?“, murmelte ich verblüfft. 

Das konnte nicht sein. Meine Fantasie hatte sich da etwas zusammengewischt und das Trugbild zu Grace geformt. Wütend schmiss ich den Federhalter aus der Hand beiseite. Unglücklicherweise landete er auf auf meiner Berechnung und hinterließ einen dicken blauen Klecks, der das Ergebnis verdeckte.

Sollte das etwas bedeuten? War es vielleicht falsch? Wir Amerikaner haben einen Hang zum Aberglauben.

Das kann doch nicht wahr sein

Ich hatte das Gefühl kurz vor dem endgültigen Durchbruch zu stehen. Mein Herz pochte in Vorfreude bereits wild gegen die Brust.

Das erste Zwischenergebnis lautete: Es gab sie mit fünfundneunzigprozentiger Sicherheit irgendwo. Das zweite: Sie wäre mit sechsundachtzigprozentiger Wahrscheinlichkeit zwischen zwölf und neunundneunzig Jahren alt. Was für ein Resultat!

Dieses mit langer Formel errechnete Wissen erschien mir in diesem Moment einzigartig. Ein fiebriger Sinnenrausch erfasste mich wie ein reißender Strom. Oh, wie gern hätte ich meine Vollkommene schon jetzt in meine Arme genommen und ihr Gesicht mit wilden Küssen bedeckt. Wie sah sie nur aus? Aus welchem Land stammte sie? War sie überhaupt ein Mensch? Sie war schon jetzt meine Göttin. Es wurde Zeit, eine Flasche Champagner zu köpfen.

„Oh Liebste“, hauchten meine Lippen zärtlich voller Inbrunst. Nur ein Liebender kann nachempfinden was ich gerade fühlte.

Ein unscharfes Bild füllte meine Gedanken und nahm Gestalt an. Das musste sie sein!

„Grace?“, murmelte ich verblüfft. Ich sah sie ganz deutlich.

Das konnte nicht sein. Meine überschießende Fantasie hatte sich da etwas zusammengewischt und das Trugbild zu Grace geformt. Wütend schmiss ich den Federhalter aus der Hand. Unglücklicherweise landete er direkt auf auf meiner Berechnung und hinterließ einen dicken blauen Klecks, der das erhabene Ergebnis verdreckte.

Sollte das etwas bedeuten? 

Ungewöhnliche Laute drangen aus dem Schlafzimmer meiner Mutter und störten den aufgewühlten Fluss meiner Gedanken und Gefühle. Was ging dort unten nur vor? Neugier erfasste mich. Also schlich ich auf leisen Sohlen durch den altehrwürdigen Treppensaal und den langen Flur zum Gemach entlang. Dicke Teppiche dämpften die Schritte, jedoch knarrte ab und an eine der hölzernen Dielen, die darunter lagen.

Durch den leicht geöffneten Türspalt des Schlafzimmers sah ich, wie ein merkwürdiges dürres Männchen, das ein Monokel an der riesigen roten Nase festgeklemmt hatte, mit knochigen Händen meine halb nackte Mutter untersuchte. Ihre prallen Brüste waren vollkommen bloß.

Es handelte sich bei dem Wicht offenbar um den neuen Arzt, von dem sie mir bereits vor einigen Tagen etwas vorgeschwärmt hatte. Angeblich war die Gesellschaft, besser gesagt ihre geschwätzige Bekanntschaft, von dem Medikus aus Europa begeistert. Er sollte sogar mit der Kunst der Hypnose heilen. Der Kerl mit der roten Nase wollte offenbar in besseren Kreisen Fuß fassen und ließ sich unter den Frauen fleißig weiterempfehlen. 

Der Mediziner sah im Leben viel hässlicher aus, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Vollkommen ungeniert griff er meiner Mutter an ihr volles Mieder.

„Oh, wie straff Ihre Kugeln noch sind, wie wunderbar die helle Haut duftet!“, verkündete der Dreiste und schnüffelte mit seinem überdimensionalen Zinken genüsslich an ihrem Hals. Seine flinken Hände machten sich daran, ruchlos weitere körperliche Gefilde meiner geliebten Mama zu erkunden. Zorn und Abscheu erfassten mich zugleich. Hätte ich nur einen Stock dabei gehabt. Instinktiv verabscheute ich den Kerl. Mir gefiel das, was der Gnom dort tat, gar nicht. Er war mir zutiefst unsympathisch.

„Sie scherzen!“, gluckste diese wie ein Täubchen bei der Balz. „Seit dem Verschwinden meines Mannes bin ich so einsam, dass ich glatt verwelke!“

„Meine Ärmste, die Blume muss unbedingt begossen werden, damit sie in jugendlicher Frische erblüht. Beugen Sie mal den Oberkörper über das Bett!“, wies der Arzt sie an und schob ihren Rock erfahren hoch.

Empört wollte ich mich beinahe bemerkbar machen und diesen unsittlichen Vorgang unterbrechen. Waren das überhaupt medizinische Untersuchungen? Das sah mehr so aus, als ob er die willige Patientin verführte.

Doch der lieben Mama gefielen die obszönen Griffe und Komplimente. Sie kicherte lustvoll bei jeder Berührung des dürren Nasenbären. So kokett hatte ich sie noch nie erlebt. Hatte der Kerl sie vielleicht schon hypnotisiert, um sie willig zu machen? 

Um vollkommen ungestört weitere Orte untersuchen zu können, stand der Unverschämte auf und eilte zur Doppeltür. Sicher wollte er die angelehnten Holzflügel ganz schließen, um sein anzügliches Tun vor anderen zu verbergen.

Unruhig atmend versteckte ich mich instinktiv hinter einem weißen Pfeiler, der neben der Tür emporragte. Ich wollte keinesfalls als Spanner ertappt werden und hatte auch keinerlei vorzeigbaren Beweis für meinen Verdacht. Mein Davonhuschen blieb nicht unbemerkt. Sein vergrößertes Auge, das hinter dem Monokel riesig wirkte, funkelte neugierig den Flur ab.

„Mir war, als hätte ich jemanden gehört“, murmelte er gnomenhaft.

„Keine Sorge, das war bestimmt nur ein Mäuschen“, beruhigte ihn seine willige Patientin. „Wir haben leider Gottes viel zu viele davon. Lassen Sie uns rasch die Untersuchung fortsetzen!“

Meine Mama ermunterte diese verabscheuungswürdige Riesennase sogar noch. Konnte man das fassen?

„Ich bringe das nächste Mal etwas Arsen mit, da verrecken die Viecher schnell!“ Aus dem Mund des Arztes klangen die Worte äußerst bösartig und herzlos. Rasch wechselte der widerliche Kerl von seinen Mordgedanken zu erwartungsvoller Vorfreude, schloss den Türflügel und kicherte schrill wie ein Transvestit.

Das Weitere wollte ich gar nicht hören oder anderswie mitbekommen. Mir wurde schon bei dem Gedanken an dieses unschickliche Tun übel. Als Sohn sieht man die eigene Mutter nicht gerne nackt und ganz besonders nicht mit einem fremden, boshaften Mann zusammen. Die Vorstellungen, welche in mir zu den beiden aufstiegen, waren geradezu gruselig. Angewidert wandte ich mich kopfschüttelnd ab. Das unzüchtige Beisammensein der beiden erinnerte mich noch deutlicher daran, wie allein ich nach dem Tod meines Vaters eigentlich in der Welt war. Nur eine bestimmte Person konnte mir die Einsamkeit nehmen. Wie gut, dass ich verliebt war. Ein Seufzer entrang sich mir. Schmerzen der Liebe krampften mein junges Herz zusammen. 

Komischerweise dachte ich plötzlich wieder an Grace. Vielleicht sollte ich mich bei ihr entschuldigen? Sie war klug, sah gut aus und hatte das Herz am rechten Fleck. Nein, ich durfte keinen Kompromiss machen. Das wäre ein Verrat, ja ein Betrug an der wahren Liebe.

Seltener Besuch

Mama hielt meine gegenwärtige Beschäftigung für nutzlose Zeitverschwendung, für eine Art Krankheit. Aus Sicht meiner Mutter wurde es Zeit, eine geeignete Braut zu finden. Deshalb förderte sie die Besuche von Grace. Diese waren aus ihrer Sicht so etwas wie Therapie.

Sie ahnte ja nichts davon, dass ich schon längst verliebt war und nur an Liebeskummer litt. Ich hatte mich bis über beide Ohren in eine Unbekannte verliebt.

Aus Vorsicht erzählte ich niemandem im Hause von meiner außergewöhnlichen Liebe. Man sah ja bei Grace, wozu die Wahrheit führte. So litt ich weiter allein. Mein junges Herz schmachtete. Unruhe und Sehnsucht bestimmten seitdem mein Gemüt. Wie konnte man sich auch in eine Unbekannte verlieben, selbst wenn sie die Vollkommene war? 

Wer war sie nur und wo konnte ich sie finden? Wir waren Seelenverwandte und füreinander geschaffen. Das stand fest.

Mama befürchtete inzwischen sogar, dass ein merkwürdiges Fieber mich heimgesucht hatte und vielleicht meinen Verstand beeinträchtigte. 

Entschlossen, mich von niemandem aufhalten zu lassen, arbeite ich Stunde um Stunde und Tag für Tag. Ich bemerkte nicht, wie die Zeit verging und verlor jegliches Maß für sie.

Es klopfte.

„Was ist?“, rief ich ungehalten vom übergroßen Schreibtisch aus. Zwischen den bekritzelten Papierbergen war seine dunkle Mahagoniplatte nur noch zu erahnen.

Die Tür öffnete sich. Unser guter alter Hausdiener, der sein Gesicht mit überlangen, gekräuselte Koteletten verzierte, erschien in seiner blauen Uniform. Der inzwischen unmoderne krause Backenbart war scheinbar frisch gestutzt. Er hatte noch ein wenig Seifenschaum im Gesicht. Hingegen war seine Kleidung durch die vielen Dienstjahre an Knien und Ellbogen so abgeschabt, dass man seine gelbliche Haut hindurch schimmern sah. Er weigerte sich jedoch eine neue Uniform zu tragen. Zu sehr war ihm die alte ins Herz gewachsen. Da half kein Schimpfen oder Drohen. In der linken Hand balancierte er ein silbernes Tablett, auf dem Gläser und Schalen im russischen Stil standen.

„Guten Tag, Percy! Wie wäre es mit einem belegten Butterbrot, Schinken, Käse und einem Kännchen Tee mit Honig?“ Da der Hausdiener meine Wenigkeit von klein auf kannte, redete er mich als einziger vom Gesinde noch mit dem Vornamen an. Ich gestattete ihm dies, da er für mich fast zu einem Vaterersatz geworden war.

Der Geruch der Speisen wehte mir durch den Raum entgegen. Der Kamin knisterte und verbreitete Gemütlichkeit. Normalerweise hatte ich einen gesunden Appetit. Doch ich winkte ihm mit der Hand eine abweisende Geste zu. Er sollte verschwinden, denn ich war zu beschäftigt.

„Nimm das Zeug ruhig wieder mit. Du darfst alles selbst essen.“

Verblüfft starrte der treue Diener mich an. Sein Mund stand offen, als hätte er einen Geist gesehen. Er sah traurig aus. Kopfschüttelnd schloss der Bedienstete die Tür. Sein kahler Schädel verschwand zwischen den Flügeln.

Er tat mir leid, aber wie konnte der gute alte Tropf, der sicherlich niemals in seinem ganzen Leben verliebt gewesen war, mein grandioses Vorhaben und meine Gefühle verstehen? 

Eine Unterbrechung meiner Herzensaufgabe mit Schlaf, Essen und Toilette kostete nur wertvolle Zeit. Selbst die Haare waren mir inzwischen lang gewachsen und der erste dünne Bartflaum machte sich auf den Wangen breit. Ich vermied jede Zeitverschwendung, da der Durchbruch nahe war.

Alle Wände meines imposanten Zimmers waren mit Schmierblättern tapeziert. Ein ordnungsverliebter Bürokrat würde den Kopf schütteln und die Ansammlung für Chaos halten. Für mich war es aber keins. Auch auf dem Boden häuften sich kniehohe Papierberge und die alten Möbel erstickten unter den mathematischen Dekorationen.

Doch immer tauchten neue Probleme auf. Meine wahre Liebste entfloh mir wie ein Schneehase. Immer wieder schlüpfte sie durch die Löcher meiner Zahlennetze und das hübsche Gesicht von Grace tauchte statt dessen auf. Ich sah vertraute Bilder, in denen wir vertraut beieinander saßen. 

Nur wenige Minuten später klopfte es erneut.

Ein wenig Blut stieg mir vor Ärger zu Kopf. Genau diese Störungen waren es, die meinen Gedankenfluss und die mühsam geknöpften logischen Ketten unterbrachen. Man konnte wahnsinnig werden.

Abermals trat unser Diener ein.

„Kein Essen bitte!“, rief ich ungehalten, ehe er den Mund öffnen konnte. Trotzdem versuchte ich äußerlich die Beherrschung zu behalten. Streit und Auseinandersetzungen lenkten mich von meiner Aufgabe ab. Alles musste sich dem neuesten Ziel unterordnen, wirklich alles. Selbst der Weltuntergang musste warten.

„Der Sekretär des Finanzministers bittet um Einlass. Er fragt nach, ob das Lottosystem fertig ist“, rechtfertigte der gute Alte sein nochmaliges Erscheinen. Was sollte der arme Kerl auch tun?

Diese Lottosache also… Zum Glück hatte ich den Kleinkram schon erledigt, bevor mich Amors Pfeil getroffen hatte. Meine Hand zitterte für einen kurzen Moment vom inneren Ringen. Im Augenblick wollte ich eigentlich nicht einmal den Präsidenten selbst empfangen. Aber ich zwang ein Lächeln auf meine Lippen. Hoffentlich wirkte es echt genug.

„Er soll eintreten“, entgegnete ich bemüht höflich, „auch wenn ich nur wenig Zeit habe …“ Den Nachtrag murrten meine Lippen so leise, dass es niemand außer mir hören konnte.

Unter einem Berg bekritzelter Blätter suchte ich nach dem Ordner und fand ihn. Welch ein Glück war das! So hatte ich wenigstens etwas Zeit gewonnen.

Der uniformierte und mit vielen klappernden Orden behängte Mann trat ein und warf einen Seitenblick auf die Unordnung. Er erwähnte sie jedoch nicht. Bei Wissenschaftlern sah es nun einmal anders als bei normalen Menschen aus. Man musste kein Hellseher sein, um diesen Gedanken zu erraten.

„Ich suche Mr. Percy Racliff, den Mathematiker“, erklärte er.

Unser Diener schmunzelte in seine gestutzten Koteletten hinein. Er war an solche Verwechslungen gewohnt.

„Ich bin der, den Sie suchen“, klärte ich den Besucher auf. „Nennen Sie mich einfach Percy!“

Meine Jugend verschlug dem Gesandten die Worte.

„Das System ist fertiggestellt“, füllte ich die sprachlose Lücke. „Es garantiert die gewünschte Gewinnquote und ist von einfachster Art, sodass selbst Dummköpfe es verstehen müssten.“ Ich drückte ihm die dreißig Blätter voller Zahlenmyriaden in die Hand und hoffte, dass er jetzt in einer perfekten Gerade zum Ausgang marschierte.

Doch der Mann begann in aller Seelenruhe die Unterlagen zu prüfen. Dazu setzte er sich wie selbstverständlich in einen Sessel.

Ich unterdrückte einen Fluch. Sein Beamtenhintern zerknitterte die darauf liegenden Papiere, was ihm jedoch völlig egal war.

Währenddessen trippelte unser Butler von einem Fuß auf den anderen und wusste nicht, ob er sich entfernen sollte. Da ich seine Entlassung vergessen hatte und er sich nicht nachzufragen traute, blieb er unruhig an seinem Platz stehen.

Ich zuckte mit den Schultern, überließ jeden sich selbst und huschte ungeduldig an meinen Arbeitsplatz zurück. Bald vergaß ich den Diener und den stummen Besucher ebenso. Im Nu war ich in eine neuerliche Berechnung vertieft. Einige Zeit verging auf diese Weise, ohne dass ich es eigentlich zur Kenntnis nahm. Wieder öffnete sich die Tür. Sie knarrte dabei. Mama trat zusammen mit dem dünnen, unsympathischen Kerlchen ein, das sich kürzlich mit ihren Brüsten und wer weiß was noch beschäftigt hatte. Der Wicht schaute gewichtig auf die Unordnung und machte sich dabei bedeutungsvoll Notizen in ein ledernes Büchlein. Das an der Gurkennase klemmende Monokel ließ sein dahinter liegendes Auge irrsinnig groß wirken. 

„Unglaublich!“, rief irgendwer.

Ich schaute endgültig von meinem neusten Zahlengerüst auf. Die Worte waren dem Gesandten des Ministers entglitten, der immer noch studierend in dem Sessel saß.

„Das konnte nur ein mathematisches Genie entwickeln!“ Jetzt hielt er den Papierpacken vor sich wie ein Porträt, als wollte er es wie eine Ikone küssen.

„Mein Gott!“, ertönte nun die Stimme meiner Mutter. 

„Ja, wirklich!“, sagte der Beamte. „Ihr Sohn ist ein Gott. Ich werde dem Präsidenten persönlich von ihm berichten.“ 

Der faszinierte Redner bewertete die plötzliche Bemerkung fälschlich als Begeisterung für seine letzten Worte. Er stand auf und verneigte sich höflich zu Mama. „Mr. Racliff übertrifft jeden Mathematiker, den ich kenne! Als ich hörte, jemand habe Poincarés Vermutung bewiesen, habe ich mit einem steinalten Kauz gerechnet.“

„Es ist es keine Vermutung mehr, sondern ein Fakt“, stellte ich bescheiden klar. „Jede n-Mannigfaltigkeit mit dem Homotopietyp einer n-Sphäre ist zur n-Sphäre homöomorph.“

Mama und der Arzt rissen erstaunt die Augen auf. Sie verstanden sicher nichts von allem.

Der Beamte schwärmte weiterhin in höchsten Tönen von mir. Wie verbale Goldmünzen regneten die Worte auf mich nieder. Ein wenig schmeichelte mir sein Lob doch. Außer uns beiden verstand aber niemand, wovon wir redeten – oder? Der Gnom mit der großen Nase machte sich weiter eifrig Notizen.

Hingegen hielt sich meine Mutter die Ohren zu. „Schweigen Sie bitte!“, herrschte sie den Boten bestimmt an. 

„In diesem Haus geht es immer nur um Zahlen, Zahlen und nochmals Zahlen!“ 

Ohne den hohen Gast weiter zu beachten, wandte sie sich an mich: „Du hast seit drei Tagen nichts gegessen. Ich bin in großer Sorge! Du siehst zudem ungesund und blass aus.“

Der Gesandte schwieg verblüfft. Er wusste nicht, was er dazu sagen sollte. In fremde Familienangelegenheiten wollte er sich nicht einmischen.

Mir war das natürlich äußerst peinlich. Mama behandelte mich wie ein Kind.

„Mutter, doch nicht vor dem Besuch!“, klagte ich und setzte ein entschuldigendes Lächeln auf. 

Das dürre Männchen hatte sich inzwischen bis zu meinem Schreibtisch vorgearbeitet und griff sich kess eine meiner Berechnungen. Er war resistent gegen meinen Charme. Das machte ihn gefährlich. 

Seine widerlich lange Nase, die zudem ein dickes behaartes Muttermal neben der Spitze hatte, rümpfte sich wie die eines Schweines. Dieses Organ war erstaunlich. Es zeigte offenbar sogar seinen Gemütszustand an und besaß eine eigene Mimik. Angewidert schaute ich auf das Schnüffelspiel. Was fand meine Mutter an diesem hässlichen Kerl? 

Doch keiner sollte erfahren, woran ich wirklich arbeitete. Deswegen drehte ich die oberen Blätter um und versuchte ihm das gestohlene Papier aus der Hand zu nehmen. Er wehrte sich, als nähme ich ihm sein Betthupferl.

„Das dürften Sie ohnehin nicht verstehen“, spottete ich.

Die Riesennase ließ jedoch nicht los und betrachtete das Blatt wie ein Beweisstück. Aber für was sollte es ein Indiz sein? Immer energischer zogen wir an beiden Seiten, bis das Papier zerriss. Er hatte meine ganze Arbeit zerstört!

„Fassen Sie die Sachen nicht an!“, ermahnte ich ihn aufgebracht. „Es reicht, wenn Sie meine Mutter belästigen!“

Dieser verschlugen meine offenen Worte die Sprache. Ihr Antlitz schimmerte zuerst bleich, dann eroberte das Rot die Wangen. Beinahe sah es aus, als wuchsen dort zwei Tomaten. Sie warf dem Besuch einen pikierten Blick zu. Mein Wissen war ihr unangenehm.

Aber das Männchen wiegte nur nachdenklich den Kopf, beobachtete mich durch das Monokel und kritzelte wieder eilig etwas in sein Buch. Seine Nase erschien mir dabei höhnisch gebläht.

Meine geliebte Mutter fand ihre Fassung jedoch rasch wieder und war nun nicht mehr zu bremsen. „Welcher siebzehnjährige Junge hat nur Zahlen im Kopf? Da sollten jetzt Mädchen drin sein! Andere haben in deinem Alter längst eine Freundin oder suchen schon nach einer Braut! Die Mathematik macht dich besessen!“

Der Doktor nickte zustimmend und kritzelte wild in sein Buch.

„Was schreiben Sie da?“, erkundigte ich mich und errötete zugleich. „Und ich bin zudem achtzehn Jahre alt!“

„Was schreibst du da?“, konterte meine Mutter mit Blick auf das Blätterchaos. Wenn ihre Augen das Zeug verbrennen könnten, würde meine Stube lichterloh flackern.

Ich fühlte mich hilflos. Wie sollte ich Mama erklären, dass ich bereits nach der vollkommenen Liebe suchte? Ich wollte nicht irgendeine. Dann würde ich am Ende nur unglücklich werden.

„Bist du denn besessen?“, fragte der Doktor ganz nebenbei, als sprächen wir über die Qualität von einem Tee.

„Ich bin vollkommen gesund!“, rief ich wütend. Was erlaubte sich der Kerl nur?

Er rümpfte die Nase, lächelte verschmitzt und brachte seine Gedanken erneut zu Buche.

Indessen schlich der Gesandte in Richtung der Türflügel und überlegte, wie er sich standesgemäß verabschieden konnte. Er wollte sich dem Desaster entziehen.

Meine Mama verprügelte mich weiter mit Worten.

„Er ist ein Genie“, versuchte der Bote mir beizustehen. „Wahrhaft ein Genie!“

„Genie und Wahnsinn sind oft vereint“, belehrte die Nase ihn überheblich.

Bei diesem Satz kam mir ein Gedanke. Natürlich, wie hatte ich das übersehen können? Die Lösung lag direkt vor mir!

Ich stürzte zu einem Papierhaufen und wühlte darin. Man musste Poincarés Vermutung unbedingt in Bezug zu chaotischen Systemen setzen!

„Sehen Sie!“, stieß Mama hervor und wies anklagend auf mich. „Er ist krank!“

„Vollkommen besessen!“, ergänzte ihr Begleiter zustimmend, als wäre es ein unumstößlicher Fakt. 

Das war ein Narrenhaus. Der hohe Besuch wirkte verwirrt. Der Arzt wog seinen Kopf sinnend hin und her, gab sich besorgt und klopfte meiner Mutter beruhigend auf die Schulter. Das wirkte unangemessen intim, als wären sie bereits ein Paar.

„Die Zahlen machen ihn noch wahnsinnig! Er hat schon Fieber!“, stöhnte Mama leidvoll und stützte sich auf einen Stuhl, als verlöre sie sonst den Halt.

Ohne dass ich etwas dagegen machen konnte, ergriff der Gnom beinahe habgierig meine Hand und fühlte den klopfenden Puls.

„Sehr beunruhigend! Zeig mal deine Zunge!“, befahl er, als wäre ich ein kranker Knabe.

Um meine Ruhe zu haben, tat ich es.

„Ich habe es befürchtet!“, stieß der Arzt hervor. Das Auge unter dem Monokel schien noch größer zu werden und seine Nase bebte erschüttert. Allein durch dieses merkwürdige Schauspiel hatte er die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf seiner Seite.

„Was?“, rief meine Mutter ängstlich. Sie sorgte sich ehrlich um mich. Kein Wunder, denn ich war ihr einziger Sohn.

Aber der Quacksalber verfolgte eigene Pläne. Ich musste mich in Acht nehmen. Er war durchtrieben. Und dann kam sie, die Diagnose.

„Er leidet bereits unter schizoider Psychopathie!“

Alle machten bei diesen gefährlich klingenden Begriffen erschrockene Augen, selbst der Sprecher.

„Oh!“, entfuhr es Mama. Es sah aus, als fiele sie jeden Moment in Ohnmacht.

Ich lachte laut über diesen Quatsch. Die Ärzte erklärten jeden für verrückt, der anders als sie selbst erschien. Die ganze Welt war für sie krank und behandlungsbedürftig. Es gab für sie keine Gesunden, sondern nur nicht gründlich genug Untersuchte. Natürlich stand ihr Diagnosewahn in direkter Beziehung zu ihrer grenzenlosen Geldgier. Nicht ohne Grund hatte Casanova die Ärzte, die ihn zur Ader lassen wollten, mit seiner Pistole davongejagt. Wenn man lange leben wollte, sollte man diesen Berufsstand konsequent meiden.

 Der Doktor funkelte mich böse an. Er hielt sich wohl für besonders schlau und wollte mir meine ironische Bemerkung von vorhin heimzahlen. Wir mochten uns nicht. Das stand fest.

„Die mathematische Überaktivität, verbunden mit seinem jugendlichen Geschlechtstrieb, hat eine Überhitzung der inneren Säfte bewirkt. Sein Blut gerinnt bereits“, ängstigte er die anderen weiter.

„Das ist doch Schwachsinn!“, warf ich nochmals ein. „Da klumpt nichts!“

Doch keiner hörte auf mich. Sie glotzten erschrocken die übergroße Nase an, als wäre ich Luft.

„Sehen Sie, meine Kostbare?“, fuhr der Lügner mit kalter Stimme fort. „Den Erkrankten geht in der Regel jede Einsichtsfähigkeit verloren. Sie halten sich deswegen für vollkommen gesund.“

Alle schauten mich mitleidig an. Der Gesandte des Ministers umklammerte erschrocken den Ordner und war wohl insgeheim froh, dass ich die Arbeit überhaupt noch geschafft hatte.

Dieser ärztliche Schurke war wirklich gewieft. Sagte ich jetzt, ich wäre gesund oder schmisse ich ihn aus dem Haus, hielten sie mich erst recht für behandlungsbedürftig. Ich war noch nicht volljährig und somit den Anordnungen meiner Mama ausgeliefert. Sein teuflischer Plan funktionierte.

„Wie wäre es mit einer Kur auf dem Lande?“, fragte meine Mutter den Scharlatan. „Alle kuren doch heutzutage.“

Der Mistkerl machte ein nachdenkliches Gesicht. Gewiss wollte er mich nur loswerden, um sich ungestört an meine Mutter und unser Geld heranzumachen. Ein kluges Söhnchen im Haus war da nur hinderlich. Andererseits wollte er in diesem Moment vertrauenswürdig erscheinen.

„Das könnte durchaus hilfreich sein“, murmelte er nachdenklich. „Die Winde kühlen sein Blut. Es ist vielleicht seine letzte Chance.“ Insgeheim wog er ab, was diese zumindest zeitweilige Verbannung meiner Person für ihn an Vorteilen brachte.

Wenn ich weniger wohlerzogen wäre, würde ich ihm an die Gurgel gehen. Der Hinterhältige wollte mich lieber heute als morgen kaltstellen. Es war erstaunlich wie viel Einfluss er auf meine Mutter bereits hatte. Diese war ihm verfallen.

Beide beratschlagten gerade, welche bäurische Region für mich ideal sei, aber so schnell wollte ich mich nicht geschlagen geben. Außerdem hielt eine Kur mich nur auf. Mein Herz verlangte, dass ich meine große Liebe fand.

„Ich habe keine Zeit für so etwas!“, rief ich aufgebracht dazwischen.

„Sehen Sie, keine Einsichtsfähigkeit!“, bestätigte der Betrüger sein medizinisches Urteil.

Alle warfen sich bedeutungsvolle Blicke zu. Ihr Urteil stand fest. Das Gefecht war für mich im Augenblick verloren.

„Du fährst zu deinem Urgroßvater in die Black Hills“, entschied Mama aus dem Bauch heraus. „Er ist sehr betagt. Du kannst ihm Gesellschaft leisten und dabei deine angegriffenen Nerven erholen.“

Der hinterhältige Medikus machte ein zweifelndes Gesicht. Diese Wendung gefiel ihm nicht so sehr. Er hätte mich doch lieber in der Anstalt gesehen.

„Seit wann habe ich einen Urgroßvater? Ich kenne ihn gar nicht!“ Mein Inneres sträubte sich noch immer. Niemand hatte mir jemals von einem Verwandten in den abgelegenen Bergen erzählt. Lebten dort nicht noch immer Indianer? Zumindest war das Gebirge für diese heilig, da deren Geister dort angeblich hausten.

„Dann wird es Zeit ihn kennenzulernen!“, schloss meine Mutter bestimmt ab. Sie wollte sich als Hausherrin präsentieren – als strenge Dame, die einen Sohn in die Schranken wies. „Dieser Urgroßvater ist der Vater der Mutter deines Vaters. Er wirkt vielleicht etwas merkwürdig und unmodern, jedoch immer noch rüstig, obwohl er bereits das hunderte Jahr überschritten hat. Zudem hat er gewisse medizinische Kenntnisse.“

Alle drei nickten zustimmend, als wüssten sie, was das Beste für mich wäre. Ich stand wie ein Dummkopf da und hatte verloren.

„Das werde ich nicht machen!“ Bockig verschränkte ich meine muskulösen Arme. Das Hemd spannte sich. 

„Welche Alternative gibt es?“, wandte sich meine Mama an den Arzt. Mein Widerspruch machte sie unsicher, denn sie liebte mich – und hoffentlich mehr als den Arzt.

„Die Krankheit führt zum Verlust des Verstandes“, erklärte der Fiesling mit gespielt traurigem Gesicht. „Ich müsste ihn leider ansonsten ins Irrenhaus einweisen.“

Seine Nase wirkte sehr zufrieden und das riesige Auge funkelte mich spöttisch hinter dem Monokel an. Zwinkerte er mir sogar höhnisch zu? Mir stockte der Atem, zugleich erahnte ich die reale Gefahr daraus und den hinterhältigen Plan. Der Kerl wollte mich loswerden, um so an mein Erbe zu kommen. Indessen sah meine Mutter den Arzt wie die personifizierte Hoffnung an, die Rettung für ihren Sohn. 

Nein, ich durfte auf keinen Fall in der Klapsmühle landen!

„Ich wollte schon immer mal meine Verwandtschaft kennenlernen!“, übernahm ich nun selbst das Zepter, beschloss aber, es dem scheinheiligen Arzt so bald wie möglich heimzuzahlen. Die Schlacht war verloren, aber der Krieg noch nicht zu Ende. Dieser Teilsieg ging jedoch an ihn. Leider ließ sich meine Mutter wie alle alternden Frauen durch Komplimente und Schmeicheleien blenden. Eine Frau in den Zwanzigern ist wählerisch, eine über Vierzig nimmt jedoch jeden.

Das Dreiergespann wirkte auf seine Weise zufrieden. Nur der Diener war offenbar noch auf meiner Seite und funkelte den Arzt böse von der Seite an. Der Gesandte nutzte den Moment, verabschiedete sich eilig und wünschte mir gute Besserung. Gleich darauf gingen meine Mutter und der Arzt vertraut miteinander tuschelnd davon. Seine knochigen Finger tätschelten dabei ungeniert ihren Hintern. Er drehte sich noch einmal kurz um, kniff sein riesig wirkendes Auge spottend hinter dem Monokel zu und machte mir eine boshafte Fratze.

Ich war verärgert, aufgeregt und beschloss, die noch verbleibende Zeit in der Villa so gut wie möglich zu nutzen. Wie gern hätte ich jetzt Grace hier gehabt, ihre Nähe gefühlt und in ihre schönen Augen gesehen. Ja, sie war wunderschön. Sie erschien mir nach den letzten Erlebnissen wie ein Engel des Lichts, fast vollkommen. Sicher hätte Grace mein Herz ganz gewonnen, wenn ich nicht schon eine andere lieben würde.

Die seltsame Wahrsagerin

Der Streit mit Grace und die geradezu bizarren Erlebnissen der letzten Tage blockierten meine Kreativität. Die verschiedensten Gedanken schossen gleich Kolibris kunterbunt und blitzschnell durch meinen Kopf. Ich kam einfach nicht weiter und trat bildlich auf der gleichen Stelle im Sumpf der Mathematik herum. Meinen unruhigen Geist zog es leider zu profanen Alltagsproblemen und zur Philosophiererei. Warum nur konnte ich ihn nicht auf mein wichtigstes Thema fokussieren? 

Natürlich tat mir Grace und das, was ich ihr in irgendwie dümmlicher Aufrichtigkeit gestanden hatte, leid. Sie verdiente sicher einen Besseren als mich. Was nutzte all die hehre Wahrheit, wenn man damit nur Menschen verletzte? Zu diesem Problem kam noch hinzu, dass mich der Liebhaber meiner Mutter nervte. Was wollte der Kerl nur hier und warum bot meine Mutter ihm nicht Einhalt? Er gehörte nicht in unser Haus. Wie wurde ich ihn nur wieder los? 

Die Welt schien sich im Augenblick irgendwie gegen mich zu verschwören. Wen schickte man denn zu einer Kur in die Black Hills? Das war eine absolut unsinnige Idee. Trug ich vielleicht selbst irgendeine Schuld an diesem merkwürdigen Karma? 

Diese allgemeine Unruhe, das plötzlich aufkommende Gefühl der Zerbrechlichkeit des beständig Geglaubten war natürlich kein förderliches Umfeld für meine Suche nach der Allervollkommensten. Mein verliebtes Herz zog sofort wehmütig bei dieser Erinnerung. 

Ein aufdringliches Räuspern drang durch das Geflecht meiner geistigen Abwesenheit vom Hier und Jetzt. Unser guter alter Hausdiener stand offenbar schon wieder eine geraume Weile im Raum herum und hatte anscheinend geduldig darauf gewartet, dass ich ihn wie üblich ansprach. Es kam zuweilen vor, dass er zwar klopfte und ich dies überhörte. Schwierige Dinge verlangten nun einmal einen fokussierten Geist.

„Ein Mädchen hat eine Depesche abgegeben!“ Er streckte mir ein silbernes Tablett entgegen, auf dem ein parfümierter Brief lag. Der Geruch und die mir bekannte Handschrift verrieten natürlich die Absenderin. 

„Nenn sie nicht Mädchen, das klingt einfach so fremd“, ermahnte ich ihn honorig, als hätte er sie durch sein Benehmen vertrieben. 

Warum ging ich nur mit denen, die mir am meisten bedeuteten, so ungeschickt um? Ich nahm mir halbherzig vor, meinen Charakter mehr zu beobachten.

„Es war nicht das Fräulein selbst, sondern nur ein Dienstmädchen!“, präzisierte er.

„Ach so. Danke, mein guter alter Freund!“, versuchte ich meine naseweise Belehrung wieder gut zu machen. Den gutmütigen Kauz verblüffte diese überaus herzliche Anrede. So hatte ich ihn bisher noch nie genannt. Er kratzte mit dem Zeigefinger nachdenklich in seinen langen Koteletten.

„Schau nicht so erstaunt“, fuhr ich großherzig fort. „Ja, du bist für mich nicht nur irgendein bezahlter  Diener, nein, sondern im Herzen ein wahrer Freund.“

Sein üblicherweise graues Gesicht bekam erhebliche Farbe an den Wangen. Seine aufgequollene Nase, die Zeugnis von einer gewissen Trinkerkarriere ablegte, errötete geradezu. In Amerika tranken eigentlich alle. Das hochprozentige Nationalgetränk hieß Whisky. Man trank üblicherweise zum Geburtstag, zur Hochzeit, zum Begräbnis, zum Unglück, aus Anlass von Glück, wegen des schlechten Wetters, der Arbeit, wegen der Untreue der Ehefrau, des Ehemannes, wegen des Sonnenscheins und des Regens, einfach immer. Man sah schon neunjährige Buben betrunken auf einer Bank liegen und keiner scherte sich darum. Wie sollte man auch sonst das schwierige Leben in diesem finsteren Land ertragen?

„Geht es dir wirklich gut?“, stammelte mein Freund und wusste nicht so recht, wie er mit dieser plötzlichen Bekundung durch mich umgehen sollte. 

„Ich habe mir vorgenommen ehrlicher und wahrhaftiger zu sein!“, setzte ich ihn jovial ins Bild. „Diese Trennung zwischen uns ist doch nur eine Trennung durch die Geburt. Niemand kann etwas für sein Elternhaus, seine niedere Geburt und dass er dazu verdammt ist, für Geld andere zu bedienen. “

Sein lebendiger Gesichtsausdruck wechselte in die übliche Fahlheit und Abgestumpftheit, mit der er seine Arbeit verrichtete.

„Meine Mutter war nicht von niederer Geburt. Sie war eine ehrenvolle Frau“, murmelte er gekränkt.  „Vielleicht hat Gott sich etwas dabei gedacht, wie er die Welt geschaffen hat“, wandte er geradezu philisterhaft ein. Diese Aussage war typisch für die unsinnige abergläubische Philosophie der kleinen Leute. Daher blieb alles beim Alten.

„Hoffentlich gibt es den auch wirklich“, spottete ich geradezu blasphemisch. „Die ersten Flugmaschinen erobern gerade den Himmel. Da müssen sie ihn doch bald entdecken! Ich geb dir Nachricht, wenn ich davon etwas lese!“

„Sehr lustig, darüber spottet man nicht!“ Er schien wirklich verärgert. Woran sollte sich der arme alte Tor sonst klammern? Autsch, meine Äußerungen waren erneut recht überheblich. Ich war offenbar in der Tat ein Besserwisser und musste lernen, dies besser zu verbergen. So viel war mir klar.

„Ja, du hast wohl recht“, versuchte ich mich aus der Schlinge der Unhöflichkeit zu ziehen und lenkte vom Thema ab. „Ich habe doch ein wenig Furcht, den Brief zu öffnen. Mein Benehmen kam auch bei Grace nicht so gut an. Scheinbar fehlt mir das gewisse Talent zur Diplomatie.“

Nun reichte es meinem alten Freund und treuen Dienstboten endgültig. Er brabbelte etwas Unverständliches in seine langen Koteletten. Das war bei ihm ein Zeichen höchster Verärgerung.

„Oh!“, entglitt es mir erstaunt. Ich achtete nicht weiter auf meinen Gesprächspartner. Der verließ offenbar mein Arbeitszimmer.

Grace hatte mir tatsächlich eine Einladung gesandt. Sie schlug ganz unverbindlich einen gemeinsamen Spaziergang im Stadtzentrum vor und benannte auch einen Treffpunkt, an dem sie auf mich ein wenig warten wollte. Falls ich kein Interesse hätte, würde sie eben allein bummeln gehen. Das war ein klares Freundschaftssignal. Sie war nun einmal temperamentvoll und bereute anscheinend ihre Überreaktion. Das war gut. Mir war ein solches Zusammensein nur recht. Ich konnte ihr so vermitteln, dass ich sie auf keinen Fall hatte kränken wollen. Dieses Treffen konnte vielleicht unsere Freundschaft retten. Das hübsche Mädchen würde schon verstehen, dass mein Herz reserviert und Wahrheit letztlich doch die beste Medizin gegen Liebeskummer war. Warum war ich nicht selbst auf eine solche Idee gekommen? 

Frohen Mutes und guter Laune wandte ich mich nun wieder meinen Berechnungen zu. Ein frischer Wind durchzog die staubigen Gestade meines Geistes und ich kam zumindest gefühlt einer Lösung näher. In Zukunft gab es vielleicht aufgrund meiner Arithmetik eine Maschine, in die alle Menschen einfach eingaben, wie man so ausschaute, was man so dachte, welche Philosophie man mochte und was man sich so wünschte. Flugs bekam jeder seine zukünftige Liebste als Ergebnis ausgespuckt. Ein Gefühl der Erhabenheit durchzog mich.

Am nächsten Tag brachte ich mich mit gutem Essen, ein paar Schlägen auf den Boxsack und einem duftenden warmen Bade in Form für den Ausflug mit der hübschen Grace. Dem scharfen Rasiermesser fiel mein bereits wuchernder jugendlicher Bart und der Schere meines Dieners das ungepflegte Haar zum Opfer. Das Spiegelbild machte mich zufrieden.

Rechtzeitig genug bestieg ich die bestellte Droschke. Inzwischen gab es zwar erste Automobile, aber das gute alte Fuhrwerk dominierte noch. Ich wollte keineswegs durch eine Verspätung Grace erneut verärgern. 

Die spätherbstliche Abendsonne stand blutrot am Horizont. Ihr Untergang nahte. Dunkle Wolken zogen auf und fraßen Stück für Stück Düsternis verbreitend langsam diese illuminierende Friedlichkeit. War das ein gutes oder schlechtes Omen? Amerikaner waren nun einmal sehr abergläubisch. 

In meiner rechten Hand hielt ich einen kleinen hübschen Blumenstrauß für Grace, in der anderen meinen langen Spazierstock. Ein eleganter silberner Knauf in der Form einer Weltkugel zierte sein oberes Ende.

Je näher wir dem Zentrum kamen, um so mehr verlangsamte sich leider unsere Fahrt. Die Zahl der Passanten nahm kontinuierlich zu. Wie Ameisen schienen sie von allen Seiten kommend das gleiche Ziel zu haben. Ein immer größer werdender Teil spazierte geradezu rebellisch auf der Straße, behinderte unser Gefährt und machte bald gar keine Anstalten mehr beiseite zu gehen. Ihre Masse machte es schier unmöglich, sie irgendwie zu umfahren. Ihre einfache Kleidung wies sie zumeist als Proleten aus. Sie warfen meinem eleganten Gefährt vergiftete Blicke zu. Zuweilen hob jemand sogar drohend seine Faust. Was war das nur für ein merkwürdiger Auflauf? 

Der Kutscher gab es schließlich ganz auf, in das Horn zu blasen und die Leute mit dem Pferd zu bedrängen. Wir kamen dadurch nur noch im Schritttempo voran.

„Was ist denn heute los?“, fragte ich unruhig von meinem Sitz aus.

„Die Gewerkschaften haben die Arbeiter zu einem Protestmarsch aufgerufen?“, erwiderte der Kutscher. Er war offensichtlich genau im Bilde.

Sein Gesicht wirkte irgendwie zufrieden. Er schien als einfacher Mann mit ihnen heimlich zu sympathisieren. 

Unser Fuhrwerk hielt.

„Wir kommen nicht mehr weiter!“ Der Kutscher sprach plötzlich in einem gänzlich anderen Ton, fast aufsässig mit mir. Es war fast so, als würde ihn die kämpferische Stimmung der zur Demonstration strömenden Masse anstecken und plötzlich zu meinem Feind machen. Aus Freunden werden eben schnell Feinde.

Ich warf ihm ein Geldstück zu, öffnete den Verschlag und sprang hinaus.

„Ich gehe zu Fuß!“, teilte ich ihm abschließend mit. Dem Mann war es nur recht. Er hatte sein Geld erhalten und würde schon irgendwie nach Hause kommen.

Eiligen Schrittes bewegte ich mich mit dem Strom schlecht gekleideter und zuweilen übel riechender Zeitgenossen. Wenn ich zügig ging, würde ich vielleicht gerade noch pünktlich ankommen.

Grace empfing mich mit leuchtenden Augen und winkte mir zu.

„Du bist tatsächlich gekommen!“ Sie hatte anscheinend nicht wirklich damit gerechnet.

„Klar, du bist doch meine beste Freundin!“, versuchte ich den Graben zwischen uns zuzuschütten und überreichte ihr den kleinen Strauß als Aufmerksamkeit.

Ich glaubte Tränen der Rührung in ihren Augen zu sehen. Ihre Nase schnupperte begeistert an den Blüten. Mein Herz setzte einen Schlag aus und klopfte dann um so heftiger. Wieso nur wurde mir plötzlich so heiß und mein Mund so trocken? Bedeutete die Kleine mir vielleicht doch mehr als ich mir eingestand? Ich verscheuchte rasch diesen unsinnigen Gedanken, denn ich musste mein Herz frei halten. Es hatte nur Platz für die eine.

„Wir sollten hier schnell verschwinden“, schlug ich vor. 

Grace klopfte die Hände zusammen. Ihr Gesicht war gerötet!

„Lass uns noch ein wenig Zeit mit dem einfachen Volk verbringen!“, schlug sie vor und hakte sich bei mir ein. „Wann erleben wir schon eine so aufrührerische Demonstration?“

Sie wies auf Männer am Straßenrand in dunklen Mänteln. 

„Sogar die Polizei ist da“, kicherte sie mädchenhaft.

„Wohin gehen die Leute und was ist ihr Ziel?“, fragte ich meine hübsche Begleiterin, um das Gespräch in Gang zu bringen.

„Der Weg ist doch das Ziel“, spottete sie gutgelaunt.

Wir spazierten also ein wenig mit der Arbeiterklasse, obwohl mir das nicht so richtig gefiel und ein ungutes Gefühl mich instinktiv warnte. Die Sonne war inzwischen versunken, dunkle Wolken hatten die Herrschaft übernommen und tauchten die gesamte Umgebung in gespenstische Finsternis. Die wenigen Gaslaternen, deren fahles Licht kaum durchdrang, verstärkten nur diesen Eindruck. Ich bemerkte außerdem erneut böse Blicke, die einige Demonstranten mir zuwarfen und auch lüsterne, die auf Grace gerichtet waren.

„Was wollt ihr denn hier?“, fauchte mich dann sogar ein großer rothaariger Kerl grob direkt an.

„Für die Ziele der Gewerkschaft demonstrieren“, erwiderte Anastasia keck. Das verschlug dem unhöflichen Burschen für einen Moment vollkommen die Sprache. Sein Mund stand verblüfft offen und entblößte unschöne kariöse Zähne.

Ein komischer Singsang erscholl zuerst zögerlich dann immer kräftiger.

„Ist das nicht aufregend?“ Meine Begleiterin hängte sich Nähe suchend in meinen Arm, kuschelte sich dicht an mich. Es war ein gutes Gefühl.

Inzwischen sangen alle um uns herum ein ansteckendes und kämpferisches  Lied.

Der freche junge Kerl wollte anscheinend unbedingt Streit suchen. Er hatte sich nun mit einigen weiteren Kumpanen zusammengeschlossen und drängte mit ihnen in unsere Richtung.

„Lass uns doch lieber verschwinden!“, raunte ich Grace zu. „Es könnte gefährlich werden.“ 

Der Zug der für oder gegen irgendetwas Protestierenden war inzwischen zum Stehen gekommen. Vorn gab es anscheinend ein Hindernis. Vielleicht war es auch geplant.

„Das Kapitalistenpack macht sich über uns lustig und spaziert frech mit!“ Der grobschlächtige Bursche wies in unsere Richtung und hetzte ein paar Gleichaltrige auf. Ich sah sogar, wie er ein kurzes Messer hervorzog und in seinem Mantelärmel versteckte. Als er meinen Blick bemerkte, grinste er boshaft. Es wurde unangenehm bedrohlich. Was sollte ich bei einem direkten Angriff inmitten der Masse tun? Grausige Bilder geisterten durch meinen Kopf. Hier wollte ich keinesfalls sterben.

„Komm!“ Ich zog Grace energisch mit mir zur Seite, weg von dem gefährlichen Kerl. 

„He!“, beschwerte sie sich etwas über den unerwarteten Zwang. Das abenteuerlustige Mädchen folgte mir willig und unwillig zugleich. Mein Beschützerinstinkt und das Spiel mit dem Feuer gefielen Grace gleichermaßen. Ihr heimlicher Plan war aufgegangen. 

Eine kleine Gruppe folgte uns durch das Gedränge und kam uns gefährlich nahe.

„Dem reichen Schnösel hauen wir eins auf die Schnauze und mal sehen, was wir danach mit seinem frisch gewaschenen Täubchen machen!“, hörte ich ihn die anderen weiter anstacheln. Diese grinsten in gehässiger Vorfreude. Ich beobachtete sie aus den Augenwinkeln und zog gleichzeitig meine sich immer noch leicht stäubende Freundin allen Widerstand beiseite drängend mit.

Der hässliche Kerl hatte Grace fast erreicht, die durch ihr künstliche Ziererei unsere Flucht etwas behinderte. Ihr war die große Gefahr anscheinend überhaupt nicht bewusst. Als er nach ihrem Mantel griff, um sie festzuhalten, stieß ich unerwartet stehen bleibend den silbernen Knauf meines Stockes mit aller Wucht in sein Gesicht. Er schrie schmerzhaft auf. Sein Messer klirrte zu Boden. 

Ich riss Grace nun mit aller Kraft mit mir. Sie folgte willig. Zum Glück erreichten wir unbehelligt die am Straßenrand stehende zivile Polizei.

„Banditen verfolgen uns!“, stieß ich angstvoll hervor. 

Sie musterten uns beide kurz und nickten.

„Verschwinden Sie rasch hinter uns! Wir lassen keinen hier durch. Verlassen sie bitte diesen gefährlichen Ort!“, ermahnte man uns abschließend.

Unsere Retter wiesen auf eine Seitenstraße.

„Gehen Sie dort entlang und dann schnell nach Hause!“Erst jetzt schien der hübschen Grace wirklich das ganze Ausmaß der Gefahr bewusst zu werden. Wie ein artiges Kind trippelte sie mit großen zufriedenen Augen neben mir. Diese Naivität gemischt mit ihrer Abenteuerlust gaben ihr einen ganz besonderen Zauber. Ich mochte sie mehr und mehr. Für einen Moment war ich sogar bereit … Nein, fort mit einem solchen Gedanken! Mein Herz konnte nur einer gehören. Die Versuchungen des gewöhnlichen Lebens waren größer als ich gedacht hatte, gestand ich mir ein.

„Ich wusste gar nicht, dass du so kämpferisch bist“, bewunderte sie mich. „Man unterschätzt dich schnell!“

„Du wusstest doch, dass ich recht sportlich bin“, wandte ich ein.

„Schon, aber nur theoretisch. Ich kenn dich leider überwiegend nur als diesen unerotischen Mathematiker.“

Das gefiel mir jetzt überhaupt nicht. „Mathematik ist gar nicht so trocken, wie man gemeinhin denkt. …“, erwiderte ich etwas gekränkt.

„Liebster, hör jetzt bloß auf!“, unterbrach sie mich. „Du zerstörst gerade die beste Stimmung. Dafür hast du offenbar ein besonderes Talent.“

Unvermittelt hielt Grace im eiligen Gang inne und betrachtete nachdenklich ein kleines von Hand geschriebenes Aushängeschild an der schiefen Tür eines heruntergekommenen kleinen Hauses: Madam Bourier, Wahrsagerin - geöffnet -. Das Haus befand sich vollkommen deplaziert zwischen zwei prächtigen Neubauten in der Gasse.

„Von der Frau habe ich gehört.“, murmelte meine temperamentvolle Begleiterin erstaunt. „Sie war mal eine Berühmtheit. Ich dachte eigentlich, sie wäre schon lange tot. Lass uns doch nachsehen. Das ist eine seltene Gelegenheit und sicher kein Zufall.“ 

Ich wollte Grace widersprechen. Sie zog mich aber energisch zur Tür. Dahinter erwartete uns ein kleiner unscheinbarer Laden, wenn man ihn überhaupt so nennen konnte. Allerlei mystischer Krimskams wie  Amulette, Heilsteine, getrocknete Tiere, alte Bücher und Tarot-Karten lagen ungeordnet und verstaubt herum. Ein wenig Kerzenlicht und ein aus dem letzten Jahrhundert stammender Mief in der Luft vervollkommneten die gruselige Atmosphäre. Es roch nach Sumpf, Kräutern und kalten Zigarrenrauch, wie in einem Gasthaus, das schon seit Jahrzehnten geschlossen war.

Eine feine Glocke schellte beim Öffnen der knarzenden Tür nach.

„Wahrsagen? Das ist doch nicht dein Ernst?“, protestierte ich halbherzig, nachdem mir klar wurde, was sie hier wollte. „Wahrsagen ist keine Wissenschaft, sondern einfach Humbug!“

„Humbug ist es vielleicht, wenn man die Allervollkommenste mit Hilfe der Mathematik finden will!“, antwortete mir eine fremde tiefe Stimme. Sie klang ungewöhnlich, wie die eines alten Mannes. 

Ich erschauerte innerlich. Woher konnte hier überhaupt jemand von meinem Vorhaben wissen?

„Hast du jemandem davon erzählt?“, hauchte ich Grace hastig an. „Warst du schon einmal hier?“

„Nein, ich wusste nicht einmal von diesem Haus!“ Sie wirkte paralysiert und sah mich mit ihren großen Augen erschrocken an. Vielleicht bereute sie schon ihre Spontanität, die uns hierher geführt hatte.

„Tretet doch näher, ich kann nicht mehr so gut laufen!“, klagte der oder die Unbekannte.

Die Stimme kam aus einem Raum hinter dem uralten Perlenvorhang. Nun war ich doch durch diese merkwürdige Antwort neugierig geworden. Meine Hand schob die mit mattem Bernstein beperlten Fäden beiseite. Staub stob auf und uralter Schmutz rieselte zu Boden, als wäre der Vorhang seit Jahrzehnten nicht mehr durchquert worden.

„Sie kennen mich?“, wandte ich mich an die in Lumpen gehüllte Dame, die dort saß. Ihr Kleid musste aus vergangenen Jahrhunderten stammen. Für einen Moment musste ich mir sogar die Nase zu halten, so unangenehm süßlich beißend war der Geruch, der uns empfing.

„Es gibt diese Welt und es gibt sie zugleich nicht“, murmelte das seltsame Wesen geheimnisvoll.

Das Grauen des Unheimlichen erfasste mich. Mir war, als öffnete sich im Geiste eine verborgne Tür. Grace wirkte wie eine leblose Puppe und sagte kein Wort. Ihr Mund stand verblüfft offen. Wir gingen mit weichen Knien, eigentlich war es mehr ein Gefühl des Schwebens, zu den zwei wackligen Stühlen gegenüber der Hexe. Der Begriff schoss mir unwillkürlich ein. Ja, anders konnte man die Person nicht bezeichnen. Die Umgebung und auch die Stimmung war wie in den klassischen Grusel-Geschichten. Grace drückte angstvoll meine erkaltete Hand und wagte gar kein Wort zu sagen.

„Kennen Sie mich?“, stammelte ich erneut meine Frage mit brüchiger Stimme.

Die uralten verschleierten Augen wandten sich in in meine Richtung. Ich konnte diesen unschönen Anblick kaum ertragen und schlug die Augen nieder. Die alte Dame musste grauen Star haben und war vielleicht sogar schon komplett blind. Der von ihr permanent herüber wehende modrige Geruch eines geöffneten Grabes sowie die schmutzige Umgebung erfüllten mich mit Ekel. 

„Ich sah dich gerade mit einem Mädchen in einer fernen Zukunft“, brabbelte ihr zahnloser Mund.

„Mit der Allervollkommensten?“, rief ich nun doch aufgeregt und vergaß all die Hässlichkeit. Die widerliche Alte zog mich tatsächlich durch ihre merkwürdigen Worte und das Wissen, welches nicht aus dieser Welt stammen konnte, in Bann. Das, obwohl ich eigentlich als Mann der Wissenschaften weder an Wahrsagung noch Hexerei glaubte.

Die Prophetin lachte jetzt wie ein Zicklein. 

„Man kann die Zukunft nicht genau voraus sagen!“, beharrte ich halbherzig, war aber in Wirklichkeit doch neugierig auf mehr. Mein Gerede kam mir in diesem Moment selbst dumm vor.

„Hast du das denn schon berechnet und kannst es mit Gewissheit beweisen?“, spottete sie den Nagel auf den Kopf treffend. Mir wurde schwindelig. Sie schlug mich mit den eigenen Waffen und hatte zugleich eine mir vollkommen unbekannte gezückt. Woher hatte sie überhaupt wissen können, dass ich mich mit Mathematik beschäftigte? 

Ihre Stimme hatte sich inzwischen auch noch verändert. Sie klang nun geradezu jung und weiblich. Meine feinen Rückenhaare schienen sich zu sträuben, Schauer liefen über meine Haut und ich schwitzte kalten Schweiß. Meine Begleiterin schien einer Ohnmacht nahe und glotzte wirr auf das Geschehen. Nur mit Mühe schien sie sich überhaupt noch aufrecht zu halten.

„Nur Narren glauben an die Wahrheit!“, fuhr sie fort. Das klang fast so nebulös, als wäre sie ein geschultes Mitglied der Philosophischen Vereinigung.

Ich reichte ihr die linke Hand.

„Wer bin ich denn?“

Ihre warzige Hand ertastete geschickt meine Linien. Die Fingernägel waren lang, schmutzig und zerschlissen, als hätten sie lange in Grabeserde gewühlt. Leblos wirkende Augen waren auf mich gerichtet. Sie schien kaum noch sehen zu können. 

„Ich bin leider vollkommen blind!“, bestätigte sie meine Gedanken und kicherte abermals ein wenig verrückt dazu. 

„Was ist denn so lustig?“, versuchte ich zumindest äußerlich selbstsicher zu erscheinen.

„Sofern du etwas gesagt hast, muss ich leider mitteilen, dass ich auch vollkommen taub bin“, fuhr sie fort. Mein Gott, wo war ich hier nur? Der Wunsch sofort auf zu springen und fort zu laufen kämpfte mit meiner Neugier. Das Streben nach Weisheit beginnt nun einmal mit dem Verlangen, etwas zu lernen.

„Du bist nicht, was du zu sein glaubst, aber auch nicht was andere sehen. Unabhängige Existenz - selbst des Bewusstseins - ist eine Illusion“, erklärte sie in orakelhafter Manier weiter.

„Dies ist mir schon klar, ich verstehe ein wenig von Philosophie“, erwiderte ich. Zugleich ärgerte ich mich jedoch über meine Dummheit. Die Alte war doch taub und konnte gar nicht meine Worte hören.

„Wenn ich nun schon Geld für die Wahrsagerei ausgebe, würde mich interessieren, ob ich die Vollkommene auch wirklich finde?“ Um zu vertuschen, dass mir das erneut in der Aufregung herausgerutscht und tatsächlich an die taube Wahrsagerin gerichtet war, tat ich zum Schluss so, als spräche ich zu Grace. Zumindest sie sollte den Eindruck behalten, dass ich alles unter Kontrolle hatte und nicht mit einer Gehörlosen sprach. Anastasia schien aber in ihrem fast somnambulen Zustand diese Feinheiten nicht zu bemerken.

„Manchmal sieht man das Offensichtliche nicht, selbst wenn es neben einem sitzt“, antwortete die Blinde mit einem alten Spruch. Ich vermutete insgeheim, dass die Hexe log und doch zumindest ein wenig hörte. Wie konnte sie mir sonst so passend antworten? Das gehörte sicher zu ihrer speziellen Vorführung.