Connaisseur - Martin Walker - E-Book

Connaisseur E-Book

Martin Walker

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Beschreibung

Bruno ist neu Mitglied einer Wein- und Trüffelgilde. Doch lange kann er die ›pâtés‹ und Monbazillacs nicht verkosten, denn er wird an einen Unfallort gerufen. Auf dem Anwesen des ältesten Gildenmitglieds ist eine Studentin, die in dessen Gemäldesammlung recherchierte, nach einem nächtlichen Rendezvous zu Tode gestürzt. Oder war es Mord? Eine Spur führt Bruno zum Schloss einer berühmten Tänzerin und Résistance-Heldin: Josephine Baker.

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Seitenzahl: 480

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Martin Walker

Connaisseur

Der zwölfte Fall für Bruno, Chef de police

Roman

Aus dem Englischen von Michael Windgassen

Diogenes

Zum Gedenken an Josephine Baker,

»Die schwarze Perle« und Résistance-Heldin

1

Bruno war nach seinem morgendlichen Ausritt im Gelände um Pamelas Reiterhof immer noch in bester Stimmung, als er in Fauquets Café seinen ersten Kaffee trank und die Schlagzeilen der Sud Ouest überflog. Balzac, sein Basset, hockte in Erwartung seines Anteils am Croissant geduldig zu seinen Füßen und merkte auf, als Brunos Handy zu vibrieren anfing. Missmutig ließ er sich auf den Bauch fallen und legte den Kopf auf die Pfoten. Ihm war klar, dass er auf seinen Leckerbissen noch eine Weile würde warten müssen.

»Bonjour, Florence«, grüßte Bruno, nachdem er sich mit einem Blick auf die Nummer im Display vergewissert hatte, wer ihn da zu erreichen versuchte. »Du rufst aber früh an. Ist mit den Kindern alles in Ordnung?«

»Alles bestens, Bruno, aber ich mache mir um Claudia Sorgen. Gestern Abend während des Vortrags im Schloss von Limeuil ging es ihr plötzlich ziemlich schlecht, und als ich sie soeben anzurufen versucht habe, um mich zu erkundigen, wie es ihr inzwischen geht, hat sie nicht abgenommen. Von ihrer Vermieterin musste ich dann hören, dass sie gestern gar nicht nach Hause zurückgekommen ist.«

Claudia, eine amerikanische Studentin der Universität Yale, arbeitete an ihrer Dissertation über ein kunstgeschichtliches Thema und war vor kurzem nach Frankreich gekommen, um sich von einem bedeutenden Vertreter ihres Fachs betreuen zu lassen. »Vielleicht hat sie bei ihrem petit ami übernachtet«, meinte Bruno, der wie etliche seiner Freunde auf Anhieb Gefallen an Claudia gefunden und sich mit ihr angefreundet hatte.

»Ich glaube nicht, dass sie einen festen Freund hat, jedenfalls nicht hier in Frankreich. Gestern Abend ging es ihr wirklich nicht gut. Sie litt unter Schwindel und war kreidebleich. Ich wollte sie nach Hause bringen, aber sie sagte, sie komme allein zurecht und brauche nur ein bisschen Ruhe.«

»Hast du dich mal bei der Notaufnahme erkundigt?«

»Nein. Dafür habe ich jetzt auch keine Zeit. Ich muss die Kinder zur maternelle bringen.«

»Na schön, ich kümmere mich darum.«

Bruno beendete das Gespräch und hatte schon im Gefühl, dass er seiner üblichen Amtshandlung – er regelte jeden Morgen den Verkehr vor dem Kindergarten – nicht würde nachkommen können. Er rief die örtliche Feuerwehr an, die pompiers, die auch für Krankentransporte zuständig waren, und erfuhr, dass es am Vorabend keinen solchen Einsatz gegeben habe. Daraufhin meldete er sich bei der städtischen Klinik. Aber auch dort konnte man ihm nicht weiterhelfen. Bruno zahlte für den Kaffee und das Croissant, überquerte den Platz und bestieg die Stufen zur mairie, um der Sekretärin des Bürgermeisters mitzuteilen, dass er sich auf den Weg nach Limeuil machen werde. Unten auf dem Platz ließ er Balzac auf den Beifahrersitz seines Transporters springen und fuhr los, vorbei an der Feuerwehrstation und dem städtischen Weinberg und bergan in Richtung eines der schönsten und wohl auch ältesten Dörfer Frankreichs.

Limeuils Geschichte reichte, wie Bruno wusste, bis in die keltische Zeit zurück. Das befestigte Dorf war im Gallischen Krieg von Cäsars Legionen eingenommen und zu einem Oppidum ausgebaut worden, einer stadtartigen Siedlung, die insofern von strategischer Bedeutung war, als von ihr aus der Zusammenfluss von Vézère und Dordogne überblickt werden konnte. Was Florence als Schloss bezeichnet hatte, war ein eher modernes, kaum mehr als hundert Jahre altes Bauwerk, errichtet von einem ehemaligen Arzt am Hof des marokkanischen Sultans, der in sein heimatliches Périgord zurückgekehrt war, um seinen Lebensabend dort zu verbringen. Er hatte die ganze Hügelkuppe aufgekauft, mitsamt all ihren Ruinen sowie der alten Burg aus dem Mittelalter, und einen Neubau in Auf‌trag gegeben, dessen Vorbild, wie Bruno vermutete, eines der Forts der französischen Fremdenlegion in der marokkanischen Wüste gewesen war.

Die einst weißen, stuckverzierten Mauern waren inzwischen grau geworden. Sie umschlossen heute einen Souvenirladen, ein Café und Aufenthaltsräume für die Gärtner, die im Auf‌trag der Stadt die zu einer Touristenattraktion avancierten Grünanlagen pflegten. Die großen Säle innerhalb des Schlosses, die einen prächtigen Ausblick auf die beiden Flüsse boten, waren nunmehr das kulturelle Zentrum des Dorfes. In ihnen wurden Vorträge, Lesungen und gelegentlich auch Kunstausstellungen durchgeführt.

Am Vorabend hatte ein hiesiger Historiker über die Altertumsforschung in und um Limeuil referiert. Bruno hätte sich den Vortrag gern angehört, war aber wegen der wöchentlichen Sitzung des Stadtrates von Saint-Denis verhindert gewesen. Eigentlich nur eine Routineveranstaltung, doch hatte er diesmal teilnehmen müssen, um zum Stand der Vorbereitungen für das Veranstaltungsprogramm der kommenden Touristensaison Rede und Antwort zu stehen, das aus öffentlichen Konzerten, Nachtmärkten und Feuerwerksspektakeln bestehen würde. In dieser Rolle als Impresario fühlte sich Bruno durchaus wohl, ja sie machte ihm sogar Spaß. Im Anschluss an die Ratssitzung, die frühzeitig mit einem kleinen vin d’honneur für ein aus Altersgründen ausscheidendes Mitglied beendet worden war, hatten Bruno und der Bürgermeister ebendieses Mitglied zu einem Abendessen in Ivans Bistro eingeladen. Mit der jüngsten Ausgabe der Fachzeitschrift Archéologie war Bruno dann gegen zehn zu Bett gegangen und eine halbe Stunde später eingeschlafen, in Vorfreude darauf, mit seinem Pferd Hector am nächsten Morgen gegen sieben auszureiten.

Der Parkplatz auf dem Hügel von Limeuil war gut besetzt. Obwohl es erst April war und eigentlich noch zu früh für Touristen, sah man Fahrzeuge mit Kennzeichen aus Holland, England und Deutschland. Bruno stieg vor dem angrenzenden Restaurant aus seinem Transporter und folgte Balzac über den gewundenen Pfad zur Parkanlage, die für die Öffentlichkeit noch nicht geöffnet war. Er fragte nach David, dem bärtigen jungen Mann, der die Anlage betreute, und fand ihn beim Unkrautjäten im sogenannten Apothekergarten vor, wo Heilpflanzen und Kräuter gezogen wurden. Wie immer und bei jedem Wetter trug David seine alte kurze Lederhose und mehrere T-Shirts übereinander. Er und Balzac begrüßten sich wie alte Freunde.

»Mir ist nichts Ungewöhnliches aufgefallen, aber ich kann mich ja mal umhören«, sagte David, nachdem Bruno ihm den Grund seines Besuchs erklärt hatte. »Wollen Sie, dass wir nach ihr suchen?«

Bruno nickte. »Ihr soll schwindlig gewesen sein. Vielleicht ist sie ohnmächtig geworden. Hat sich womöglich der eine oder andere Kollege von Ihnen den Vortrag angehört und sie anschließend gehen sehen?«

»Ich rufe mal meine Leute zusammen«, antwortete David und holte eine Trillerpfeife hervor, wie sie von Schiedsrichtern benutzt wurde. »In vierzig Minuten kommt eine Schulklasse, bis dahin hätten wir noch Zeit zum Suchen.«

Er stieß dreimal kurz in die Pfeife, worauf hinter Hecken und Sträuchern zwei junge Männer und zwei junge Frauen auf‌tauchten und am Wassergarten und dem Riesenmammutbaum vorbei mit Spaten und Gartenscheren in den Händen auf sie zukamen. Statt Bruno die schmutzigen Hände zu reichen, hielten sie ihm zum Gruß die Unterarme hin und gingen in die Hocke, um Balzac zu hätscheln, während David ihnen erklärte, weshalb Bruno gekommen war.

»Ja, ich war bei dem Vortrag«, sagte Félicité, die als Schülerin an Brunos Tennis‌training teilgenommen hatte. »Und ich kenne Claudia. Sie ist irgendwann aufgestanden, hat etwas zu Florence gesagt und dann leise den Raum verlassen, um nicht zu stören. Das war kurz nachdem das Licht runtergedreht worden war und der eigentliche Diavor‌trag begonnen hatte. Florence meinte später, dass es Claudia nicht gutging.«

»Wann genau ist sie gegangen?«, fragte Bruno.

»Wir waren um sieben da, und der Vor‌trag hat, glaube ich, eine Viertelstunde später angefangen. Mit der Dia-Show ging es dann schon nach wenigen Minuten los«, erklärte Félicité. »Vorher hat es für alle ein Glas Bowle gegeben. Vielleicht ist ihr davon schlecht geworden.«

Während die Gruppe um David nach Claudia suchte, ging Bruno, dicht gefolgt von Balzac, den Hügel hinunter zum Haus von Madame Darrail, bei der die amerikanische Studentin ein Zimmer gemietet hatte. Das Haus war am Hang gebaut und schien, wenn man sich ihm von der Straße aus näherte, nur aus einem Geschoss zu bestehen. Es wirkte, von außen betrachtet, winzig klein. Im Eingangsbereich aber zeigte sich ein Treppenschacht, der in ein angebautes Souterrain mit eigenem Dach führte. Madame Darrail war die Witwe eines Mannes, der den Kanuverleih des Ortes betrieben hatte, eine mürrische Frau um die sechzig, gepflegt, mit dunkelbraunen Augen, fahler Haut und stahlgrauem Haar. Im Sommer war sie meist im Kiosk am Fluss anzutreffen, wo sie Buchungen entgegennahm, Gebühren kassierte und Schwimmwesten ausgab, während sich ihr Sohn Dominique um die Kanus kümmerte. Als geborene Limeuilerin war sie es gewohnt, drei- oder viermal am Tag den steilen Weg hinunter zum Fluss und wieder hinauf zu gehen – in einem Tempo, das Bruno außer Atem brachte. Er war froh, sie an diesem Morgen in ihrem Haus anzutreffen.

»Ah, Bruno, Sie haben meine Nachricht also gelesen«, sagte sie, und ihre besorgte Miene ging in ein halbes Lächeln über, als sie Balzac sah, sich bückte und ihn streichelte. »Wegen dieser Amerikanerin.«

»Auf meinem Handy war keine Nachricht«, entgegnete er. »Wenn Sie mich übers Festnetz angerufen haben, werde ich sie abhören können, wenn ich wieder im Büro bin. Nun, aber deswegen bin ich hier. Florence vom collège macht sich Sorgen um Claudia. Sie sagt, sie habe mit Ihnen gesprochen.«

»Das letzte Mal habe ich Claudia gestern um sechs gesehen, als sie von der Arbeit zurückgekommen ist. Sie wollte dann zu einem Vor‌trag. Ich habe ihr noch einen Teller Suppe und etwas Käse vorgesetzt, aber sie meinte, dass sie nichts herunterbekommen würde. Sie hatte Krämpfe, wissen Sie. Also habe ich ihr einen Thymiantee gekocht, mit dem sie eine Tablette eingenommen hat. Es ging ihr danach anscheinend wieder gut genug, um sich diesen Vor‌trag anzuhören. Ich bin schon früh zu Bett und habe erst heute Morgen nach dem Anruf von Florence gemerkt, dass Claudia die Nacht über nicht zu Hause war. Ihr Bett war unberührt.«

»Darf ich einen Blick in ihr Zimmer werfen?«, fragte Bruno. »Kommt es öfter vor, dass sie woanders übernachtet? Hat sie vielleicht einen Freund?«

»Nein, es ist das erste Mal, dass sie nicht hier in ihrem Bett geschlafen hat, und von einem Freund hat sie nie gesprochen. Ich glaube allerdings, dass sie in Amerika einen hat. Für gewöhnlich steht da ein Foto von ihm neben ihrem Bett, aber das scheint jetzt verschwunden zu sein.«

»Wissen Sie, was sie für Tabletten nimmt?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Es müssten hier irgendwelche Medikamente von ihr sein.«

Madame Darrail bewohnte die obere Etage des Hauses mit einer Küche und einem Esszimmer auf der einen Seite des Flurs und einem Wohn- und ihrem Schlafzimmer auf der anderen. In der Diele hingen mehrere gerahmte Fotos, eines von ihrer Hochzeit, ein anderes von einer schönen Stadt mit strahlend weißen Häusern an einem Hang über einem Hafen, eine Stadt, die Bruno in Algerien vermutete. Auf zwei weiteren Fotos waren Soldaten zu sehen, die Fallschirmspringeruniformen und rote Bérets trugen. In einem der Soldaten erkannte Bruno General Jacques Massu wieder, einen Mann mit strengen Gesichtszügen und einem kurzgeschorenen Oberlippenbart; von 1940 an und bis zu seinem Tod war er ein loyaler Gaullist gewesen.

»Massu«, sagte Bruno und deutete auf das Bild.

»Ein großer Soldat«, erwiderte sie. Bruno nickte, obwohl er in Massus Sieg über die algerischen Freiheitskämpfer ein klassisches Beispiel dafür sah, dass militärischer Erfolg auch eine strategische Niederlage bedeuten konnte. Massus Einsatz von Folter hatte den algerischen Widerstand nur gestärkt und in Frankreich immer mehr Kriegsgegner auf den Plan gerufen.

»Und wer ist der andere auf dem Bild?«, fragte Bruno.

»Mein verstorbener Vater. Ich war noch ein Säugling, als unsere ganze Familie Algerien verlassen hat.«

Bruno nickte wieder. Rund eine Million französische Siedler waren in ihr Mutterland zurückgekehrt, als sich de Gaulle darauf eingelassen hatte, über Algeriens Unabhängigkeit zu verhandeln.

Madame Darrail führte Bruno über die Treppe in die untere Etage, wo sich zwei Schlafzimmer und ein Bad befanden. In beiden Schlafzimmern gab es zusätzlich je ein Waschbecken.

Claudias Zimmer hatte einen kleinen Balkon, auf dem gerade einmal zwei größere Stühle Platz fanden. Er bot einen prächtigen Ausblick auf das Tal der Dordogne. Im Zimmer selbst standen ein Doppelbett, das frisch gemacht war, ein Kleiderschrank, eine Kommode sowie ein kleiner Tisch mit Stuhl. Unter dem Tisch war ein Rucksack verstaut, darauf stapelten sich Bücher über Kunst. Ein kleiner Stapel Taschenbücher lag auf einem Nachttischchen. Neben einem Spiegel hingen mit Klebestreifen befestigte Postkarten an der Wand, darauf waren Gemälde alter Meister abgebildet, wie es schien.

Im Rahmen des Spiegels steckten Familienfotos. Auf zweien war ein etwa neun- oder zehnjähriges Mädchen zu sehen, das zwischen zwei Erwachsenen stand, offenbar den Eltern. Der Mann war groß und kahlköpfig; er hatte dem Mädchen eine Hand auf die Schulter gelegt. Die rundliche Frau hatte schöngeschnittene Augen und einen heiteren Gesichtsausdruck, der vermuten ließ, dass sie viel lächelte. Hinter ihnen lag ein großer Garten, von dem steinerne Stufen zu einer imposanten Terrasse vor einer Art Herrenhaus aufstiegen. Obwohl es altmodisch wirkte, schien es neu gebaut zu sein. Ein anderes Foto schien fünf oder sechs Jahre später aufgenommen worden zu sein und zeigte dasselbe Mädchen an der Seite desselben großgewachsenen Mannes und einer dritten Person, die aber aus dem Foto herausgeschnitten worden war.

Auf dem Glasbord über dem Waschbecken stand eine geöffnete Kosmetiktasche. Bruno entdeckte darin zwei Arzneiröhrchen aus gelbem Plastik und eine angebrochene Packung hochdosiertes Ibuprofen. Eines der Röhrchen stammte aus einer New Yorker Apotheke, das andere war von einer Drogerie aus New Haven, Connecticut. Bruno konnte mit den Namen der Medikamente nichts anfangen und machte sich Notizen. Im Papierkorb unter dem Waschbecken fand er ein paar gebrauchte Papiertaschentücher und ein in der Mitte durchgerissenes Foto. Bruno zog Gummihandschuhe an und legte die Hälften zusammen. Das Foto zeigte das Halbporträt eines gutaussehenden jungen Mannes mit einem Tennisschläger in der Hand und eine handschriftliche Widmung auf Englisch: »All my love to darling Claudia. Ever yours, Jack.«

»Ihre Kleider sind alle hier, wie Sie sehen können. Tolle Sachen, Armani und Chanel, dabei trägt sie normalerweise nur Jeans und Sweatshirts«, sagte Madame Darrail, nachdem sie den Kleiderschrank geöffnet hatte. »Und ihr hübsches seidenes Nachthemd liegt unter dem Kopfkissen. Von Lanvin. Wenn Claudia nicht unterwegs ist, arbeitet sie hier an ihrem kleinen Computer.« Sie schaute sich um. »Seltsam, den scheint sie mitgenommen zu haben«, fügte sie überrascht hinzu.

Bruno blätterte ein paar Papiere auf dem Schreibtisch durch, in der Hauptsache Ausdrucke oder Fotokopien von Artikeln aus verschiedenen Fachzeitschriften auf Französisch, Englisch und Italienisch. Sie alle beschäftigten sich mit der französischen Renaissance und Gemälden beziehungsweise Skulpturen aus dieser Periode. Auf ähnliche Themen bezogen sich jede Menge handgeschriebener Notizen, die mit den Namen verschiedener Museen und Châteaus überschrieben waren. In einem Skizzenblock fand Bruno Bleistiftzeichnungen von Limeuil, seinen beiden Brücken, dem Schloss, der Parkanlage, und auch ein paar flüchtige Studien vom Markt in Saint-Denis. Sie waren so gut, dass Bruno sogar zwei Bekannte darauf wiedererkennen konnte. Claudia zeichnete hervorragend. Neben den Papieren lag auf einem blauen amerikanischen Reisepass ein Smartphone an einem Ladekabel, das noch an der Steckdose hing.

Bruno nahm den Pass zur Hand und sah, dass er auf Claudia Ursula Muller ausgestellt war, geboren in Philadelphia. Das französische Studentenvisum war noch für zwei weitere Jahre gültig. Claudia war fünfundzwanzig Jahre alt. Sie hatte, wie aus den Stempeln im hinteren Teil des Passes zu ersehen war, allein im vergangenen Jahr Thailand, Singapur und Großbritannien bereist. In der Handyhülle war ein kleines Einsteckfach, aus dem Bruno zwei Kreditkarten hervorzog: eine Visa Platinum und eine schwarze Karte von einem gewissen Muller Investment Trust. Bruno hatte nie davon gehört. Als er das Display des Handys berührte, leuchtete es auf und zeigte das Foto einer weißen Katze, die ihm in die Augen starrte, darunter ein Ziffernblock mit der Auf‌forderung, die PIN für das Gerät einzugeben. Er legte es zurück auf den Tisch.

»Hat sie eine Handtasche oder ein Portemonnaie?«, fragte er.

»Mit Handtasche habe ich sie nie gesehen, immer nur mit der Computertasche. Wenn die Miete fällig ist, holt sie ein Herrenportemonnaie aus der Gesäßtasche und zahlt mit einem Scheck einer französischen Bank. Den Namen weiß ich nicht mehr. Auch alle ihre anderen Papiere bewahrt sie in diesem Portemonnaie auf, den Führerschein, ihren Studentenausweis und was da sonst noch alles ist.«

»Wer benutzt das andere Schlafzimmer hier unten?«, wollte Bruno wissen und fragte sich, wie groß das Interesse der Hauswirtin an den privaten Angelegenheiten ihrer Untermieter war.

»Eins der Mädchen, die oben im Park arbeiten. Félicité. Sie und Claudia haben sich angefreundet. Was, glauben Sie, könnte passiert sein?«

»Vielleicht ist sie kränker, als Sie dachten, und irgendwo zusammengebrochen. Die Leute vom Park suchen nach ihr. Wenn Balzac mal an ihrem Nachthemd schnuppern dürf‌te, könnte er sie vielleicht aufspüren.«

2

Bruno stieg zurück auf den Hügel. Balzac trottete voran, so zielstrebig wie immer, wenn er einer Fährte folgte. Er lief über den gewundenen Pfad und dann geradewegs auf das Schloss zu, schnüffelte sich durch den Veranstaltungssaal, der immer noch voller Stühle war. Durch eine offenstehende Terrassentür eilte er wieder nach draußen, lief den Hang hinauf, an einem Riesenmammutbaum vorbei und entlang der hüfthohen Steinmauer, die die Hügelkuppe umschloss. In einiger Entfernung sah Bruno zwei Mitglieder des Parkpersonals, die sich weit über die Mauer beugten und in die Tiefe schauten.

Bruno folgte ihrem Blick. Etwa fünf oder sechs Meter unterhalb war das Dach des ersten am Steilhang klebenden Hauses zu sehen, ein Stück weiter darunter das Gebäude aus dem achtzehnten Jahrhundert, das von den Anwohnern als das neue Château bezeichnet wurde. In der Felswand unter der Mauer klaff‌te ein Spalt, durch den man nach Brunos Einschätzung relativ problemlos hinaufklettern konnte. Die Jungs aus dem Dorf hatten das bestimmt schon ausprobiert. Etwas abgesetzt davon erstreckte sich eine lange, grasbewachsene Terrasse, die an eine weitere Mauer grenzte. Von Claudia war nichts zu sehen. Balzac drängte weiter. Er trottete an der Mauer entlang, hin zu dem Aussichtspunkt, von dem sich die Täler der Dordogne und der Vézère überblicken ließen, dann über einen breiten, von Kastanien gesäumten Weg hinauf zu dem steinernen Brunnen, über den das Schloss jahrhundertelang mit Wasser versorgt worden war.

Von seinen früheren Besuchen der Schlossanlage wusste Bruno, dass der Brunnen normalerweise abgedeckt und mit einer schweren Kette samt Vorhängeschloss gesichert war. Jetzt schienen Bauarbeiten an ihm vorgenommen zu werden, und der hölzerne Deckel war entfernt worden. Ein rot-weißes Absperrband und ein Warnhinweis sicherten die Stelle nur notdürf‌tig, was Bruno als Verstoß gegen geltende Bauvorschriften registrierte. Um den Brunnen herum hatte man ein Gerüst errichtet, von dem eine Strickleiter in den Schacht hineinhing. Daneben stand ein Betonmischer. David hockte auf einer der Bohlen, die über das Gerüst gelegt worden waren, griff nach der Strickleiter und spähte in die Tiefe.

»War der Brunnen über Nacht offen wie jetzt oder haben ihn die Arbeiter erst heute Morgen aufgedeckt?«, fragte Bruno. Er hatte sein Handy hervorgeholt und machte Fotos, die automatisch datiert sein würden.

»Die Leute vom Bau haben sich heute noch nicht blicken lassen«, antwortete David. »Die Maueranker müssen erneuert werden. Wie es scheint, ist aber noch nichts passiert. Haben Sie eine Taschenlampe dabei?«

»Nur eine kleine hier am Schlüsselanhänger«, sagte Bruno und reichte ihm den Bund. »Nicht fallen lassen, sonst kriege ich meinen Transporter nicht mehr gestartet. Gibt’s hier nicht irgendwo eine geeignetere Lampe?«

»Ihre hilft mir nicht weiter, sie ist zu schwach«, sagte David und warf Bruno die Schlüssel wieder zu. Er schwang sich auf den Brunnenrand, sprang zu Boden und eilte davon. Im Schloss gebe es eine stärkere Taschenlampe, rief er über die Schulter zurück.

Bruno kletterte auf das Gerüst und blickte in den Brunnen. Außer ein paar Seilen und der Strickleiter, die in die Tiefe führte, sah er nichts. Dass eine junge Frau, der schwindlig war, über das Absperrband stolperte und über die gut einen Meter hohe Brunnenmauer stürzte, hielt er allerdings für ausgeschlossen.

Plötzlich hörte er ein leises Maunzen wie von einer Katze. Balzac schlug an wie immer, wenn er Brunos Aufmerksamkeit forderte. Bruno schaute angestrengt in die Tiefe und hörte es wieder, ein Miauen. Wie von weit her. Bruno setzte einen Fuß auf die Strickleiter und stieg ein paar Sprossen hinab, um seine Augen an die Dunkelheit des Schachtes zu gewöhnen. Und wieder war ein klägliches Miauen zu hören.

Bruno stieg wieder nach oben zurück. Aus drei dicken Brettern hatten die Arbeiter eine wacklige Bühne gezimmert, die an vier Seilen am Gerüst hing und mit Hilfe eines Flaschenzugs abgesenkt beziehungsweise hochgezogen werden konnte. Auf den Brettern klebten getrocknete Zementreste, und das Ganze sah alles andere als stabil aus. Bruno bat David, der zurückgekehrt war, die Seile zu führen, während er selbst herauszufinden versuchte, wie sich die Bühne in Bewegung setzen ließ.

Vorher aber kletterte er über die gesamte Länge der Strickleiter in den Schacht hinab, vielleicht fünf oder sechs Meter tief, hielt sich mit einer Hand an den Sprossen fest, mit der anderen an einem der Seile. Den Blick nach unten gerichtet, sah er nur ein schwarzes Nichts. Plötzlich fiel ihm auf, dass es im Schacht merklich kühler war. Von unten stieg ein Geruch auf, der ihn an die Atmosphäre tiefer Höhlen erinnerte. Der Geruch war nicht unangenehm, aber irgendwie fremd und tot, als würde das feuchte Kalkgestein noch etwas aushauchen von den Fossilien, aus denen es entstanden war.

Jemand rief von oben, und dann kam etwas langsam auf ihn zu, ein Licht, das hin und her pendelte und dann sein Gesicht streif‌te. David schickte ihm eine Stablampe an einem Seil. Bruno löste die Hand von der Strickleiter, griff danach und richtete den Lichtstrahl in die Tiefe. Weil er aber sein Gewicht verlagert hatte, fing die Arbeitsbühne zu schwingen an, und er drohte den Halt zu verlieren. Er zwang sich, innezuhalten und nachzudenken. Schließlich nahm er das Seil, an dem die Lampe hing, zwischen die Zähne, hielt sich mit der freien Hand wieder an der Strickleiter fest und wartete, bis die Bühne wieder in ruhiger Position war. Bruno fragte sich, wie es die Arbeiter schaff‌ten, unter diesen erschwerten Bedingungen die Mauersteine zu vermörteln.

Es gelang ihm, ein Bein um die Strickleiter zu schlingen, womit es ihm möglich wurde, die Bühne ruhigzuhalten. Vorsichtig verlagerte er das Gewicht ein wenig, um über den Rand der Bretter nach unten zu blicken und den Schacht auszuleuchten. Immer wieder hörte er das leise Miauen. Er bemerkte nun, dass die gemauerten Schachtwände nur noch zwei oder drei Meter tiefer reichten. Darunter befand sich nackter Fels, der behauen oder vielleicht auf natürliche Weise ausgewaschen war. Der Durchmesser des Schachtes schien sich zu verjüngen, wobei Bruno nicht ausschließen konnte, dass die Perspektive täuschte. Als er den Strahl der Lampe direkt nach unten richtete, wurde er vom Licht geblendet, das der Wasserspiegel in der Tiefe reflektierte.

Bruno schwenkte den Lichtstrahl auf die Wand über dem Wasserrand und entdeckte eine kleine Katze, die auf Wasser zu sitzen schien. Aber dann sah er, dass sie sich verzweifelt an einem Gegenstand festklammerte, den er auf Anhieb nicht identifizieren konnte. Er war gewölbt, vielleicht ein Holzpflock. Er wusste, dass manche Besitzer von Swimmingpools im Winter Holzpflöcke ins Wasser warfen, die verhindern sollten, dass sich eine Eisschicht bildete. Vielleicht versuchte man das Gleiche mit dem Brunnenwasser.

Bruno hörte einen Ruf von oben, schaute hinauf in den kleinen Lichtkreis und sah, dass sich ein Schatten darüberlegte. Gleichzeitig geriet die Bühne wieder in Schwingung. Es dauerte eine Weile, bis er in dem Schatten eine Silhouette von Kopf und Schultern ausmachen konnte. Sie konnte kaum mehr als zehn Meter entfernt sein, die Distanz wirkte aber sehr viel weiter.

»Alles okay da unten?«, rief David. »Können Sie was erkennen?«

»Würde die Strickleiter auch Ihr Gewicht noch halten?«, fragte Bruno.

»Hier arbeiten meist zwei Männer gleichzeitig, einer auf der Bühne, der andere auf der Leiter.« Davids Stimme klang merkwürdig verzerrt. »Soll ich runterkommen?«

»Hier unten sitzt eine Katze fest«, rief Bruno. »Warten Sie einen Moment.«

Bruno hatte jetzt seinen linken Arm in die Strickleiter gehakt, um die Pendelbewegung der Bühne zu bremsen. Als er ein Knie auf den Brettern versetzte, stieß er sich an einem der getrockneten Zementklumpen und spürte einen Schmerz im Knie. Er nahm das Seil, an dem die Lampe hing, wieder zwischen die Zähne, löste mit der freien Hand den Klumpen und warf ihn hinab, um die Tiefe zu ermessen. Im Stillen zählte er tausendeins, tausendzwei, und kaum hatte er tausenddrei zu denken angefangen, hörte er unten Wasser klatschen.

Aus der Grundschule wusste er, dass ein frei fallender Gegenstand schon in der ersten Sekunde fast zehn Meter zurücklegte. Mon Dieu, dachte er. Es ging also noch zwanzig bis dreißig Meter weiter nach unten.

Er nahm die Stablampe zur Hand und beleuchtete den Felsrand über dem Wasserspiegel. Er sah, dass sich die Katze oder vielmehr der Gegenstand, an dem sie sich festhielt, bewegte, vor und zurück und dann im Kreis. Er schien im Wasser zu schwimmen, doch es handelte sich gewiss nicht um einen Holzpflock. Bruno schwante plötzlich Schlimmes.

Er fuhr den schwimmenden Gegenstand mit dem Lichtstrahl ab und schaute genauer hin. Was er für einen Pflock gehalten hatte, mochte ein Bein sein. Jetzt glaubte er auch die Umrisse eines Rumpfes erkennen zu können und einen im Wasser liegenden Kopf. Sicher konnte er sich nicht sein. Vielleicht spielte ihm die Phantasie einen Streich. Er würde tiefer hinabsteigen müssen, um Gewissheit zu erlangen. Als er aber den Flaschenzug wieder in Bewegung zu setzen versuchte, zeigte sich, dass sich die Bühne nicht weiter absenken ließ.

»Wie weit reicht die Strickleiter herab?«, rief er nach oben.

»Sie ist nur fünfzehn Meter lang, aber ich habe hier eine zweite. Wir könnten beide miteinander verbinden. Haben Sie was gesehen?«

»Ich komme wieder nach oben«, antwortete Bruno, dem ein weiterer Abstieg über die Strickleiter nicht geheuer erschien. Das war etwas für Profis mit geeigneter Ausrüstung.

Wieder nahm Bruno das Lampenseil zwischen die Zähne und kletterte an der Strickleiter nach oben. Vom Knien auf der Bühne waren seine Beine steif geworden, und seine Hände, mit denen er die Seile umklammert hatte, fühlten sich taub an. Die Strickleiter fing immer heftiger zu schwingen an und ließ ihn mal gegen die Brunnenmauer prallen, mal gegen die Seile, an denen die Bühne aufgehängt war. Bruno legte eine Pause ein, holte tief Luft und schüttelte zuerst das eine, dann das andere Bein aus, um die Muskulatur zu entkrampfen. Er biss die Zähne aufeinander und stieg weiter, Schritt für Schritt. Drei Sprossen ein Meter, dachte er, insgesamt maximal dreißig Sprossen, und mehr als die Hälfte hatte er schon geschaff‌t.

Das von oben einfallende Licht reichte schon aus, um einzelne Mauersteine unterscheiden zu können. Bald würde er wieder oben sein. Nach fünf, vier, drei weiteren Tritten sah er David über den Brunnenrand gebeugt. Mit einer Hand hatte er die Strickleiter gepackt, mit der anderen hielt er sich am Baugerüst fest.

»Putain, mir reicht’s«, keuchte Bruno und ließ sich von David über die Mauer helfen. Balzac winselte und wedelte mit dem Schwanz, als er sein Herrchen wieder erblickte. »Aber es muss jemand runter, und zwar die ganze Strecke.« Bruno füllte die Lungen mit frischer Luft. »Ich fürchte, die Katze sitzt auf einer Leiche.«

»Eine Leiche?« Davids Stimme sprang vor Entsetzen eine Oktave höher. »Himmel, glauben Sie etwa …«

Bruno hatte schon die Nummer der pompiers von Saint-Denis gewählt. Ahmed meldete sich. Er war einer der beiden Berufsfeuerwehrmänner, die den Freiwilligentrupp anführten. Er hatte auch eine Ausbildung als Sanitäter absolviert. Bruno erklärte, dass im Brunnen des Schlosses von Limeuil in rund dreißig Meter Tiefe womöglich eine Leiche liege. Über dem Brunnen sei ein Gerüst errichtet worden.

»Dreißig Meter?«, rief Ahmed. »Dann müssen wir wohl mit dem Kranwagen anrücken, wenn wir mit dem überhaupt dahin kommen.«

»Der ist doch allradgetrieben, oder?«, fragte Bruno.

»Klar. Limeuil also. Gib uns fünfzehn Minuten, vielleicht zwanzig. Bist du sicher, dass wir eine Leiche bergen müssen? Oder ist da womöglich noch Leben drin?«

»Wohl kaum. Ich bin mir allerdings nicht ganz sicher, ob es sich überhaupt um eine tote Person handelt. Allerdings wird seit gestern Abend eine junge Frau vermisst …« Bruno stockte.

»Wir sind schon unterwegs«, sagte Ahmed zu Brunos Beruhigung. »Soll ich einen Notarzt rufen?«

»Das mache ich«, antwortete Bruno. »Auch wenn sie nicht mehr zu retten ist, brauchen wir einen Arzt, der ihren Tod feststellt. Übrigens, in dem Brunnen ist noch eine Katze, und die lebt definitiv.«

Er unterbrach die Verbindung und drückte die Schnellwahltaste für Fabiola, die mit ihm befreundete Ärztin, der er am meisten vertraute. Es meldete sich nur ihre Voicemail. Er bat sie um schnellstmöglichen Rückruf und fragte daraufhin in der Rezeption der Klinik nach, ob Fabiola Dienst hatte. Sie sei in der Ambulanz, wurde ihm gesagt. Sobald sie mit ihrem Patienten fertig war, würde sie sich bei ihm melden.

Bruno wandte sich an David. »Der Park müsste jetzt geschlossen werden. Tut mir leid für die Schulkinder, aber wir haben es hier womöglich mit einem Tatort zu tun, der gesichert werden muss.«

David machte große Augen und wollte protestieren, doch Bruno ließ es nicht dazu kommen und fuhr fort: »Und dann möchte ich Sie bitten, aufzulisten, wer sich gestern Abend den Vor‌trag angehört hat, wer alles zum Personal gehört und vor allem, wer gestern abgeschlossen hat. Ich muss sie alle befragen, am besten sofort.«

David nickte und holte sein Handy hervor.

Bruno fragte sich, ob die Stadt und der Parkbetrieb mit ernsten Schwierigkeiten zu rechnen hätten, falls sich sein Verdacht bestätigen sollte. Er würde sie warnen müssen und ärgerte sich über die Fahrlässigkeit des Bauunternehmers.

»Vielleicht sagen Sie Ihrem Bürgermeister auch, dass die Stadt womöglich zur Verantwortung gezogen wird, weil sie die Baustelle nicht ordnungsgemäß hat absichern lassen.«

Bruno hob die Hand, als David ihn zu unterbrechen versuchte, und fuhr mit lauterer Stimme fort: »Ich kann nicht glauben, dass Sie Schulkinder hier an diesem offenen Brunnen vorbeiführen wollten. Das Gerüst lädt doch zum Klettern ein. Ein dünnes Absperrband reicht wohl kaum, um sie davon abzuhalten.« Je mehr Bruno darüber nachdachte, desto wütender wurde er. »Den Arbeitern war’s anscheinend zu lästig, das Gerüst jeden Abend abzubauen und den Brunnen zu verschließen. Ich will von allen Namen und Adresse und eine Kopie des Kostenvoranschlags, den Sie bekommen haben. Es interessiert mich, ob darin auch ein Posten für Baustellenabsicherung enthalten ist.«

»Keine Ahnung, ob es so ein Papier überhaupt gibt«, entgegnete David. »Der Typ, der den Auf‌trag erteilt hat, gehört dem Stadtrat an. Und Sie wissen doch bestimmt, wie’s in einem Ort wie unserem zugeht. Da wird vieles unter der Hand gemacht.«

Bruno verzog keine Miene. »Dann raten Sie Ihrem Bürgermeister, einen Blick in die Versicherungsunterlagen zu werfen und insbesondere darauf zu achten, wie Haftpfl‌ichtschäden geregelt werden.«

»Merde, Bruno, die Parktore waren die ganze Nacht über geschlossen.«

Bruno schüttelte den Kopf. »Nicht zur Zeit des Vor‌trags. Und wenn ich richtig tippe, wer da unten liegt, können sich das Bauunternehmen und die Stadt auf einiges gefasst machen.«

3

Während er auf die pompiers wartete, dachte Bruno an seine erste Begegnung mit Claudia zurück. Es war an einem Tag gewesen, als laut dem cahier de surveillance (einer Datenbank der französischen Polizei, in der die Aktivitäten verdächtiger oder straf‌fällig gewordener Personen registriert werden) ein verurteilter Straf‌täter aus Saint-Denis nach verbüßter zehnjähriger Haft entlassen werden sollte.

Seine Verhaftung hatte zwar vor Brunos Dienstantritt in Saint-Denis stattgefunden, aber er wusste davon, denn alle französischen Medien hatten über den Fall berichtet. Laurent Darrignac war ein aufgeweckter, begeisterungsfähiger junger Mann gewesen, der gerade seine Ausbildung an einer angesehenen Landwirtschaftsschule in Lothringen abgeschlossen hatte. Eigentlich sollte er nach Hause zurückkehren und auf dem väterlichen Hof mitarbeiten, um ihn später zu übernehmen – einen stattlichen Betrieb mit gut fünfzig Hektar Acker- und Weideland, was für die Verhältnisse im Périgord überdurchschnittlich groß war. Von der EU großzügig unterstützt, lebten die Darrignacs vor allem von der Milchwirtschaft und Rinderzucht. Sie bauten auf dem fruchtbaren Talboden aber auch Getreide und Sonnenblumen an.

Die Abschlussprüfung hatten Laurent und seine Mitschüler mit einem Mittagessen gefeiert, und weil er am wenigsten getrunken hatte, sollte er fahren. Es war spät am Nachmittag, und die Sonne stand so tief, dass sie ihn blendete. Abgelenkt von seinen ausgelassenen Freunden, die eine Cognacflasche kreisen ließen, lenkte Laurent den Wagen in einer scharfen Kurve in eine Gruppe von Pfadfindern, die am Straßenrand entgegenkam. Drei von ihnen starben, darunter der Führer, der vorneweg ging, und vier wurden zum Teil schwer verletzt, einer so sehr, dass er nie wieder auf eigenen Beinen würde stehen können.

Der Unfall ereignete sich zu einer Zeit, als die französische Nationalversammlung über eine Verschärfung der Grenzwerte für Alkohol am Steuer und die Angleichung des Grenzwertes an die in anderen europäischen Ländern geltenden Richtwerte debattierte. Der Widerstand gegen das neue Gesetz, der vor allem von Vertretern weinproduzierender Regionen geleistet wurde, schmolz dahin, als das Unglück Schlagzeilen machte. Doch das hielt verschiedene Interessenverbände nicht davon ab, den Druck zu verstärken. Laurent war in ihren Augen ein Symbol dafür, wie gefährlich Alkohol am Steuer sein konnte.

Laurent hatte eine Winzigkeit über 0,8 Promille im Blut, was damals noch im zulässigen Bereich war. Die Befürworter schärferer Regeln drängten jedoch auf eine Absenkung auf 0,5 Promille, und auf Laurent richtete sich der Fokus ihrer Kampagne, an deren Spitze ein Verein mit dem Namen »Mütter gegen Alkohol am Steuer« stand. Der strengte auch eine Zivilklage gegen Laurent an und verlangte eine Entschädigung für die Familien der Opfer.

Nach der bestehenden Gesetzeslage drohten Laurent wegen des Todes der Pfadfinder der Entzug seines Führerscheins für fünf Jahre, ein Bußgeld sowie eine wahrscheinlich zur Bewährung ausgesetzte Haftstrafe. Das Gericht aber, wahrscheinlich nicht ganz unbeeinflusst von den Politikern, der öffentlichen Meinung und den Medien, verdonnerte ihn zu drei Jahren Haft wegen fahrlässiger Tötung und vier Jahren wegen schwerer Körperverletzung, die nacheinander verbüßt werden sollten. Da sie von den Kosten der Zivilprozesse ohnehin schon finanziell überfordert waren, verzichteten die Eltern auf eine Berufung.

Bald darauf mussten sie ihren Betrieb aufgeben. Der Vater beging Suizid. Laurents Mutter starb an Brustkrebs, kurz nachdem Laurents Haftstrafe wegen seiner Beteiligung an einer Gefängnisrevolte verlängert worden war. In Handschellen und unter Polizeibewachung hatte er sie zu Grabe ge‌tragen. Er war damals immer noch so bekannt, dass sich auf dem Friedhof Fernsehteams und die Presse tummelten. Inzwischen aber war die Stimmung umgeschlagen, und die Medien, wie immer wetterwendisch in ihren Urteilen und darauf bedacht, eine alte Geschichte aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten, sagten nun, dass das Urteil zu weit gegangen und dass Laurent sowohl Täter als auch Opfer der Justiz sei.

Auf den Tag also, an dem Bruno Claudia zum ersten Mal begegnete, fiel Laurents Rückkehr nach Saint-Denis. Bernard Marty, einer der Freunde, die mit im Unfallauto gewesen waren, hatte auf seinem Bauernhof ein Zimmer für Laurent eingerichtet und versprochen, ihn bei seinem Neustart zu unterstützen. Er, Bernard, war im Übrigen der Einzige aus der Freundesgruppe gewesen, der Laurent regelmäßig im Gefängnis besucht hatte.

Bruno versuchte zu ermessen, wie schlimm die Zeit für Laurent im Gefängnis gewesen war, und konnte sich vorstellen, dass der junge Mann aufgrund seiner drakonischen Bestrafung voller Ressentiments war. Einen verbitterten und wahrscheinlich arbeitslosen Exhäftling zurück in der Stadt zu wissen, schmeckte ihm nicht besonders, aber vielleicht gab es Hoffnung. Im cahier de surveillance war vermerkt worden, dass Laurent die letzten drei Jahre im offenen Vollzug im Jura verbracht und dort auf einem Bauernhof gearbeitet hatte.

Bruno wusste, dass Laurent bei seiner Entlassung nur eine Zugfahrkarte nach Saint-Denis ausgehändigt worden war. Aus Sorge, selbst in die Schlagzeilen zu geraten, hatte Bernard Marty lieber darauf verzichtet, Laurent am Bahnhof abzuholen, und stattdessen Bruno darum gebeten. Dafür hatte Bruno Verständnis. Er war in seinem alten Land Rover schon fünf Minuten vor der planmäßigen Ankunft des Zuges am Bahnhof eingetroffen, um zu sehen, ob die Medien von Laurents Rückkehr Wind bekommen hatten. Falls Philippe Delaron, der Lokalredakteur der Sud Ouest, mit seiner Kamera da wäre, würde er ihn irgendwie abwimmeln müssen. Laurent verdiente einen Neuanfang, ohne von der Presse behelligt zu werden. Zum Glück war kein Mensch auf dem Bahnsteig, als der Zug einfuhr.

Die erste Person, die ausstieg, war eine attraktive, brünette junge Frau in Jeans, Lederjacke und einem mehrfach um den Hals geschlungenen langen Schal, auf dem ihr Pferdeschwanz im Nacken fast horizontal auf‌lag. Sie trug einen Rucksack und eine prallvolle, anscheinend schwere Laptoptasche. Etwas verwirrt schaute sie sich auf dem menschenleeren Bahnhof um, dann fiel ihr Blick auf ein Schild mit der Telefonnummer des örtlichen Taxiunternehmens, und sie holte ihr Handy hervor. Kurz bevor sich automatisch die Türen schlossen, stieg ein stämmiger Mann Mitte dreißig aus dem Zug und stellte einen altmodischen Koffer neben sich auf dem Bahnsteig ab. Laurent war etwas gealtert. Bruno erinnerte sich nur an ein Foto von ihm, das im Gefängnis aufgenommen worden war, erkannte ihn aber sofort wieder.

Laurent hatte kräftige Schultern und die dicken Handgelenke eines Bauern. Wie er mit leicht gegrätschten Beinen dastand, schien ihn so leicht nichts umhauen zu können. Auf einem Rugbyfeld wäre er bestimmt ein ernstzunehmender Gegner und für die eigene Mannschaft ein fester Rückhalt. Und als Soldat, dachte Bruno, wäre er der geborene Sergeant.

Die Wintersonne milderte die Kälte des Januartages ein wenig. Bruno trug eine rote Windjacke über seinem Uniformhemd. Er stieg aus dem Wagen und ging, von Balzac gefolgt, auf Laurent zu, streckte die Hand aus, um ihn willkommen zu heißen, und erklärte, dass er ihn zur ferme fahren werde, wo man ihn schon erwartete.

»Vielen Dank, aber wer sind Sie?«, fragte Laurent verwundert, als er ihm die Hand schüttelte. Dann sah er Balzac und lächelte zögernd. Auf Bruno machte er einen kerngesunden Eindruck; sein Gesicht ließ erkennen, dass er viel Zeit im Freien verbracht hatte, und seine Hände waren von schwerer Arbeit gerötet.

»Ich bin Bruno Courrèges, der Chef de police von Saint-Denis und dem Tal der Vézère. Ich habe Joes Nachfolge angetreten, als der in Ruhestand ging. Wahrscheinlich haben Sie die Nase voll von Polizeifahrzeugen und -uniformen, deshalb bin ich mit meinem Privatwagen gekommen.« Er hob Laurents Koffer vom Boden und wollte in Richtung Land Rover vorangehen.

»Ist das Ihr Hund? Gehen Sie mit ihm auf die Jagd?« Laurent hatte sich in die Hocke begeben, und Bruno sah mit Wohlwollen, dass der junge Mann Balzac zu sich lockte.

»Ja, er begleitet mich und stöbert bécasses auf. Für gewöhnlich ist er sehr nützlich, es sei denn, irgendwas lenkt ihn ab. So sind Bassets nun mal.«

»Wissen Sie, wohin wir fahren?«, fragte Laurent, immer noch in Hockstellung, und kraulte Balzac zwischen den Vorderbeinen, was Hunde besonders mögen, weil sie diese Stelle selbst weder mit der Schnauze noch mit den Pfoten erreichen können. Balzac war verzückt.

»Ja. Ich bringe Sie zum Hof von Bernard Marty.«

»Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass er mich abholt.«

»Das war auch so geplant, aber wir sind übereingekommen, dass es vielleicht besser ist, wenn ich zum Bahnhof fahre. Es hätte ja sein können, dass Ihnen hier Pressefritzen auf‌lauern.«

Laurent nickte, stand auf und warf einen neugierigen Blick auf die junge Frau mit dem Rucksack, die außer ihm als Einzige hier ausgestiegen war. Sie stand unter dem Taxischild, hatte ihr Handy am Ohr und verzog das Gesicht.

»Bonjour, mademoiselle«, grüßte Bruno und zog den Reißverschluss seiner Jacke auf, um ihr das Polizeiabzeichen am Hemd zu zeigen. »Mein Name ist Bruno Courrèges; ich bin der Polizist von Saint-Denis. Wir haben hier nur ein Taxi, und das ist heute im Dauereinsatz, weil manche Bewohner des Seniorenheims um diese Zeit nach Périgueux in die Ambulanz chauf‌fiert werden müssen. Es wird dauern, bis es wieder frei ist. Kann ich Ihnen helfen?«

»Bonjour, monsieur, und vielen Dank«, antwortete sie mit unverkennbar amerikanischem Akzent, aber ihr Französisch war recht gut. »Ich bin mit einem Monsieur de Bourdeille von der Chartreuse Miremont verabredet und weiß nicht, wie ich dorthin komme.«

»Ich bringe sie hin; sie liegt auf meinem Weg. Und bitte nennen Sie mich Bruno.« Er gab ihr die Hand, die sie schüttelte, während sie überrascht zusah, wie er ihren Rucksack mit Laurents Koffer in den Wagen packte. Bruno stellte ihr Laurent als hiesigen Landwirt vor, öffnete ihr eine der hinteren Türen und gab Laurent zu verstehen, dass er auf dem Beifahrersitz Platz nehmen sollte.

Sie setzte sich auf die Rückbank und ließ mit freundlichem Grinsen durchblicken, dass sie sich von ihren neuen Bekanntschaften noch einiges versprach. Sie hatte eine selbstbewusste und dabei lockere Art, die Bruno an andere Amerikanerinnen erinnerte, denen er schon begegnet war.

»Ich bin übrigens Claudia Muller. Wirklich nett von Ihnen, dass Sie mich mitnehmen. Sie wissen, wo die chartreuse liegt?«

»Natürlich. Monsieur de Bourdeille ist in unserer Gegend gut bekannt. Und so viele angesehene Kunsthistoriker und Sammler wie ihn gibt es nun mal nicht bei uns.«

»Wenn ich richtig informiert bin, war er außerdem ein Kriegsheld«, sagte sie.

»Ja, er war noch ein Schüler, als er angeschossen und inhaftiert wurde, weil er bei der Résistance aktiv war«, bestätigte Bruno. »Deshalb sitzt er jetzt im Rollstuhl. Davon abgesehen ist er für sein Alter noch bei bester Gesundheit. Wie kommt’s, dass Sie ihn besuchen?«

»Ich bin Doktorandin in Kunstgeschichte und beschäftige mich mit der französischen Renaissance. Er ist Experte auf diesem Gebiet. Meine Professorin in Paris hat es arrangiert, dass ich eine Weile bei ihm recherchieren darf.«

»Ihr Französisch ist zwar ausgezeichnet –, aber höre ich da einen amerikanischen Akzent heraus?«, fragte Bruno.

»Ja, ich komme aus den Staaten. Ich habe in Yale studiert, bin jetzt aber an der Sorbonne eingeschrieben und Doktorandin einer Professorin, die zum Kuratorium des Louvre gehört.« Sie hatte sich nach vorn gebeugt, um zu antworten, wandte sich nun aber Laurent zu und fragte, welche Art von Landwirtschaft er betreibe.

»Hauptsächlich Milchwirtschaft«, antwortete er und drehte sich zu ihr um.

Bruno staunte über den Mann, der über viele Jahre wahrscheinlich kaum Kontakt zu Frauen gehabt hatte. Trotzdem wirkte er der attraktiven und freundlichen jungen Frau gegenüber völlig unbefangen und auch nicht dadurch eingeschüchtert, dass sie offenbar sehr intelligent und hochqualifiziert war.

»Nebenbei interessiere ich mich für die Falknerei und hoffe, mich demnächst mehr damit beschäftigen zu können«, fuhr Laurent fort.

»Klingt wirklich interessant«, erwiderte sie. »Lassen Sie selbst Vögel aus der Hand aufsteigen?«

Zu Brunos Überraschung bejahte Laurent. Darüber hatte im cahier de surveillance nichts gestanden. »Ich habe schon mit einem Rotschwanzbussard und einem Wanderfalken ‌trainiert. Herrliche Vögel. Das war bei einem Falkner im Jura.«

»Sie sind immer nur zu Ihnen zurückgeflogen?«

»Nein, es waren gut ausgebildete Greifvögel, so erzogen, dass sie zu allen möglichen Personen Vertrauen fassen konnten, vorausgesetzt, sie haben von ihnen Leckereien bekommen. Aber ich hatte doch schon ein besonderes Verhältnis zu dem Bussard. Er fehlt mir schon jetzt sehr. Umso mehr wünsche ich mir einen eigenen Vogel.«

»Das würde ich mir gern einmal ansehen, wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte sie und bestätigte Brunos ersten Eindruck von ihr als überaus freundlicher und begeisterungsfähiger junger Frau. Er fragte sich, ob er sie darauf hinweisen sollte, dass ihre zugängliche Art missverstanden werden könnte, besonders von jemandem wie Laurent, der gerade aus der Haft entlassen worden war. Bruno betrachtete Laurent von der Seite und fand, dass er einen recht gefestigten Eindruck machte und sich unter Kontrolle zu haben schien. Er antwortete höf‌lich, aber zurückhaltend.

»Hängt davon ab, wie lange Sie hier sind. Es braucht viel Zeit. Ich muss erst einmal einen Jungvogel auf‌treiben und ihn an mich gewöhnen.«

»Bleiben wir in Kontakt«, sagte Claudia spontan. »Hier ist meine Karte mit meiner Handynummer. Für Sie, Bruno, auch eine.«

Sie redete munter weiter und erzählte, was ihr zur Beizjagd und zur Landwirtschaft gerade so einfiel. Sie erkundigte sich auch nach den Rindern auf der Weide, an denen sie vorbeifuhren, und konnte bald die Blondes d’Aquitaine von den Limousins unterscheiden. Von Bruno wollte sie wissen, ob er ebenfalls von einem Bauernhof stamme.

»Nein, ich bin in Bergerac aufgewachsen, das hier schon als größere Stadt gilt. Allerdings halte ich ein paar Gänse und Hühner«, antwortete er.

»Und was ist mit Pferden?«, fragte sie. »Kann ich irgendwo reiten oder mir ein Pferd ausleihen?«

»Wir haben hier eine gute Reitschule. Sie könnten morgens oder abends an Ausritten teilnehmen. Kostet auch nicht viel.« Er nannte Pamelas Telefonnummer, die er auswendig kannte. Claudia tippte sie sofort in ihr Handy. »Ich bin selbst dort, sooft ich es einrichten kann.«

»Wie weit ist es?«, fragte sie.

»Mit dem Auto sind es zehn Minuten von Saint-Denis. Wenn Sie wollen, könnte ich Sie hinbringen. Sagen Sie mir Bescheid, wann.« Bruno wandte sich an Laurent und fragte ihn, ob er jemals auf einem Pferd gesessen habe.

»Ja, ein paarmal auf der ferme im Jura. Ich würde gern häufiger reiten, kann es mir aber vorerst wohl nicht leisten.«

Bruno bog auf die steil ansteigende Straße nach Limeuil ab, passierte langsam den steinernen Torbogen zur Altstadt und fuhr dann über den bewaldeten Hügelgrat auf die chartreuse zu. Zwischen den Baumlücken boten sich wunderschöne Ausblicke auf das Tal. Schließlich bog er in die mit Kies bestreute und von Platanen gesäumte, schnurgerade Zufahrt zur ehemaligen Kartause.

Das längliche, eingeschossige Gebäude war im frühen achtzehnten Jahrhundert aus dem honigfarbenen Gestein der Region errichtet worden. Über dem Portikus erhob sich ein hübscher, viereckiger Turm mit Kuppeldach. Auf halber Höhe führten hohe Fenster auf einen Balkon hinaus. Darauf saß jemand. Als Bruno den Wagen abstellte, erkannte er einen älteren Herrn im Rollstuhl, der die spätwinterliche Nachmittagssonne genoss und, wie es schien, von ihrer Ankunft noch keine Notiz genommen hatte. Vielleicht schlief er. Sonnenstrahlen glitzerten auf einer Weinflasche, die auf einem Tisch an seiner Seite stand.

»Oh, wie schön, ein richtiges kleines Schloss«, rief Claudia. »Und dieser Garten! Der macht bestimmt viel Arbeit. Das da drüben sieht aus wie ein Weinberg. Wird hier eigener Wein hergestellt?«

»Ja, und ein recht guter dazu«, antwortete Bruno. Er nahm den Rucksack und ging auf den Eingang zu. Laurent stieg aus dem Land Rover, um sich von Claudia zu verabschieden, und wünschte ihr viel Erfolg bei ihrer Forschungsarbeit.

Madame Bonnet, die Haushälterin von Monsieur de Bourdeille, öffnete die Tür und begrüßte die Ankömmlinge mit breitem Lächeln. Bruno erklärte, dass am Bahnhof kein Taxi gestanden und er Claudia deshalb gebracht habe.

»Lassen Sie die junge Frau eintreten, Madame Bonnet«, tönte eine gebieterische Stimme vom Balkon. Sie klang nicht wie die eines alten Mannes, der, wie Bruno wusste, mindestens neunzig war. »Wollen doch mal sehen, wen uns meine Kollegen vom Louvre da ins Haus geschickt haben.«

»Keine Angst, meine Liebe«, sagte Madame Bonnet und führte Claudia ins Haus. Mit einem entschuldigenden Schulterzucken wandte sie sich noch einmal Bruno zu und schloss die Tür. »Er tut wie ein griesgrämiger alter Bär, aber tief drin ist er eine gute Seele.«

»Bonjour, Monsieur«, rief Bruno nach oben, winkte Claudia zum Abschied zu und ging zu seinem Wagen. Der alte Herr winkte huldvoll zurück.

Anschließend brachte Bruno Laurent zu Martys Hof und erfuhr unterwegs, dass sich Laurent während seiner Arbeit in der Gefängnisbibliothek mit dem Leiter der Haftanstalt angefreundet hatte und als Freigänger einem Bauern zugewiesen worden war, der Raubvögel zu seinem Hobby gemacht hatte. Bruno hätte ihn gern gefragt, wie es sich für einen Gefangenen angefühlt habe, Vögel fliegen zu lassen und zu sehen, dass sie freiwillig auf die Hand des Falkners zurückkehrten. Aber um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen, behielt Bruno die Frage für sich und hörte Laurent zu, der von verschiedenen Arten von Greifvögeln erzählte und erklärte, dass die Weibchen für gewöhnlich größer seien als die Männchen.

»Wissen Sie eigentlich, dass es hier in der Nähe ein Château gibt, wo ebenfalls Falknerei betrieben wird?«, fragte Bruno.

»Das Château des Milandes«, antwortete Laurent. »Ja, ich weiß. Mir ist angeboten worden, dort zu jobben. Der Falkner ist ein alter Freund des Bauern, der mich ausgebildet hat, und will mir eine Chance geben. Er kommt in die Jahre und sucht einen Partner, der seine Warte eines Tages übernehmen wird. Das würde mir schon gefallen.«

»Wie wollen Sie da hinkommen?«, fragte Bruno. Laurent hatte keine Fahrerlaubnis. Die zu erwerben, würde mehrere Wochen dauern, vorausgesetzt, er bestand die Prüfung. Geld für ein Auto würde er wohl auch nicht haben.

»Mein Freund will mir seinen kleinen Roller leihen«, antwortete Laurent. »Der hat nur fünfzig Kubik und fährt nicht schneller als fünfzig. Dafür brauche ich keinen Führerschein. Und immerhin wäre ich damit mobil. In der Zwischenzeit kann ich mit Bernards Auto auf dem Hof ein bisschen üben und später dann die Prüfung machen.«

Als sie ihr Ziel erreichten, wurde Bruno auf ein Glas Wein ins Haus gebeten. Er nahm die Einladung an, weil er sich davon versprach, den beiden Männern mit seiner Anwesenheit das Wiedersehen zu erleichtern. Marty führte sie aber erst einmal durch den Betrieb, zeigte ihnen stolz die Herde seiner Blondes d’Aquitaine. Er erklärte, dass sie zwar vor allem des Fleisches wegen geschätzt würden und zudem weil sie problemlos kalbten, inzwischen aber auch Milch lieferten. Und zwar sehr viel mehr als noch zu der Zeit, als sie beide auf der landwirtschaftlichen Schule gewesen waren.

»Die Blondes sind ein Himmelsgeschenk«, sagte Marty. Er lehnte am Gatter und blickte über die Weide voller grasender Rinder. »Es hat sich überhaupt vieles verändert. Die Supermärkte drücken so sehr auf die Milchpreise, dass wir mit dem, was für uns übrig bleibt, unsere Produktionskosten kaum decken können. Dabei liefert eine Kuh fast siebentausend Liter Milch im Jahr. Die eigentlichen Gewinne mache ich mit dem Fleisch. Kollegen, die an ihren Limousins festhalten, sind noch sehr viel schlechter dran. Und diejenigen, die in Holsteiner investiert haben, wissen nicht, wie sie die Tierarztrechnungen bezahlen sollen.«

Bruno hörte solchen Gesprächen unter Bauern gern zu, obwohl in letzter Zeit immer häufiger die Rede davon war, wie sich Brüssel noch besser melken lasse, anstatt die eigentliche Arbeit zu thematisieren.

»Wie hoch ist die Mortalität bei den Geburten?«, wollte Laurent wissen.

»Ungefähr zwei Prozent«, antwortete Marty. »Das liegt daran, dass die Muttertiere durchweg groß gebaut und die Kälber ziemlich klein sind, wenn sie zur Welt kommen. Bei den Limousins hingegen kommt es in sechs oder sogar acht von hundert Fällen zu Komplikationen bei der Geburt. Deshalb verdienen die Tierärzte an ihnen auch so viel.«

»Nur zwei Prozent?« Laurent schüttelte den Kopf, als ob er das kaum glauben könnte, aber er lächelte seinem Freund zu. »Ja, es hat sich offenbar mit den Jahren viel verändert. Freut mich jedenfalls, dass es dir gutzugehen scheint, Bernard. Und dem Vieh auch. Du kannst stolz auf deine Tiere sein.«

Bruno sah, dass die beiden gut miteinander zurechtkommen würden. Es war also nicht nötig, dass er blieb, doch Marty bestand darauf, und so gingen sie gemeinsam zum Haus. Als sie sich der Küchentür näherten, kam Martys Frau mit einem kleinen Kind an der Hand und einem Säugling im Arm heraus. Bruno fürchtete, Laurent könnte geschockt sein oder mit Selbstmitleid auf das reagieren, was ihm aufgrund der Jahre in Haft entgangen war. Aber anscheinend wusste er von Bernards Familie, begrüßte dessen Frau mit Namen, ließ sich von ihr den Säugling in die Arme legen und sagte: »Das ist also der kleine Laurent.« Bruno sah, dass er sich in dieser Hinsicht keine Sorgen machen musste.

»Die letzten Jahre waren bestimmt hart für dich«, sagte Bernard, als sie sich, jeder mit einem Glas Wein, an den Küchentisch setzten. »Aber du hast das Beste draus gemacht, dich fit gehalten und die Verbindung zur Landwirtschaft nicht verloren.«

»Für die Eltern der getöteten Jungen war die Zeit bestimmt schlimmer als für mich«, sagte Laurent. »Sie haben alles verloren, ich nur ein paar Jahre. Und ich habe im Gefängnis viel über das Leben und über Menschen gelernt. Inhaftierte sind nicht viel anders als alle anderen. Ich habe sogar ein paar Freunde gefunden.«

»Das erinnert mich an meine Zeit beim Militär«, meinte Bruno. »Auch da gehört einem die Zeit nicht wirklich, und immer hat man einen Vorgesetzten vor der Nase. Aber dafür wird man mit Kameradschaft entschädigt. Na ja, mit einem Gefängnisaufenthalt ist das wohl nicht zu vergleichen, aber ich muss schon sagen, ich bewundere Ihre Haltung, Laurent. – So, ich werde dann jetzt mal gehen. Vielen Dank für den Wein, Bernard.«

Als Bruno aufstand, legte ihm Laurent eine Hand auf den Arm. »Danke, dass Sie mich hergebracht haben, Bruno. Sie sollten wissen, dass mich die Haft nicht bitter gemacht hat. Ich habe sie verdient. Und ganz ehrlich, was mir ein bisschen geholfen hat, war die gesetzliche Neuregelung in Sachen Alkohol am Steuer. Sie hat einiges bewirkt. Die Unfälle mit Todesfolge sind um vierzig Prozent zurückgegangen, über fünf‌tausend Menschenleben sind verschont geblieben. Mich beruhigt das sehr. Machen Sie sich also um mich keine Sorgen.«

»Schön«, sagte Bruno, erhob sich und ließ sein noch halbvolles Glas Wein stehen.

4

Fahrstunden sind in Frankreich sehr teuer, und mindestens zwanzig sind vorgeschrieben, um zur Prüfung zugelassen zu werden. Ein Führerschein kostete demnach an die zwölfhundert Euro, und Laurent hatte so gut wie kein Geld. Darum entschied er sich für die billigere Alternative: Er ließ Bernard Marty als seinen Begleitfahrer registrieren und legte während der nächsten Monate tausend Kilometer am Steuer zurück, ehe er sich zur Prüfung anmeldete. Dass er morgens und abends auf Bernards Hof arbeitete, hinderte ihn daran, an den Reitkursen teilzunehmen. Claudia hingegen kam häufig zu Pamelas Reitschule und ließ sich von ihrer Mutter per FedEx Reitstiefel und -kleidung aus New York schicken. Madame Bonnet lieh ihr gegen ein kleines Entgelt ihren Wagen, mit dem sie bequem die Reitschule erreichen konnte.

Von der ersten Stunde an war klar, dass sie sich gut auf Pferde verstand, und Bruno hatte keine Bedenken, ihr seinen Wallach Hector anzuvertrauen, wenn er keine Zeit für ihn hatte. Félix, der Stalljunge, verliebte sich auf den ersten Blick in sie, worauf Claudia, wie Bruno bemerkte, sehr sympathisch reagierte. Pamela war ihr gegenüber anfangs reserviert und konnte nur den Kopf darüber schütteln, dass jemand wie Claudia zweitausend Euro für handgefertigte Tucci-Stiefel aus Italien ausgab. Aber allmählich fasste sie Zutrauen zu ihr, als sie sah, wie bereitwillig die junge Amerikanerin die Pferde pflegte und die Boxen ausmistete.

Claudia fand schnell Anschluss an Miranda, Pamelas Partnerin auf dem Reiterhof, die sie zu einem der montäglichen Abendessen einlud, dem inzwischen regelmäßigen Treffen der Freunde um Bruno. Claudia hatte vor, selbst zu kochen, und den Metzger vor Ort gebeten, ihr ein Dutzend T-Bone-Steaks zurechtzuschneiden, was in Frankreich nur selten gewünscht wurde. Es werde ein rein amerikanisches Dinner geben, versprach sie, mit Fish Chowder als Vorspeise, dann Steak und French Fries und zum Nachtisch Schokoladen-Brownies mit Speiseeis. Bei Hubert, dem Weinhändler, bestellte sie sogar eine Kiste Stags’ Leap aus Kalifornien. Florence war ebenfalls schnell von Claudia eingenommen, als sie sich bereit erklärte, am collège einen kunstgeschichtlichen Vor‌trag zu halten.

»Sie ist offenbar ziemlich vermögend, scheint aber doch sehr umgänglich zu sein«, meinte Pamela eines Montagabends, als Claudia nach Paris gefahren war, um sich mit der Betreuerin ihrer Doktorarbeit zu treffen. »Ich hoffe, unsere jungen Kerle verstehen ihre offene Art nicht falsch.«

»Das werden sie nicht, wenn sie sie erst einmal Tennis haben spielen sehen«, entgegnete Bruno in Erinnerung an eine schmachvolle Niederlage.

Claudia ging allen romantischen Abenteuern mit jungen Männern aus Saint-Denis geflissentlich aus dem Weg und ließ gelegentlich durchblicken, dass sie in festen Händen sei. Einmal fuhr sie nach London zu ihrem amerikanischen Freund, der in einer Anwaltskanzlei arbeitete, und manchmal verbrachten die beiden ein Wochenende in Paris, wo sie eine Wohnung hatte. Bruno wusste, dass sie sich manchmal mit Laurent traf. Sie besuchten das Château des Milandes oder beschäftigten sich mit seinen Greifvögeln auf Martys Hof. Einmal sorgte sie während der montäglichen Tischrunde für großes Gelächter, als sie berichtete, wie sie unter Laurents Anleitung versucht hatte, eine Kuh zu melken.

Bruno lud die beiden ein, ihn und den Bürgermeister zu einem Treffen der SHAP, der Gesellschaft für Geschichte und Archäologie, zu begleiten, als dort ein Vor‌trag über mittelalterliche Falknerei angeboten wurde. Laurent und Claudia waren sehr beeindruckt von dem Vereinsgebäude, einem Stadtpalais aus dem siebzehnten Jahrhundert, das einer adeligen Familie gehört hatte. Der Vor‌trag selbst machte noch größeren Eindruck auf sie. Es sprach eines der Mitglieder der Gesellschaft, ein Antiquar und Hobbyhistoriker, der seine Ausführungen mit Dias von mittelalterlichen Gemälden und Miniaturen zum Thema veranschaulichte.

Auch Bruno war ganz Ohr, als er hörte, dass das Falknerwesen nach dem Untergang des Römischen Reiches von den Hunnen in Europa eingeführt worden war und sich schnell verbreitet hatte. Das erste Dia, das der Referent zeigte, war ein Ausschnitt aus dem Bildteppich von Bayeux, der den englischen König Harold bei der Beizjagd darstellte. Die eigentlichen Meister dieser Disziplin seien die Araber gewesen, erklärte er und verwies darauf, dass im Koran das von ausgebildeten Greifvögeln erbeutete Fleisch ausdrücklich als halal bezeichnet werde, also für den Verzehr erlaubt. Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Falknerei setzte in Europa im dreizehnten Jahrhundert ein, als Friedrich II. von Hohenstaufen auf seinem Kreuzzug den Umgang mit Greifvögeln kennenlernte und den Moamin, den klassischen Text über die Falkenjagd, aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzen ließ. Daraufhin verfasste er seine eigene Version unter dem Titel De Arte Venandi cum Avibus – Über die Kunst, mit Vögeln zu jagen, ein Buch, das in Frankreich bald populär wurde. Es sei, wie der Referent hervorhob, nach der klassischen Antike das erste bedeutende Werk über Ornithologie, das in Europa Verbreitung fand und sich in seinem wissenschaftlichen Anspruch sogar mit Aristoteles’ naturkundlichen Schriften messen lassen konnte.

Bruno hatte bislang die Falknerei für einen Zeitvertreib der Aristokratie gehalten und erfuhr nun zu seiner Überraschung, dass jede Gesellschaftsschicht ihren eigenen Vogel als Standessymbol pflegte: der Kaiser den Adler, der König den Gerfalken; Grafen und Bischöfe hatten das Recht, mit Wanderfalken zu jagen, Rittern und Klostervorstehern waren Würgfalken vorbehalten. Damen bildeten für sich Merline aus und Freisassen den Habicht, wohingegen ein einfacher Gemeindepriester mit einem Sperber vorliebnahm.

Im Anschluss an den Vor‌trag trat Claudia spontan der Gesellschaft als Mitglied bei und studierte sogleich das Verzeichnis ihrer Veröffentlichungen. Während der Bürgermeister alte Bekannte begrüßte, nutzten Bruno und Laurent die Gelegenheit, sich im Garten, wo Wein ausgeschenkt wurde, mit dem Referenten zu unterhalten.

Bruno hörte interessiert zu, wie die beiden darüber debattierten, ob das Glöckchen an den zentralen