Conrad der Leutnant - Carl Spitteler - E-Book

Conrad der Leutnant E-Book

Carl Spitteler

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Beschreibung

In "Conrad der Leutnant" greift Spitteler das ewig währende Thema des Konfliktes zwischen Vater und Sohn auf und wendet sich erstmals dem Naturalismus zu - einem Stil, den er sonst verachtete.

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Conrad der Leutnant

Carl Spitteler

Inhalt:

Carl Friedrich Georg Spitteler  - Biografie und Bibliografie

Vorbemerkung des Verfassers

Conrad der Leutnant

Conrad der Leutnant , C. Spitteler

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849636524

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Carl Friedrich Georg Spitteler  - Biografie und Bibliografie

Schweizer Dichter und Träger des Nobelpreises für Literatur,geboren am 24. April 1845 in Liestal bei Basel, verstorben am 29. Dezember 1924 in Luzern. Nach seiner Schulzeit folgt ein abgebrochenes Jura-Studium in Basel und schließlich ein Theologie-Studium, das Spitteler 1871 besteht. Danach zieht es ihn als Hauslehrer nach Russland und Finnland. Erst 1879 kehrt der Autor in sein Heimatland zurück und wird Lehrer in Bern. 1883 heiratet Spitteler seine frühere Schülerin Maria Op den Hooff und wird 1886 Vater einer Tochter. Ab 1890 schreibt Spitteler für das Feuilleton des Neuen Züricher Zeitung, kann sich aber schließlich drei Jahre später aufgrund der Erbschaft seines verstorbenen Schwiegervaters dazu entschließen, nur noch als freier Autor zu arbeiten. In den nächsten zwanzig Jahren erscheinen seine wichtigsten Werke, für die er 1919 als bisher einziger Schweizer den Literatur-Nobelpreis erhält.

Wichtige Werke:

1881 Prometheus und Epimetheus1883 Extramundana1887 Ei Ole1887 Samojeden1887 Hund und Katze1887 Olaf1889 Das Bombardement von Åbo1889 Schmetterlinge1889 Der Parlamentär1890 Das Wettfasten von Heimligen1891 Friedli der Kolderi1891 Gustav1892 Literarische Gleichnisse1892 Der Ehrgeizige1897 Der Gotthard1898 Conrad, der Leutnant1898 Lachende Wahrheiten1900 Die Auffahrt1901 Hera die Braut1903 Die hohe Zeit1904 Ende und Wende1905 Olympischer Frühling (Epos)1906 Imago1907 Die Mädchenfeinde1920 Meine frühesten Erlebnisse1924 Prometheus der Dulder

Vorbemerkung des Verfassers

Unter ›Darstellung‹ verstehe ich eine besondere Kunstform der Prosa-Erzählung mit eigentümlichem Ziel und mit besondern Stilgesetzen, welche diesem Ziel als Mittel dienen. Das Ziel heißt: denkbar innigstes Miterleben der Handlung. Die Mittel dazu lauten: Einheit der Person, Einheit der Perspektive, Stetigkeit des zeitlichen Fortschrittes. Also diejenigen Gesetze, unter welchen wir in der Wirklichkeit leben.

Mit erläuternden Worten: Die Hauptperson wird gleich mit dem ersten Satz eingeführt und hinfort nie mehr verlassen. Es wird ferner nur mitgeteilt, was jene wahrnimmt, und das so mitgeteilt, wie es sich in ihrer Wahrnehmung spiegelt. Endlich wird die Handlung lebensgetreu Stunde für Stunde begleitet, so daß der Erzähler sich nicht gestattet, irgendeinen Zeitabschnitt als angeblich unwichtig zu überspringen. Aus dem letzten Gesetz ergibt sich wiederum die Notwendigkeit, die Handlung binnen wenigen Stunden verlaufen zu lassen.

Selbstverständlich eignet sich nicht jeder Stoff zur ›Darstellung‹, im Gegenteil, von Fragmenten abgesehen und Irrtum vorbehalten, bloß eine einzige Gattung von Stoffen, nämlich die gedrängten und geschlossenen (›dramatischen‹). Ja sogar unter ihnen nur solche, die es erlauben, auf ungezwungene Weise sämtliche wichtigen Motive unmittelbar vor der Entscheidung vorzuführen. Der Faden wird dann kurz vor der Entscheidung angefaßt und nach dem Willen der Wahrheit gesponnen. Erweist sich bei dunklen (›tragischen‹) Stoffen mit großer Personenzahl nach dem Tode der Hauptperson noch ein abschließender Anhang als notwendig, um die Handlung von allen Seiten ausklingen zu lassen, so wird der abschließende Anhang aus der Perspektive einer überlebenden zweiten Hauptperson nach den nämlichen Gesetzen gearbeitet.

Conrad der Leutnant

Der junge Conrad Reber aus dem ›Pfauen‹ in Herrlisdorf, der Leutnant, strich durch den Stall, hinter den Gäulen vorbei, welche bei seiner Ankunft den Hals emporschleuderten und sich polternd zurechtstellten. Aber die rote Lissi, zuhinterst in der Ecke, schaute sich zutraulich um, hob den Schweif und spreizte die Schenkel.

»Was ist, Lissi?« machte der Leutnant. »Sags, was möchtest mir klagen? Gelt, möchtest auch lieber auf dem Frauenfelder Exerzierplatz galoppieren, morgens früh um fünf, wenn die Trompeten schmettern, und Fensterparade am Sonntag vormittag und am Abend schöne Fräulein, die dir die Mähne streicheln, dir ein Zückerchen und mir ein Küßchen, als daheim Mist auf den Acker fahren und Zank und Schelten und saure Gesichter den langen Tag! Kehr dich links, kehr dich rechts, bück dich, streck dich, geschimpft wird auf jeden Fall. Hört das Schimpfen auf, so fängt das Seufzen an. Allein was meinst, Lissi? meinst nicht auch selber: wenns zuviel ist, so ists zuviel, und wenns zu lange währt, so muß es ein Ende nehmen. So oder so, hinter sich oder für sich, in Güte oder in Krieg.« Hiermit klatschte er dem Rößlein mit der Flachhand aufs Kreuz, daß es vor Mut strampelte.

Und da eben der Scheck und der Bläß einander futterneidisch anfletschten, jauchzend vor Haß, raffte er die Geißel vom Fenster und zog ihnen ein paar sausende Streiche unter dem Bauch durch, daß sie aufjuckten wie die Forellen beim Gewitter.

»Friede in des heiligen Dreiteufels Namen!« herrschte er. »Muß denn in diesem zänkischen Hause sogar das vierfüßige Vieh hadern?«

Und nachdem er ihnen nachträglich noch ein paar feine Zwicker um die Knie verabreicht, zum Vorrat für später, verblieb er mit ausholendem Arm, bis die Aufregung sich gelegt hatte und ein gleichmäßiges Mampfen aus sämtlichen Krippen knusperte. Hierauf schob er sich mit unhörbaren Schritten nach der Fensternische und hängte die Geißel an den Nagel, behielt jedoch den Griff in der Hand, die er erst nach geraumer Zeit verstohlen an sich zog. Hernach verharrte er regungslos, an den Sims gelehnt.

Ein weißer Lichtstab zuckte in gebrochenen Winkeln durch die Stalltür, zwei Schwalben aufscheuchend, welche blitzschnell über die Türspalte flüchteten; und eine Hand nestelte schwächlich am Verschlußkettchen. »Conrad, bist dus?« heischte vertraulich eine Frauenstimme von draußen. Dann bat sie dringender: »Mach auf, Conrad, ich bins, Anna, die Schwester.«

»Die Stalltür bleibt zu«, versetzte er bestimmt. »Hingegen das Scheunenpförtchen ist offen.« Einige Sekunden später tastete, vom Stalldunkel geblendet, die Schwester behutsam zwischen Mauer und Gosse herbei, die Kleider zusammenfassend.

»Guten Tag, Anna«, grüßte er ihr entgegen, um ihr den Weg zu weisen.

»Was versteckst du dich den lieben langen Vormittag, daß dich kein Mensch findet?« schmälte sie mit freundschaftlichem Ton.

»Bin ja doch überall im Wege.«

»Gleichviel. An einem Maisonntag, wo jeder Bahnzug ein halbes Hundert Gäste bringen kann, gehört der Meister ins Haus und nicht in den Stall.«

»Wer? Der Meister? Ich der Meister? Als ob es vom Keller bis zum Estrich eine Seele gäbe, die weniger zu sagen hätte als ich! Der Sündenbock, das bin ich; die Zielscheibe für jedermanns üble Laune! Meister! Ich der Meister!«

Sie lehnte sich besänftigend an ihn. »Du solltest mit dem Vater ein bißchen mehr Geduld haben, Conrad«, schmeichelte sie.

Da brauste er auf: »Wenn ich nicht Geduld hätte, viel Geduld, sehr, sehr viel Geduld, meinst, ich wäre nicht längst schon dreingefahren? Und wie! Übrigens handelt es sich keineswegs bloß um Geduld oder nicht Geduld. Ich bin vierundzwanzigjährig, stimmfähig, Militär und sogar Offizier, außerdem Kommandant der Feuerwehr. Meine Kameraden haben ihre Freiheit, ihren Willen, ihre selbständige Tätigkeit, einige sogar Amt und Familie. Ich dagegen werde von meinem Alten wie ein Bube geschurigelt. Wer aber im eigenen Hause nichts gilt, der ist auch in der Gemeinde nichts wert. Das ists, was mich wurmt, das ists, was ich nicht verwinde.«

Sie schwieg ein Weilchen, die Augen niederschlagend, während sie zerstreut mit den Schellen eines Pferdekumts tändelte. Endlich, nach langem Zögern, warf sie halblaut hin:

»Wer weiß denn, wie lange er überhaupt noch lebt.«

Conrad schaute betroffen auf, wie damals, als er in der Rekrutenschule zum ersten Male den teuflischen Pfiff einer Pikrinrakete vernommen hatte. Dann runzelte er die Stirn: »Du, Anna, hör einmal, ob ich mich schon nicht aufs Vermitteln verstehe wie du, einen solchen ruchlosen Gedanken, weißt du, hätte ich mir doch nie erlaubt, nicht einmal im Traum.«

Sie senkte den Kopf und starrte durch das Fenstergitter über die ziegelroten Dorfdächer, dorthin, von wo aus unsichtbarer Waldeshöhe der Kuckuck sang, so laut und innig, als ob er den Himmel noch blauer singen wollte; dann plötzlich warf sie sich mit elendiglichem Schluchzen über den staubigen Sims, den Kopf zwischen den Armen verbergend, auf welche die Tränen niederströmten, überjährige, reife Geburtstagstränen, in stillen Nächten gesammelt und im verschwiegenen Herzen gezeitigt.

Und abermals erstaunte er, zwischen Mitleid und Andacht, als ob er, über ein gedecktes Brunnenloch schreitend, durch die Bretterfugen tief unten im finstern Wasser etwas Lebendiges sich regen sähe. Teilnehmend bückte er sich und liebkoste tröstend ihren Scheitel. »Anna«, beschwichtigte er.

»Meinst du denn, einzig nur du allein habest Schweres zu tragen?« stieß sie hervor.

»Was ist? Wollen sie dir deinen Doktor nicht geben?«

»Der Vater schon, hingegen die Mutter nicht.«

»Ich habe den Vater, und du hast die Mutter«, urteilte er finster.

Sie aber, da draußen Stimmen laut wurden, sprang hurtig auf und schüttelte den Jammer vom Herzen. »Sieht man mirs an?« fragte sie frisch, die Augen wischend und das Kleid glättend. Dann mahnte sie überlegen: »Komm also jetzt, es ist Essenszeit; wir speisen nämlich heute eine Stunde früher.« Und vertraulich raunte sie ihm zu: »Der Vater ißt besonders, ich habe ihm in der Wohnstube gedeckt. Auch die Mutter kommt wahrscheinlich nicht zu Tisch herunter.«

»Warum?« fragte er besorgt, »sie ist doch hoffentlich nicht krank?«

»Nein, bloß Migräne. Vor Aufregung und Angst.«

»Angst?«

»Nun ja. Vor allem, was es heute könnte zu tun geben. Du weißt ja.«

Erleichtert atmete er auf. »So kann man doch wenigstens einmal ausnahmsweise im Frieden zu Mittag essen.«

»Gewiß. – Das heißt, die Base ist zwar zur Aushilfe da.«

»Was für eine?« forschte er mißtrauisch.

Sie brachte die Antwort kaum zum Vorschein. »Beide«, gestand sie endlich kleinlaut, »die Rosinenbase und die Hexenbase.«

»Warum nicht gleich ein ganzer Hühnerhof voll?« höhnte er.

»Nur auf einen halben Tag«, entschuldigte sie. »Vor einer Stunde angekommen und am Abend wieder fort. Das wird, denk' ich, auszuhalten sein!« Und klugerweise, damit er den Bissen besser verdaue, goß sie drei Tröpfchen Humor nach: »Ich wollte, du hättest sie sehen können, wie sie miteinander anrückten, Arm in Arm, unter einem urweltlichen Regenschirm, wackelig wie die liebe alte Zeit und ausgelassen wie jährige Osterhäslein. Den Vater haben sie vor lauter Übermut an der Nase gezupft, stell dir das einmal vor! Gegenwärtig zanken sie sich weidlich in der Küche herum. In aller Wohlmeinenheit natürlich.«

Wirklich brachte sie ihn zum Lächeln. Nicht über den Humor des Bildes, da er als Willensmensch wenig Empfänglichkeit für Humor besaß, sondern über dessen Freundlichkeit. Denn sieben Kinderjahre grüßten ihn aus ihren Runzeln. »Wenn nur die Hexenbase nicht eine so scheußliche Zunge hätte«, wandte er nachgiebig ein, halbwegs umgestimmt. »Wenn ich sie reden höre, ist mir immer, als hätte sie allen Sprachunrat des Kantons von der Landstraße aufgelesen.«

»Sie meints ja seelengottengut. – Und kocht Nummer eins.«

»Ich sage nicht nein. Aber ein Maulkorb gehörte ihr von Rechts wegen, auf Beschluß des Regierungsrates, in feierlicher außerordentlicher Sitzung.«

Die Schwester erachtete Weiterungen für überflüssig, verzichtete auf Widerspruch, faßte die Röcke zusammen und trippelte auf den Zehen umsichtig davon. »Also du kommst jetzt zum Essen«, schloß sie bestimmt, ohne sich nur nach ihm umzusehen, und ließ das Scheunenpförtchen offen.

Sollte er wirklich? Mußte ers durchaus? Fort aus dem sichern Verlies in den Haß und Hader? Doch das offene Pförtchen mahnte ihn fortwährend, mit der Stimme der Schwester, und Appetit spürte er, ehrlich gestanden, auch. Zögernd, widerwillig folgte er. »Einmal Herr und Meister sein!« stöhnte er grimmig vor sich hin, »gebieten können, strafen und belohnen dürfen, Achtung erfahren, Frieden haben, keine ungerechten Vorwürfe einstecken müssen – und wäre es auch nur auf eine einzige Stunde – oder eine halbe!«

Draußen auf dem weiten Dorfplatze im grellen Vormittagssonnenschein unterhielten sich Gruppen steifgekleideter Sonntagsbauern, das Kirchengesangbuch in der Hand. Ohne sich zu rühren, glotzten sie ihn an. »Prächtiges Kirschenwetter heute«, rief Conrad im Vorübergehen leutselig. Antwort erhielt er keine. Da runzelte er die Stirn. »Mach dich gemein, laß dich herab, sei freundlich und zuvorkommend, sofort lassen sie dichs büßen.«

An der Hausecke des Pfauen, gegen die Terrasse, balgten sich unter wieherndem Gelächter der Portier und Benedikt, der Kutscher. Der Portier, die Mütze schief auf dem Hinterkopf, schlenkerte das Bein gegen Benedikt, das dieser zu packen trachtete. Beim Anblick des jungen Meisters trat der Kutscher grüßend zur Seite, der Portier dagegen, nachdem er erst unwillkürlich nach seiner Mütze gegriffen, besann sich anders, behielt sie auf dem Kopf und setzte das rohe Spiel fort.

Der Leutnant bedachte ihn mit einem scharfen Blick, dann schwenkte er nach dem Seitenpförtchen neben der Küche ins Haus.

Vor der Schwelle stockte er mit einem Ausruf der Entrüstung. Nämlich Taubenfedern lagen herum, und einige rote sternförmige Tropfen Blutes bedeckten die oberste Stufe.

»Hat da wieder einmal so ein armes unschuldiges Täubchen sein junges Leben lassen müssen, damit irgendein verwöhnter Lecker seinen schalen Gaumen mit dem magern Bissen kitzle!«

Ehe er eintrat, schöpfte er, rund um sich blickend, einen großen Atemzug freie Luft. »Mut!« murmelte er, während ihn Ekel durchschauderte.

Hernach schritt er leise über die Schwelle in den Hausgang, wo er argwöhnisch lauschte wie auf Feindesboden. Nichts Verdächtiges in der Nähe; Leere ringsum und Stille in den Räumen. Das Unheil schlief also irgendwo in einem entlegenen Versteck, unter einem Strohwisch. Nur von der Küche, aus verwinkelter Ferne drang der Zank der Basen an sein Ohr.

Aber wenn das einen ›wohlmeinenden‹ Zank bedeutete, wie lautete dann ein ›übelmeinender‹? Ein Duett, als ob zwei tropfnasse Katzen mit verknoteten Schwänzen durch einen Affenkäfig gepeitscht würden.

Belustigt, mit der Wonne des Gemaßregelten, wenn seine Zuchtmeister aneinander geraten, weidete er sich an dem Konzert. »Jetzt laßt sehen, wer wird Meister? die Hexenbase oder die Rosinenbase?«, und er ließ mit erhobenen Händen die Zeigefinger gegeneinander fechten, wie das Krokodil und der Teufel im Kasperletheater. 

Darüber flog die Küchentür auf, und Flucht und Verfolgung tanzten in den Korridor. Den erläuternden Text gewährte die grölende Stimme der Hexenbase: »Pack dich! drück dich! hüpp! alehoppla, marsch!«

»Wart nur«, drohte es zurück, im greinenden Ton eines gesteinigten Propheten, »wart nur ganz ruhig, bis der Conrad einmal Meister wird. So jagt er dich aus dem Hause, wie du mich heute aus dem Hause jagst.«

»Amen, es geschehe!« betete Conrad und begab sich ins Speisezimmer.

Es war noch menschenleer. Ein Gemisch von kühlem Frühling und warmem Sonnenstrahlenbad – »frappierter Sommer«, dachte er – zog durch das saubere, wohnliche Gelaß aus und ein. Freundliche Reinheit um und um. Auf den gedeckten Tischen funkelten die Gläser und Wasserflaschen wie Nebensonnen. Ein kleiner Tisch für die Familie, ein langer, etwas getrennt davon, für das Gesinde der Aufwärterinnen. Beide mit Fliedersträußen geschmückt und das Besteck so regelrecht geordnet wie mit dem Zollstab abgemessen.

Da überkam ihn eine Pulswelle Lebenslust, daß er anfing, eine muntere Marschweise vor sich hin zu pfeifen. Wie er indessen an der Wohnstube vorübergeriet, zuckte er zusammen, verstummte und schlich sich verstohlen ans nächste Fenster hinüber. Er hatte durch die klaffende Lücke der nur zu Dreivierteln geschlossenen Tür die Gestalt des Vaters wahrgenommen, der drinnen in der Wohnstube im Lehnstuhl saß. Nur einen Augenblick, allein es hatte ihn wie ein Faustschlag getroffen. Und nun schwebte ihm das verhaßte Bild, von der Phantasie vergrößert, in ungeheuerlichen Umrissen nach, riesenhaft und schwarz. Dabei drehte sich etwas in ihm um, feindselige Gefühle an die Oberfläche fördernd; und mit klopfenden Pulsen, die Stirn an eine Fensterscheibe gedrückt, starrte er auf die Terrasse hinab.

Da, während er also ziellos hinbrütete, tauchte unversehens der frevelhafte Spruch seiner Schwester in seinem Gedächtnis auf. »Wer weiß denn, wie lange er überhaupt noch lebt!« Ob er das Wort noch so heftig verbannte, es kam wieder und hüpfte unablässig in seinem Ohr. Gewiß nicht als Wunsch und Hoffnung – pfui! – sondern einfach als eine Frage. Und schließlich, im Grunde, warum sollte er sie nicht beantworten? Eine unbezwingbare Neugierde wuchs in ihm heran, so daß er sich eine Schrittlänge seitwärts am Fenster zurückstahl, bis sein Blick durch die Türspalte den Vater streifend erreichte, die rechte Seite des Körpers und, je nachdem jener sich bewegte, auch den Kopf. Und nun begann er ihn verhaltenen Atems zu beobachten, wie er ihn noch nie beobachtet hatte, mit dem lauernden Blicke des Spions, welcher nach des Feindes Schwächen späht. Im einzelnen prüfte er ihn, von oben bis unten, um es schließlich zusammenzurechnen: das schreckliche Antlitz, glatt und bartlos, mit braunen Flecken schauerlich getigert, die fürchterlichen, rot unterlaufenen Doggenaugen, den gedunsenen Leib, der unter keuchenden Atemzügen seitwärts wogte, wie der Busen eines Weibes, die unförmlichen Klumpenbeine, welche trotz der sommerlichen Wärme in Pelzstulpen steckten. Und heimlich zählend, überflog er sein Alter: vierundsechzig im Herbst. Jedesmal, wenn zufällig sein Blick den des Vaters kreuzte, schnellte er den seinigen erblassend zurück, während der Vater geräuschvoll schnurfelnd ausspuckte.

»Männlein, was sinnst?« rannte ihm die Schwester ins Ohr.

Da fuhr er wie ein bleichsüchtiges Mädchen schreckhaft zusammen, daß ihm das Herz stille stand.

Sie aber beschrieb mit ihren seelenvollen Händen eine wischende Bewegung vor seiner Stirn, wie der Zauberkünstler, wenn er etwas verschwinden läßt. »Infernalibus«, flüsterte sie. Dann erhob sie drohend den Zeigefinger: »Männlein, sei lieb«, mahnte sie. »Wenn du lieb bist, aber sehr, sehr lieb, will ich dir etwas Schönes zeigen.« Das sagte sie in einem Ton, als ob sie ein Geschenk hinter dem Rücken verborgen hielte.

»Was?« fragte er zerstreut, noch vom Schreck verstört.

Sie wies neckisch nach der Landschaft, daß ihr Finger seine Nase streifte. »Zum Beispiel der rosarot gesprenkelte Apfelblust dort unten in der Matte, ist der etwa nicht schön?«

Hiernach huschte sie fröhlich nach dem Eßtisch hinüber, unterwegs die Wohnstubentür unauffällig schließend, und machte sich mit dem Besteck zu schaffen, indem sie nachträglich Kuchenmesser auflegte, sowohl für das Gesinde wie für die Herrschaft. Und während er nach wie vor in finsterer Verbohrtheit zum Fenster hinausstierte, sang sie hinter seinem Rücken über der Arbeit ein Liedchen, bald leise summend, bald mit nachdrücklicher Betonung, je nachdem der Wortlaut oder ihre Willkür es begehrte:

»Weißt, was der Kucker im Frühling singt?

Kein Mensch weiß, was ihm der Sommer bringt.

Der Sommer, der schläft hinterm Gitzlisberg.

Gar vieles kommt anders und überzwerch,

Doch manches wieder kommt plötzlich gut,

Wenns niemand erwartet und hoffen tut.

Januar und Februar:

Gotts Segen ins Jahr.

Im März und April

Gibts Wetter, wies will.

Im Maien der Schnee

Tut der Apfelkammer weh.

Brachmonat, August –

Trag willig, was mußt.

Im Herbst wächst die Nacht,

Bis es Winter macht.

Der Ofen tut not,

Die Blümlein sind tot.

Die Blümlein, die sind halt den Frost nicht gewohnt.

Wenns nur meinen Liebsten, meinen Einzigen verschont.«

Statt ›Einzigen‹ aber setzte sie ›Conrad‹, indem sie jedesmal bei diesem Namen einen herzinnigen Blick dem Bruder zuschickte, glückzufrieden, unbekümmert, ob er es bemerke.

Jetzt bimmelte die Eßglocke, und nach einer kleinen Schicklichkeitspause rauschten die Kellnerinnen ins Zimmer, einzeln und gruppenweise. Beim Eintritt wünschte eine jede dem jungen Meister ein treuherziges ›Gutentag‹, nicht ehrfürchtig, vielmehr kameradschaftlich und vertraulich, wofür er jedesmal mit lauter Stimme dankte, übrigens ohne sich umzuwenden.

Ein anmutiges Summen flüsternder, schwatzender, trällernder Mädchenstimmen bewegte sich hinter ihm hin und her. Mit der Zeit schob sich in seine Hände, die er hinter dem Rücken verschränkt hielt, ein Blumenstengel. Weil aber ein Fensterflügel spiegelte, erkannte er die Täterinnen. »Josephine«, urteilte er, »das errät man an der Narretei.«

Dann kreiste ihm eine Hand übers Gesicht. »Solch eine vorsintflutliche Patsche hat einzig in der Welt Brigitte«, erklärte er.

»Betrug!« verkündete ein empörter Ausruf. »Er sieht uns im Fenster.« Und sofort zerstreute sich der Schwarm. Dagegen erschien jetzt seine Schwester neben ihm.

»Nun denn, was sagst du jetzt dazu?« forschte sie.

»Wozu?«

»So sperr doch endlich deine Guckaugen auf, Tolpatsch!«

Er drehte sich nachlässig um, und wie sein Blick über den Mädchenhaufen glitt, bunt und fröhlich wie ein Junimorgen im Garten, entdeckte er unter den Kellnerinnen eine neue: hochgewachsen, stattlich und bolzgerade aufrecht, in reichster Bernertracht, lötig Silber und Samt und Seide, steifgewölbtes Vorhemd, panzerhartes Mieder, gestickte Halbhandschuhe, alles genau bis ins einzelste, wie in einem Trachtenbilde für die Fremden hinter einem Schaufenster von Interlaken. 

»Aus was für einer Spielschachtel hast du die bezogen?« bemerkte er beifällig, doch gleichgültig.

»Gelt?« lachte sie. »Oder habe ich dir denn nicht versprochen, etwas Schönes zu zeigen? – Aber nichts da von Spielschachtel, loses Menschenkind! Potztausend, damit wird nicht gespielt, hörst du? Nur zum Ansehen. Und sorgfältig mit umgehen, wohlgemerkt, denn das ist eine kostbare Präsidententochter, spröd und stolz. Übrigens für sie ist mir nicht bange, denn sie hat drei Reihen Nadeln auf der Zunge wie ein Hecht – um so mehr für dich – wehe deinem Herzen! armer Conrad!« Hiermit hüpfte sie triumphierend von ihm weg, singend in jauchzenden Oktaven.

Er aber behielt die Bernerin im Auge, und jählings von übermütigem Selbstgefühl gepackt, manövrierte er sich angriffslustig zu ihr hinüber.

»Also wahrscheinlich Bäbeli oder Marianneli«, machte er plötzlich, indem er unvermutet vor sie hintrat, so nahe, daß seine Stirn beinahe die ihrige berührte, damit sie ihm weiche.

Sie hielt ihm jedoch trotzig Stand, mit zusammengezogenen Brauen. »Weder Bäbeli noch Marianneli, sondern Cathri«, erwiderte sie barsch und wich ihm nicht um Zolles Breite.

»Von Langnau oder von Signau?« stocherte er weiter.

»Ich an Eurer Stelle«, rief sie hitzig, »wenn ich mich aufs Raten nicht besser verstände, ließe es bleiben. Von Melchdorf bin ich.«

»Melchdorf? Von Melchdorf? Wo ist doch Melchdorf? Übrigens wo von Melchdorf? Aus der Säge oder aus der Mühle? Nämlich Melchdorf, müßt Ihr wissen, Melchdorf ist groß.«

»Jetzt sagt Ihr eine Dummheit; denn Melchdorf ist klein. Besitzt auch überhaupt weder eine Säge noch eine Mühle. Übrigens, wenn Ihr denn so wundergierig seid, es ist kein Geheimnis, man darfs wissen: im Taubenhof bin ich daheim.«

»Im Taubenhof? Ach so, im Taubenhof. Im Taubenhof also. Keine fehlgeratenen Täubchen, fürwahr, in jenem Taubenhof.« Und indem er sie vom Kopf bis zu den Füßen musterte, auf und ab: »Hat er noch mehr dergleichen saubere, milchweiße Riesenvögelein, Euer Vater, der Präsident, in seinem Taubenschlag, von dieser Höhe?«

Freudiger Stolz erhellte ihr Antlitz: »Unser sechs Geschwister sind wir, immer eins bäumiger als das andere. Mag leicht sein, unser Ältester, der Hans, ist noch einen halben Kopf größer als Ihr.«

Conrad kniff zweifelnd ein Auge zu.

»Es steht jedem frei zu blinzeln, der blöde Augen hat«, bemerkte sie zornig. »Ich aber behaupte, was ich weiß und was Tatsache ist. Unser Hans schaut mir bequem über den Scheitel. Hiernach könnt Ihrs selber ausrechnen, wenn Ihr rechnen gelernt habt.«

»Oder abmessen?« meinte er.

»Meinetwegen.«

Und beide streckten sich herausfordernd auf den Zehen, halb im Spaß, halb im Ernst.

»Nicht so«, schalt Josephine, »sondern rechtschaffen, Rücken an Rücken, wie es Brauch ist.« Hiermit drehte sie keckerhand die beiden um, drängte sie an die Wand und stieß sie rücklings zusammen. »Einen Schemel, ein Lineal und einen Bleistift her!« befahl sie. »Schnell!«

Allein Anna unterbrach das Spiel. »Zur Suppe«, mahnte sie, mit einladender, singender Stimme, einen Blick mütterlicher Huld auf das Paar hinübersendend. »Zur Suppe«, wiederholten lustig die Mädchen, indem sie den ziehenden Ton in der Nachahmung überboten. Und hurtig schwärmte das junge Völklein nach dem Gesindetisch. Mit ihnen Cathri, worüber sich Conrad baß verwunderte, wie über etwas Ungebührliches.

Er überlegte. Sollte ers wagen, sie eigenmächtig an den Familientisch zu befördern?

Allein sie hatte schon gravitätisch die Serviette über den Schoß gebreitet und lachte ihm von weitem zu, belustigt über sein Erstaunen. »Ich sitze hier vortrefflich«, versicherte sie.

Während er zögernd seinem Platz zusteuerte, traf ihn ein Rippenstoß, und zwar ein recht knochiger. »Und mich«, belferte eine kurzatmige Stimme, »mich, gelt, mich grüßt man, versteht sich, nicht? unsereinen, natürlich, übersieht man? Freilich, kann dir leider nicht mit einem glatten Frätzchen aufwarten, bin halt nur die alte Ursula oder die ›Hexenbase‹, wie du mich getauft hast, vor Zeiten, weißt du noch? als du meintest, wenn ich dagewesen sei, gebe es nachher immer ein Unglück. Weil du per se jedesmal etwas Dummes angerichtet hattest und dafür die Rute bekamst; das eine Mal aufs Dach geklettert und die Ziegel verschimpfiert, das andere Mal dir das Gesicht verpülvert, das dritte Mal die Pferde in Heinis Garten gelassen und so weiter, was weiß ich. Aber so sind die Menschen. Wenn einer einen Unsinn gemacht hat und nachher löffeln muß, was er eingebrockt hat – –«

»Guten Tag, Base«, hemmte er den Erguß. »Übrigens hatte ich heute bereits das Vergnügen, wenn auch nur aus der Ferne. Alle Achtung, das muß man dir lassen: du bist eine tapfere Base, ein wahrer St. Georg. Nur so mir nichts, dir nichts aus dem Hause gejagt? eins, zwei, drei? die arme Rosinenbase? was?«

Sie schickte einen bösen Blick in die Luft, an die Adresse der Rosinenbase, und klappte die Kiefer zusammen, wie der Dachshund, wenn er eine Ratte verschluckt hat: »Es kann nur einer im Hause regieren, nicht zwei«, posaunte sie.

Er verbeugte sich förmlich. »Meinen untertänigsten Gehorsam der Alleinherrscherin im Hause.« Dann bot er ihr nachträglich die Hand zum Gruß.

Doch sie zog geziert beide Hände weg und hüpfte rückwärts. »Du mußt keineswegs, wenn du nicht magst. Zwingen will ich dich nicht.«

»Und ich dich ebenfalls nicht«, erwiderte er, ließ sie hüpfen und setzte sich. »Anna, kommt eigentlich die Mutter zum Essen?«