Cool down - Albert Bates - E-Book

Cool down E-Book

Albert Bates

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Beschreibung

Durch Verbrennung die Erderwärmung eindämmen? Klingt paradox, ist aber möglich Die zugrunde liegende Methode – die sauerstofffreie »Verbrennung« von organischen Materialien wie Küchenabfällen oder Pflanzenresten – wurde bereits vor über 500 Jahren entwickelt. Auf diese Weise produzierte Pflanzenkohle macht Böden fruchtbar, reinigt Wasser und kann als Zuschlagstoff die Eigenschaften von Stahl und Beton verbessern. Vor allem aber kann sie die Klimaerhitzung drastisch eindämmen, indem sie der Atmosphäre Kohlenstoff entzieht. Ein Buch über einen wahren Alleskönner gegen die Klimakrise.

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Sammlungen



Albert Bates, Kathleen Draper
COOLDOWN
Mit Pflanzenkohledie Klimakrise lösen?
Aus dem amerikanischen Englischvon Irina Kamara
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Copyright der Originalausgabe»Burn: Using Fire to Cool the Earth«© 2019, Albert Bates & Kathleen Draper
Published by arrangement with Chelsea Green Publishing Co, White River Junction, VT, USA, www.chelseagreen.com
Copyright der deutschen Erstausgabe© 2021 oekom verlagGesellschaft für ökologische Kommunikation mbHWaltherstraße 29, 80337 München
Coverabbildung: © HildenDesign unter Verwendung mehrerer Motive von Shutterstock.comCovergestaltung: Stefan Hilden, hildendesign.deÜbersetzung: Übersetzungsbüro Hoegerle, Ludwig-Trick-Str. 24, 72275 AlpirsbachLektorat: Christoph Hirsch, oekom verlag; Fachverband Pflanzenkohle e.V.Korrektorat: Maike Specht, Berlin
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-96238-774-7
Unterstützt von Teilnehmern der
Hans-Peter Schmidt undGunter Pauli gewidmet.Wo andere nur separate Problemesehen, sehen sie Zusammenhänge.

Inhalt

Vorwort
Einführung
Teil IKohlenstoff im Wandel: Vom Widersacher zum Verbündeten
1    Die Keeling-Kurve
2    Die Klimakurve abflachen
3    Ein Hoch auf den Kohlenstoff
4    Kohlenstoffkaskaden
TEIL IIKohlenstoff als Baumaterial: Ein frisches Fundament
5    Wir bauen auf Kohlenstoff
6    Kunstvoller Kunststoff
7    Papier und Pappe
8    Filtration
9    Futtermittel und Blattproteine
10  Menschliche und tierische Exkremente
11  Die blau-grüne Revolution
TEIL IIIKohlenstoff im täglichen Leben: Der neue Alltag
12  Erdöl
13  Mein Tesla läuft mit Bananenschalen
14  Kohlenstoff als Kühlmittel
15  Haustiere, Körperpflege, Kopfkissen, Farben und Putz
16  Entgiften mit Kohlenstoff
TEIL IVDie große Umstellung: Kaskaden in Aktion
17  Die Kohlenstoffsenken-Blockchain
18  Das Cool Lab
19  Einfache Lösungen vor Ort
20  Zivilisation 2.0
Danksagung
Anhang A  Die Kohlenstofffamilie
Anhang B  So können Sie jetzt aktiv werden
Anmerkungen

Vorwort

Unser Klima ist das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels von Sonnenenergie, der Geografie, Geologie und Biologie unseres Planeten sowie der Chemie unserer Atmosphäre. Über Millionen von Jahren hat sich ein Gleichgewicht entwickelt, das der Menschheit ein angenehmes Zeitalter geboten hat – das Holozän.
Teil dieses Gleichgewichts sind die massiven Vorräte an Kohlenstoff in Wäldern und Mooren sowie in Öl- und Kohlelagerstätten, die den atmosphärischen CO2-Gehalt regulieren. Diese Erdspeicher wurden in den letzten 250 Jahren durch verschiedene Auswüchse der Industrialisierung wie massive Entwaldung, mechanisierten Ackerbau und Verbrennung fossiler sowie rezenter biologischer Kohlenstofflager geplündert, der Kohlenstoff gelangte so in Form von CO2 wieder in die Atmosphäre.
Was mehr Lebensqualität und Wohlstand für viele brachte, verwandelt sich aktuell in die massivste Bedrohung unserer natürlichen Lebensgrundlagen: die anthropogene Klimakrise. Es liegt daher nahe, auf die Abläufe zu schauen, die Sonne, Erde und Natur seit Jahrmillionen etabliert haben, um die CO2-Konzentration der Atmosphäre im Gleichgewicht zu halten. Nun ist es unsere Aufgabe, die von uns selbst verabreichte Überdosis Kohlenstoff wieder in maßvolle Bahnen zu lenken und wieder fest an die Erde zu binden.
Aufforstung, Humusaufbau und die Pyrolyse von Biomasse (anstatt sie zu verbrennen), um den so gewonnenen Kohlenstoff in Form eines langzeitstabilen Feststoffs zu speichern, sind dabei die drei Schlüsselelemente. Gepaart mit strengen Maßnahmen zur Reduktion von Emissionen, können wir es (noch) schaffen, die Atmosphäre im nötigen Umfang zu dekarbonisieren, um die globale Temperaturerhöhung auf erträgliche Ausmaße zu reduzieren.
Sie denken jetzt vielleicht: Wenn das so einfach wäre, würde die Politik diesen Ansatz doch sicher bereits verfolgen. Doch die Voraussetzung dafür ist, dass sich Entscheidungsträger diesen drei Schlüsselelementen öffnen und dabei die Chancen erkennen, die sich daraus sowohl für Natur und Menschheit ergeben – insbesondere wenn wir die Synergien zwischen Aufforstung, Humusaufbau sowie Herstellung und Anwendung von Pflanzenkohle geschickt nutzen. Neue Produkte und damit neue Arbeitsplätze, sauberere Luft, besserer Schutz der Biodiversität und Teilhabe bei der Gestaltung eines neuen Zeitalters – des solaren Kohlenstoffzeitalters – sind dabei die Hauptmerkmale.
Um zu erkennen, muss man sehen und verstehen.
Deshalb wurde dieses Buch geschrieben.
Albert Bates und Kathleen Draper liefern mit Cool down (im amerikanischen Original: Burn) eine umfassende Sammlung an Projekten und Ideen, die alle auf ein Ziel gerichtet sind: Kohlenstoff aus der Atmosphäre zu holen, um ihn langfristig zu binden, sei es im Boden, in Gebäuden, Straßen oder anderen langlebigen Produkten. Im Zentrum steht Pflanzenkohle mit ihren unzähligen Anwendungsmöglichkeiten. Pflanzenkohle und die bei der Pflanzenkohleherstellung gewinnbaren flüssigen Stoffe können knappe Ressourcen ersetzen. Cool down zeigt auf, wie dies nicht nur technisch machbar, sondern auch wirtschaftlich sinnvoll gestaltet werden kann. Zahlreiche Wirtschaftszweige, von der Landwirtschaft über die Bauwirtschaft bis hin zu modernsten Hightechprodukten können vom Rohstoff Pflanzenkohle profitieren und dabei nicht nur klimaneutral, sondern CO2-negativ werden.
Wenn Ihnen dieses Buch gefällt, geht es Ihnen vielleicht wie uns: Nach jedem Kapitel kribbelt es in den Fingern, und der Tatendrang wächst. Dann ist es an der Zeit, dass Menschen mit guten Ideen zusammenfinden, andere Menschen mit aufmunternden Nachrichten versorgen und gemeinsam Ideen weiterentwickeln und Projekte umsetzen.
Dafür wurde 2017 der Fachverband Pflanzenkohle e. V. gegründet.
Unser Ziel ist es, Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft über Pflanzenkohle als klimapositive Technologie zu informieren, ihre vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten bekannt zu machen und zum Nutzen für Mensch und Umwelt weiterzuentwickeln. Sei es als Bodenverbesserer, als Additiv in der Tierhaltung, in der Baustoffindustrie oder in neuen Materialien. Wir ermutigen zum Handeln, Forschen, Entwickeln, Zusammenarbeiten, Verstehen, Austauschen, Informieren.
Daher ist es uns ein Anliegen, dieses anregende Buch, das Sie gerade in den Händen halten, und die Ideen von Albert Bates und Kathleen Draper so vielen Menschen wie möglich zugänglich zu machen. Wir vom Fachverband Pflanzenkohle e. V. haben uns daher dazu entschieden, Burn ins Deutsche übersetzen zu lassen und mit Blick auf die deutschen bzw. europäischen Verhältnisse zu überarbeiten, um die Chancen der Biomassepyrolyse im deutschsprachigen Raum aufzuzeigen. Damit wollen wir Ihnen Mut machen – Mut, mitzumachen bei der Gestaltung des kommenden klimapositiven, solaren Zeitalters, in dem nicht nur Forderungen an die nationalen und globalen Entscheider gestellt, sondern die ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Lösungen gleich mitgeliefert werden. Das Buch ist eine spannende und vielfältige Sammlung von Lösungsansätzen, die dazu anregen wollen, weitergedacht zu werden.
Wenn Sie dieses Buch durchgelesen haben und aktiv werden wollen, dann schauen Sie doch einmal beim Fachverband Pflanzenkohle e. V. vorbei. Wir verbinden Hobbygärtner*innen und Landwirt*innen, Klimaaktivist*innen und Industrielle, Laien und Forschende, die sich für das Thema Pflanzenkohle interessieren und jetzt aktiv werden wollen. Wir freuen uns auf Sie.
Im Namen des Fachverbands Pflanzenkohle e. V.:
Dr. Susanne Veser, Benedikt Zimmermann, Dr. Nikolas Hagemann, Kerstin Hellmuth, Andreas Dinnebier, Venna von Lepel, Georg Ardissone und Leopold Steinbeis

Einführung

Wir stellen uns Evolution im Allgemeinen als einen Prozess vor, der über Millionen Jahre schrittweise und kontinuierlich stattfindet. Evolution passiert jedoch schubweise – sehr langsam über längere Zeiträume, dann wieder in plötzlichen Schüben rasanter Veränderung. Diese werden häufig durch ein bestimmtes Ereignis oder eine Konvergenz von Ereignissen ausgelöst, wodurch die Ordnung der Dinge auf den Kopf gestellt wird. Daraufhin erscheinen innerhalb sehr kurzer Zeit neue Lebensformen, neue Ökosysteme bilden sich heraus, und lang etablierte Ordnungen werden neu ausgerichtet. Der Evolutionsbiologe Stephen J. Gould nannte diesen Prozess »Punktualismus«.
Geschichte, Soziologie und Anthropologie zeigen uns, dass kulturelle Evolution im Wesentlichen genauso stattfindet. Zivilisationen sind lebendige Gefüge mit regelmäßigen Zyklen von Geburt, Wachstum und Tod. Sie können sich über nur ein oder zwei Jahrhunderte hinweg entwickeln und wachsen, wie dies bei den Inka der Fall war, oder über Tausende von Jahren, wie in Indien oder China. Wenn eine Zivilisation entsteht, ist sie wie ein Kind. Sie probiert neue Dinge aus und nimmt Verhaltensweisen an, die sie bewundert. Mit zunehmendem Alter werden ihre gesellschaftlichen Normen starrer, fester verankert, weniger flexibel. Sie kann ihre Fähigkeit, auf Veränderungen zu reagieren und sich immer wieder neu anzupassen, teilweise sogar verlieren. Jeder Generation wird beigebracht, »die Dinge so zu nehmen, wie sie sind«, ohne sie zu hinterfragen. Diese Phase endet häufig mit Korruption, Verfall und Niedergang.
Viele von uns können spüren, dass der nächste gesellschaftliche Evolutionssprung kommen wird. Er hat möglicherweise bereits begonnen. Der Kristallisationspunkt für diesen neuen Schub wurde vor drei Jahrhunderten gesetzt. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Menschen gerade erst entdeckt, wie man Kohle zur Erzeugung von Dampf einsetzt, hatten sich jedoch noch nicht der viel größeren Energiedichte von Öl und Gas, geschweige denn der Kernspaltung bedient. Unsere Zivilisation ist, in den Worten des Ökologen Tim Garrett, zur Wärmekraftmaschine geworden.1
Kohle aus dem Fushun-Bergwerk im Nordosten Chinas wurde bereits um 1000 v. Chr. zum Schmelzen von Kupfer verwendet. Es war jedoch James Watts Perfektionierung der Dampfmaschine im 18. Jahrhundert, die den fossilen Energieträgern buchstäblich Zugkraft verlieh. Die Bevölkerung wuchs im gleichen Maße, wie es Energieangebot, Bahnschienen und Fabriken taten. Thomas Malthus, der mathematische Gleichungen für Bevölkerungsentwicklung entwarf, und der schwedische Nobelpreisträger Svante Arrhenius, der etwa 100 Jahre später Berechnungen für den Klimawandel anstellte, sagten den Ausgang genau voraus, der eintreten würde, sollte sich die Menschheit vom Zauber scheinbar unbegrenzter Energie mitreißen lassen.
Mit der fortschreitenden Nutzbarmachung von Energie ist die einstmals nahezu stabile Weltbevölkerung, die über Jahrtausende hinweg kaum Schwankungen unterlag, alle 20 Jahre um 30 Prozent gewachsen. Im Jahr 1925 hatten wir dem Planeten innerhalb von 75 Jahren (ab 1850) eine Milliarde mehr Menschen und der Atmosphäre 20 ppm (parts per million, Teilchen pro Million) an Kohlenstoffdioxid (CO2) hinzugefügt. Mittlerweile fügen wir dem Planeten alle 12 Jahre eine Milliarde Menschen und der Atmosphäre weitere 25 bis 30 ppm CO2 hinzu.
Der Historiker William Catton bezeichnete den modernen Menschen – diejenigen von uns, die in Industrieländern leben und Unmengen an fossilen Brennstoffen konsumieren, um Maschinen zu bewegen und zu steuern, die Arbeit in einer Größenordnung leisten, die Menschen oder Tiere niemals alleine schaffen könnten – als Homo colossus. Wie eine Infektion ersetzt der Homo colossus heimlich, still und leise den Homo sapiens auf der ganzen Welt. Während Homo sapiens mit einer stabilen Population von unter einer Milliarde eine gute Chance gehabt hätte, noch zwei oder drei Millionen Jahre weiter zu existieren, gilt das für Homo colossus nicht.
Der Tag der Abrechnung steht bevor. Wann genau dieser Tag sein wird, lässt sich nur schwer vorhersagen. Er könnte ganz plötzlich eintreten, denn wir betrachten unsere lebensnotwendigen Ressourcen und Ökosysteme wie ein Bankkonto, von dem wir permanent etwas abheben, ohne zu wissen, wann wir den Kredit überziehen werden. Aber vielleicht haben wir auch noch Zeit, vielleicht schaffen wir es noch, die letzten Tonnen Braunkohle, die letzten Barrel Teerschieferöl und die letzten Kubikmeter »nicht konventionelles« Erdgas aus der Erde zu pressen. Die Frage ist, was es bringt, ständig bessere Technologien einzusetzen, um diese Ressourcen so schnell wie möglich zu finden, zu veredeln und zu verbrennen, wenn wir dabei die schrecklichen Klimafolgen ignorieren, die dieses Handeln verursacht.
Der Evolutionsbiologe Bruce H. Lipton sagt, es gebe drei Fragen, die das Grundparadigma der Zivilisationen bilden.2 Wenn die alten Antworten falsch sind oder sich im Laufe der Zeit als falsch herausstellen, müssen neue Antworten her. Zivilisationen, die flexibel genug bleiben, um die neuen Antworten zu akzeptieren, beginnen ein neues Kapitel ihres Lebens, Zivilisationen, die das nicht tun, verschwinden. Die drei Fragen lauten:
Wie sind wir hierhergekommen?
Warum sind wir hier?
Wie können wir das Beste daraus machen?
Die Antwort auf die erste Frage ist auf jeden Fall eine wilde Geschichte. Man könnte sagen, wir sind hier, weil sich vor Milliarden von Jahren astronomische Zusammenstöße ereignet haben. Der Urknall spuckte Materie in das entstehende Universum. Es formten sich Objekte wie Sonnen, Planeten und andere Himmelkörper, die immer wieder wie Billardkugeln aufeinandertrafen, und einer dieser Zusammenstöße erzeugte in einem unglaublichen Zufall elliptische Umlaufbahnen um einen Stern, ein System, in dem der dritte Planet eine besonders glückliche Position einnahm mit einer Temperaturspanne, in der sich verschiedenste Moleküle wohlfühlten. Der Planet erhielt einen ihn umkreisenden Mond im genau richtigen Abstand, eine günstige Neigung seiner Achse und drehte sich auch noch um sich selbst, um nicht einseitig von seinem Zentralgestirn gegrillt zu werden. Die Folge waren Gezeiten, moderate Klimaunterschiede zwischen den Polen und dem Äquator, Jahreszeiten und das Auf und Ab der Photosynthese. Unter diesen außerordentlich günstigen Umständen der Geburt wurde uns außerdem das wertvollste Geschenk zuteil: die Anwesenheit von Oberflächenwasser.
Der Zusammenstoß, aus dem der Erdmond hervorging, hüllte die junge Erde in einen heißen, metallischen Dampf mit Temperaturen von 230 Grad Celsius. Im Laufe der nächsten paar tausend Jahre kondensierte der Dampf, schwitzte Wasser aus und hinterließ eine glühend heiße CO2-Atmosphäre. Trotz der Temperatur bildeten sich aufgrund des Drucks der schweren Atmosphäre flüssige Meere. Nach und nach wurde das CO2 durch Gesteinsverwitterung und Absorption im Meerwasser weitgehend aus der Atmosphäre entzogen, wodurch sich die heiße Welt abkühlte und salzhaltige Ozeane sowie eine günstige Atmosphäre aus Sauerstoff, Wasserstoff und Stickstoff entstanden – die idealen Bedingungen für neues Leben.
Warum wir hier sind, weiß keiner so genau. Vielleicht sollten durch uns biologische Organismen auf andere Planeten gelangen, beispielsweise Bakterien, die per Anhalter mit dem Mars-Rover Curiosity fahren. Oder vielleicht sichert sich die Natur durch uns die Möglichkeit, ein weiteres Massenaussterben hervorzurufen, um den Weg für den nächsten entwicklungsgeschichtlichen Akt zu ebnen.
Wenn eine Zivilisation bei der Beantwortung der dritten Frage (»wie können wir das Beste daraus machen«) die Energie- und Rohstoffströme und -speicher des Planeten ignoriert, wenn Massenkonsum, Egoismus und ein endloses Streben nach mehr unser Handeln leitet, ist die Zerstörung unser Schicksal. Wenn eine Zivilisation dagegen auf natürliches Gleichgewicht, Minimalismus und Nachhaltigkeit baut und ihre Rohstoffe wie die Natur in Kreisläufen führt, können Wiederherstellung und Fortführung der glückliche Ausgang sein.
Im Moment klammert sich die Mehrheit der Menschen auf der Welt an selbstzerstörerische Lebensweisen. Sie halten an alten Mustern fest und merken nicht, wie fragil und zerbrechlich diese sind. Eine wachsende Minderheit erkennt bessere Wege und legt die Grundsteine für eine neue Phase. Wir hatten das Vergnügen, viele dieser Pioniere zu treffen, während wir dieses Buch geschrieben haben.
Es geht in diesem Buch um Kohlenstoff. Es geht außerdem um Klimawandel und wie sich dadurch aktuell alles ändert. Dieses Buch ist nicht dazu gedacht, die Leserin oder den Leser von einem bestimmten Standpunkt zu überzeugen. Es richtet sich an diejenigen, die die bittere Wahrheit erfasst haben, nämlich die, dass sich die menschliche Ökologie ändern muss, wollen wir weiterhin Bestand haben. Es richtet sich an diejenigen von uns, die nach einem Ausweg suchen, der möglich, realistisch und umsetzbar ist. Kein Greenwashing. Praktisch. Machbar. Die Lösungen sind jedoch kompliziert, mehrdimensional, interdisziplinär und können daher erdrückend erscheinen. Wir möchten dieses Thema zugänglich machen.
Wir betrachten in vielen der nachstehenden Kapitel häufig eine ganz bestimmte Form von Kohlenstoff: die feste, chemisch abbauresistente Form namens Pflanzenkohle, die aus der Karbonisierung von Biomasse (die Umwandlung in stabilen Kohlenstoff) hervorgeht. Sie wurde in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in der berühmten terra preta do indios – der Schwarzen Erde des Amazonasgebiets – wiederentdeckt und wissenschaftlich genauestens untersucht. Aus gutem Grund: Sie besitzt eine Vielzahl bemerkenswerter Eigenschaften, die für viele verschiedene Dienstleistungen und Produkte eingesetzt werden können, die letztendlich fast alle zur Wiederherstellung des Gleichgewichts des atmosphärischen Kohlenstoffs und zur Verbesserung des Zustands der Ökosysteme beitragen können.
Laut der International Biochar Initiative lässt sich Pflanzenkohle von anderer Kohle – die hauptsächlich als Brennstoff eingesetzt wird – dadurch unterscheiden, dass sie ein Bodenverbesserer ist, eingesetzt mit dem Ziel, Bodenfunktionen zu optimieren und Emissionen aus Biomasse, die andernfalls naturgemäß unter Freisetzung von Treibhausgasen abgebaut würde, zu reduzieren.3
Tatsächlich konzentrieren sich die meisten bei der Diskussion rund um Pflanzenkohle fast ausschließlich auf ihre landwirtschaftlichen Anwendungen. Dies ist erklärtermaßen der Schwerpunkt von The Biochar Solution (2010 von Albert herausgegeben) und Terra Preta (2016 von Kathleen mit den Autoren des deutschen Originals Ute Scheub, Haiko Pieplow und Hans-Peter Schmidt herausgegeben). Wenn man sich die damals veröffentlichten wissenschaftlichen Beiträge ansieht, lag unsere beste Schätzung des möglichen Kohlenstoffentzugs (»Drawdown«-Effekt)*) der Pflanzenkohle weltweit bei etwa 1 Gigatonne Kohlenstoff pro Jahr (Gt C/Jahr). Die aktuellen jährlichen anthropogenen Emissionen liegen bei über 9,5 Gt C/Jahr.4 Nach Bereinigung um die Differenz zwischen Kohlenstoff und Kohlendioxid – 1 Tonne Kohlenstoff entspricht 3,67 Tonnen Kohlendioxid – sind das 35 bis 40 Gigatonnen Kohlendioxid inklusive seiner Äquivalente in anderen Treibhausgasen (CO2-e) pro Jahr. Das Defizit ist eklatant. Das im Jahr 2010 nahegelegte Potenzial der Abscheidung (bzw. »Sequestrierung«) beträgt nur 10 Prozent der jährlichen menschlichen CO2-Bilanz. Kurzum: »Carbon Farming« in all seinen Varianten, so notwendig und nützlich es auch ist, wird wahrscheinlich nicht ausreichen, den Klimawandel allein aufzuhalten.
Es gibt aber auch gute Nachrichten. Sehr gute Nachrichten. Es häufen sich Nachweise dafür, dass das Potenzial der Nutzbarmachung von Kohlenstoff zur Bekämpfung des Klimawandels weit über die Landwirtschaft hinausgeht. Um dieses Potenzial geht es in diesem Buch. Wir möchten über die wachsende Anzahl von Möglichkeiten informieren, wie Kohlenstoff oberirdisch genutzt werden kann, um die Gesundheit zu verbessern, Infrastruktur aufzubauen, Energiegewinnung aus erneuerbaren Quellen zu ermöglichen oder zu verbessern, die Atmosphäre und die Meere wieder ins Gleichgewicht zu bringen und die Vielzahl weiterer Vorteile zu nutzen, die Kohlenstoff als Rohstoff zu bieten hat. Fachleute auf der ganzen Welt demonstrieren, dass die Karbonisierung von Biomasse städtischen und ländlichen Gebieten dabei helfen kann, durch die Reduzierung von Müll, die Wiederherstellung von Ökosystemen, die Schließung der Nährstoffkreisläufe und die Reduzierung von Emissionen nachhaltiger und regenerativer zu werden.
Während wir an diesem Buch gearbeitet haben, führten uns unsere Reisen, die wir gemeinsam oder auch getrennt unternommen haben, zu Reisfeldern in Qinfeng (im Bezirk Liuhe in China), wo wir uns die Verarbeitung von Reisstroh zu Pflanzenkohle und Holzessig angesehen haben; zu einem Bergrücken mit Blick auf ein agroforstwirtschaftlich genutztes Tal auf der Insel Hispañola in der Nähe des Strands, an dem Kolumbus 1492 an Land ging; zu Bergdörfern in Costa Rica und Nepal, wo Pflanzenkohlerezepte für Seifen und Zahnpasta oder in Zementplatten zur Reparatur von durch Wirbelstürme und Erdbeben beschädigten Dächer getestet wurden; zu einer Weidenplantage, die das Gurteen College im County Tipperary in Irland mit Wärme versorgt; zu Demonstrationen von verschiedenen hausgemachten Pyrolysegeräten am New England Small Farm Institute; und zu Pflanzenforschungseinrichtungen in Kalifornien, Iowa und Oregon. Wir haben Pflanzenkohle bei Permakulturveranstaltungen mit offenen Grubenfeuern in England, Estland und Indien hergestellt; haben milliardenschweren Investoren und Hedgefonds-Managern in Tulum, Paris, Marrakesch und Bonn Campingkocher vorgestellt, die Mobiltelefone aufladen; und sind durch entlegene Urwälder in Mexiko und Belize gewandert, wo wir Kleinstunternehmen besuchten, die im Bereich experimentelle Bioraffinerien tätig sind.
Wir haben offene Gespräche mit Anote Tong, dem ehemaligen Präsidenten von Kiribati, mit Patricia Scotland, Generalsekretärin des Commonwealth of Nations, mit Thomas J. F. Goreau von der Coral Reef Alliance, mit Christiana Figueres von Mission 2020 und mit John Dennis Liu von den Ecosystem Regeneration Camps geführt. Wir haben mit den Autoren David Yarrow, Paul Hawken, Daniel Christian Wahl und Tim Flannery gesprochen und die Wissenschaftler Bronson Griscom, Charles A. S. Hall, Johannes Lehmann, Annette Cowie, Dennis Meadows, Guy McPherson, Kevin Anderson und Janine Benyus interviewt. Kathleen hat Studienfahrten nach Österreich, Schweden und Nepal geleitet, um dort von Pflanzenkohleprojekten zu lernen. Albert ist im Rahmen des Global Ecovillage Network nach Indien, China und Russland gereist. Wir haben Webseminare und Konferenzen zu so unterschiedlichen Themen wie Gärtnerei, Biomasseenergie und Blockchain besucht. Wo wir auch hinkamen und mit wem wir auch gesprochen haben: Überall und von jedem wurde die Dringlichkeit der Veröffentlichung dieses Buchs zum Ausdruck gebracht.
Wie wir in Teil 1 erläutern werden, hat Kohlenstoff eine nahezu unübertroffene Vielseitigkeit, die bis dato nur wenig genutzt wird. Wenn wir Kohlenstoff verstehen, können wir unser Verhältnis zu diesem Element umgestalten. Wir sollten den Kohlenstoff nicht ständig schlechtreden, sondern ihn besser und sinnvoller nutzen. Wir werden den natürlichen Kohlenstoffkreislauf erkunden und herausfinden, wie es möglich war, dass wir in dieser Hinsicht so katastrophal aus dem Gleichgewicht geraten konnten. Nachdem wir das Konzept von Kohlenstoff verstanden haben – insbesondere wie wir Kohlenstoff in einem effizienten Verbesserungskreislauf, den wir »Kohlenstoffkaskaden« nennen, speichern können, anstatt ihn zu verschwenden –, können wir langsam die damit einhergehende riesige Chance erkennen, statt lediglich die Bedrohung planetarischen Ausmaßes, auf die sich bisher alle Aufmerksamkeit gerichtet hat.
In Teil 2 sehen wir uns an, wie die bebaute Umwelt, von Gehwegen und Brücken bis hin zu Flughäfen und Wolkenkratzern, vom verstärkten Einsatz von Kohlenstoff profitieren kann. Diejenigen, die sich frühzeitig mit Kohlenstoffkaskaden befassen, können Chancen für einen Wohlstandsschub identifizieren, der mit dem Bau der großen Bahnstrecken, Stahlwerke und Dampfschiffe des 19. Jahrhunderts mithalten kann. Es ist fast schon eine neue industrielle Revolution, aber diesmal fließt der Kohlenstoff von der Atmosphäre zurück in den Boden und damit in die entgegengesetzte Richtung. Wir sehen uns außerdem an, wie Kohlenstoff wichtige soziale Dienstleistungen und Infrastrukturen umgestalten kann, etwa die Versorgung mit sauber(er)em Wasser, deutliche Verbesserungen der Lebensmittelversorgung und eine nachhaltige und gerechte Beseitigung unseres Mülls. Wir zeigen auf, wie ein neuer Einsatz von Kohlenstoff Korallenriffe wiederherstellen, Wüsten wieder fruchtbar machen und geschädigte, abgeholzte Landschaften wiederaufforsten kann.
In Teil 3 wird es dann persönlich. Wir sehen uns an, wie Kohlenstoff zur Verbesserung unserer Lebensumstände verwendet werden kann. Dazu gehören auch die Produkte, mit denen wir uns umgeben und die wir tagtäglich benutzen. Die Eindämmung unseres Konsums ist natürlich wichtig, damit wir zukünftigen Generationen einen bewohnbaren Planeten hinterlassen. Wir erhalten aber auch einen praktischen Einblick, wie wir mit der richtigen Herangehensweise unsere Autos behalten und fahren können. Wir präsentieren modernste Technologien zum Einsatz in Kältetechnik, Batterien, Haustierhaltung, Haushaltswaren und sogar Gesundheit und Wellness. Kohlenstoffreiche Produkte werden uns beim Übergang zum nächsten ökonomischen Paradigma helfen. Wir können den Klimawandel rückgängig machen, indem wir die menschliche Ökologie neu gestalten. Wir bezeichnen das als unsere Ablösungsstrategie.
Zum Schluss besprechen wir in Teil 4 das Problem der Veränderung selbst. Worin bestehen die Hindernisse? Was hält uns zurück? Oder besser noch, was sind die Impulsgeber? Wodurch könnten unsere staatlichen, gesellschaftlichen und kommerziellen Strukturen schnell genug geändert werden, um die Realisierung der düstersten Prognosen der Klimawissenschaftler zu verhindern? Wie sieht unsere Vision für die Zukunft aus? In was für einer Welt wollen wir leben, was für eine Welt wollen wir unseren Kindern hinterlassen, und wie schaffen wir das?
Wenn wir Investitionen vornehmen wollen, müssen wir das Potenzial kennen, das Kohlenstoffkaskaden bieten, um die Chemie der Atmosphäre und der Weltmeere wieder ins Gleichgewicht zu bringen. In den tabellarischen Übersichten innerhalb dieses Buches, die wir mit »Kohlenstoffmathematik« betiteln, haben wir versucht, das Drawdown-Potenzial zu quantifizieren, wenn wir schnell abbaubaren, photosynthetisch und biologisch aktiven Kohlenstoff in mineralisierten, gespeicherten Kohlenstoff umwandeln.
Wir sprechen außerdem eine Frage an, die bei solchen Quantifizierungen häufig auftritt: Wo können wir das Potenzial abrufen? Wir haben diese Tabellen zur Katalogisierung vieler großer industrieller Ablösungsmöglichkeiten herangezogen, die über die Landwirtschaft hinausgehen, und haben dabei von Reifen und Zahnpasta bis hin zu Straßen und Brücken alles berücksichtigt. Wir hoffen, dass diese Ansätze die Forschung vorantreiben und unsere vorsichtigen Schätzungen dadurch präzisiert werden. Diese Zahlen gewähren einen ersten Blick auf eine mögliche Zukunft für das 21. Jahrhundert: eine Ökozivilisation, die zur Abwendung des Klimawandels gerüstet ist.
Wir haben nun eine Wahl zu treffen, jeder für sich und alle gemeinsam. Zivilisationen unterliegen dem Wandel. Wir können das Alte und schwer Anpassbare hinter uns lassen und eine bessere Gesellschaft gestalten und aufbauen. Dieses Buch ist ein Teil dieses Plans. Die zerstörerische Zivilisation der letzten Jahrhunderte gründete auf der Plünderung und Ausbeutung von prähistorischem Kohlenstoff. Auch die neue Wirtschaft wird auf Kohlenstoff basieren. Der Schwerpunkt wird jedoch auf einem ständigen Kreislauf liegen – und auf einer effizienten Verbesserungsspirale.
Während der Planet kurz vor einem Klimakollaps steht und die Weltwirtschaft in einer durch fossilen Kohlenstoff verursachten Dunstglocke auf Hochtouren läuft, sehen viele Menschen keine praktikablen Lösungen für die sich abzeichnenden und miteinander zusammenhängenden Probleme. Die wenigen unter uns, welche die Möglichkeiten für eine neue Kohlenstoffwirtschaft erkannt haben, mögen zunächst naiv erscheinen. Diese Möglichkeiten sind aber keine Science-Fiction. Sie sind wirtschaftlich tragbare Neukonzeptionen für unser globales Industriemodell. Einige Lösungen werden bereits im Feldversuch erprobt, andere müssen das Labor erst noch verlassen. Als kohlenstoffbasierte Lebewesen in einer von Kohlenstoff dominierten Welt leben wir tatsächlich in einer spannenden Zeit. Wir lernen, wie wir im Rahmen der natürlichen Kreisläufe unseres Planeten wachsen und gedeihen können, anstatt sie fortwährend aus dem Tritt zu bringen. Obwohl wir den weltbesten Wissenschaftlern sofort zustimmen, dass die Herausforderung gewaltig ist und uns die Zeit davonläuft, glauben wir, dass die Lösungsansätze innerhalb des Problems zu finden sind. Der zentrale Lösungsansatz ist das Element Kohlenstoff, und in diesem Buch wird beschrieben, wie es vom Widersacher zum Verbündeten werden kann: indem wir lernen, die noch nie da gewesene Chance zu sehen, die sich innerhalb der Bedrohung verbirgt.
*) Der Begriff »Drawdown« wird im Buch vielfach durch den deutschen Begriff »Kohlenstoffentzug« ersetzt. Als »Drawdown-Potenzial« (oder »Kohlenstoffentzugspotenzial«) bezeichnet man diejenige Menge an Kohlenstoff, die aus der Atmosphäre (etwa durch Pflanzenkohle) entzogen werden kann.
Teil I
Kohlenstoff im Wandel: Vom Widersacher zum Verbündeten
Alles, was die Kräfte der Welt schaffen, vollzieht sich in Kreisen. Das Firmament ist rund, und ich habe gehört, auch die Erde sei rund wie eine Kugel, genau wie die Sterne. Der Wind, wenn er am stärksten weht, bildet runde Wirbel. Die Nester der Vögel sind rund, denn sie haben denselben Schöpfer wie wir. Die Sonne geht in einem Kreislauf auf und wieder unter. Genau wie der Mond, und beide sind rund. Sogar die Jahreszeiten wechseln in einem großen Kreislauf und kehren immer wieder zu ihrem Anfang zurück. Das Leben eines Menschen ist ein Kreislauf von Kindheit zu Kindheit, und so ist es mit allem, worin sich die Kräfte der Welt regen. Unsere Tipis waren rund wie die Nester der Vögel, und immer waren sie in einem Kreis aufgestellt, dem Ring des Stammes.
BLACK ELK, Oglala Lakota1
Kapitel 1
Die Keeling-Kurve
1954 war Charles David Keeling 26 Jahre alt. Er wanderte gerne durch den Big Sur, einen windigen und mit Zedern bewaldeten Küstenstreifen im US-Bundesstaat Kalifornien. Nach seiner Promotion ging er Forschungstätigkeiten im Bereich Geochemie am California Institute of Technology (Caltech) nach.
Regeln waren für Keeling sehr wichtig, und diese Eigenschaft machte ihn zu einem guten Naturwissenschaftler. Sein Sohn Ralph erinnert sich noch, dass Keeling beim Rasenmähen darauf bestand, die Gewohnheiten des vorherigen Eigentümers ihres Hauses nördlich von San Diego zu übernehmen – eines Engländers, der sehr stolz auf seinen gepflegten Rasen war. Und so achtete Keeling darauf, dass ein genau fünf Zentimeter breiter Streifen zwischen dem Gehweg und dem Gras gewahrt wurde. »Es war viel Arbeit, diese attraktive Lücke aufrechtzuerhalten«, sagte Ralph Keeling, dem mit 13 Jahren die Aufgabe des Rasenmähens zufiel. Sein Vater war jedoch überzeugt, dass dies die einzig richtige Methode sei. Wenn man sie nicht befolgte, machte man es sich zu einfach. Das sei ein Verstoß gegen die Moral.
1954 baute der 26 Jahre alte Keeling Senior auf einer Bergkuppe am Big Sur ein Gerät zur Messung von CO2 in der Atmosphäre auf. Zu jener Zeit hatten sich viele gefragt, ob der CO2-Gehalt in der Luft aufgrund der Verbrennung fossiler Energieträger anstieg, aber niemand hatte genaue Messungen vornehmen können. Keeling entwickelte Techniken mit hoher Präzision. Seine ersten Messungen am Big Sur ergaben die Zahl 310. Auf jede Million Teile in der Luft kamen 310 Teile CO2.
Keelings Arbeit erregte die Aufmerksamkeit von Roger Revelle, Leiter der Scripps Institution of Oceanography. Zu jenem Zeitpunkt arbeitete Revelle zusammen mit Hans Suess an einer Abhandlung die nahelegte, dass die Weltmeere überschüssiges anthropogenes CO2 viel langsamer absorbierten, als von Geowissenschaftlern zuvor angenommen worden war, und dass dieses Defizit zu globaler Erwärmung führen würde. Revelle benötigte jedoch bessere Daten, sodass er Keeling 1956 aus der Caltech abwarb und bei Scripps anstellte. Später schickte er ihn nach Hawaii, wo er die Messstation Mauna Loa errichtete.
Der Nordhang eines aktiven Vulkans mag als ein merkwürdiger Ort für ein Forschungslabor erscheinen, aber Hawaiis Mauna Loa bot so einige Vorteile: Zunächst einmal hatte das Militär bereits eine rudimentäre Straße zum Gipfel gebaut. Zudem waren die ungetrübte Luft, die Abgelegenheit und der minimale Einfluss von Vegetation und menschlicher Aktivität für die Überwachung von Bestandteilen in der Atmosphäre, die Klimawandel verursachen können, ideal.1 Obwohl zuweilen Kontamination durch den Vulkan und atmosphärische Atomtests gemessen wurde, konnte sie als solche identifiziert und berücksichtigt werden.
Keelings erste Entdeckung am Mauna Loa war, dass das CO2-Niveau in Abhängigkeit von der Jahreszeit leicht schwankte; im Sommer war es niedriger, im Winter höher. Der Grund? Der Großteil der Landmasse befindet sich auf der Nordhalbkugel, und die dortigen Pflanzen nehmen CO2 auf, wenn sie während des nördlichen Sommers Blätter bilden und wachsen, und geben CO2 ab, wenn die Blätter im Winter abfallen und verrotten. Im Grunde maß Keeling den Atemrhythmus von Mutter Natur.
Nach ein paar Jahren erkannte Keeling eine weitere Entwicklung. Der Höchstwert war jedes Jahr ein wenig höher als im Vorjahr. Der Kohlendioxidpegel stieg tatsächlich an, und zwar schnell. Von Keeling und anderen später vorgenommene Tests wiesen nach, dass die Erhöhung nicht durch Vulkane oder andere natürliche Phänomene verursacht wurde, sondern aus der Verbrennung fossiler Energieträger stammte. Das dies veranschaulichende Diagramm wurde später als Keeling-Kurve bekannt und ist heute auf einer Marmorwand in der National Academy of Science vor dem Washington Monument verewigt.
Das Diagramm zeigt die Kohlendioxidkonzentration, die an der Messstation Mauna Loa gemessen wurde, beginnend im Jahr 1958 mit Charles Keelings frühester Datensammlung bis 2018 auf der Grundlage der Datenerhebung u. a. durch seinen Sohn Ralph Keeling, der den Posten seines Vaters an der Scripps Institution of Oceanography übernahm.
Keeling trat an Roger Revelle heran. Von seiner eigenen Arbeit zum Klimawandel ernüchtert, hatte Revelle das Scripps-Institut zu Beginn der 1960er-Jahre verlassen und das heute nicht mehr bestehende Center for Population Studies an der Harvard University gegründet. Er brachte damit seine Ansicht über die Grundursache für die Zunahme von atmosphärischem CO2 zum Ausdruck. Revelle versuchte, mit Keelings Diagramm die Aufmerksamkeit von Präsident Kennedy zu erregen, jedoch ohne Erfolg. Nach dem Attentat auf Kennedy verfasste Revelle zusammen mit Wallace Broecker, Charles Keeling, Harmon Craig und Joseph Smagorinsky einen Bericht, der Lyndon B. Johnson erreichte. In einer Fernsehansprache erklärte Präsident Johnson der Nation: »Diese Generation hat die Zusammensetzung der Atmosphäre im globalen Maßstab durch einen stetigen Anstieg von Kohlenstoffdioxid aus der Verbrennung von fossilen Energieträgern verändert.«2
Nach dem Ende von Johnsons Präsidentschaft landeten die Wissenschaftsberichte auf dem Schreibtisch von Richard Nixon, dem sie herzlich egal waren. Anschließend landeten sie auf dem Schreibtisch von Gerald Ford, dessen Stabschef, Dick Cheney, ein energischer Verfechter des staatlichen Kohlehandels war. Schließlich landeten sie bei Jimmy Carter, der sich interessiert zeigte und sie las. Er stellte Fragen. Auch er sprach zur Nation und versuchte zu erklären, dass die unaufhaltsamen Folgen dieser exponentiellen Entwicklung und des unbedingten Wachstums im Widerspruch zum menschlichen Überleben stehen. Er gab weitere wissenschaftliche Studien in Auftrag. Carters Wissenschaftsberichte landeten anschließend auf dem Schreibtisch eines neuen Präsidenten, Ronald Reagan – und der widerlegte die Vorstellung, dass es keinen gab, der sich weniger darum scheren konnte als Nixon. Reagan war viel zu sehr damit beschäftigt, die Solarkollektoren, die Jimmy Carter auf dem Dach des Weißen Hauses hatte anbringen lassen, wieder zu entfernen.
Als George H. W. Bush, ein Ölmagnat, Präsident wurde, zeigte er ungewöhnlich viel Interesse an dem Thema.3 Aber der 41. US-Präsident war aus einem ganz anderen Grund interessiert als Johnson oder Carter. Bush wusste, dass, sollte Revelle und Keeling Glauben geschenkt werden, dies für das Geschäft, auf dem sein Familienvermögen gründete, das Aus bedeuten würde. Bush kontaktierte das konservative George C. Marshall Institute, das gegründet worden war, um sich für Präsident Reagans Strategic Defense Initiative [SDI, Initiative zum Aufbau eines Abwehrschirms gegen Interkontinentalraketen] einzusetzen, und bat dort darum, die Erkenntnisse der Wissenschaft zum Klimawandel zu widerlegen.
Die konservative Denkfabrik meldete pflichtgemäß, dass die wissenschaftlichen Arbeiten zur globalen Erwärmung nicht beweiskräftig seien und ganz sicher nicht rechtfertigten, verbindliche Grenzen für Treibhausgasemissionen vorzuschreiben.4 Sie hatte einige Jahre zuvor bereits erfolgreich dasselbe Argument bei Desinformationskampagnen zugunsten der Tabakindustrie vorgebracht und war reich dafür belohnt worden. Das Institut leugnete den menschengemachten Klimawandel und verfolgte sein Ziel auch mithilfe einer wenn nicht gar mitschuldigen, so zumindest konformen medialen Echokammer.
In der Zeit als Präsident Lyndon B. Johnson als erstes US-Staatsoberhaupt mit dem Thema Klimawandel konfrontiert wurde, unterrichtete Revelle in seinen wilden Jahren in Harvard den Sohn eines US-Senators aus Tennessee in Physik: den jungen Al Gore. Es stellte sich heraus, dass Revelles Sorge um das Klima eine viel tiefgreifendere Wirkung auf diesen neugierigen Studenten hatte als auf eine ganze Reihe von Präsidenten, die er so verzweifelt von seiner Botschaft zu überzeugen versuchte. Als Bill Clinton 1993 das Amt antrat, sagte er, dass man niemals gewählt werde, wenn man den Leuten »weniger« verspricht. Er begrüßte fossile Energieträger als Bestandteil seines »von jedem etwas«-Konzepts. Vizepräsident Al Gores Plan, Kohlenstoff mit einer Steuer zu belegen, wurde durch den Kongress abgelehnt, nachdem die Global Climate Coalition, eine Tarnorganisation für Lobbyarbeit des American Petroleum Institute, 1,8 Millionen US-Dollar in eine Desinformationskampagne investiert hatte. Das bahnbrechende internationale Abkommen, das Gore in Kyoto ausgehandelt hatte, wurde dem Senat nie zur Ratifizierung vorgelegt. Revelle war schon wieder ausgebremst worden.
Das Scripps-CO2-Programm wird mittlerweile von Ralph Keeling geleitet, nun selbst ein anerkannter Klimaforscher, der das Messprogramm seines Vaters weiterführt. 2010 sagte er voraus, dass die Erdatmosphäre die 400-ppm-Marke überschreiten würde. Er hatte recht. Wir sind aktuell bei 410. Es hat 250 Jahre gedauert, die erste halbe Milliarde Tonnen fossiler Energieträger zu verbrennen. Wenn wir so weitermachen wie bisher und die Menschheit das Gaspedal auch weiterhin voll durchdrückt, verbrennen wir die nächste halbe Milliarde bis zur Mitte dieses Jahrhunderts.
»Wenn ich mir mit meinen Kindern bestimmte Dinge ansehe, sage ich ihnen, dass es diese Dinge vielleicht nicht mehr geben wird, wenn sie älter sind«, äußerte Ralph Keeling gegenüber der New York Times im Jahr 2010. »›Seht euch diese wunderschönen Wälder an, bevor sie verschwinden. Seht euch die Gletscher in diesen Parks an, bald gibt es sie nicht mehr.‹ Es geht im Grunde darum wahrzunehmen, was wir haben, es zu würdigen und uns davon zu verabschieden.«
Vor ein paar Jahren veröffentlichte der in Oxford ansässige Autor Mark Lynas sein Buch Six Degrees: Our Future on a Hotter Planet, in dem er aufzeigt, was bei einer graduellen Erhöhung der Erdtemperatur von 1 bis 6 Grad geschehen wird. Er beruft sich dabei auf einen 2001 erschienenen Bericht des Weltklimarats (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC), der besagt, dass die durchschnittlichen Erdoberflächentemperaturen bis zum Jahr 2100 um einen Wert zwischen 1,4 und 5,8 °C ansteigen könnten.
Das Buch war hauptsächlich ein Versuch herauszufinden, was passieren würde, wenn die schlimmsten Vorhersagen einträten, und führte zur ersten Four Degrees and Beyond International Climate Conference, die im September 2009 im britischen Oxford stattfand und an der zirka 140 Delegierte aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Nichtregierungsorganisationen teilnahmen. Ihre Schlussfolgerung? Mit viel Glück könnten kleine, widerstandsfähige und einfallsreiche Gruppen von Menschen, wie die Inuit oder die Kuna, »4 Grad mehr« überleben. Eine globale Zivilisation oder eine menschliche Bevölkerung jedweder Größenordnung hätte jedoch keine Chance.5
Derzeit besteht eine Wahrscheinlichkeit von 93 Prozent, dass der Planet bis zum Jahr 2100 um 4 Grad Celsius wärmer sein wird als heute.6
Den meisten Menschen mögen 4 Grad nicht viel vorkommen. Wir können diese Art der Abweichung an einem durchschnittlichen Tag sofort nach Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang wahrnehmen. Unsere Haut ist jedoch nicht wie die Oberfläche der Erde. Eine globale Veränderung um 4 Grad führt zu Erwärmung oder Abkühlung großer Mengen von Land, Luft und Meerwasser. 4 (bis 6) Grad ist die Differenz zwischen der letzten Eiszeit und unserem heutigen Klima.
Seminare und Konferenzen werden mittlerweile fast andauernd irgendwo auf der Welt veranstaltet, während Regierungen, Unternehmen, die Armen, die Reichen und die Gebildeten versuchen, die existenzielle Bedrohung, die vom Klimawandel ausgeht, zu bewältigen. Im November 2017 nahmen wir an der 23. UN-Klimakonferenz (UN Conference of Parties to the Framework Convention on Climate Change, COP-23) in Bonn teil. Abgesehen von der Abarbeitung einer offiziellen Tagesordnung zur Formulierung und Erweiterung internationaler Vereinbarungen, bietet diese UN-Veranstaltung in jedem Jahr eine wichtige Gelegenheit zum Austausch zwischen Wissenschaftlern, Entscheidungsträgern und Regierungsbeamten, zwischenstaatlichen Einrichtungen, lösungsorientierten Dienstleistern im Bereich Wirtschaft und Finanzen, indigenen Kulturen, religiösen Gruppierungen, Umweltgruppen und Menschenrechtsorganisationen.
Bei einer COP-23-Podiumsdiskussion begann Christiana Figueres, ehemalige Exekutivsekretärin der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (UNFCCC) und Wegbereiterin des Pariser Abkommens, mit den guten Nachrichten: In diesem Jahr waren Green Bonds im Wert von 130 Milliarden US-Dollar ausgegeben worden und die Preise im Bereich der sauberen Energie waren dramatisch gefallen. Mit weniger als fünf US-Cent pro Kilowatt lagen die Investitionskosten nun sogar unter den Betriebskosten der neuesten fossilen Anlagen. Anders ausgedrückt: Es ließ sich wirtschaftlich nicht mehr entschuldigen, Pipelines und Kohletransporte weiterzubetreiben, und es ließ sich weder für neue noch für bestehende Kernenergie oder eine Energieversorgung aus Öl, Kohle oder Erdgas ein wirtschaftliches Argument vorbringen.
Das war eine grundlegende Veränderung. Hans Joachim Schellnhuber, damaliger Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, scherzte: »Es gibt so viel Geld auf der Welt. Man parkt es im Paradies, oder in Panama oder sonst wo, wissen Sie? Die Leute haben so viel Geld, dass sie gar nicht mehr wissen, was sie damit anfangen sollen, außer natürlich Steuern zu vermeiden. Das ist ein richtiger Sport, nicht wahr? Aber ansonsten, wohin damit? Privates Geld wäre verfügbar, wenn man einen öffentlichen oder privaten Transformationsfonds einrichten wollte.«
Es war dann an Kevin Anderson, dem stellvertretenden Direktor des Tyndall Centre for Climate Change Research, die schlechten Nachrichten zu überbringen. Er erinnerte das Publikum daran, dass die Emissionen seit 1990 stetig angestiegen waren. Das waren 27 Jahre des Scheiterns von multilateralen UN-Verhandlungen. 2016 waren die Emissionen um unglaubliche zwei Prozent angestiegen.
Anderson, ein britischer Maschinenbauprofessor mit zehn Jahren industrieller Erfahrung, hauptsächlich in der petrochemischen Industrie, mühte sich schon mehr als ein Jahrzehnt damit ab, einen Weg durch die Sackgassen von UN-Klimakonferenzen zu finden. Er kann Fliegen nicht ausstehen und nimmt regelmäßig Züge und Fähren zwischen seinem Haus in Manchester und dem Stockholm Resilience Centre in Schweden, wo er eine Gastprofessur im Bereich Klimaforschung innehat. Anderson erinnerte das Publikum an etwas, das Papst Franziskus in seiner Enzyklika »Laudato si’« gesagt hatte: »Die Allianz zwischen Technologie und Wirtschaft lässt alles in den Hintergrund treten, was nichts mit ihren unmittelbaren Interessen zu tun hat … wohingegen jeder echte Versuch, eine Veränderung herbeizuführen, als ein auf romantischen Illusionen begründetes Ärgernis gesehen wird.«
»Wo sind diese romantischen Illusionen?«, fragte Anderson. »Was sind die echten romantischen Illusionen?« Er zählte sie auf: der Glaube an naive und kurzlebige Lehrbucherwartungen, ein unerschütterliches Vertrauen in technische Utopie (er meinte, dass er als Maschinenbauingenieur besonders dazu neige), die bewusste Vernachlässigung von Zeit, der Glaube an die machiavellistische Mathematik und die implizite Annahme, dass die Natur unseren Regeln folge.
»Man sollte meinen, dass wir nach 13 Milliarden Jahren verstanden haben, dass sich die Natur immer durchsetzt«, bemerkte er.
Anderson demonstrierte anschließend, warum so viele in der Welt der Klimapolitik ihn für unbesonnen halten: Er forderte seine eigene Basis heraus. »Universitäten und NGOs sind durch kurzfristige Macht korrumpiert worden – wir wollen an Versammlungen in Davos teilnehmen, wir wollen zu den Großen und Guten unserer Gesellschaft gehören, wir haben Angst, das dominante gesellschaftliche Paradigma zu hinterfragen (das ist offenbar viel wichtiger als Physik) – und wir legen einen naiven Schwerpunkt auf bestimmte Lieblingstechnologien, egal, ob es sich dabei um Kern-, Wind- oder Sonnenenergie handelt, wir sehen darin einfach nur ›Versorgungstechnologien‹.«
In diesem behelfsmäßig aufgebauten Zelt im Stadtpark von Bonn unterstrich Anderson an diesem kalten Novembertag seinen wichtigsten Punkt, einen, den wir nicht ignorieren dürfen: Wir verfehlen unser Hauptziel des Pariser Klimaschutzabkommens, nämlich die Erderwärmung auf unter 2 Grad Celsius und möglichst unter 1,5 Grad zu beschränken. Wir müssen noch ehrgeiziger sein. Der Weltklimarat legt alle paar Jahre einen Konsensbericht von Tausenden Wissenschaftlern vor, in dem erklärt wird, was technisch erforderlich ist, um innerhalb der sicheren Grenzen unseres Klimasystems zu bleiben. Jeder Bericht kommt zu dem Schluss, dass wir bereits in großer Gefahr sind und schnell handeln müssen.
Wir wissen alle, dass wir die Menge an Kohlenstoff, die wir der Atmosphäre noch zumuten, jedes Jahr verringern und dadurch die Kurve ändern müssen. Momentan kennt diese Kurve nur eine Richtung, und zwar nach oben. Stattdessen müssen wir Kohlenstoff abziehen, um eine Richtungsänderung nach unten einzuleiten. Wenn wir eine realistische Chance haben wollen, das Unglück abzuwenden, sagte Anderson, müssen wir ab 2036 einen Rückgang von 11 Prozent pro Jahr erreichen, um einen katastrophalen Klimawandel von über 2 °C zu verhindern oder, noch besser, einen Rückgang von 20 Prozent ab 2037, wodurch wir einen nur noch gefährlichen Klimawandel bei dann nur 1,5 Grad mehr verursachen würden.
Ein solcher Wendepunkt lässt sich nicht so einfach erreichen. Ein Rückgang von 11 Prozent ist das Gegenteil der Verdopplung unserer fossilen Energieträger alle sieben Jahre – es wäre deren Halbierung alle sieben Jahre. Stellen Sie sich das vor: im Jahr 2025 halb so viele kommerzielle Passagierflüge oder halb so viele benzinbetriebene Motoren. Nur noch halb so viele Supermärkte würden mit nur noch halb so vielen vollen Frachtschiffen aus Shenzhen versorgt. Anschließend halb so viele im Jahr 2032 und noch mal die Hälfte davon im Jahr 2039. Sie verstehen schon. Die allmähliche Abschaffung der gefährlichsten fossilen Brennstoffe zugunsten der weniger besorgniserregenden regenerativen Brennstoffe wird den Kohlenstoffgehalt der Atmosphäre nicht schnell genug wieder zurück in den sicheren Bereich bringen. Anderson sagte den Konferenzteilnehmern, dass der Weltklimarat weiche Knie bekomme, wenn er nur daran denke, und dass seine Arbeitsgruppe III die Kurve daher wieder ein wenig mehr nach oben gebogen habe. Die geänderte Empfehlung bietet attraktivere Ideen, die nur ganz leicht vom »Business as usual«-Szenario abweichen.
Wie hat der Weltklimarat gerechtfertigt, dass er so lange oberhalb der erforderlichen Kurve geblieben ist? Laut Anderson, indem er nicht existierende Negativemissionstechnologien herbeigezaubert hat, die wie Feenstaub über den Planeten gestreut werden, um die fossilen Emissionen langfristig wieder zu eliminieren, die wir uns kurzfristig erlauben (und deren Freisetzung wir in Höhe von 5 bis 6 Milliarden US-Dollar pro Jahr7 oder rund 140 US-Dollar pro Tonne ausgestoßenem CO2 subventionieren).8 Anderson sagte dem Publikum, dass diese Feenstaubtechnologien ein Drawdown-Potenzial besitzen müssten, das in etwa der natürlichen Kohlenstoffabsorptionsfähigkeit der Erdbiosphäre entspricht. Mit anderen Worten werden wir um das Jahr 2040 herum eine zweite Erde brauchen, um die zusätzliche Belastung zu absorbieren, die wir in den nächsten 22 Jahren verursachen werden. »Und das alles basiert auf Technologien, von denen wir weder wissen, ob sie funktionieren, noch wie sie aussehen werden. Aber wir verlassen uns bereits auf sie – zumindest ist das die Position unserer Regierungen innerhalb dieser politischen Debatte. Wenn diese Dinge nicht funktionieren, wird unsere Zukunft eine 3 bis 5 Grad wärmere sein.«
Anderson schlug stattdessen vor, dass die Industrieländer ihre Emissionen ab sofort um 10 Prozent pro Jahr oder mehr reduzieren, mit dem Ziel, bis 2025 eine Reduzierung der CO2-Emissionen von mehr als 60 Prozent und zwischen 2035 und 2040 eine vollständige Dekarbonisierung im Energiesektor zu erreichen. Für die Nicht-OECD-Staaten verlängerte er die Frist um weitere zehn Jahre, wobei die vollständige Dekarbonisierung jedoch bis 2050 erreicht sein muss.
Hans Joachim Schellnhuber stimmte zu, dass wir nicht mehr viel Zeit haben. Wenn wir sie verschwenden, müssen wir den Kurvenverlauf noch viel dramatischer ändern. Treibhausgasemissionen müssen 2020 ihren Höchststand erreichen, und Emissionen müssen anschließend alle zehn Jahre halbiert werden.
Jedoch funktioniert nichts im Alleingang, erinnerte Johan Rockström, Direktor des Stockholm Resilience Centre, das Publikum. »Man kann das Pariser Abkommen nicht ohne die Berücksichtigung der Ziele für nachhaltige Entwicklung [englisch: Sustainable Development Goals, SDGs] erfüllen, und man kann die SDGs nicht ohne die Erfüllung des Pariser Abkommens erreichen – dies wird von der Wissenschaft nachdrücklich unterstützt.«
Rockström bemerkte, dass wir uns im Bereich des Solarenergieausbaus auf einem Pfad befinden, auf dem sich die Kapazität alle 5,4 Jahre verdoppelt. Wenn die Zahlen gering sind – alle erneuerbaren Energiequellen machen 2 Prozent oder weniger der weltweiten Energiekapazität aus –, sieht diese Verdopplung nach nicht viel aus. Aber wenn man sich die Kurve nach ein paar weiteren Verdopplungen ansieht … Nach dem heutigen Entwicklungsverlauf wird der Energiesektor bis zum Jahr 2045 bei 100 Prozent erneuerbaren Energiequellen angelangt sein. Wir brauchen dieselbe Art von Revolution in der Lebensmittelherstellung und im Bauwesen, aber sie wird kommen.
»Und wenn wir all das erreichen – eine Energierevolution, eine landwirtschaftliche Revolution, eine Technologierevolution und eine Nachhaltigkeitsrevolution –, haben wir eine 66-prozentige Chance, bei unter 2 Grad Erwärmung zu bleiben«, sagte Rockström, was aber sofort von Kevin Anderson hinterfragt wurde: »Worüber wir hier sprechen, ist die Verlagerung der Produktionskapazität der Gesellschaft von dem, was sie heute tut, und für mindestens die nächsten 50 Jahre zur Bewältigung der Klimakrise. Erneuerbare Energiequellen sind sehr wichtig, sie sind aber bisher tatsächlich nur zusätzlich zu anderen Brennstoffen eingesetzt worden, sie haben diese anderen Brennstoffe nicht ersetzt, und bis das der Fall ist, bringen erneuerbare Energiequellen dem Klima nichts – obwohl ich sie natürlich sehr befürworte. Das Klimasystem schert sich nicht um Energieeffizienz. Es schert sich nur darum, wie viel Kohlenstoff hineingepumpt wird. Und daher dürfen wir unsere herkömmlichen Energieträger nicht mehr verwenden. Im Moment verbrennen wir jedes einzelne Jahr mehr Torf, mehr Öl, mehr Erdgas, mehr Kohle. Es kam nach der industriellen Revolution in der Menschheitsgeschichte noch nicht vor, dass diese Energieformen im globalen Maßstab ersetzt worden sind.«
Obwohl erwartet werden kann, dass globale anthropogene Emissionen jetzt, da fast alle Länder das Pariser Abkommen ratifiziert haben, zurückgehen werden, ist das noch nicht passiert, und es dauert eine Weile, bis sich die ersten Ergebnisse zeigen. Um dennoch einen raschen Abbau von Emissionen aus fossilen Brennstoffen zu erreichen, erfordern die in Paris vereinbarten Ziele nun »negative Emissionen«, das heißt die Entnahme von CO2 aus der Atmosphäre, »Drawdown« genannt. Damit wir eine Chance haben, die Katastrophe abzuwenden, muss dieser Kohlenstoffentzug rasch verstärkt werden – auf jährlich 4 Milliarden Tonnen CO2 bis 2040 und auf 10 Milliarden Tonnen bis 2050.9
Die Ziele der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung
Die acht Millenniums-Entwicklungsziele [englisch: Millennium Development Goals, MDGs], die beim Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung im Jahr 2002 von 189 Nationen verabschiedet wurden, zeigten bemerkenswerte Erfolge, obwohl es keinen rechtsverbindlichen Rahmen oder Finanzmechanismus gab: etwa die Halbierung der Anzahl von Menschen, die unter bitterer Armut leiden (d. h., die weniger als 1,25 US-Dollar am Tag zum Leben haben). Nachdem der Zeitkorridor im Jahr 2015 abgelaufen war, erstellte die Konferenz der Vereinten Nationen über nachhaltige Entwicklung (auch Rio+20 genannt) einen neuen Rahmen: die Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs), die bis 2030 umgesetzt werden sollen. Die übergreifenden Zielsetzungen dieser 17 SDGs sind die Beseitigung von Armut, ein nachhaltiger Lebensstil für alle und ein stabiles und belastbares System zur Erhaltung der lebensnotwendigen Ressourcen unseres Planeten.
Die Definition von menschlicher Nachhaltigkeit im Sinne ökologischer Stabilität (Meeresspiegel, stratosphärische Ozonschicht, Luftverschmutzung, Wälder, Feuchtgebiete, Korallenriffe, Eutrophierung, Temperatur, Eisdecken, Kohlenstoffsenken usw.) war sowohl ein wissenschaftlicher als auch ein gesellschaftlicher Wendepunkt. Aus den SDGs ergaben sich umweltpolitische Prioritäten, darunter neun Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen, ohne dabei das menschliche Wohlergehen oder sogar das menschliche Überleben zu riskieren.
Lokale Gegebenheiten und Bestrebungen spielen eine große Rolle bei der Festlegung und dabei, wie einzelne Regierungen oder Behörden auf diese Ziele reagieren. Die Erfahrung mit den MDGs hat gezeigt, dass eindeutige Ziele und deren Messbarkeit wichtig sind. Viele der SDGs führen, wenn sie auf integrierte Weise angegangen werden, zu erstrebenswerten Ergebnissen für jeden Einzelnen und die Gesellschaften als Ganzes. Mit einem einheitlicheren ökologischen und sozioökonomischen Rahmen können Reformbemühungen so umgesetzt werden, dass Hindernisse überwunden und dauerhaftere Ergebnisse erzielt werden.
Viele SDGs sind bereits in internationalen Vereinbarungen wie dem Pariser Abkommen zum Klimaschutz festgeschrieben worden.
Die vollständige Umsetzung des Pariser Abkommens erfordert einen Wandel der weltweiten Industriewirtschaft, der mindestens so tief greifend wie derjenige ist, welcher die westliche und sowjetische Produktion im Jahr 1940 transformiert hat. Dieser Paradigmenwechsel müsste Fabriken, Stahlwerke, Minen und unzählige Unternehmen quasi über Nacht umwandeln, und sie müssten Kohlenstoff fortan speichern, anstatt ihn zu verschwenden. Angesichts des kriegerischen Vormarsches der Nationalsozialisten, die über weite Teile Europas herfielen, stellte die ganze Industrie im Jahr 1940 augenblicklich von der Konsumgüterproduktion auf die Herstellung von Kriegsmaterialien um. Dieser Wechsel wurde nicht als Zielkonflikt betrachtet. Er wurde als Reaktion auf eine massive Bedrohung der Zukunft eines großen Teils der Menschheit gesehen. Wir haben es jetzt mit einer ganz anders gelagerten Bedrohung zu tun, die aufgrund ihres globalen Ausmaßes und der langfristigen Dimension auf Dauer mehr Menschen treffen wird als jeder Krieg. Können wir diese schnelle Transformation wiederholen, um die gravierenderen Folgen des Klimawandels abzuwenden?
Was wir jetzt brauchen, ist eine kostengünstige, schnell einsetzbare, skalierbare Methode zur Kohlenstoffbindung, die schnell Akzeptanz in Politik und Gesellschaft findet und weder Kohlenstoffsteuern noch Offsetmärkte erfordert. Sie sollte darüber hinaus schnell anpassbar sein, eine bewährte Standardtechnologie einsetzen, robust sein und von gering qualifizierten Arbeitskräften umgesetzt werden können. Sie darf Ökosysteme nicht gefährden und weder Menschen noch Wirtschaftssektoren oder Länder arm machen. Fast alle vorgeschlagenen Technologien sind zu ausgefallen, zu wenig erprobt, vielleicht zu gefährlich, wenn wir bedenken, welche unabsichtlichen Folgen sie mit sich bringen könnten. Alle Technologien – außer der Pflanzenkohle.
Kapitel 2
Die Klimakurve abflachen
Wenn wir nur noch weitere acht Jahre warten, bis 2025, stehen wir praktisch am Rande der Klippe und können die Ziele vom Pariser Abkommen nicht mehr erreichen. Der einzige Ausweg ist eine enorme Menge an negativen Emissionen – die Entnahme von CO2 aus der Atmosphäre. Ich sage Ihnen mal was – ich glaube es erst, wenn ich es sehe. Ich glaube nicht, dass wir das auch nur ansatzweise schaffen können.
STEFAN RAHMSTORF (2017)
In der Mathematik ist der Wendepunkt der Punkt auf einer Kurve, an der sich die Richtung der Kurve ändert. In der Wirtschaft ist der strategische Wendepunkt der Eintritt einer massiven Änderung oder, wie es Andy Grove, der Mitbegründer von Intel beschreibt, »ein Ereignis, durch das sich die Art unseres Denkens und Handelns ändert«. Dieses Ereignis kann positiv sein und zu einem traumhaften und kometenhaften Aufstieg führen; aber es kann genauso gut negativ sein und zum Scheitern eines Unternehmens oder Projekts führen. Um den Kohlenstoffkreislauf wieder ins Gleichgewicht zu bringen, müssen wir den Wendepunkt auf der Keeling-Kurve finden. Wenn wir uns ihr Sägezahnmuster ansehen, wollen wir die ansteigenden Kanten jedes Zahns kürzen und die abfallenden Kanten verlängern.
Das im Pariser Abkommen festgelegte 2-Grad-Ziel erfordert »in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts ein Gleichgewicht zwischen den anthropogenen Emissionen von Treibhausgasen als Quellen und dem Abbau solcher Gase durch Senken«. Das kann irreführend sein. Um ein Gleichgewicht im Einklang mit dem 2-Grad-Ziel zu erreichen, würde die Reduzierung von Emissionen aus fossilen Brennstoffen auf null nicht genügen, selbst wenn es praktisch realisierbar wäre (was es sehr wahrscheinlich nicht ist). Ein Gleichgewicht, bei dem sich positive und negative Emissionen gegenseitig aufheben, würde ebenfalls nicht genügend Altemissionen eliminieren, um die 2-Grad-Grenze in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts einzuhalten. Diese Grenze kann nur unterschritten werden, wenn Kohlenstoffdioxid aus der Atmosphäre entfernt wird (Drawdown).1 Es gibt fünf allgemein anerkannte Kategorien, in die sich diese »Negativemissionstechnologien« aufteilen lassen.
Änderungen am Landnutzungsmanagement
Enhanced Weathering (Beschleunigte Gesteinsverwitterung)
Marine Permakultur
Direct Air Capture (DAC)
Bioenergie mit CO2-Abscheidung und -Speicherung [englisch: Biomass Energy with Carbon Capture and Storage, BECCS]
Unter der BECCS-Überschrift findet man zuweilen auch »Pyrolyse mit CO2-Abscheidung und -Speicherung« [englisch: pyrolysis carbon capture and storage, PyCCS], und hier wird es für uns richtig interessant. BECCS wird (häufig zu Recht) damit in Verbindung gebracht, dass Land für den Anbau von Pflanzen zur Gewinnung von Biomasse oder für gefährliche Vorhaben zur Speicherung von Kohlenstoff (etwa in unterirdischen Reservoirs, die durch Erdbeben oder Leckagen gefährdet sind) geopfert wird. Was im Mittelpunkt jeder Klimadiskussion stehen sollte, ist jedoch die (technisch einfache und kostengünstige) Umwandlung von bislang unzureichend genutztem organischen Kohlenstoff in eine feste Form, die nicht mehr in die Atmosphäre entweichen kann.

Zunächst eine Anmerkung zu Geoengineering

Der Versuch, die globalen öffentlichen Güter so zu verwalten, dass sie den übergroßen Anforderungen der Menschen gerecht werden, hat zu einem Wissenschaftsbereich namens Geoengineering geführt. Viele der unter dieser Bezeichnung zusammengefassten Techniken bauen natureigene Reparaturmechanismen nach, sobald Systeme aus dem Gleichgewicht geraten. Andere sind voll und ganz menschengemacht und können sehr gefährliche und schädliche unbeabsichtigte Folgen haben.
Obwohl die Idee, die Umwelt so zu gestalten, dass dem anthropogenen Klimawandel entgegengewirkt wird, bereits in den 1960er-Jahren aufkam ist, gibt es in der wissenschaftlichen Forschung, in der Politik und der Zivilgesellschaft bisher noch keine allgemein anerkannte Definition von Geoengineering.2 2009 definierte die Royal Society of the United Kingdom Geoengineering als »den vorsätzlichen und großräumigen Eingriff in das Klimasystem der Erde, um die globale Erwärmung abzuschwächen«, und unterteilte die Technologie in zwei Klassen: (1) Solar Radiation Management (SRM) bezeichnet die vorsätzliche Änderung des kurzwelligen Strahlungsbudgets der Erde etwa durch die Injektion stratosphärischer Aerosole oder das Weißstreichen von Dächern, damit das Sonnenlicht in den Weltraum reflektiert wird; bei (2) Carbon Dioxide Removal (CDR) werden Verfahren eingesetzt, die atmosphärischen Kohlenstoff durch die Schaffung zusätzlicher Kohlenstoffsenken reduzieren sollen. CDR-Methoden umfassen großflächige Aufforstung, Ozeandüngung und die mechanisierte Abscheidung von Kohlendioxid.3