Covid-19: Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit - Adriano Mannino - E-Book

Covid-19: Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit E-Book

Adriano Mannino

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Beschreibung

Was tun, wenn existenzielle Entscheidungen ohne sichere Datengrundlage und in größter Eile zu treffen sind? Auch Experten sind vor Denkfehlern nicht gefeit. Hier kann "Philosophie in Echtzeit" helfen. Denn Erkenntnistheorie, Risikoethik und Entscheidungstheorie können beim Ausloten des Ungewissen Klarheit und Orientierung bieten. Am Fall der Corona-Pandemie zeigen die Autoren mit einem Ausblick auf Klima- und KI-Risiken: Was können wir vor, während und nach der Katastrophe wissen – und wie können wir strategisch handeln.

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Nikil Mukerji / Adriano Mannino

Covid-19: Was in der Krise zählt

Über Philosophie in Echtzeit

Reclam

E-Book-Leseproben von einigen der beliebtesten Bände unserer Reihe [Was bedeutet das alles?] finden Sie hier zum kostenlosen Download.

 

 

Für Li Wenliang

(gest. 7. Februar 2020 in Wuhan)

 

 

Eine ausführliche Quellensammlung findet sich auf www.katastrophenethik.de

 

 

2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2020

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961717-6

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014053-6

www.reclam.de

Inhalt

VorwortI Zur Philosophie der Katastrophe1 Wuhan und wir2 Der Beitrag der PhilosophieII Covid-19: War die Katastrophe vorhersehbar?1 Die Katastrophe, die niemand kommen sah2 Eine Krise des Denkens3 Auf welche Experten sollten wir uns stützen?III Die Katastrophe ist da – was nun?1 Was zählt in der Krise?2 Wege aus dem ShutdownIV Nach der Katastrophe ist vor der Katastrophe: Ausblick und Lehren1 Zoonosen, Klimawandel und Künstliche Intelligenz2 Über Philosophie in EchtzeitGlossarLektüreempfehlungenZu den AutorenDanksagung

»Doch flieht indes, es flieht unwiederbringlich

die Zeit […]«

  Vergil, Georgica III, 284

Vorwort

Wir schreiben diesen Essay als kritische Teilnehmer am gegenwärtigen Krisengeschehen. Anfang März sprachen wir uns für den Shutdown aus, der uns risikoethisch unausweichlich schien. Die Katastrophe erreichte unsere Gesellschaft unvorbereitet. Es war dringend Zeit erforderlich, gemeinsam über Lösungswege nachzudenken, ohne bereits irreversibel auf eine Durchseuchung festgelegt zu sein und eine Überlastung der Intensivmedizin zu riskieren. Wir müssen als Gesellschaft klären, wie wir mit der Krise mittel- und langfristig umgehen wollen. Vielleicht gelingt es uns mit dem vorliegenden Essay, philosophische Debattenanstöße zu liefern. Über den gegenwärtigen Katastrophenfall hinaus möchten wir anregen, der »Katastrophenethik« in der angewandten Philosophie einen prominenten Platz einzuräumen. Zu wichtigen Aspekten dieses vernachlässigten Gebiets versuchen wir hier einen Echtzeit-Beitrag zu leisten.

I Zur Philosophie der Katastrophe

1 Wuhan und wir

China

Wir schreiben den 31. Dezember 2019. China benachrichtigt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) über eine mysteriöse Lungenkrankheit, die in der Provinz Hubei aufgetreten war. Wenig später ist die Ursache erkannt: ein neues Coronavirus, SARS-CoV-2. Als Hauptsymptome der vom Virus verursachten Krankheit – Covid-19 – werden Fieber, trockener Husten und Atemnot ausgemacht. Offenbar ist in vielen Fällen infolge der akuten Atemnot eine Hospitalisierung notwendig. Aufgrund der vermutlich fehlenden Herdenimmunität ist absehbar, dass es zu einer exponentiellen Ausbreitung des Virus kommen kann: Jeder Erkrankte wird mehrere Menschen anstecken, die ihrerseits mehrere Menschen anstecken werden, und so weiter – eine explosionsartige Dynamik. 

Nach anfänglichem Zaudern – und Zensieren – schreiten die chinesischen Behörden bei wenigen hundert bekannten Infektionsfällen mit drakonischen Mitteln ein. Die Millionenstadt Wuhan, das Epizentrum der Epidemie, und die umliegenden Gebiete der Provinz Hubei werden militärisch abgeriegelt und unter Quarantäne gestellt. Die strikte Ausgangssperre wird mit Barrikaden auf Straßen, vor Quartieren und um Wohnblöcke durchgesetzt, mitunter auch mit dem Schweißgerät an der Haustür. Trotz dieser Maßnahmen steigt die Zahl der dokumentierten Fälle und Todesopfer rasant an. Anfang Februar werden etwa 20 000 Fälle und 500 Tote gemeldet.

Doch was geht uns Wuhan an? Uns, eine Gesellschaft in Mitteleuropa, und uns, die Autoren dieses Essays? Die Risikoethik gehört zu unseren Forschungs- und persönlichen Interessengebieten. Wie uns das Katastrophenrisiko fasziniert, irritiert uns die oft nonchalante Risikopolitik unserer Gesellschaft. Im Brennpunkt unseres Interesses, mit dem wir täglich auf die ungebrochene Exponentialkurve in Wuhan blicken, steht damals die Frage: Wie hoch ist angesichts des globalen Vernetzungsgrads die Wahrscheinlichkeit, dass sich dieses Virus auf China beschränken lässt? 

In China kommt es – trotz der drakonischen Maßnahmen – schnell zu zehntausenden dokumentierten Fällen und tausenden Toten. Nicht auszuschließen ist zudem, dass die Staatspropaganda die Zahlen massiv schönt. Was wird also geschehen, wenn dieses Virus westliche Staaten erreicht, die gewiss nicht annähernd so drastisch einschreiten werden wie die chinesische Regierung? Wir befürchten – mit einiger Wahrscheinlichkeit – Schlimmes. 

Europa

Wuhans Krankenhäuser sind heillos überfordert, das medizinische Personal ruft auch Kollegen aus dem Westen um Hilfe. Unsere Gesellschaften bleiben gelassen. Die Gesundheitsminister verkünden allenthalben, man habe das weltbeste Gesundheitssystem und sei hervorragend vorbereitet. Viele wissenschaftliche Experten vergleichen das neue Coronavirus mit einer Grippe. Der Bonner Virologe Hendrik Streeck sagt sogar, es sei »bei weitem nicht gefährlicher als die Grippe«. Noch Ende Februar lässt der Charité-Chefvirologe Christian Drosten verlauten, er würde natürlich weiterhin nach Italien reisen. Auch der Lausanner Epidemiologe Marcel Salathé meint, er sehe seiner geplanten Italienreise »relaxed« entgegen. Wenige Tage später brechen in lombardischen Krankenhäusern kriegsähnliche Zustände aus, und Italien vollzieht den Shutdown. 

Italienische Expats und Journalisten versuchen verzweifelt, die europäischen Gesellschaften wachzurütteln. Auch wir engagieren uns mit kritischen Texten – zehn Tage lang erfolglos. Die Zeitungen im deutschen Sprachraum erteilen uns Absage um Absage. Unsere Prognose, die intensivmedizinischen Kapazitäten würden ohne Shutdown womöglich um ein Vielfaches überlastet, sei »zu alarmistisch«. Erst ab dem 10. März gelingt es uns, einige Artikel zu publizieren.

Der 10. März ist auch der Tag, an dem deutsche Medien – mit mehreren Tagen Verzögerung – erstmals die Berichte norditalienischer Intensivmediziner abdrucken. In Norditalien ist das Recht auf Gesundheit gefallen, die Menschenwürde tangiert. Es besteht keine Garantie mehr, dass Herzinfarkte oder Schlaganfälle behandelt werden können. Italienische Ärztinnen und Ärzte berichten verzweifelt, es werde »triagiert wie im Krieg«.

Die Kommunikation zwischen den europäischen Öffentlichkeiten erweist sich als erschreckend schwerfällig. Ein geeintes Europa muss all seinen Teilen und Teilnehmern in Echtzeit zuhören und antworten können. Auch das ist eine (epistemische, also die Erkenntnisfähigkeit betreffende) Vorsorge- und Solidaritätspflicht, gerade im Kontext drohender, und noch mehr: im Angesicht bereits laufender Katastrophen.

Inzwischen ist die Botschaft aus Italien angekommen. In den Worten der Schriftstellerin Francesca Melandri: 

Ich schreibe euch aus Italien, also aus eurer Zukunft. Wir sind jetzt dort, wo ihr in wenigen Tagen sein werdet. Die Grafiken der Pandemie zeigen, dass wir in einem parallelen Tanz miteinander verbunden sind, in dem wir euch zeitlich einige Tage voraus sind, so wie Wuhan uns einige Wochen voraus war. Wir sehen, dass ihr euch genauso verhaltet, wie wir uns verhalten haben. Ihr führt die gleichen Diskussionen wie wir bis vor kurzem, in denen die einen sagen, »Das ganze Theater ist doch nur eine etwas heftigere Grippe«, und die anderen bereits verstanden haben.

Wir werden darauf zurückkommen, wie wichtig es ist, wechselseitig von unseren Erfahrungen und Fehlern zu lernen, gerade und besonders im Kontext globaler Katastrophenrisiken. Denn wer nur aus den eigenen Fehlern lernt, lernt wenig – zu wenig.

Es stellt sich auch die Frage, warum die tragische Fallstudie Norditaliens nötig war, die europäischen Gesellschaften wachzurütteln. Wuhan hätte eigentlich genügen müssen. Die 11-Millionen-Stadt erwirtschaftet ein Pro-Kopf-BIP von 18 000 Dollar, hat ein passables Gesundheitssystem und wurde bei nur wenigen hundert dokumentierten Fällen unter militärisch überwachte Quarantäne gestellt. Dennoch kollabierten die Krankenhäuser sofort. Auf dieser Grundlage allein hätte sich das Urteil aufdrängen müssen, dass auch uns mit einiger Wahrscheinlichkeit Gefahr droht und schnelle Vorbereitungsmaßnahmen angezeigt sind. – Was aber, wenn man die Wahrscheinlichkeit, dass uns die Epidemie erreichen würde, für sehr gering gehalten hätte? Wäre es in diesem Fall nicht gerechtfertigt gewesen, gelassen zu bleiben?

Das Prinzip der Risikoabsicherung 

Keineswegs. Man hätte sich vernünftigerweise trotzdem vorbereiten müssen. Nicht nur praktisch, sondern zunächst auch epistemisch – es lohnt sich, auf Vorrat zu denken. Wann immer man nicht an ein Worst-Case- bzw. Bad-Case-Szenario glaubt, legt die eigene Fehlbarkeit sogleich die Fragen nahe:

Was, wenn ich falsch liege? Oder was, wenn ich mit meiner Einschätzung der Wahrscheinlichkeit, dass der schlimme Fall (Bad Case) eintritt, zwar richtig liege, dieser unwahrscheinliche schlimme Fall aber dennoch eintritt? Wie schlimm wäre dieses Szenario, welches Schadensausmaß wäre mit ihm verbunden? 

Welche Maßnahmen könnte ich ergreifen, um mich gegen das Bad-Case-Szenario abzusichern, sollte es eintreten? 

Welche Kosten wären mit diesen Maßnahmen verbunden und in welchem Verhältnis stehen sie zum Schadensausmaß des Bad-Case-Szenarios? 

Wenn die erwarteten Kosten der Maßnahmen im Vergleich zum Schadensausmaß des Szenarios hinreichend gering sind, dann sollten die Maßnahmen ergriffen werden. Diesem Prinzip des Hedging bzw. der Risikoabsicherung folgen wir zum Beispiel dann, wenn wir im Auto einen Sicherheitsgurt tragen: Es ist extrem unwahrscheinlich, dass wir in einen schweren Unfall verwickelt sein werden, und trotzdem sichern wir uns ab.

Das Prinzip lässt sich genauer qualifizieren und theoretisch-formal fassen. Eine wichtige Qualifizierung betrifft die Frage nach den Opportunitätskosten der ergriffenen Maßnahmen: Gegen welche anderen Risiken könnte man sich mit denselben Ressourcen ebenfalls absichern? Angenommen, andere Risiken sind mit einem bedeutend höheren Schadensausmaß verbunden. Dann kann es rational sein, die knappen Ressourcen entsprechend zu verschieben und die Absicherung gegenüber dem geringeren Risiko zu unterlassen. Der Philosoph Julian Nida-Rümelin spricht in diesem Zusammenhang von einer kohärenten Risikopraxis.

Mit Bezug auf die theoretisch-formale Bestimmung des Hedging-Prinzips wurden in der Entscheidungstheorie und Risikoethik verschiedene Vorschläge gemacht. Dazu gehören unter anderem die Kosten-Nutzen-Analyse bzw. die Maximierung eines Erwartungsnutzens (das heißt des mathematischen Produkts aus Wahrscheinlichkeit und Ausmaß des verhinderten Schadens) sowie Modelle, die sich der Sozialwahltheorie oder der Theorie der Verhandlungsspiele bedienen. Alle plausiblen formalen Modelle schließen das Hedging-Prinzip in der einen oder anderen Abwandlung ein. Da es uns im vorliegenden Essay um die groben Linien geht, bleiben wir auf der informellen Ebene.

Man hätte sich die genannten drei Hedging-Fragen also spätestens nach dem epidemischen Ausbruch in Wuhan stellen müssen. Angesichts des möglichen Schadensausmaßes wäre es (1.) angezeigt gewesen, sich mit relativ kostengünstigen, aber im Falle einer Pandemie potentiell hocheffektiven Maßnahmen abzusichern (2. und 3.). Dazu hätten der Ankauf und die Eigenproduktion von Masken, der Ausbau von Testkapazitäten und die Vorbereitung digitaler Tracing-Verfahren gehört. Der Flugverkehr aus dem Risikogebiet hätte ebenfalls sofort eingestellt werden müssen.

Natürlich besteht bezüglich des Effektivitätsgrads der genannten Maßnahmen Unsicherheit, denn sie sind nur potentiell bzw. mit einiger Wahrscheinlichkeit effektiv. Das ist aber kein hinreichender Grund, sie nicht zu ergreifen – im Gegenteil: Erfolgreiches Hedging besteht gerade darin, nicht alles auf eine Karte zu setzen, also die Bemühungen aufzuteilen bzw. zu diversifizieren. Wenn jede der genannten Maßnahmen wirken könnte und hinreichend günstig ist, dann sollte unverzüglich das ganze Maßnahmenpaket ergriffen werden. Für jede Maßnahme kann dabei gelten, was der Risikoforscher Nassim Taleb über das Tragen von Masken angemerkt hat: Wir sollten nicht nur dann Masken tragen, wenn wir über starke empirische Evidenz verfügen, dass ein Virus durch die Luft übertragen wird und Masken dies behindern. Wir sollten Masken tragen, wenn und weil wir nicht wissen, ob das Virus durch die Luft übertragen wird und Masken dies behindern können. Taleb warnt seit Jahrzehnten vor Pandemien und anderen Katastrophenrisiken.

Eine Diversifizierungsstrategie verfolgt auch Bill Gates, dessen Stiftung sich seit Jahren im Bereich der Pandemieprävention engagiert. Gates unterstützt nun die Entwicklung von sieben Impfstoffen gegen das neue Coronavirus, von denen jeder Einzelne mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit wirksam und sicher sein könnte. Erfahrungsgemäß ist dies für die Mehrzahl der jeweils in Entwicklung befindlichen Impfstoffe aber nicht der Fall, so dass letztlich wohl nur ein oder zwei Corona-Impfstoffe zur Massenproduktion freigegeben werden. Diese Skalierung erfordert für jeden Impfstoff den Bau entsprechender Fabriken. Die meisten von ihnen werden ungenutzt bleiben, weil sich die Mehrzahl der potentiellen Impfstoffe als unwirksam oder unsicher erweisen werden. Daher weiß Gates schon jetzt, dass er Milliarden »verschwenden« wird, indem er für jeden Impfstoff Produktionskapazitäten finanziert. Diese Diversifikation lohnt sich jedoch, denn es stehen weltweit potentiell Millionen Menschenleben und Billionen Dollar an wirtschaftlichem Wert auf dem Spiel. Wir können uns in der gegenwärtigen Katastrophenlage das Risiko nicht leisten, nach der erfolgreichen Entwicklung eines Impfstoffs auf die Einrichtung von Produktionskapazitäten warten zu müssen.1

2 Der Beitrag der Philosophie

Erwägungen in Bezug auf Risikoabsicherung sind im Bereich der Entscheidungstheorie und der Risikoethik zu verorten. Das Kernthema dieser philosophischen Disziplinen bildet die Frage nach der rationalen und ethisch vertretbaren Entscheidung unter Unsicherheit.2 Zur korrekten Einschätzung der Unsicherheit bedarf es der Epistemologie (Erkenntnistheorie), zu der auch die Wissenschaftstheorie gehört. Sie kümmert sich darum, wie wir uns rational gerechtfertigt Überzeugungen aneignen können, d. h. wie wir uns Überzeugungen aneignen sollen. Die Epistemologie kann daher als Teil einer umfassend verstandenen Ethik begriffen werden, nämlich als Ethik unserer Überzeugungsbildung, also unseres kognitiven Handelns. Insoweit die Risikoethik unser kognitives Handeln betrifft, kann sie als Risikoepistemologie bezeichnet werden. Sie untersucht die Risikoaspekte unserer Überzeugungsbildung.

Philosophie ist essentiell

In der gegenwärtigen Krise hat sich schnell gezeigt, dass der angemessene Umgang mit der pandemischen Katastrophe nicht allein den Virologen und Epidemiologen überlassen werden kann. Was zu tun ist, hängt nicht nur von empirischen Fakten zur unmittelbaren Ursache der Katastrophenlage ab, etwa von den Eigenschaften des SARS-CoV-2-Virus oder der Art seiner Ausbreitung. Vernünftige Entscheidungen erfordern zumal in einer hochkomplexen Entscheidungssituation immer auch die Berücksichtigung und Abwägung vieler anderer Aspekte.

Das betonen auch Virologen. Der Hallenser Virologe Alexander Kekulé etwa findet es essentiell, »alle Seiten zu betrachten, die medizinische, die wirtschaftliche und die soziale«. Politische und rechtliche Gesichtspunkte wären dem sicherlich hinzuzufügen.

Doch wie können wir bestimmen, welche wissenschaftlichen Fachdisziplinen überhaupt relevant sind? Auch diese Frage liegt im Kompetenzbereich der Philosophie, insbesondere der Wissenschaftstheorie, der Entscheidungstheorie und der Ethik. Diese philosophischen Disziplinen entwickeln und diskutieren Entscheidungskriterien, die gleichsam als Filter für die Relevanz aller anderen Erwägungen dienen. Erst wenn die Fragestellungen, die unsere Entscheidungsprobleme konstituieren, klar formuliert und Kriterien für eine Entscheidungsfindung entwickelt worden sind, können wir feststellen, welche Fachdisziplinen Beiträge zur Lösung des jeweiligen Entscheidungsproblems liefern und wie diese jeweils zu gewichten und abzuwägen sind. Das versucht die Philosophie zu leisten. Und genau aus diesem Grunde ist ihr Beitrag zur Debatte um Covid-19 essentiell. Im vorliegenden Essay werden wir skizzieren, welche Aspekte dieser Beitrag abdecken könnte und in welcher Phase – also vor, während oder nach der Katastrophe – sie einschlägig sind.

Philosophie hat eine Deadline

Doch ist das überhaupt möglich? Auf den ersten Blick lässt sich durchaus bezweifeln, dass fundierte philosophische Arbeit über die Covid-19-Krise zu einem derart frühen Zeitpunkt möglich ist. In der Tat teilen offenbar viele, die sich sonst rege an gesellschaftlichen Diskussionen beteiligen, diese Auffassung. So sagte der Philosoph Michael Schmidt-Salomon etwa: »Ich sehe mich außerstande, irgendetwas Substantielles zu dieser Krise zu sagen, solange die Datenlage so lückenhaft und widersprüchlich ist, wie sie sich im Moment darstellt.«

Die epistemische Bescheidenheit Schmidt-Salomons ist für sich genommen lobenswert. Wir glauben trotzdem, dass es nicht nur möglich ist, schon jetzt etwas Substantielles zur Covid-19-Pandemie zu sagen, sondern halten es sogar für geboten, dies zu tun. Denn unabhängig davon, ob die Fakten bekannt sind oder nicht: Es ist klar, dass wir – als Gesellschaft – entscheiden müssen, wie wir mit der aktuellen Situation umgehen wollen. So viel »Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen, gab es noch nie«, meint der Philosoph Jürgen Habermas mit Blick auf die aktuelle Krise. Dieser Zwang entsteht, wenn durch Nichtstun wertvolle Optionen verlorengehen können, weil man damit bereits einen bestimmten Pfad eingeschlagen hat. Wir können uns wertvolle Chancen verspielen, wenn wir warten, bis die empirischen Daten endlich eindeutig sind.

Der Philosoph Nick Bostrom hat in diesem Zusammenhang einen hilfreichen Begriff geprägt. Er spricht von einer »Philosophie mit einer Deadline« (»philosophy with a deadline«). Damit meint er, dass philosophische Diskussionen manchmal einen Stichtag haben, der als solcher unmissverständlich vorgibt, bis wann spätestens eine Lösung vorliegen muss.

Das gilt zum Beispiel für philosophische Fragen in Bezug auf den Umgang mit aufkommenden Technologien, etwa der Künstlichen Intelligenz. Hier müssen wir Regeln für den Umgang mit absehbaren technologischen Entwicklungen finden, bevor die Einführung der Technologien Tatsachen geschaffen hat. Beispielsweise müssen wir wissen, wie wir selbstgesteuerte Fahrzeuge für dilemmatische Unfallsituationen programmieren sollten, bevor die autonome Fahrtechnologie marktreif ist. Ähnliches gilt in Fragen des Klimawandels, wo die Erreichung von Schwellenwerten bzw. Kipppunkten eine unaufhaltsame Erderwärmung einleiten würde.

In bestimmten Bereichen sind also wohl oder übel philosophische Fragen zu beantworten, weil Handlungsentscheidungen vor einem bestimmten Zeitpunkt getroffen werden müssen. Das gilt auch für den Fall von Covid-19. Wenn wir nicht entscheiden, dann legen wir uns damit auf ein Ergebnis fest – ein Ergebnis, das wir womöglich hätten vermeiden sollen.