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Das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) ist ein Instrument, das Mitarbeitende nach einer krankheitsbedingten Auszeit auf ihrem Weg zurück in die Arbeitswelt unterstützen soll. Dieser Crashkurs von Susanne Weiß beschreibt, worum es im BEM geht und stellt die rechtlichen und fachlichen Grundlagen vor. Er zeigt, wie die herausfordernde Kommunikation zur Wiedereingliederung für alle Seiten erfolgversprechend verlaufen kann und bietet Gesprächsvorschläge und -lösungen für mögliche Verständigungsschwierigkeiten. Mit zahlreichen Praxisbeispielen. Inhalte: - Einführung und Grundlagen in das Betriebliche Eingliederungsmanagement - Wirtschaftliche Bedeutung von Krankheitszeiten für Unternehmen und Mitarbeiter:innen - Gesetzliche Grundlage, rechtliche Bedeutung und Grundprinzipien des BEM - Erfolgreiche Einführung und Umsetzung von BEM im Unternehmen - Krankheitsbedingte Kündigung - Die BEM-Akte - Beteiligte und Aufgabenverteilung Neu in der 3. Auflage: - Kündigung während der Probezeit - Sonderfall Kündigung von Schwerbehinderten in der Probezeit - BEM und Sucht: Auswirkungen von Sucht und der Umgang im BEM - Betriebliche Suchtberatung - Was tun, wenn jemand absolut nicht krank sein will? - Corona und New Work - Auswirkungen von Schlaf und Hitze
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Seitenzahl: 415
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Susanne Weiß
Crashkurs Betriebliches Eingliederungsmanagement
3. Auflage, Juni 2025
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Das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) ist im vergangenen Jahr 20 Jahre alt geworden. Das heißt, dieses Gesetz ist den Kinderschuhen entwachsen und kann sich gut alleine behaupten. Ja, es sind viele Fortschritte zu verzeichnen: Mit der Einsicht, dass ein BEM Mitarbeiter im Unternehmen hält, die anderweitig möglicherweise krankheitsbedingt ausscheiden müssten, werden immer mehr Fallmanager eingestellt und die Professionalisierung ist beachtlich. Die Corona-Pandemie hat leider dazu geführt, dass viele Forschungsprojekte zum BEM und zur Beruflichen Rehabilitation eingestellt wurden. Zum Ausgleich wird nun in den Unternehmen BEM in Echtzeit ausprobiert und weiterentwickelt. Da es wieder viele Neuerungen gibt, die Einfluss auf unsere Arbeit im BEM haben, war es mir ein Anliegen, diese aufzugreifen und dieses Buch zu ergänzen.
Ganz herzlich bedanken möchte ich mich bei »meinem BEM-Team«, bei Stefan, Katharina, Monika, unserem Betriebsarzt, den engagierten Kollegen der Arbeitssicherheit, unseren HRBPs, den Führungskräften und den vielen anderen, die alle zusammen unsere dynamische Entwicklung erst ermöglicht haben.
Bleiben Sie neugierig
Susanne Weiß
In den vergangenen zwei Jahren ist viel passiert in der Welt (Corona-Virus, Pandemie) und in diesem Fall auch im BEM. Es sind gleich mehrere Gewissheiten über Bord gegangen, nicht mit Absicht, mehr als Nebenprodukt veränderter Umstände: Alle Gespräche finden in Präsenz statt, Home-Office oder Mobiles Arbeiten geht in Deutschland nicht, der Datenschutz steht über allem, wir arbeiten alle daran, die psychischen Belastungen in dieser Gesellschaft zu reduzieren, wir haben ein starkes Wirtschaftswachstum, das Leben ist planbar….
Da viele dieser Einflussfaktoren im BEM direkt Einfluss haben, war es mir ein Anliegen, das Buch um diese Inhalte zu ergänzen.
Viel Spaß beim Lesen
Ihre Susanne Weiß
Das Betriebliche Eingliederungsmanagement, im Folgenden abgekürzt mit BEM benannt, ist ein Instrument, das Mitarbeiter1 nach einer längeren krankheitsbedingten Auszeit bei ihrem Weg zurück in die Arbeitswelt unterstützen soll. In diesem Crashkurs zu dem Thema finden Sie leicht verständlich beschrieben, worum es im BEM geht und was die rechtlichen und fachlichen Grundlagen sind.
Es werden zudem Hilfen aufgezeigt, wie die herausfordernde Kommunikation zur Wiedereingliederung für alle Seiten erfolgversprechend verlaufen kann. Dazu finden Sie in diesem Buch Gesprächsvorschläge und -lösungen für die zahlreichen Verständigungsschwierigkeiten, die sich anhand der verschiedenen möglichen Konflikte ergeben können. Zahlreiche Praxisbeispiele geben hierzu anschauliche Einblicke in den Alltag des BEM.
Zu Beginn möchte ich zwei der bisher üblichen Begriffe im BEM neu definieren. So halte ich es für zielführender, den Begriff »Betroffener« durch »BEM-Berechtigter« zu ersetzen. Sicherlich ist jeder Mensch von Krankheit betroffen und es gibt wohl niemanden, der sich eine – noch dazu schwere – Krankheit wünscht. In den vergangenen 20 Jahren habe ich aber im Verlauf der Integration auch sehr oft Sätze gehört wie: »Das hätte ich mich vorher nicht getraut«, oder: »Dafür musste ich erst krank werden, um das einzusehen.« Das heißt, dass es immer auch Menschen gibt, die im Sinne von Resilienz2 gestärkt aus ihrer Krankheit hervorgehen. Mir erscheint es daher sinnvoll, den Fokus auf die Berechtigung zu legen. Damit werden auch die Entscheidungsfreiheit und die Selbstwirksamkeit3 des zu integrierenden Mitarbeiters ein wenig mehr in den Vordergrund gerückt. In den letzten Jahren hat sich in Fallmanagerkreisen der Begriff BEM-ling eingeschlichen. Selbstverständlich steht es jedem frei, sein Wording so zu wählen, wie es am besten passt. Meine oben geschilderte Sicht auf das Wort »Betroffener« gilt auch für die Bezeichnung »BEM-ling«.
Das Wort »leidensgerecht« habe ich durch »gesundheitsverträglich« ersetzt. In der deutschen Rechtsprechung zum BEM hat sich der Begriff »leidensgerecht« durchgesetzt: Maßnahmen sollen also an das Leiden angepasst werden. In der Arbeitssicherheit wird hingegen der Begriff »gesundheitsverträglich« verwendet – also an die Gesundheit angepasst. Das scheint mir doch positiver und deutlich passender, denn es geht ja darum, z. B. den Arbeitsplatz so auszustatten, dass die Restgesundheit nicht gefährdet wird. In der folgenden Tabelle finden Sie diesen beiden Begriffen noch einmal die verschiedenen Aspekte zugeordnet:
Leidensgerecht
Gesundheitsverträglich
Ursprung in der Rechtsprechung
Ursprung im Arbeitsschutz
Fokus auf Krankheit und Defizit
Fokus auf Erhalt der Gesundheit
Manifestation der Krankheit
Potenzial in Restgesundheit steht im Vordergrund
Tab. 1: Vergleich Leidensgerecht – Gesundheitsverträglich
In den letzten 15 Jahren habe ich viele BEM-Gespräche entweder als interne oder externe Fallmanagerin (siehe nachfolgender Kasten) oder als Teilnehmerin im BEM-Team geführt, darunter sowohl Informationsgespräche als auch Erstgespräche.
Der Fallmanager
Fallmanager, BEM-Koordinator, Disability Manager – es gibt so viele verschiedene Bezeichnungen. Ich habe mich für die Bezeichnung Fallmanager entschieden, da ich diesen Begriff am passendsten finde (Eingliederungsberater trifft es für mich nicht, da der Begriff die Verkürzung von BEM auf die Wiedereingliederung fördert.)
Einen Ausbildungsberuf Fallmanager gibt es derzeit nicht, lediglich eine Ausbildung zum CDMP (Certified Disability Manager), die von verschiedenen Unternehmen angeboten wird und deren Prüfung die DGUV (Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung) abnimmt. Teil dieser Prüfung ist die Anerkennung und Einhaltung der ethischen Richtlinien, die von jedem Absolventen unterzeichnet werden müssen.4 Außerdem muss jeder CDMPler jedes Jahr weitere Fortbildungstage absolvieren und nachweisen.
Neben dieser Ausbildung gibt es seit einigen Jahren auch akademische Fortbildungen bzw. Studiengänge, die das Betriebliche Eingliederungsmanagement als eigenes Modul aufgenommen haben. Als Beispiel möchte ich die SRH Riedlingen nennen. Der Masterstudiengang Betriebliches Gesundheitsmanagement beinhaltet ein Modul zum Betrieblichen Eingliederungsmanagement mit einem klaren Praxisbezug, das auch als eigene Fortbildung mit Zertifikat absolviert werden kann.5
Durch diese Gespräche konnte viel bewegt werden: Es wurden daraufhin Arbeitsplätze ausgestattet oder angepasst, Aufgabengebiete verändert, Wiedereingliederungen geplant, Umsetzungen vorgenommen, Konflikte gelöst, Schnittstellen geklärt und viele andere Dinge organisiert. Die kleinsten Gesprächsrunden umfassten zwei, die größten elf Teilnehmer. Manche BEM-Berechtigte waren sehr engagiert, andere weniger.
Das BEM hat oft zur Verbesserung der Arbeitssituation beigetragen und ich habe im Verlauf des BEM viel lernen dürfen. Die zahlreichen Fragen in den Prozessen wiederholten sich stetig, sie haben zum großen Teil in diesem Buch Eingang gefunden. Ich hoffe, dass diese Erfahrungen zur Bewältigung der Herausforderungen im BEM beitragen, und wünsche allen Lesern viel Spaß beim Lesen und viel Freude bei der Umsetzung.
1 Im gesamten Text verwende ich überwiegend die männliche Form. Dies dient in erster Linie der Lesbarkeit und Verständlichkeit. Gemeint sind selbstverständlich jeweils Frauen und Männer und Diverse.
2 Resilienz ist die Fähigkeit, gestärkt aus Krisen hervorzugehen.
3 Selbstwirksamkeit ist die Überzeugung, aus eigener Kraft auch große Probleme lösen zu können.
4 Richtlinien zum CDMP – Stand Oktober 2019, 2009, S. 12.
5https://www.mobile-university.de/master-fernstudium/betriebliches-gesundheitsmanagement-msc/, abgerufen am 03.03.2025.
Zum 01.01.2005 wurde ALG II durch das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt6 (»Hartz IV«) eingeführt und hat – wie im zugrunde liegenden Hartz-Konzept von 2002 vorgesehen – die frühere Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe für erwerbsfähige Hilfebedürftige zu einer Grundsicherung für Arbeitsuchende auf dem Leistungsniveau des soziokulturellen Existenzminimums zusammengeführt.
Dadurch ist das Risiko für einen Arbeitnehmer, durch Langzeiterkrankung finanziellen Schaden zu nehmen oder arm zu werden, deutlich gestiegen; insbesondere für Alleinstehende ist das Risiko erheblich. Mit dem Betrieblichen Eingliederungsmanagement gibt es ein Instrument, das den Arbeitgebern die Aufgabe überträgt, frühzeitig gegenzusteuern. Damit sind auf die Arbeitgeber neue Herausforderungen zugekommen, die sehr stark in die Sozialberatung hineingehen. Diese werden oft von Menschen in den Unternehmen übernommen, die mit viel Engagement und Einsatz Menschen mit Erkrankungen dabei unterstützen, im Arbeitsleben bleiben zu können.
In den Unternehmen hat es nach anfänglicher Unsicherheit – steht BEM doch immer wieder in Verdacht, eine personenbedingte Kündigung seitens des Arbeitgebers vorzubereiten – eine Entwicklung in Richtung Professionalisierung gegeben. Unter anderem nimmt die Zahl der Fallmanager, die in den Unternehmen angestellt sind, in den letzten Jahren kontinuierlich zu. Hier wird viel gute Arbeit geleistet, indem BEM als Instrument verstanden wird, das mit einem lösungs- und ressourcenorientierten Blick Menschen den Arbeitsplatz erhält.
BEM ist in den Unternehmen, in denen es angeboten wird, eine feste Säule im Betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM) und hat sich einen Platz neben dem Arbeits- und Gesundheitsschutz und der Betrieblichen Gesundheitsförderung erobert. »Lediglich 40 Prozent der Beschäftigten in Deutschland erhalten ein Angebot zur betrieblichen Wiedereingliederung, wenn sie mehr als sechs Wochen im Jahr arbeitsunfähig waren. Davon nehmen mehr als zwei Drittel (68 %) das Angebot wahr. Dies ergibt eine Auswertung der BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung 2018.«7
Abb. 1:
Haus des BGM (Quelle: Rimbach 2013, eigene Darstellung)
6 BVerfG, 09.02 2010 – 1 BvL 1/09, Rn. 1–220.
7https://www.baua.de/DE/Services/Presse/Pressemitteilungen/2020/11/pm048-20.html, abgerufen am 27.02.2022.
Die Vorschriften zum BEM finden sich im Sozialgesetzbuch § 167 Abs. 2 SGB IX.8 In dem Gesetzbuch mit dem Titel »Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderung« findet sich der folgende Passus zum BEM:
§ 167 Abs. 2 SGB IX Prävention
Sind Beschäftigte innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig, klärt der Arbeitgeber mit der zuständigen Interessenvertretung im Sinne des § 176, bei schwerbehinderten Menschen außerdem mit der Schwerbehindertenvertretung, mit Zustimmung und Beteiligung der betroffenen Person die Möglichkeiten, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann (betriebliches Eingliederungsmanagement). Soweit erforderlich, wird der Werks- oder Betriebsarzt hinzugezogen. Die betroffene Person oder ihr gesetzlicher Vertreter ist zuvor auf die Ziele des betrieblichen Eingliederungsmanagements sowie auf Art und Umfang der hierfür erhobenen und verwendeten Daten hinzuweisen. Kommen Leistungen zur Teilhabe oder begleitende Hilfen im Arbeitsleben in Betracht, werden vom Arbeitgeber die Rehabilitationsträger oder bei schwerbehinderten Beschäftigten das Integrationsamt9 hinzugezogen. Diese wirken darauf hin, dass die erforderlichen Leistungen oder Hilfen unverzüglich beantragt und innerhalb der Frist des § 14 Absatz 2 Satz 2 erbracht werden. Die zuständige Interessenvertretung im Sinne des § 176, bei schwerbehinderten Menschen außerdem die Schwerbehindertenvertretung, können die Klärung verlangen. Sie wachen darüber, dass der Arbeitgeber die ihm nach dieser Vorschrift obliegenden Verpflichtungen erfüllt.
Dieser Absatz ist der eigentliche BEM-Paragraf und gilt, entgegen seiner Überschrift, für alle Beschäftigten.
Mit dem BEM hat der Gesetzgeber ein vorgeschriebenes Verfahren erlassen, das auf die Kooperationsbereitschaft des Arbeitgebers, des berechtigten Arbeitnehmers und aller weiteren Beteiligten angewiesen ist. Das Ziel ist, ein Betriebliches Eingliederungsmanagement zu implementieren und dadurch die erkrankten Beschäftigten dabei zu unterstützen, Arbeitsunfähigkeit zu überwinden, erneuter Arbeitsunfähigkeit vorzubeugen und den Arbeitsplatz zu erhalten. Darüber hinaus besteht für den Arbeitgeber die Pflicht, initiativ zu werden (ArbG10 Berlin am 23.02.2017 54 Ca 12814/16).
Leider oder zum Glück hat der Gesetzgeber viel Gestaltungsspielraum bei der Durchführung des BEM gelassen. Darin liegen Chancen und Risiken zugleich. Chancen, weil die Möglichkeiten und Lösungen nicht limitiert sind, und Risiken, weil es kaum Mindestanforderungen gibt. Neben einer ausführlichen Rechtsprechung wurden und werden daher viele Fragen der Umsetzung direkt in Betrieben durch Betriebsvereinbarungen (BV)11, also eine »von Arbeitgeber und Betriebsrat gemeinsam beschlossene Vereinbarung, für die Arbeitnehmer[innen] eines Betriebes«12 geklärt.
Mit der Einführung von BEM hat der Gesetzgeber eine neue Zielrichtung vorgegeben. Es ist vor allem ein Verfahren »des guten Willens«13 von beiden Seiten. Es geht darum, den Mitarbeiter trotz seiner Erkrankung mit seinen Fähigkeiten und Stärken wahrzunehmen und diese als Basis für einen offenen Suchprozess nach Lösungsmöglichkeiten zu sehen und wertzuschätzen. BEM ist also auf Unterstützung, Hilfe und Erhalt des Arbeitsplatzes ausgelegt14, daneben ist eine potenzialorientierte Betrachtung des BEM-Berechtigten erwünscht, um gute Lösungen zu finden. In einer so ungenauen Gesetzeslage ist dementsprechend der Schutz der Mitarbeiter eher eine »Frage der Ehre« als eine echte Pflicht. Nichtsdestotrotz gibt es in vielen Unternehmen ein sehr gutes BEM.
BEM ist weniger eine genau definierte gesetzliche Vorgabe mit bei Nichteinhaltung strafrechtlich zu verfolgenden Versäumnissen, sondern ein verpflichtendes Verfahren, das auf den guten Willen der Beteiligten angewiesen ist.
BEM ist inzwischen in vielen juristischen Auseinandersetzungen immer weiter geklärt worden und »das Bundesarbeitsgericht hat die kündigungsschutzrechtliche Bedeutung des BEM herausgearbeitet (Vergl. Bundesarbeitsgericht Urteil vom 10.12.2009 – 2 AZR 400/08).«15 BEM ist entgegen allen Gerüchten keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für den Ausspruch einer krankheitsbedingten Kündigung. Stattdessen sollen Maßnahmen gefunden werden, die eine Kündigung unnötig machen (etwa durch technische oder organisatorische Umgestaltung des Arbeitsplatzes). Der Arbeitgeber kann auf diese Verpflichtung nach § 167 Absatz 2 SGB IX vor Ausspruch einer krankheitsbedingten Kündigung verzichten. Er muss dann ggf. beweisen, dass durch das BEM der Arbeitsplatz nicht hätte erhalten werden können. »Das bedeutet, dass ein Arbeitgeber, der vor der krankheitsbedingten Kündigung eines Arbeitnehmers kein BEM durchgeführt hat, einem erheblichen Risiko ausgesetzt ist, einen nachfolgenden Kündigungsschutzprozess zu verlieren.«16
Tipp
Versuchen Sie daher, jeden Arbeitnehmer davon zu überzeugen, am BEM teilzunehmen. Richtig ist, dass durch eine Ablehnung kein sofortiger Nachteil entsteht. Dieser entsteht erst später.
BEM ist keine Voraussetzung für eine Kündigung. Es soll die Kündigung unnötig machen.
Das Krankenrückkehrgespräch erfolgt auf Veranlassung des Arbeitgebers nach der Rückkehr des Mitarbeiters an den Arbeitsplatz. »Aus den Kriterien, die ein Krankenrückkehrgespräch notwendig machen, wird oftmals deutlich, dass Arbeitsunfähigkeit mitunter als ›Blaumachen‹ eingeschätzt wird.«17 Die Teilnahme am Krankenrückkehrgespräch ist für den Mitarbeiter im Rahmen des Direktionsrechtes des Arbeitgebers verpflichtend, obwohl es keine gesetzliche Verpflichtung zur Durchführung des Rückkehrgespräches gibt.18 »Krankenrückkehrgespräche sind Bestandteil des Fehlzeitenmanagements, also Teil einer planvollen Managementstrategie zur Senkung des Krankenstands.«19 Die Gespräche beruhen auf Betriebsvereinbarungen, die in den Unternehmen abgeschlossen werden. »Da Krankenrückkehrgespräche mitbestimmungspflichtig sind, haben Arbeitnehmer das Recht, Kontakt mit dem Betriebsrat aufzunehmen und sich von einem Betriebsratsmitglied begleiten zu lassen – übrigens auch, wenn eine solche persönliche Unterstützung in einer Betriebsvereinbarung nicht ausdrücklich vorgesehen ist.«20 Auch für das Krankenrückkehrgespräch gilt, dass Gesundheits-/Krankheitsdaten im Sinne der EU-DSGVO sog. sensible Daten, einem besonderen Schutz unterliegen. Der Mitarbeiter muss nicht über seine Krankheit sprechen, wird aber in vielen Krankenrückkehrgesprächen genötigt und gedrängt, sich hierzu gegenüber dem Vorgesetzten zu erklären, der wohl in der Praxis keine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnet.
Tipp
Die Empfehlung von Thorsten Blaufelder, Rechtsanwalt für Arbeitsrecht: Arbeitnehmer haben die Pflicht, zum Gespräch anzutreten, könnten aber mit dem Hinweis »Ich möchte nicht über meine Krankheit und deren Ursachen sprechen« das Gespräch nach 30 Sekunden beenden und an ihren Arbeitsplatz gehen.
Das BEM hingegen ist wie benannt ein gesetzlich vorgeschriebenes Verfahren. Die Voraussetzung für das Angebot des Arbeitgebers an den Mitarbeiter, ein BEM-Gespräch zu führen, ist eine sechswöchige Arbeitsunfähigkeit innerhalb von 12 Monaten. Das BEM kann bereits während der Erkrankung starten. Die Teilnahme am BEM ist im Gegensatz zum Krankenrückkehrgespräch grundsätzlich freiwillig.
Krankenrückkehrgespräch
BEM-Gespräch
• Kann vom Arbeitgeber jederzeit nach Rückkehr aus Krankheit mit dem Mitarbeiter geführt werden
Teilnahmepflicht
Ziel ist die Reduzierung der Fehlzeiten
Steigerung der Arbeitsmotivation
Führen der direkte Vorgesetzte und der Mitarbeiter
Disziplinarische und Leistungsprobleme können problematisiert werden
Arbeitgeber kann disziplinarische Möglichkeiten nutzen
Viele Negativbeispiele sind bekannt
Direktionsrecht: Arbeitgeber darf Veränderungen von Aufgaben und Abläufe anweisen
Führungskraft ist »Herr des Verfahrens«
Positiv als »Fürsorgegespräch«
• Gesetzliche Pflicht des Arbeitgebers
Wird vom Arbeitgeber eingeleitet
Teilnahme des Mitarbeiters freiwillig
Soll die Arbeitsunfähigkeit überwinden, erneute Arbeitsunfähigkeit abwenden und den Arbeitsplatz sichern
Beteiligung verschiedener Teilnehmer zur Lösung
Mitarbeiter ist »Herr des Verfahrens«
Verfahren kann jederzeit beendet werden
Tab. 2: Unterschiede Krankenrückkehrgespräch und BEM-Gespräch (Quelle: Stöpel/Lange/Voß 2018)
Beispiel:
In der Firma Besonders Eifrige Mitarbeiter, einem Produktionsunternehmen, werden schon lange Krankenrückkehrgespräche geführt. Diese sind sehr erfolgreich, ist doch die Krankenquote von 5,8 % auf 3,2 % gesunken. Die Gespräche erhielten von Mitarbeitern den Namen »Stasiverhöre«. Der Geschäftsführer ist darauf ein wenig stolz.
Begleiterscheinungen dieser Art von Krankenrückkehrgesprächen sind häufig ein Klima der Angst und viel Präsentismus21. In einem solchen Klima BEM einzuführen, ist – da BEM auf einer Kultur des Vertrauens aufbaut – schwierig und langwierig. Oft sind die Ablehnungsquoten dauerhaft sehr hoch.
Harte Krankenrückkehrgespräche sind daher keine gute Grundlage für die Einführung von BEM.
Eine ideale Ergänzung: Fürsorgegespräche
In manchen Unternehmen werden statt Krankenrückkehrgesprächen Fürsorgegespräche angeboten. Führungskräfte werden darauf geschult, lösungsorientiert22 Gespräche zu führen mit dem Ziel, Maßnahmen zu finden, welche die Arbeitsunfähigkeitszeiten reduzieren. Die Führungskraft verfolgt dabei das Ziel, dem Mitarbeiter den Wiedereinstieg zu erleichtern und über zwischenzeitlich erfolgte Ereignisse zu informieren. Viele Führungskräfte nutzen diese Gespräche, um den Mitarbeiter frühzeitig auf die Möglichkeit hinzuweisen, von sich aus ein BEM einzufordern und damit bereits vor dem Ende der Sechs-Wochen-Frist tätig zu werden.
Es gibt auch Situationen in Unternehmen, wo ein BEM nicht zum gewünschten Ergebnis, nämlich der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses führt. In diesem Fall, der »Ultima Ratio«23, müssen die folgenden Punkte gegeben sein:
Negative Gesundheitsprognose
Entstandene und prognostizierte Fehlzeiten führen zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen oder wirtschaftlichen Belange (BAG, Urteil vom 10.05.1990 – 2 AZR 580/89 EzA KSchG § 1 Krankheit Nr. 31)
Interessenabwägung (BAG, Urteil vom 22.10.2015 – 2 AZR 550/14 NZA-RR 2016, 243)24
Notwendig ist eine negative Prognose des voraussichtlichen Gesundheitszustandes des erkrankten Arbeitnehmers. Es müssen – bezogen auf Kündigungszeitpunkt und bisher ausgeübte Tätigkeit – objektive Tatsachen vorliegen, die auf eine weitere, längere Erkrankung hindeuten. Außerdem müssen die prognostizierten Fehlzeiten mit den zu erwartenden Auswirkungen des Gesundheitszustandes des Arbeitnehmers zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führen – zum Beispiel durch Störungen im Arbeitsablauf oder eine hohe wirtschaftliche Belastung.
Eine Kündigung ist nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz25 des Kündigungsrechts allerdings unverhältnismäßig und damit rechtsunwirksam, wenn sie sich durch weniger drastische Mittel vermeiden lässt. So muss der Arbeitgeber aus mehreren, gleichermaßen geeigneten und zumutbaren Mitteln dasjenige wählen, welches das Arbeitsverhältnis und damit den betroffenen Arbeitnehmer am wenigsten belastet (Interessenabwägung).
»Mit Hilfe des BEM lassen sich diese Mittel erkennen und entwickeln. Eine Kündigung ist nur zulässig, wenn der Arbeitgeber alle Möglichkeiten zu ihrer Vermeidung ausgeschöpft hat. Im Falle einer krankheitsbedingten Kündigung kommt hierbei nicht nur die Weiterbeschäftigung auf einem anderen freien Arbeitsplatz in Betracht. Der Arbeitgeber hat vielmehr alle gleichwertigen, leidensgerechten Arbeitsplätze, auf denen der Arbeitnehmer nach Weisungsrecht einsetzbar wäre, in Betracht zu ziehen und ggf. ›freizumachen‹«.26
Er muss nachweisen, dass es keine anderen Möglichkeiten außer der Kündigung gab. Mit diesen Ausführungen wird klar, wie schwer es für Arbeitgeber geworden ist, krankheitsbedingt zu kündigen.
Beispiel:
Bei den Stadtwerken einer großen deutschen Stadt erzählte der Personalleiter folgende Episode: Die Stadtwerke betreiben eine Tram, die bereits morgens ab 4:30 Uhr fährt. Einer der Fahrer fiel regelmäßig am Montag aus. Dieser Entwicklung haben die Stadtwerke entgegengewirkt, indem an den Montagen ein zweiter Fahrer für die Frühschicht eingeteilt wurde. Im Kündigungsverfahren und dem Kündigungsschutzprozess wurde der Kündigung des häufig ausfallenden Fahrers nicht stattgegeben, weil die Ausfälle ja nicht zu einer Betriebsstörung geführt haben.
Wenn das BEM gar nicht angeboten wird
Nach der Auswertung der BIBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung aus dem Jahr 2018 erhielten trotz der gesetzlichen Regelung nur rund 40 % der potenziell Anspruchsberechtigten ein BEM-Angebot von ihren Arbeitgebern.27 Im Jahr 2018 lag die Annahmequote bei 68 %.
Den anderen Beschäftigten in deutschen Unternehmen wurde vermutlich kein BEM angeboten. Im Jahr 2019 überschritt die Anzahl der Erwerbstätigen erstmals die 45 Millionen-Marke.28 Daraus folgt – falls es nicht zu einer drastischen Verbesserung des BEM-Angebots gekommen ist –, dass ca. 27 Millionen Erwerbstätigen kein BEM angeboten wurde.
Dieses fehlende Angebot bzw. die Unterlassung hat Konsequenzen. Das Betriebliche Eingliederungsmanagement stärkt den Kündigungsschutz zugunsten der BEM-Berechtigten im Krankheitsfall. Zwar ist nach geltender Rechtsprechung das BEM keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für eine Kündigung, aber es konkretisiert und erhöht die Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast des Arbeitgebers im Kündigungsschutzverfahren. Missachtet der Arbeitgeber seiner Pflicht zur Durchführung des Betrieblichen Eingliederungsmanagements, darf er nicht pauschal behaupten, es bestünden keine alternativen Beschäftigungsmöglichkeiten. Von Arbeitgeberseite muss dadurch umfassend und konkret vorgetragen werden, warum auf dem bisherigen Arbeitsplatz keine Beschäftigungsmöglichkeit mehr besteht, eine leidensgerechte Anpassung des Arbeitsplatzes ausgeschlossen, ein alternativer Arbeitsplatz bei geänderter Tätigkeit nicht verfügbar und Kündigung somit unvermeidbar ist (LAG Berlin, Urteil vom 27.10.2005, Aktenzeichen 10 Sa 783/05, BAG, Urteil vom 12.07.2007, Aktenzeichen 2 AZR 716/06).29
Tipp
Besprechen Sie Ihr Vorgehen bei Kündigungen im Zusammenhang mit Erkrankungen mit Ihrem Juristen.
8 Auf die Absätze 1 und 3 wird hier nicht weiter eingegangen.
9 Heute Inklusionsamt.
10 Danke, Herr Blaufelder!
11 Im öffentlichen Dienst heißen diese Vereinbarungen Dienstvereinbarung (DV).
12https://www.duden.de/rechtschreibung/Betriebsvereinbarung, abgerufen am 02.05.2020.
13 Riechert/Habib, BEM bei Mitarbeitern mit psychischen Störungen, S. 14.
14 Ebd.
15https://www.bmas.de/DE/Themen/Arbeitsschutz/Gesundheit-am-Arbeitsplatz/betriebliches-eingliederungsmanagement.html, abgerufen am 10.11.2019.
16 Ebd.
17 Ebd.
18https://www.gesundheitsmanagement24.de/praxisleitfaden-checklisten/praxisleitfaden-krankenrueckkehrgespraeche/, abgerufen am 11.05.2020.
19 Kiesche, 2011, S. 7.
20 Hövel/Tominschek/Zäuner, 2012, S. 32.
21 Mit Präsentismus ist das Phänomen gemeint, dass Mitarbeiter trotz Krankheit an den Arbeitsplatz kommen.
22 Unter Lösungsorientierung wird dabei verstanden, den Fokus auf die Zukunft zu richten ist und konstruktiv eine oder mehrere Lösungen/Maßnahmen zu entwickeln.
23 Letztes geeignetes Mittel.
24 Beseler, 2019, S. 127–135.
25 BAG, Urteil vom 20.11.2014 – 2 AZR755/13, NZA 2015, 612.
26http://www.angela-huber.de/bemerkenswert/bem-in-der-praxis-krankheitsbedingte-kuendigung-und-bem, abgerufen am 10.11.2019.
27 Wrage/Sikora, 2020, S. 36–37,.
28https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1376/umfrage/anzahl-der-erwerbstaetigen-mit-wohnort-in-deutschland/, abgerufen am 03.03.2025.
29https://www.ihk.de/darmstadt/produktmarken/recht-und-fair-play/arbeitsrecht/kuendigung/kuendigen-von-mitarbeitern/kuendigung-wegen-krankheit-ohne-eingliederungsmanagement-2564062, abgerufen am 03.03.2025.
»Das Kündigungsschutzgesetz sieht in § 1 Abs. 1 vor, dass der Schutz erst greift, wenn das Arbeitsverhältnis länger als sechs Monate ohne Unterbrechung bestanden hat. Bei dieser Zeitspanne handelt es sich um eine Art Wartezeit, bis der volle Kündigungsschutz greift.«30
Während der Probezeit muss eine Kündigung nicht sozial gerechtfertigt sein, d. h., dass Arbeitgeber nur ein Mindestmaß an Kündigungsschutz beachten müssen. Dazu zählt das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG)31. Außerdem ist der Betriebsrat anzuhören.
Nach Ablauf der Probezeit (Wartezeit) kann eine wirksame Kündigung nur nach den Regeln des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) ausgesprochen werden, sie muss sozial gerechtfertigt sein, das heißt, es müssen personenbedingte, betriebsbedingte oder verhaltensbedingte Gründe für eine Kündigung vorliegen.
30https://www.anwalt.de/rechtstipps/bem-bei-der-probezeitkuendigung-224546.html, abgerufen am 03.03.2025.
31https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/AGG/agg_gleichbehandlungsgesetz.pdf?__blob=publicationFile, abgerufen am 07.03.2025.
Eine objektive Schwerbehinderung liegt vor, wenn die zuständige Behörde einen Grad der Behinderung von mindestens 50 festgestellt hat, die Schwerbehinderung offensichtlich ist oder ein Gleichstellungsbescheid der Agentur für Arbeit vorliegt. Der Grad der Behinderung ist ein Maß für die Auswirkungen der Beeinträchtigung auf die Teilhabe am Leben der Gesellschaft.
Nach deutschem Recht ist für die Kündigung von Schwerbehinderten und gleichgestellten Beschäftigten innerhalb einer sechsmonatigen Probezeit keine soziale Rechtfertigung und keine Zustimmung des Integrationsamts erforderlich. Die Kündigung musste bisher dem Integrationsamt durch den Arbeitgeber angezeigt werden.
Im Rahmen einer EuGH-Entscheidung (EuGH, Urteil vom 10.02.2022 in der Rechtssache C‑485/20) wurden die Rechte von Schwerbehinderten gestärkt, mit Auswirkungen auf das deutsche Kündigungsrecht.
Arbeitgeber sollten bei einer geplanten Probezeitkündigung von Mitarbeitenden mit Behinderung bereits während der Probezeit ein Präventionsverfahren starten, um eine Kündigung zu vermeiden. Unter Umständen muss Mitarbeitenden mit Behinderung vor einer Kündigung auch ein anderer Arbeitsplatz angeboten werden.32
32https://www.haufe.de/personal/arbeitsrecht/kuendigung-schwerbehinderter-was-zu-beachten-ist_76_440356.html, abgerufen am 07.03.2025.
Unterliegt das Unternehmen dem Kündigungsschutzgesetz, beschäftigt es mehr als zehn Vollzeitmitarbeiter und der Mitarbeiter, dem gekündigt werden soll, ist länger als sechs Monate durchgehend dort beschäftigt, muss das Unternehmen einen Grund für die Kündigung angeben. Damit sind die Chancen auf eine Abfindung, wenn ein BEM durchgeführt wurde, gut.
Alle Voraussetzungen für eine krankheitsbedingte Kündigung, die oben genannt wurden, gelten weiter.
»Deutliche Abstriche bei der Abfindung muss der Arbeitnehmer allerdings machen, wenn er wegen einer schweren, chronischen Krankheit bereits sehr lange fehlt und sich nicht mehr vorstellen kann, auf den Arbeitsplatz zurückzukehren.«33
Dies ist für jeden Arbeitnehmer ein kaum aufzulösendes Dilemma: Kündigt er während der Krankheit, ist die Chance auf eine Abfindung gegeben. Nach dem Ende der Krankheit gibt es aber keinen Arbeitgeber und keine Stelle. Kündigt er nicht und kann aus gesundheitlichen Gründen nicht beim alten Arbeitgeber bleiben, bekommt er kaum eine Abfindung.
Tipp
Hier kann eine Beratung durch einen Anwalt helfen.
33https://www.anwalt.de/rechtstipps/krankheitsbedingte-kuendigung-wann-hat-der-arbeitnehmer-gute-chancen-auf-eine-abfindung-198131.html, abgerufen am 26.02.2022.
Im BEM gibt es grundlegende Prinzipien, die immer zu beachten sind. Diese sind nicht als Grundprinzipien von einer bestimmten Stelle ausformuliert, sie ergeben sich vielmehr aus dem § 167 Absatz 2, SGB IX, und den entsprechenden Gerichtsurteilen, die dazu gesprochen wurden. Diese Grundprinzipien sind:
»Freiwilligkeit
Transparenz«34
Schweigepflicht
Datenschutz
Das BEM findet ausschließlich auf freiwilliger Basis, also nur mit Einwilligung des BEM-Berechtigten, statt. Es ist ein Angebot des Arbeitgebers. Dies kann abgelehnt, angenommen oder abgebrochen werden – ohne eine direkte Konsequenz für den BEM-Berechtigten. Das Gleiche gilt für Maßnahmen im BEM.
In nicht wenigen Unternehmen werden BEM-Gespräche von den direkten Vorgesetzten des BEM-Berechtigten geführt. Hier gibt es sehr große Unterschiede in der Qualität der Beziehung von BEM-Berechtigten und Führungskraft. Einige haben ein vertrauensvolles Verhältnis und die BEM-Berechtigten bestehen sogar darauf, ein Gespräch mit der eigenen Führungskraft zu führen. Bei anderen ist gerade dieses Verhältnis belastet. Die Freiwilligkeit des BEM-Berechtigten schwindet leider oft mit der Größe der Hierarchieunterschiede.
Da das BEM dem Arbeitgeber als Verpflichtung übertragen wurde, hat er immer das Recht, beim Gespräch anwesend zu sein. Ob dies nun aber in der Funktion des Vorgesetzten, Abteilungsleiters, Produktionsleiters, Personalreferenten oder Fallmanagers ist, kann und darf der BEM-Berechtigte im Rahmen der Freiwilligkeit entscheiden.
Tipp
Geben Sie dem BEM-Berechtigten die Möglichkeit, die Gesprächsteilnehmer selbst auszuwählen.
Transparenz ist eine gute Möglichkeit, dem Mitarbeiter die Sicherheit zu geben, dass er »Herr des Verfahrens« ist. Der BEM-Berechtigte ist in alle Prozesse, Entscheidungen und Schritte einzubeziehen und muss diesen zustimmen.35
Tipp
Das Einsetzen eines »neutralen« Fallmanagers, der über alle Schritte informiert ist und der zum BEM-Berechtigten Kontakt hält, kann hier gute Dienste leisten.
Die Schweigepflicht ist elementar für den Erfolg von BEM. Eine Verletzung derselben schadet dem Prozess grundsätzlich. Daher muss jeder Teilnehmer am BEM vorab eine Erklärung zur Schweigepflicht unterzeichnen.
Für die Teilnehmer des BEM-Teams, die einem Katalogberuf wie Betriebsarzt, Psychologe, Sozialpädagoge etc. angehören, ist es nicht nötig, die Schweigepflichterklärung zu unterzeichnen. Sie sind nach § 203 StGB »Verletzung von Privatgeheimnissen« bereits grundsätzlich zum Schweigen verpflichtet und machen sich bei Verletzungen strafbar.36 Für alle anderen gilt dies nicht.
Tipp
Lassen Sie zu Beginn jedes BEM-Verfahrens und immer, wenn ein neuer Teilnehmer in das BEM-Team kommt, eine Schweigepflichterklärung von allen Beteiligten (außer den Katalogberufen) unterzeichnen.
Datenschutz ist Persönlichkeitsschutz und gesundheitsbezogene Daten sind besonders schützenswerte Daten. Jeder, der am BEM-Verfahren teilnimmt, muss daher wie soeben benannt eine Schweigepflichterklärung unterzeichnen. Der Zugang zu den BEM-Akten unterliegt strengen Datenschutzregeln.
Befolgen Sie das Prinzip der Datensparsamkeit und halten Sie die Teilnehmerzahl im BEM immer möglichst gering.
Tipp
Fragen Sie auch Ihren Datenschutzbeauftragten, insbesondere hinsichtlich der neuesten Vorgaben zum Datenschutz.
Mit der Neufassung der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) ist die Erhebung personenbedingter Daten nur mit ausdrücklicher Einwilligung der Person möglich (Artikel 9 EU DSGVO):
»Datenschutzrechtliche Einwilligung
Die Daten dürfen nur erhoben werden, wenn die betroffene Person ausdrücklich ihre Einwilligung dazu gegeben hat. Dabei ist Folgendes nach § 26 Absatz 1 und 1 BDSG nF zu beachten:
Die Einwilligung muss freiwillig erfolgen.
Die Einwilligung muss schriftlich erfolgen.
Die betroffenen Daten und der Verwendungszweck müssen präzise benannt werden.
Die betroffene Person kann die Einwilligung jederzeit widerrufen. Auf dieses Recht muss die erhebende Stelle hinweisen.
Es gilt ein Kopplungsverbot. So darf zum Beispiel der Abschluss eines Vertrages nicht von einer Datenbereitstellung, die über den Vertragszweck hinausgeht, abhängig gemacht werden.«37
»Alle öffentlichen Stellen müssen einen Datenschutzbeauftragten benennen.«… »Bei den nichtöffentlichen Stellen hängt die Verpflichtung zur Bestellung des Beauftragten von der Zahl der in der Regel mit der automatisierten Verarbeitung personenbezogener Daten beschäftigten Personen ab. § 38 Absatz 1 BDSG legt hierbei eine Grenze von zwanzig Personen fest. Die freiwillige Bestellung eines Datenschutzbeauftragten ist immer möglich.«38
Digitale Extras
Unter »Digitale Extras« finden Sie eine Schweigepflichterklärung für alle Teilnehmer im BEM-Team.
34 Habib/Riechert, 2017, S. 15.
35 Habib/Riechert, 2017, S. 16.
36 Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__203.html, abgerufen am 10.11.2019.
37 LVR, Wallmann/Wieland/Beyer, 2017, S. 35.
38 BfDI, 2020, S. 42.
Beispiel:
In der Besonders Eifrige Mitarbeiter GmbH arbeitet Herr Sonnenschein, 33 Jahre alt, kein GdB39, als Sachbearbeiter. Er bekommt eine Einladung zum BEM-Gespräch. In diesem erläutert er, dass er sich in einem Einzelbüro wohler fühlen würde. Ein Attest, das diesen Bedarf bestätigt, kann er leider nicht vorweisen. Die Begutachtung durch den Betriebsarzt führt ebenfalls nicht zu dem Ergebnis, dass ein Einzelbüro medizinisch notwendig ist. Damit kann, zumindest im Rahmen von BEM, kein Einzelbüro gewährt werden.
Weisen Sie auf die Grenzen des BEM hin: BEM ist eine Aufgabe, die der Gesetzgeber dem Arbeitgeber übertragen hat, mit den Zielen:
»die Überwindung der Arbeitsunfähigkeit,
die Vorbeugung vor erneuter Arbeitsunfähigkeit und
die Erhaltung des Arbeitsplatzes.«40
Die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit, die oft als Ziel formuliert wird, ist hier ausdrücklich nicht erwähnt und fällt in den Bereich der medizinischen Behandlung. Gemeint ist vermutlich das Folgende:
»Juristisch ist das letzte Ziel [die Erhaltung des Arbeitsplatzes] etwas ungenau formuliert; es geht nicht um den konkreten Arbeitsplatz, sondern um die Erhaltung des Arbeitsvertrags, denn auch eine sinnvolle Versetzung kann zur Stabilisierung des Arbeitsvertrags beitragen.«41
Im BEM geht es also lediglich um die gesundheitlichen Fragen bzw. darum, die Arbeitsaufnahme zu ermöglichen, und nicht darum, die Arbeitsbedingungen zu verbessern. BEM ist keine Wellness-Veranstaltung!
Abb. 2:
Grenzen des BEM
Wer hat ein Recht auf BEM?
Gemäß § 167 Abs. 2 SGB IX gilt BEM für alle Unternehmen und für alle Beschäftigten. Lediglich bei Mitarbeitern, deren Arbeitsverhältnis befristet ist und bei denen aus diesem Grund die Umsetzung von Maßnahmen nicht möglich ist, muss BEM nicht angeboten werden.
Durch Betriebsvereinbarungen werden auch Führungskräfte häufig ausgeschlossen. Der Führungskräftesprecher kann für die Führungskräfte eine eigene BEM-Vereinbarung aushandeln oder sich an die geschlossene Betriebsvereinbarung/Dienstvereinbarung anschließen. Die Erfahrung zeigt, dass die Zahl der Führungskräfte zunimmt, die von sich aus ein BEM fordern.
Obwohl der § 167 Abs. 2 SGB IV eine Verpflichtung des Arbeitgebers enthält, bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen ein Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) durchzuführen, stellt dies nach einem Urteil des LAG Nürnberg vom 08.10.2020 keinen einklagbaren Anspruch des Arbeitnehmers dar.42
»Wendet sich der Arbeitnehmer dagegen an den Betriebs- oder Personalrat und bittet diesen um Unterstützung, können diese Gremien ihr Initiativrecht ausüben und ein BEM-Verfahren erzwingen.«43
39 Grad der Behinderung – dieser Grad gibt Auskunft über die Fähigkeit eines Menschen, sein Leben alleine zu bewältigen. Er wird nach einem Antrag beim Versorgungsamt vergeben und gibt Informationen über den Zugang zu Unterstützungsmöglichkeiten und Erleichterungen, wie z. B. 5 Tage zusätzlicher Urlaub bei einem GdB von 50.
40 Beseler, 2019, S. 13.
41 Stöpel/Lange/Voß/Kohte, 2018, S. 39.
42 LAG Nürnberg, Urteil vom 08.10.2020, Az: 5 Sa 117/20.
43https://www.haufe.de/arbeitsschutz/recht-politik/ein-bem-kann-nicht-eingeklagt-werden_92_538352.html, abgerufen am 02.01.2022.
»Ein erfolgreiches BEM entlastet die Sozialkassen (etwa durch die Vermeidung von Krankengeldzahlungen oder Erwerbsminderungsrenten) und kann einen Beitrag dazu leisten, die Beschäftigungsfähigkeit insbesondere älterer oder chronisch kranker Menschen dauerhaft zu sichern.«44 Aber nicht nur die Sozialkassen profitieren von einem erfolgreichen BEM, auch die beiden beteiligten Parteien – Unternehmen und Arbeitnehmer – können dadurch nur gewinnen.
Für den Arbeitgeber rechnet sich BEM, weil es die Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Beschäftigten fördert, Fehlzeiten verringert bzw. verkürzt und damit Personalkosten senkt. »So geben die Handwerkskammern je nach Handwerk und Betriebsgröße die Kosten für einen AU-Tag mit 200 bis 400 EUR an.«45 Damit ist jeder Tag, den ein Mitarbeiter an seinem Arbeitsplatz tätig ist, für Unternehmen bares Geld wert.
Arbeitsunfähigkeit verursacht hohe Kosten
Durch Arbeitsunfähigkeitszeiten entstehen Unternehmen in Deutschland hohe Kosten: Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) schätzt seit 1994 die volkswirtschaftlichen Produktionsausfälle durch Arbeitsunfähigkeit (AU). Mit einer durchschnittlichen Arbeitsunfähigkeit von 17,2 Tagen je Arbeitnehmer ergaben sich im Jahr 2016 insgesamt 674,5 Millionen Arbeitsunfähigkeitstage. Ausgehend von diesem Arbeitsunfähigkeitsvolumen schätzt die BAuA die volkswirtschaftlichen Produktionsausfälle auf insgesamt 75 Milliarden Euro bzw. den Ausfall an Bruttowertschöpfung auf 133 Milliarden Euro.46
In Zeiten des Fachkräftemangels und des fortschreitenden demografischen Wandels, Stand 24.10.2022, gehen bis 2036 ca. 19,5 Millionen Menschen in Rente und verlassen den Arbeitsmarkt47. Damit ist das BEM aber auch ein wichtiges Instrument, um das krankheitsbedingte vorzeitige Ausscheiden von – insbesondere schwer ersetzbaren – Beschäftigten aus dem Unternehmen zu verhindern.
Hier ein Blick auf die Entwicklung der psychisch bedingten Arbeitsunfähigkeit in den letzten Jahren:
»Innerhalb von 10 Jahren hat sich die Zahl der Krankentage wegen psychischer Probleme in Deutschland mehr als verdoppelt: Anstieg von 48 Millionen (2007) auf 107 Millionen (2017).
Der wirtschaftliche Schaden hat sich von 12,4 Milliarden auf 33,9 Milliarden Euro fast verdreifacht.
Im gleichen Zeitraum ist das Krankengeld auf über 14 Milliarden angestiegen.«48
»Für die betroffenen Beschäftigten selbst ist BEM ein Angebot, das vor Arbeitslosigkeit oder Frühverrentung schützen kann. Beim BEM wird oftmals im Laufe des Verfahrens eine angemessene Beschäftigungsmöglichkeit entdeckt und es werden Hilfen ausfindig gemacht, mit denen die Arbeitsunfähigkeit überwunden und damit die (Weiter-)Beschäftigung gesichert werden kann.«49 Somit kann vermieden werden, dass den BEM-Berechtigten durch Arbeitsunfähigkeit hohe Verdienstausfälle entstehen.
Zwar erfolgt in den ersten 6 Wochen einer Erkrankung durch den Arbeitgeber die Lohnfortzahlung, die dem Nettogehalt entspricht. Danach aber erhalten arbeitsunfähige Mitarbeiter, die gleichzeitig Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung sind, lediglich Krankengeld (wegen derselben Krankheit für längstens 78 Wochen innerhalb von je 3 Jahren (Blockfrist), gerechnet vom Tag des Beginns der Arbeitsunfähigkeit an, vgl. § 48 Abs. 1 SGB V). Das Krankengeld wird in Höhe von 70 Prozent des Regelentgeltes, maximal in Höhe von 90 Prozent des Nettoentgeltes geleistet (§ 47 SGB V). Nach dem Ende des Krankengeldes bekommen »Berufliche Rehabilitanden« oder »dauerhaft leistungsgeminderte Arbeitnehmer«, so werden Beschäftigte, die aus gesundheitlichen Gründen ihre alte Tätigkeit nicht mehr ausüben können, im Rahmen der Nahtlosigkeitsregelung (§ 145 SGB III), Arbeitslosengeld I.
»Das Arbeitslosengeld nach der Sonderregelung soll danach insbesondere die Sicherungslücke abdecken, die zwischen dem Auslaufen des Krankengeldes und der Bewilligung einer Rente wegen Erwerbsminderung entstehen kann. Ein Anspruch auf Arbeitslosengeld kann dabei auch bestehen, wenn das Arbeitsverhältnis noch formal fortbesteht.«50
Wichtig für die Beschäftigten ist die Tatsache, dass das Arbeitsverhältnis fortbesteht. Gelegentlich wird vonseiten der Arbeitsagentur verlangt, dass sich der Arbeitnehmer arbeitslos meldet. Dies tangiert das ruhende Arbeitsverhältnis nicht, dient aber dazu, das Arbeitslosengeld zu erhalten.
Dieses Thema ist jedoch sehr speziell und kann das Wissen der Fallmanager übersteigen.
Tipp
Es empfiehlt sich für die Arbeitnehmer in einer solchen Situation eine Mitgliedschaft und Beratung durch den Sozialverband VdK e. V. (siehe 3.5.2).
Fazit
Rein rechnerisch haben sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer ein Interesse an den positiven Auswirkungen des BEM. BEM kann den Arbeitnehmern Einkommen erhalten und den Arbeitgebern Kosten sparen.
44https://www.bmas.de/DE/Themen/Arbeitsschutz/Gesundheit-am-Arbeitsplatz/betriebliches-eingliederungsmanagement.html, abgerufen am 10.11.2019.
45 BAuA 2007, S. 17.
46https://www.baua.de/DE/Themen/Arbeitswelt-und-Arbeitsschutz-im-Wandel/Arbeitsweltberichterstattung/Kosten-der-AU/Kosten-der-Arbeitsunfaehigkeit_node.html, abgerufen am 07.11.2019.
47https://www.tagesschau.de/wirtschaft/arbeitsmarkt/babyboomer-rente-arbeitnehmer-100.html, abgerufen 05.01.2025.
48https://www.salubris.de/10-thesen-zur-coronakrise-und-das-homeoffice-paradox, abgerufen am 26.02.2022.
49http://www.bmas.de/DE/Themen/Arbeitsschutz/Gesundheit-am-Arbeitsplatz/betriebliches-eingliederungsmanagement.html, abgerufen am 10.11.2019.
50https://www.haufe.de/recht/deutsches-anwalt-office-premium/nahtlosigkeitsregelung_idesk_PI17574_HI1481825.html, abgerufen am 12.02.2022.
18 Jahre nach der Einführung des § 167 Abs. 2 SGB IX gibt es immer noch Unternehmen, die das BEM nicht eingeführt haben. Dafür mag es gute Gründe geben. So ist es aus Sicht der Unternehmensleitung ein langwieriger und teurer Prozess, bis BEM wirklich gut funktioniert, und es ging ja bisher auch so. Manchmal hört man Sätze wie: »Unsere Belegschaft ist noch so jung, wir brauchen das nicht«, oder: »Dafür sind wir doch zu klein«, oder: »Wir haben nur Büroarbeitsplätze.« Vonseiten der Arbeitnehmervertretung ist ein nicht eingeführtes BEM vielleicht sogar gern gesehen, da so personenbedingte Kündigungen vor Gericht mehrheitlich vermieden werden können.
Selbst wenn die Kosten auf den ersten Blick geringer sind, die Zeit eingespart wurde und die Arbeitnehmervertreter sich über vermiedene Kündigungen freuen: Es gibt einige triftige Gründe, BEM durchzuführen. Nachfolgend finden Sie einen Blick auf die Dinge, die BEM leisten kann, wenn es gut und mit dem Fokus auf Lösungsorientierung ein- und durchgeführt wird.
»Erfahrene, eingearbeitete und wertvolle Mitarbeiter«51 können dem Betrieb durch Maßnahmen und Hilfen erhalten bleiben.
Durch gut geplante Wiedereingliederungen verkürzen sich Arbeitsunfähigkeitszeiten.
Erfolgreiche Wiedereingliederungen steigern das Gefühl von Selbstwirksamkeit bei den vormals Erkrankten.
Ein Gefühl von Zugehörigkeit entsteht, weil alle Mitarbeiter die Unterstützung als Wertschätzung betrachten.
Fehlzeiten sinken oder stabilisieren sich.
»Kostenersparnisse durch Kooperationen mit sozial- und gesundheitsorientierten Institutionen«52 werden erzielt.
Die Prävention verbessert sich durch Aufnahme der Evaluationsergebnisse in das BGM.
Der Nutzen rechtfertigt also durchaus ein wenig Aufwand.
BEM nach § 167 Abs. 2 SGB IX ist »auf alle Betriebsgrößen und alle Rechtsformen anzuwenden […]. Dies schließt alle Unternehmensgrößen vom Drei-Personen-Handwerksbetrieb bis hin zum Großkonzern oder auch einen kirchlichen Kindergarten mit ein.«53
In der Praxis gibt es immer noch eine überwältigende Menge an Unternehmen, die BEM nicht anbieten. Sollte dies der Fall sein, haben (schwerbehinderte) Beschäftigte nicht das Recht, ein BEM einzufordern. Dieses Recht hat nur die Interessenvertretung, wurde vom BAG im Jahr 2022 (Az. 4 Ca 378/20) entschieden. Soweit die Rechtsprechung. In der Praxis ist es immer noch empfehlenswert, auf den Vorgesetzten oder das Unternehmen zuzugehen und nach einem Gespräch zu fragen. Wenn es keine Interessenvertretung gibt, so gibt es doch häufig andere Ansprechpartner. Ein Termin beim Betriebsarzt kann hier helfen.
BEM gem. § 167 Abs. 2 SGB IX muss jeder Arbeitgeber anwenden, egal bei welcher Betriebsgröße oder Rechtsform.
BEM als Managementsystem
»Es gibt keine genaue Richtgröße, ab der man sagen kann, dass BEM als Managementsystem durchgeführt werden muss oder soll«.54 Unter Managementsystem wird im BEM ein festgelegter, standardisierter Prozessablauf verstanden. Die Ansprechpartner und Akteure sind bekannt und es muss nicht bei jedem neuen BEM-Fall entschieden werden, wie das Unternehmen vorgeht.55 Das Gesetz ist bei dieser Entscheidung wenig eindeutig. Ob BEM als Managementsystem für das Unternehmen Sinn macht oder ob man besser jeden »Fall individuell, ggf. unter Hinzuziehung externer Fallmanager«56 betrachtet, kann mit den folgenden Fragen besser beantwortet werden:
»Wie viele Beschäftigte hat das Unternehmen?
Wird das BEM nur für einen oder für alle Standorte gelten?
Wie viele Standorte hat das Unternehmen?
Wie ist die geografische Verteilung?
Sind die Tätigkeitsfelder der einzelnen Standorte ähnlich?
Hat jeder Standort eine eigene Personalleitung bzw. -abteilung als auch eine eigene Interessenvertretung?
Wird von der Unternehmensleitung eine einheitliche Regelung für alle Unternehmensteile gewünscht?«57
Eine bestimmte Systematik »bedeutet lediglich, dass im Unternehmen ein Prozessablauf fest vereinbart wird, den betroffene Mitarbeiter jeweils durchlaufen«.58 So, wie er heute in den meisten Unternehmen vorzufinden ist – mit Einladung zum Informationsgespräch, BEM im engeren Sinne, internen und externen Netzwerken, Evaluation etc. –, war nicht von Beginn an vorgesehen, sondern hat sich im Laufe der Zeit entwickelt.59
Für kleine und mittlere Unternehmen ist normalerweise ein Von-Fall-zu-Fall-BEM ausreichend. Laut den Handlungsempfehlungen zum BEM vom Landschaftsverband Rheinland (LVR) ist die Implementierung des BEM als Managementsystem in Projektform erst ab einer Unternehmensgröße von mehr als 200 Mitarbeitern sinnvoll.60 Betrachtet man den Aufwand und die Kosten, erscheint dies durchaus eine angemessene Größe. Der LVR stellt außerdem fest, dass in kleinen und mittleren Unternehmen oft allein die gut strukturierte Umsetzung des BEM im Einzelfall und die Inanspruchnahme der Unterstützung externer Hilfen reichen.61 Externe Hilfen sind in diesem Kontext die Kostenträger und deren Vertreter, wie Inklusionsamt, Integrationsfachdienst oder die Deutsche Rentenversicherung. Dies spart Ressourcen und genügt den gesetzlichen Anforderungen.62 Dabei sind z. B. der aktuelle Krankenstand oder auch die Ausgestaltung der Arbeitsplätze zu berücksichtigen.
Wichtig
Auch wenn es keine Interessenvertretung gibt, muss ein BEM angeboten werden. Wenn ein ungeregeltes BEM angeboten wird, hat die Interessenvertretung nur ein Informations- und Kontrollrecht.63
Daneben kann es für kleinere Unternehmen sinnvoll sein, das BEM an externe Dienstleister zu vergeben. Diese nehmen dem Unternehmen viel Organisation ab und führen das BEM rechtskonform durch.
Wie soeben ausgeführt, ist ab einer bestimmten Betriebsgröße ein BEM-Managementsystem effektiver und effizienter als eine Von-Fall-zu-Fall-Lösung. Ein BEM-Managementsystem einzuführen bedeutet lediglich, einen standardisierten Prozessablauf fest zu vereinbaren, den BEM-Berechtigte jeweils durchlaufen. Ansprechpartner und Verantwortliche im Prozess werden benannt und sind bekannt, sodass dies nicht in jedem Einzelfall neu besprochen werden muss. Die Gleichbehandlung der Mitarbeiter kann auf diese Art leichter sichergestellt werden und den BEM-Beteiligten bietet sich die Möglichkeit, durch praktisches Tun mehr Erfahrung und Wissen zu erwerben, um sich im Prozess besser und sicherer zu bewegen und allen Beteiligten gleich gerecht zu werden.
Gemäß den betrieblichen Erfahrungen kann davon ausgegangen werden, dass mindestens 10 bis 15 % der Belegschaft jährlich die BEM-Kriterien erfüllen. Damit kommt man bei einer Unternehmensgröße von 500 Mitarbeitern auf ca. 50 bis 75 BEM-Fälle, die Anspruch auf BEM haben. (Ob sie es in Anspruch nehmen, ist eine andere Frage.) Dies ist in jedem Fall eine Zahl, bei der sich ein eigenes BEM-Managementsystem lohnt. Was die Erhebung der AU-Tage und das damit verbundene BEM-Angebot betrifft, so kann man bereits ab 100 Mitarbeitern (entspricht ca. 10 bis 15 BEM-Berechtigten jährlich) ein daran angepasstes Managementsystem einführen.64
Wichtig
Sobald der Arbeitgeber ein systematisches BEM-Verfahren durchführen möchte, angefangen von einem Serienbrief bis hin zur Checkliste, fällt dieses Managementsystem unter die Mitbestimmungsrechte der Interessenvertretung65 nach § 87 Abs. 1 BetrVG66.
Bereits ab 2005 haben die großen Krankenkassen und andere Rehabilitationsträger begonnen, zumindest fallweise Case-Manager mit der Unterstützung ihrer Versicherten zu beauftragen. Deren Aufgabe besteht darin, für Mitarbeiter, die meist schon im Krankengeldbezug sind, ein BEM zu organisieren und zu begleiten. Wenn die Versicherten mit der Durchführung des BEM einverstanden sind, muss das Unternehmen mitmachen. Dieses »Angebot« der Krankenkassen wird von Unternehmen allerdings in der Regel als störend wahrgenommen, weil sich jemand ungebeten von außen in die internen Angelegenheiten »einmischt«.
Daneben sind es die Rentenversicherung, die Berufsgenossenschaft, der Betriebsarzt, eine Rehaklinik oder der Rechtsanwalt, die Unternehmen auffordern, ein BEM-Verfahren zu beginnen. Rechtsanwälte sind nicht in jedem Unternehmen als Beteiligte im BEM willkommen. Auch ist ihre Anwesenheit nicht immer ein Indiz für den Wunsch nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses.
51 Richter, 2014, S. 16.
52 Ebd.
53 Althoff/Frobel/Klaesberg/Tinnefeld/de Wall-Kaplan, S. 27.
54 Ebd.
55 Ebd.
56 Ebd.
57 Ebd.
58 Ebd., S. 28.
59 Ebd., S. 27.
60 LVR, Wallmann/Wieland/Beyer, 2017, S. 55.
61 Ebd.
62 Ebd.
63 Beseler, 2019, S. 125.
64 Althoff/Frobel/Klaesberg/Tinnefeld/de Wall-Kaplan, 2016, S. 28.
65 Ebd., S. 29.
66 Beschluss vom 15.01.2013 – TaBV 13/11, juris.
Die Sinnhaftigkeit einer Einführung von BEM unterstreichen die folgenden Ausführungen von Prof. em. Dr. Wolfhard Kohte von der juristischen und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er hat die Anforderungen an ein BEM in einer Anmerkung zum BAG-Urteil vom 10.12.2009 2 AZR 400/08 in folgenden Orientierungssätzen zusammengefasst und konkretisiert:
»Den Arbeitgeber, der kein Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) nach § 84 Abs. 2 SGB IX67 durchführt, treffen erhöhte Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast im Kündigungsschutzprozess. Das Gleiche gilt, wenn der Arbeitgeber ein Verfahren durchgeführt hat, das nicht den gesetzlichen Mindestanforderungen entspricht.
Das BEM ist ein rechtlich regulierter Suchprozess, mit dem der Anpassungs- und Änderungsbedarf der betroffenen Arbeitsplätze ermittelt und realisiert werden soll.
Für ein ordnungsgemäßes BEM-Verfahren ist es erforderlich, dass alle zu beteiligenden Stellen, Ämter und Personen einbezogen werden, dass keine vernünftigerweise in Betracht zu ziehende Möglichkeit ausgeschlossen wird und in dem die von den Teilnehmern eingebrachten Vorschläge sachlich erörtert werden.
Kein ordentliches BEM Verfahren ist,
wenn der Betroffene nicht die schriftliche Zustimmung zum BEM erteilt hat,
wenn nur der BEM-Beauftragte des Arbeitgebers das BEM-Gespräch führt, ohne Beteiligung des Betriebsrates und somit der betriebliche Sachverstand nicht einbezogen wurde,
wenn das BEM-Gespräch als Fehlzeiten- oder Krankenrückkehrgespräch missbraucht wird,
wenn der Fall nicht von allen Seiten betrachtet wird und die Vorstellungen der Berechtigten nicht ernsthaft behandelt werden,
wenn das, was einvernehmlich im BEM-Gespräch beschlossen und betrieblich möglich ist, nicht umgesetzt wird.
Der Arbeitgeber muss die Initiative ergreifen. Wenn er das nicht tut, ist die Interessenvertretung am Zuge. Im Gesetz ist vorgegeben, dass der Betriebsrat und die Schwerbehindertenvertretung darüber wachen, dass das Gesetz eingehalten wird. Der Betriebsrat hat hier eine Verpflichtung«.68 Der Anstoß zum BEM kann daher auch vom Betriebsrat/Personalrat kommen.
Fazit
Wenn kein Betriebliches Eingliederungsmanagement bei kranken Beschäftigten nach einer Krankenzeit von 6 Wochen angeboten wird, verstößt dies gegen das Gesetz.
67 Jetzt § 167 Abs. 2 SGB IX.
68 Riechert/Habib, 2017, S. 30.