Crazy Crissy - Rüdiger Schneider - E-Book

Crazy Crissy E-Book

Rüdiger Schneider

0,0

Beschreibung

"Ich bin der Weg und das Leben." Als der Bonner Psychiater Dr. Eugen Mondmann diesen Spruch von einem seiner Patienten hört, ist er erstaunt. Denn der Patient hat den Spruch nicht aus der Bibel, sondern von seiner Freundin Crissy, die ebendies von sich behauptet. Mondmann geht dem Fall nach. "Crissy?" fragt Mondmann. "Wie heißt sie wirklich?" - "Maya Romero. Ein portugiesisches Feuerwerk. Der Vater ist aus Portugal, die Mutter Deutsche." Mondmann will Crissy näher kennen lernen. Aus wissenschaftlichem Interesse, wie er zunächst glaubt. Dann aber gerät er mehr und mehr in den Sog einer rätselhaften Erotik, die schließlich ein rasantes Ende findet.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 221

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Figuren des Romans wie auch die Mondmann-Klinik auf dem Bonner Venusberg entstammen der Phantasie des Autors. Irgendwelche Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

1

Dr. Eugen Mondmann war zufrieden mit dem Symposion. Die Mainzer Veranstaltung ‚Liebe und Verrücktheit’ war gut gelaufen. Die meisten seiner Kollegen hatten beifällig genickt, als er sein eigenes, das Mondmannsche Gesetz erläuterte und mit Beispielen aus der Anstalt untermauerte. Kopfschütteln und Pfiffe kamen nur von der weiblichen Seite. Man könne das auch ganz anders sehen. ‚Trivial’ und ‚unwissenschaftlich’ lauteten die Vorwürfe. Eine Kollegin hatte sich hinreißen lassen und laut „Du blöder Macho!“ gerufen. Aber er war bei dem Vortrag ruhig geblieben, hatte gelegentlich sogar gelächelt und die Beispiele, mit denen er das Gesetz darlegte, erklärend vertieft. Beispiele hatte er genug. Dreißig Jahre Psychiatrie, dreißig Jahre Klinikpraxis lagen hinter ihm. Da machte ihm niemand mehr etwas vor.

Jetzt war er auf der Rückfahrt von Mainz nach Bonn. Er liebte diese Strecke den Rhein entlang, wo sich der IC langsam in die Kurven legte, so dass man die Landschaft in Ruhe betrachten konnte. Links die Weinberge von Bacharach und Oberwesel, rechts der Blick auf den Strom und die Loreley. „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten.“

„Doch, doch!“ sagte Mondmann leise, als der Zug den viel besungenen Felsen passierte. „Ich weiß es.“

Sein Gesetz war einfach. Vom Volksmund her war bekannt, dass hinter jedem erfolgreichen Mann eine starke Frau stand. Mondmann hatte es ergänzt. Schließlich gab es nicht nur erfolgreiche Männer, sondern auch gescheiterte. Und für die galt: Hinter jedem gestörten Mann steckt eine Verrückte.

Frauen konnten Männer in den Wahnsinn treiben, bis sie ziel- und hilflos umherirrten und schließlich wie in einer Arche Noah in der Anstalt landeten. Kleinigkeiten, scheinbare Kleinigkeiten konnten das auslösen. So wie etwa bei Helmut B. Der Vater hatte dem Jungen immer gesagt: „Steh aufrecht, Brust raus, Rücken gerade! Beuge dich beim Pinkeln nicht vor, als müsstest du kotzen!“ Später, in der Ehe, hatte Helmut sich hinzuhocken. Was er anfangs nicht tat. Er urinierte, um keine verräterischen Spritzer zu hinterlassen, lieber ins Waschbecken. Er ging dabei achtsam vor, ließ reichlich Wasser nachlaufen und verpackte sein bestes Stück so, dass kein verräterischer letzter Tropfen auf die Fliesen fallen konnte. Bis seine Frau ihn nachts einmal erwischte. Sie saß im Dunkeln auf dem Topf, was er schlaftrunken erst bemerkte, als sie sagte: „Aha, also so machst du das!“ Fortan kontrollierte sie ihn und installierte sogar eine Kamera auf der Toilette. Das war dem sensiblen Mann so in die Glieder oder ins Gemüt gefahren, dass er überall, wo er jemanden stehen sah, hinzutrat und befahl: „Hinhocken!“ Das konnte im Bus, in der Straßenbahn, im Zug, an einer Haltestelle, an einer Fußgängerampel, Imbissbude oder einfach an irgendeiner Ecke geschehen. Helmut wurde stadtbekannt, holte sich oft ein blaues Auge, bis er als völlig Verwirrter und Hilfloser in der Mondmannschen Anstalt landete.

Freilich, das wusste auch Mondmann, konnte man der Frau nicht unbedingt die Schuld an dieser unglücklichen Biographie in die Schuhe schieben. Aber wäre Helmuts Leben bei einer anderen Frau nicht anders verlaufen? Bei einer Frau, die nicht auf die dumme Idee kam, eine Kamera auf der Toilette zu installieren? Aus den zahlreichen Gesprächen mit dem Unglücklichen wusste Mondmann, dass es eine Summe verrückter Kleinigkeiten gab, mit denen Helmut B. malträtiert wurde. Lauter unsinnige Vorschriften und Lieblosigkeiten. „Helmut, wie oft soll ich dir noch sagen, man krümelt nur auf den Teller!“ – „Helmut, du sollst nachts nicht auf dem Rücken liegen. Du weißt doch, dass du dann schnarchst.“ – „Lernst du es denn nicht, Helmut? Morgens erst Futter für die Katze. Dann kannst du dir meinetwegen einen Kaffee machen.“ – „Helmut, würdest du bitte alle deine Tempotücher aufsammeln!“ Das klang so, als hätte Helmut seine benutzten Tücher einfach auf den Boden fallen lassen. Dabei lag nur ein einziges auf der Nachtkommode.

Es war die Summe aller Kleinigkeiten und Übertreibungen, die Helmut in den Wahnsinn trieb. Und es war insbesondere das Verbot des aufrechten Pinkelns, das Unheil im Unbewussten angerichtet hatte. Sicher, eine gewisse Disposition half mit. Nur schwache Bäume wurden vom Sturm geknickt.

Die Frau wegen der Kamera so einfach als verrückt zu bezeichnen, kam Mondmann als Psychiater natürlich nicht in den Sinn. Verrücktheit war ein komplexer Begriff. Verrücktheit begann für ihn da, wo sich in eine Beziehung Herrsch- und Rachsucht, Lieblosigkeit, Dominanzgebaren, übertriebenes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, die Lust an Vorwürfen, das Quälen mit Maßregelungen und noch einiges mehr einschlich und in der Summe zur Katastrophe führte. Die Liebe war vermint. Deshalb sprach Mondmann auch oft von der ‚Liebesfront’.

Sein Gesetz, dass hinter jedem gestörten oder sogar gebrochenen Mann eine Verrückte stand, hatte er bewusst so volkstümlich formuliert. In Wirklichkeit war es komplizierter. Die Instrumente, mit denen Frauen Männer lahmlegten, waren vielfältig. So spielte beispielsweise der Sex beziehungsweise dessen Verweigerung eine besondere Rolle. Wie etwa bei Christoph C., der nun ebenfalls in seiner Anstalt saß. C. war ein eher gutmütiger Landwirt aus Bornheim, der Nacht für Nacht nackt neben seiner Gattin schlafen musste, aber außer schlafen mehr nicht durfte. Bis er eines Morgens aus dem Haus lief und sich auf der Weide an einem Schaf verging. Stärkere Naturen hätten andere Lösungen gefunden.

Ein klassisches Beispiel für das Mondmann-Gesetz war der Fall Franz Duda. Duda, ein rüstiger Rentner, hatte in späten Jahren zur Dichtkunst gefunden und saß jeden Tag für ein paar Stunden an seinem Gartenteich. Hier ließ er sich inspirieren, gewann die zwölf Goldfische lieb, die immer wieder an der Oberfläche auftauchten, ihn ansahen und manchmal sogar zu küssen schienen. Die Gedichte, die er schuf, verschafften ihm einen Ausgleich zum eher uninspirierten Eheleben, das er eigentlich nur noch aus Gewohnheit ertrug, und weil es für Alternativen zu spät war. Eines Nachmittags war seine Frau an den Teich getreten, sah in das Wasser und sagte: „Die Algen müssen weg.“ – „Welche Algen?“ fragte Duda. „Das Wasser ist doch klar.“ – „Am Rand sind welche“, bemerkte die Frau. „Ich habe ein Mittel gegen Algen gekauft. Ein ganzes Päckchen. Das ist purer Sauerstoff.“ – „Puren Sauerstoff gibt es nicht in so einer Verpackung“, wandte Duda ein. „Doch, doch. Damit gehen die Algen weg.“ Und ehe der Rentner eingreifen konnte, hatte seine Frau die ganze Packung in den Teich geschüttet. „Wenn das mal gut geht!“ sagte Duda. Es ging nicht gut. Das Wasser trübte sich. Man sah die Fische nicht mehr und am nächsten Morgen trieben sie bäuchlings an der Oberfläche. Einzig ein Frosch, der den Teich ebenfalls bewohnte, hatte sich retten können. Der Verlust seines Mediums, seiner inspirativen Quelle, brachte Duda so aus der Fassung, dass er weinend durch die Siedlung lief und rief: „Sie hat alles vernichtet. Sie hat alles vernichtet!“ Dann hatte er sich auf die Bank eines Kinderspielplatzes gesetzt, blieb dort teilnahmslos hocken. Als man ihn fragte, wo er denn wohne, hatte er geantwortet: „Nirgendwo“. Es war kein vernünftiger Satz aus ihm herauszubekommen.

Zuerst war er in eine offizielle Psychiatrie eingeliefert worden, später dann in das Mondmannsche Haus gekommen. Weinend erzählte er dem Psychiater seine Geschichte. Mondmann hatte den Kopf geschüttelt und gemeint: „Das hätte sie doch wissen müssen! Natürlich gibt es keinen puren Sauerstoff im Päckchen. Das war irgendein Peroxid. Wenn sich das in Wasser löst, entsteht zwar Sauerstoff, aber auch eine Lauge. Der pH-Wert ist gekippt. Das war in Wirklichkeit ein Anschlag auf Ihre Inspiration.“

Hin und wieder war Kritik aufgetaucht in der Fachwelt. Gesetz? Gesetz könne man das doch nicht nennen. Höchstens Regel. Denn bestimmt gebe es Ausnahmen. „Nennt es, wie ihr wollt!“ hatte Mondmann geantwortet. „Meinetwegen Regel. Natürlich gibt es Ausnahmen. Aber wenige.“

Er hatte dabei an jenen Fall eines emeritierten Bonner Literaturprofessors gedacht, der trotz seiner betagten Tage die Schiller-Nummer nachmachen und gleich zwei Frauen lieben wollte. Ein ganzes Jahr hatte er das durchgehalten, die eine Frau vor der anderen verheimlicht. Immer neue Alibis gefunden, sich verstrickt in Lügen. Und zudem seinen Körper ruiniert mit Viagra. Bis schließlich die Belastung des Gewissens zu groß war. Da hatte er sich vor dem Portal des Bonner Münsters aufgebaut, die Arme in die Luft geworfen und laut gerufen, dass es über den ganzen Platz schallte: „Hört her, ihr Brüder und Schwestern! Öffnet euch der Liebe! Von welcher Seite sie auch kommt. Wenn ihr zwei Frauen liebt, dann liebt eben zwei oder auch drei. Aber vermischt die Liebe nie, nie mit der Lüge! Ist sie einmal da, wird sie größer und größer, verdunkelt euch den Himmel.“

Danach fiel er weinend auf die Knie, schlug sich den Kopf dreimal auf das Pflaster und rief dabei: „Ich bin ein Sünder, ich bin ein Sünder, ich bin ein Sünder!“

Mit einem Nervenzusammenbruch war er in die Mondmannsche Klinik gekommen.

Mondmann hatte sich lange mit ihm unterhalten. „Ich kann Sie verstehen“, hatte er gesagt. „Natürlich kann man zwei Frauen lieben. Aber wenn selbst der große Friedrich Schiller daran scheitert, dann Sie doch erst recht. Und außerdem hat Schiller das nicht heimlich gemacht. Die Frauen wussten voneinander. Er hat also nicht Ihre Gewissensbelastung wegen der Lügerei gehabt.“

„Weiß ich doch alles“, hatte der Professor nur geantwortet. „Aber trotzdem.“

„Konnten Sie sich denn nicht für eine entscheiden? Schiller hat schließlich auch eine Wahl getroffen.“

„Ging nicht. War ich zwei Tage bei der einen, hatte ich Sehnsucht nach der anderen. Wie soll man das entscheiden können? Bevor ich auf dem Münsterplatz war, habe ich an beide eine SMS geschrieben und gebeichtet.“

Mondmann hatte genickt. „Ja, ja, der Druck des Gewissens. Jetzt sind Sie wohl beide los. Bei einem rationaleren Verhalten hätten Sie wenigstens eine glücklich machen können. Und eine ménage à trois? Nicht möglich?“

„Habe nur rein theoretisch darüber geplaudert, ohne mich zu offenbaren. Sie waren entrüstet und völlig gegen dieses Modell. Da habe ich dann nicht mehr davon geredet.“

Bei dem Professor konnte man nicht sagen, dass eine Verrückte hinter seinem Zusammenbruch stand. Es war seine eigene Verrücktheit oder zutreffender ein letztes heftiges Aufbäumen der Lebenslust. Ganz sicher war sich Mondmann allerdings nicht. Denn wenn ein hochbegabter Mann sich so verhielt, dann mussten wohl beide Frauen einen geheimen Zauber ausgeübt haben. Der arme Kerl war zwischen alle Fronten geraten und an seinem eigenen Gewissen gescheitert. Die Schiller-Nummer konnte man sich in der westlichen Gesellschaft nicht mehr leisten. So etwas schaffte nur ein arabischer Scheich.

2

Als kurz vor Koblenz auf der anderen Rheinseite die Mündung der Lahn auftauchte, ging Mondmann in das Bistro des Intercity, bestellte sich am Tresen einen Kaffee, setzte sich ans Fenster, warf nur noch gelegentlich einen Blick nach draußen. Die Landschaft empfand er jetzt als langweilig. Schön wurde es erst wieder bei Remagen, wo der Zug dichter den Rhein entlang fuhr und man bald das Siebengebirge und den Drachenfels sah.

Er rührte gedankenverloren den Kaffee mit einem Stäbchen um. Der Zucker war lange schon gelöst. Es war eine meditative Zeremonie, für längere Zeit den kreisenden schwarzen Strudel in der Mitte des Bechers zu beobachten. In solche schwarzen Strudel gerieten auch seine Patienten. Bloß weil sie sich in etwas Süßes vernarrt hatten. In jungen Jahren wäre er fast auch in solch einen Strudel geraten. Die Liebe beziehungsweise ihr Verlust konnte verdammt weh tun. Dann trennte einen nur noch eine dünne Wand vom Wahnsinn. „Nie wieder!“ hatte er sich geschworen. Eine Frau sollte ihn nicht mehr aus der Balance bringen. Hin und wieder eine Affäre, ja. Eine Bindung oder Beziehung? Nein!

Um die menschliche Seele besser verstehen zu können, hatte er sich dem Studium der Psychologie gewidmet und danach mit Hilfe von zwei reichen Freunden und großzügiger Darlehen auf dem Bonner Venusberg die private Klinik Dr. Mondmann gegründet. Es war eine kleine, offene Psychiatrie. Die meisten Klienten aber verließen das Haus nicht, sondern blieben lieber in der kleinen geschützten Welt auf dem Venusberg. Da hatten sie ihre Ruhe, konnten ihren Neigungen nachgehen und wurden von den Problemen da draußen verschont. Der offene Vollzug, wie Mondmann es manchmal scherzhaft nannte, hatte große Vorteile, was Verwaltungsaufwand und Sicherheit betraf. Gefährlich war niemand. Die Patienten waren alle gutmütig und man konnte sie, ohne sich große Sorgen zu machen, frei laufen lassen. Auch Christoph C., der sich an einem Schaf vergangen hatte, gehörte dazu. Seitdem er alleine schlafen durfte, war nichts mehr zu befürchten.

Eine ältere Dame setzte sich zu Mondmann, obwohl noch andere Tische frei waren. So etwas passierte ihm öfter. Mit seinen runden Backen bekam sein Gesicht etwas freundlich Einladendes wie bei einem chinesischen Buddha. Bei den Augenbrauen, die er sich oft glatt strich, standen einzelne Härchen trotzdem immer hoch und erinnerten, wozu auch die runden Gläser der Brille beitrugen, an den Ausdruck einer Schleiereule. Die Kleidung ging eher in Richtung schludriger Künstler. Hemdknöpfe waren manchmal falsch zugeordnet, die Strumpffarben links und rechts konnten um Nuancen voneinander abweichen. Strumpfpaare neigten zur Vereinzelung, und so kombinierte er, wenn er nach dem Waschen nur einen Strumpf fand, wenigstens die Farben halbwegs passend. Das Wort ‚Bügeleisen’ kannte er nur aus dem Lexikon. Bügeln war für ihn ein absurder Vorgang. Seht her! Wie mein Hemd bin auch ich selbst glatt und faltenlos. Wer gebügelte Hemden oder Hosen trug, war selbst gebügelt und signalisierte, dass er keine Schwierigkeiten machen würde. Jedenfalls keine offenen. Hinter dem Rücken schon eher. „Traue keinem Gebügelten“, hatte er manchmal halb im Scherz gesagt. Und wenn es das gäbe, dass man sich auch das Gesicht bügeln könnte, er hätte es nicht getan. Mit den Jahren kamen eben die Falten. Er hatte viele vom Runzeln der Stirn und um die Augen viele vom Lachen. Die Falten gehörten dazu. Mit 65 Jahren hatte man sie sich redlich verdient. Auch wenn er Vorträge hielt, wie jetzt in Mainz, achtete er nicht wie die meisten seiner Kollegen auf ein so genanntes seriöses Auftreten. Einmal war er sogar morgens in Pantoffeln in seine Klinik gefahren, hatte, da er immer irgendwelchen Gedanken nachhing, schlicht vergessen in die Schuhe zu steigen. Den Patienten war es nicht aufgefallen. Die hatten andere Sorgen, als einem auf die Füße zu gucken.

Mondmanns Klinik hatte eine Besonderheit. Es wurden nur Männer aufgenommen, die an einer Ehe oder Beziehung gescheitert waren und dadurch den Verstand verloren hatten. Anfangs hatten seine Freunde den Kopf geschüttelt über diese Spezialisierung. „Das funktioniert nie“, hatten sie gesagt. „Dann bleiben die meisten Zimmer leer. Das ist der programmierte Bankrott.“

„Gut“, hatte er eingelenkt. „Dann fangen wir normal an. Jeder, egal mit welchen Problemen und welchen Geschlechts, kann kommen. Und dann sehen wir weiter. Zeigt es sich, dass meine Spezialisierung kein Hirngespinst ist, dann darf ich dazu übergehen, nur noch den besagten Klientenkreis aufzunehmen. Euch kann es ja egal sein, wer die Zimmer füllt und den Gewinn abwirft. Mir ist es nicht egal. Meine Intuition sagt mir, dass die Spezialisierung ein Erfolg wird.“

Und tatsächlich, nach nur fünf Jahren war es ihm gelungen, eine reine Männerklinik zu leiten, eine frauenlose Oase, wo nur Beziehungsgeschädigte therapiert wurden. Die Zimmer der Klinik waren alle belegt. Es gab sogar lange Wartezeiten. Er hatte eine profitable Nische entdeckt in der Welt der psychischen Störungen. Dem weiblichen Element, das für soviel Unruhe gesorgt hatte, mochten seine Schäfchen dann später wieder begegnen und besser damit fertig werden. Dass er bei diesem erlauchten Patientenkreis auf das Mondmannsche Gesetz gestoßen war, musste zwangsläufig so sein und war eigentlich kein Wunder.

Die einzige Ausnahme, was Frauen in der Klinik betraf, gestattete er sich selbst. Frau Gabriel war eine humorvolle, vitale, ältere Dame, die sein Sekretariat leitete und alles regelte und managte. Sie organisierte Termine, überwachte die Buchhaltung und erledigte alle Büroarbeiten, die in der Klinik anfielen, im Alleingang. Das kostete sie manche Überstunde, die Mondmann aber großzügig honorierte. Mit diesen Überstunden kam sie auf 4000 Euro Netto im Monat, und zu Weihnachten gab es noch einmal ein dreizehntes Gehalt. „Sie sind mehr wert als all diese hoch dotierten Manager“, hatte Mondmann zu ihr gesagt. „Aber wenn ich Ihnen auch Millionen gebe, kommen wir in die roten Zahlen.“

Hildegard Gabriel amüsierte sich über den frauenlosen Betrieb. Bei einer Tasse Kaffee hatte sie ihn einmal gefragt: „Warum machen Sie das so?“

„Damit die Kerle endlich einmal Ruhe haben und zu sich selbst finden“, hatte er geantwortet.

„Sie wollen sie den Frauen ganz entwöhnen?“

„Ach was! Ich will sie nur immunisieren.“

„Immunisieren?“

„Ja. Was bekommen Sie, wenn Sie von einer Kobra gebissen werden.“

„Ein Serum.“

„Eben. Ein Gegengift. Gut dosiert. Und genau das mache ich hier.“

„Sie sollten die Kerle lieber dazu bringen, an ihren Beziehungen zu arbeiten.“

„Arbeiten? Ist die Liebe ein Steinbruch, wo man sich abrackern muss?“

3

Vom Bonner Bahnhof ließ er sich mit einem Taxi den Venusberg hoch bringen, erreichte seine Klinik, der Pförtner verbeugte sich: „Guten Morgen, Herr Dr. Mondmann!“ Als er unten den Gang durchschritt, um in sein Büro zu kommen, das zugleich auch Beratungsraum war, hörte er von einem der hinteren Zimmer jemanden rufen: „Mondmännchen kommt!“ Solche Begrüßungen kannte er. Wie er an seinen seltsamen Nachnamen gekommen war, wusste er nicht. Er hatte noch keine Ahnenforschung betrieben. Bei Namen wie Müller, Schmied, Schuster, Bäcker war die Herleitung einfach. Da waren die Vorfahren solide Handwerker gewesen. Was seinen Namen betraf, hatte es in der Ahnengalerie wahrscheinlich jemanden gegeben, der schlafwandelte und bei Vollmond auf dem Dachfirst herumturnte.

Was die Patienten beziehungsweise die Gäste, wie er sie nannte, riefen, war nicht respektlos gemeint, sondern eher liebevoll. Der Psychiater wurde wegen seiner ruhigen, empathischen Art zuzuhören geschätzt. Darin sah er auch die wesentliche Aufgabe der Psychologie. Er war wie ein Beichtvater, dem seine Schäfchen alles erzählten. Er machte keinen Stress. Den gab es draußen in der Welt genug. Da ging es eigentlich verrückt zu. In seiner Klinik weniger.

Seine vornehmste Aufgabe sah Mondmann darin, Therapeut zu sein. Dass er damit auch Geld verdiente, war ein schöner Nebeneffekt. Zunächst ging es darum, seine Klienten wieder in Balance zu bringen. Dazu halfen in einem ersten Stadium Medikamente und Gespräche. Bei den Gesprächen war es das Zuhören ohne kluge Ratschläge oder gar moralisches Fingerheben. Bei den Medikamenten kamen in aller Regel sanft sedierende Arzneien zum Einsatz bis hin zum homöopathischen Kügelchen, bei dem sich selbst mit dem sensibelsten Chromatographen keine Wirksubstanz mehr nachweisen ließ. Die Pharmaindustrie verdiente an Mondmann nicht viel. Denn nach seiner Überzeugung wurden erst die Medikamente produziert und dann die passende Krankheit dazu erfunden. So hatte er zum Beispiel die Wechseljahre der Frau immer für ein Märchen gehalten, mit dem die Konzerne Milliarden scheffelten. Mit den teuren Hormonen, die geschluckt werden sollten, war nicht nur der Profit gewachsen, sondern wahrscheinlich auch die Rate an Brustkrebs. Dem Pförtner der Klinik hatte er deshalb eingeschärft: „Bitte keinen Besuch von Pharmavertretern!“

In einem zweiten Stadium ging es Mondmann darum, seine Klienten so zu stärken, dass sie als selbstbewusste und unabhängige Persönlichkeiten die Klinik verließen. Das war der schwierigste Teil. Denn aus dem umhegten Bereich der Klinik mussten sie wieder zurück ins so genannte Leben und sahen sich wieder dem Wahnsinn gegenüber, der sie zu Mondmann gebracht hatte.

Einen beträchtlichen Teil des eigenen Gewinns investierte er deshalb in sein therapeutisches Programm. Oder besser gesagt: er investierte nicht, er verschenkte. Um seine Patienten zu stärken, wenn sie eine gewisse Balance wieder erreicht hatten, bot er ihnen an, sich an Selbstständigkeit zu gewöhnen, mit sich selbst klar zu kommen. Dazu hatte er in Andalusien, in den Bergen von Sayalonga, eine Finca gekauft, wo ein Patient kostenlos für ein paar Wochen oder gar Monate allein leben konnte. Von der Terrasse sah man in der Ferne das Mittelmeer, der Blick ging über Olivenhaine, nachts war der Himmel mit Sternen übersät und am Tag brachten Sonne und das helle Licht des Südens eine heitere Stimmung. So hatte es sich Mondmann gedacht. „Genießen Sie endlich einmal das Alleinsein!“ hatte er gesagt. Wobei er das Wort akzentuiert in drei Teile zerlegte. „All-Ein-Sein. Fühlen Sie sich wieder vertraut mit der Natur, dem Universum und sich selbst! Um zu Zweit sein zu können, müssen Sie erst das Alleinsein lernen.“ Aber nicht jeder Patient nahm dieses Angebot an. Bei manchen war die Angst vor der Einsamkeit zu groß. Ein anderes Programm war, seine Schäfchen auf den Jakobsweg zu schicken. „Drosselt das Tempo! Entschleunigung!“ war sein Motto. War jemand geselliger Natur, schlug er den viel belaufenen Hauptweg, den Camino Francés vor, der von den Pyrenäen durch Spanien nach Santiago de Compostela führt. Neigte jemand eher zum Einzelgang, dann empfahl er den einsameren Camino Primitivo, der von Oviedo durch das asturische Bergland und dann durch Galicien zum Grab des Apostels Jakobus geht. Mondmann bot an, die Pilgerschaft zu finanzieren. Auf die mühselige Wanderung ging nur jeder Vierte ein. Auf der Finca zu sitzen und sich die spanische Sonne auf den Bauch scheinen zu lassen, war beliebter. Die meisten lebten nach der Entlassung eine Zeit lang alleine, fingen dann eine neue Beziehung an, kamen dank der Mondmann-Therapie besser damit klar. Die Rückfallquote war gering. Wenn überhaupt jemand zum zweiten Mal bei ihm auftauchte, dann mit den Worten: „Es war so schön bei Ihnen.“

Ganz umsonst war das spanische Abenteuer allerdings nicht. Mondmann bat um einen inneren Bericht, wie er es nannte. Seine Klienten sollten ihre Gefühle und Erlebnisse entweder aufschreiben oder sie ihm erzählen. Bei der mündlichen Wiedergabe saß er dann mit einem Diktiergerät dabei, zeichnete alles auf. So hatte er selbst Material für Forschungsberichte, die er fleißig veröffentlichte. Damit genügte er seinem therapeutischen Ethos, gewann auf dem Feld der Wissenschaft an Ehre und Bekanntheit und machte seine Klinik zu einem begehrten Aufenthaltsort.

„Du kannst ja mit deinem Gewinn machen, was du willst“, hatten seine Freunde anfangs gesagt. „Aber wäre es nicht besser, du würdest sie nach Bangkok schicken statt auf den Jakobsweg oder diese einsame Finca?“

„Nein“, hatte Mondmann entgegnet. „Dann sehe ich sie nie wieder und bekomme keine Berichte mehr.“

4

Um Punkt elf erschien der erste Patient. Ein Neuer. Er hatte sich auf einem Rangierbahnhof auf die Gleise gelegt, vorher aber noch einen Waggon besprüht. „Crizzy, ich liebe dich!“ Zum Glück kam auf dem Gleis kein Zug. Neben dem Mann, Geburtsdatum 1964, lagen eine leere Flasche Whisky und eben die Spraydose. Ein Arbeiter hatte ihn am Morgen gefunden, die Polizei gerufen. Die fackelte nicht lange. Ab in die Psychiatrie. Nicht zu Mondmann, sondern in eine offizielle. Bei dem Mann handelte es sich um einen unverheirateten Studienrat, der sich ein paar Tage später in die private verlegen ließ.

„Nun erzählen Sie mal!“ meinte Mondmann nach der Begrüßung freundlich. „Wo drückt denn der Schuh?“

Der Neue setzte sich nicht, wie Mondmann ihn aufgefordert hatte, sondern trat ans Fenster, blieb dort stehen.

„Ich bin der Weg und das Leben“, sagte er.

„So. Sie kennen also die Bibel.“

„Die Bibel? Nein. Crizzy hat das gesagt. Meine Freundin. Sie ist selber der Weg und das Leben.“

„So? Behauptet sie von sich.“

„Ja. Sagt sie allen Ernstes.“

„Und Sie glauben das?“

„Ich weiß es nicht. Manchmal glaube ich es und dann wieder nicht. Sie bringt mich um den Verstand.“

„Langsam. So schnell geht das nicht. Sie ist Ihre Freundin? Seltsamer Name übrigens. Christa, Christiane?“

„Nein. Crizzy nenne ich sie, weil sie einen Schuss hat, crazy ist. Aber Crazy darf ich natürlich nicht sagen. Da habe ich es zu diesem Kosenamen umgeformt.“

„Aha. Wie zeigt sich denn dieser so genannte Schuss?“

„Sehr komplex. Sie führt Gespräche mit Gott, hat viele Vorleben gehabt, war zum Beispiel Hildegard von Bingen und eine der Ehefrauen Karls des Großen.“

„Muss Sie doch alles nicht berühren. Dann spinnt sie eben. Lassen Sie ihr den Glauben doch.“

„Tu ich ja. Im Prinzip ist mir egal, was sie glaubt. Aber sie schwankt zwischen heißer Liebe und kalter Ablehnung. Das macht mich ganz verrückt. Und wissen Sie, manchmal glaube ich sogar, sie verhext mich. Sie kann Matrix und hawaianisches Hooponopono oder wie immer das heißt.“

„Hmm. Eigentlich harmlos. Sie wohnen zusammen?“

„Nein. Sie will, dass ich den Schuldienst an den Nagel hänge und mit ihr eine Olivenfarm bei Savona kaufe.“

„Savona?“

„Norditalien. Ligurien. Ich hätte 40 000 Euro Abstand an die vorherigen Pächter zahlen müssen. Die habe ich nicht und außerdem auch keine Ahnung vom Olivenanbau. Ich hatte nur 12 000 Euro in Reserve. Davon habe ich mir dann ein Auto gekauft, hatte bis dahin keins. Und prompt bekomme ich eine vorwurfsvolle SMS. ‚Du hast mich gegen ein Auto eingetauscht. Die Nummer hatte ich noch nicht.’ Danach wollte sie dann nach Südfrankreich oder nach Spanien, nach Málaga. Eine Woche später schlägt sie Portugal vor. Ein Bauernhäuschen an der Algarve. Und dann steht plötzlich der Mittelrhein wieder hoch im Kurs. Wir haben schon ganz Europa durch.“

„Sie weiß also nicht, was sie will“, stellte Mondmann fest, „verlangt das aber von Ihnen.“

„Könnte man so sagen. Sie verlangt immer was von mir.“

„Beispiel?“

„Nun ja. Sie meint, ich trinke zuviel. Ich soll völlig trocken bleiben. Das ganze Jahr über. Kein Bierchen mehr am Abend, kein Glas Wein. Was hat man denn da noch vom Leben? Vor allem, wenn man täglich sein Fell in die Schule tragen muss.“

„Hmm. Mal ehrlich. Wieviel trinken Sie denn? Mir können Sie das ruhig anvertrauen.“

„Nun ja. Kann schon vorkommen, dass ich mir mal die Kante gebe. Aber dann mache ich keinen Blödsinn, schlafe einfach ein.“

„Aha. Nun gut. Anderes Thema. Wie ist das denn bei Ihnen mit dem Sex, wenn ich etwas Intimes fragen darf?“

„Ziemlich komisch. Manchmal wochenlange Eiszeit, dann fünfmal am Tag. Nur am Tag. Das macht mich auch verrückt.“

„Und in der Nacht?“

„In der Nacht? Nichts. Wir schlafen getrennt. Ich schnarche. Sie ist sehr geräuschempfindlich. Wenn im Nachbarhaus der Kühlschrank anspringt, schreckt sie auf. Sie ist überhaupt sehr eigen und sensibel. Kauft nur Bio, isst kein Fleisch. Nur bei Fisch macht sie eine Ausnahme, verschlingt ihn wie eine Meerjungfrau.“

„Meerjungfrau?“ fragte Mondmann. „Die leben von Fisch?“

„Weiß ich nicht. War nur so eine Vorstellung. Von irgend etwas müssen die im Meer ja leben. Nur Algen wäre öde.“

„Nun denn. Gut. Aber was haben Sie gegen Bio? Ist doch sehr vernünftig von ihr.“

„Mag sein. Aber waren Sie schon mal im Urlaub in Spanien mit einer Frau, die nur Bioprodukte will?“

„Nein. Warum?“