Crazy Love - Eva Kah - E-Book

Crazy Love E-Book

Eva Kah

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Beschreibung

Exklusiver Sammelband mit zwei – nur ein bisschen verrückten – Liebesromanen von Eva Kah Buch 1: "Liebe per App" Das kann doch mal passieren, dass man aus Versehen mit seinem neuen Mitbewohner im Bett landet, oder nicht? Angélique, von ihren Freunden Icki genannt, will ihr Leben mal so richtig aufpeppen. Immerhin hat ihr Ex-Freund sie verlassen, weil er sie langweilig findet und vielleicht hatte er ja sogar recht damit. Um ihm zu zeigen, dass er sich trotzdem in ihr getäuscht hat, lädt Icki sich die Dating-App "Luvjah" aufs Handy. Damit werden ihr die Männer quasi frei Haus geliefert. Icki lässt nichts anbrennen, doch als sie bei einem Abenteuer gefilmt wird, vergeht ihr plötzlich die Lust auf lockere Affären. Als dann auch noch ein geheimnisvoller Mann Liebesbriefe per Helicopterdrohne schickt, gerät ihr Leben noch mehr aus den Fugen. Wenigstens hat sie jetzt ein Ziel: Sie muss unbedingt herausfinden, wer der geheimnisvolle Verehrer ist und vor allem, was er von ihr will ... "Liebe per App" ist eine turbulente Liebeskomödie, in der es gehörig knistert, mit expliziten Liebesszenen und jeder Menge Situationskomik. Buch 2: "Roadtrip mit Millionär" Die junge Linda leitet einen Campingplatz, der schon bessere Tage gesehen hat. Dort kümmert sie sich um skurrile ältere Herrschaften, die sonst ins Heim müssten. Außerdem sammelt sie leidenschaftlich Schlafsäcke. David kommt aus bestem Hause, führt eine internationale Immobilienfirma, jongliert mit Milliardenprojekten und hat in seinem ganzen Leben noch nie auf so etwas Unwürdigem wie einer Luftmatratze geschlafen. Als das Schicksal den beiden einen Streich spielt und sie gegen ihren Willen aufeinanderprallen lässt, knistert es nicht nur gehörig. Dank einer Fünf-Kilo-Dose Tomatenmark, die David an den Kopf knallt, kommt es auch noch zu einem spontanen Road-Trip, auf dem devote Tankwarts, ein real existierender Eisbär, imaginäre Russen und eine gewisse sexsüchtige Schnappschildkröte noch das Harmloseste sind. Ein Roadtrip der chaotischen Art, mit herrlich schrägen Figuren, skurrilen Situationen und jeder Menge Herz!

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Crazy Love

Liebe per App - Sammelband mit zwei Liebesromanen

Eva Kah

Impressum

Nachdruck, Vervielfältigung und Veröffentlichung - auch auszugsweise - nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages!

Im Buch vorkommende Personen und Handlung dieser Geschichte sind frei erfunden und jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist zufällig und nicht beabsichtigt.

Copyright © 2019 dieser Ausgabe Obo e-Books Verlag,

alle Rechte vorbehalten.

M. Kluger

Fort Chambray 

Apartment 20c

Gozo, Mgarr

GSM 2290

Inhalt

Liebe per App

Hinweis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Roadtrip mit Millionär

Disclaimer

Warnendes Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Epilog

Über den Autor

OBO e-Books

Liebe per App

Mein Sommer mit der Dating-App

Widmung

Für Mama. Vielen Dank für’s Immer-an-mich-Glauben und vor allem das aufreibende Babysitting! Ich hoffe, die Kurzweil beim Lesen polstert dein Nervenkostüm wieder ein bisschen auf.

Auch für meinen Mann, der sich für meine Recherche extra einen Quadrocopter gekauft hat.

Und für alle Krankenschwestern dieser Welt. Ihr seid Gold wert. Mindestens. Wenn nicht sogar Platin... Lasst Euch nichts anderes erzählen!

Ich danke meinem rücksichtslos lesewütigen Testleseteam:

Angela, Barbara, Carola, Kathrin, Luci, Marei, Nadine. Und Till, der als einziger Mann einen sehr wichtigen Außenseiter-Standpunkt vertrat.

Merci!

Hinweis

Das vorliegende Werk ist fiktional und entspringt allein der Fantasie der Autorin. Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen oder Institutionen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Das im Roman geschilderte Geschehen zum Thema Stalking ist fiktiv und dessen Beurteilung beruht nicht auf der tatsächlichen Rechtslage.

Auch die Arbeitsbedingungen und -zeiten der auftretenden Krankenschwestern und Pfleger sind so gehalten, dass sie sich der Geschichte anpassen. In Wirklichkeit geht es in Kliniken selbstverständlich ganz anders ab.

1

Schluss machen für Anfänger

Meine letzte Sechs-Tage-Schicht im Mai endete mit einem Heiratsantrag. Leider erhielt ich ihn nicht von meinem Freund Max, mit dem ich zu diesem Zeitpunkt fast genau elf Jahre lang zusammen war, sondern von einem Scheich.

Einem richtigen saudi-arabischen Scheich, mit allen Finessen. Tausend Quadratkilometer heißer Wüstensand, Oasen, Paläste, Wasserpfeifen, Rennkamele und goldener Nippes, wohin man blickt. Zugegeben, eigentlich machte mir nicht der Scheich selbst den Antrag, sondern seine Mutter, aber das ändert ja nichts an den Kamelen und dem ganzen Kram.

Die Frau El-Fayyad, also die Mutter vom Scheich, war wegen einer doppelten Fußgelenksfraktur schon seit zwei Wochen bei uns auf der Station. In Abu Dhabi traute man sich so eine knifflige Sache wohl nicht recht zu, und unsere kleine orthopädische Privatklinik im Norden Münchens genießt international einen hervorragenden Ruf. Außerdem musste die Frau El-Fayyad ja nicht alleine so weit reisen. Ein Großteil ihrer Familie nutzte den Klinikaufenthalt als willkommene Entschuldigung für wochenlange Shoppingexzesse auf den Münchner Prachtmeilen. Angeblich hatten sie drei Etagen des Bayerischen Hofs komplett gebucht. Der Familienzusammenhalt bei Scheichs erwies sich als sehr eng: Täglich gegen fünfzehn Uhr hielt ein großer SUV im absoluten Halteverbot vor der Klinik, und dann stürmte ein Grüppchen voll verschleierter junger Damen mit goldenen Gesichtsmasken das Einzelzimmer der Patientin. Sie fuchtelten mit Dutzenden von Chanel- und Prada-Einkaufstüten herum, behandelten uns Krankenschwestern wie Dienerinnen, bestellten Unmengen Cappuccino und kreischten am laufenden Band, als wären sie auf einer Show der Chippendales. Draußen im Flur saß währenddessen ein gelangweilt dreinblickender Herr in dunklem Anzug und Sonnenbrille, um auf die Frauen zu warten. Oder sie zu bewachen, man weiß es nicht. Eventuell war er auch nur der Fahrer des SUV und versteckte sich im Krankenhaus vor der Politesse, die ihm verlässlich jeden Tag einen weiteren Strafzettel hinter den Scheibenwischer klemmte.

Leider konnte ich nie sehen, wie die Mädels den ganzen Cappuccino durch die Gesichtsmasken kriegten. Vielleicht mit eingebauten Strohhalmen? Sie tranken nie in meiner Anwesenheit. Ich nehme an, es handelte sich um die Töchter der Frau Scheich. Die ließ sich den sündteuren Inhalt der vielen Tütchen zeigen, bewunderte ihn gebührend und kreischte ein wenig mit, aber längst nicht so viel wie die Besucherinnen. Ich hatte den Eindruck, sie wäre hinterher immer etwas erschöpft, aber das kann auch daran liegen, dass sie die Einzige war, deren Gesicht ich zu sehen bekam. Sie trug nämlich zu ihren hochgeschlossenen Seidenkaftanen nur ein Hermés-Kopftuch, und auch das legte sie nur für selbstverständlich vorher angemeldete männliche Ärzte an.

Wenn gerade keine fünf bis sieben schwarz verschleierten Kichererbsen um sie herum saßen und bei mir in herrischem Tonfall Kaffee bestellten, konnte die Frau El-Fayyad aber ganz nett sein. So wie an diesem Nachmittag, als ich meinen Kontrollgang machte und sie in meinem besten Englisch fragte, ob sie Schmerzen habe oder noch etwas Tee wünsche.

Statt einer Antwort schenkte sie mir einen langen, huldvollen Blick, winkte mich näher an ihr Bett und bat mich auf einen Besucherstuhl.

„What is your name, my dear?“

„Äh, Angélique, Madam.”

„Angélique! What a lovely, lovely name! And you are such a lovely girl. A lovely, lovely girl, really. And you work so hard. All day long I see you work. Work, work, only work! A lovely girl like you should not have to work so hard. If I may ask you another question: How old are you, dear Angélique?”

„I am twenty-seven, Madam.”

Die El-Fayyad verstummte für einen Moment und kratzte sich am Kinn. „You are not a child any more, that is for sure. When I was twenty-seven, I had five kids already.” Sie seufzte, doch dann machte sie eine wegwerfende Geste und lachte. „But then I got eight more kids, so what? Twenty-seven is not too old for anything!”

Bis dahin fühlte ich mich noch irgendwie geschmeichelt und nickte lächelnd, aber dann rückte sie schnell mit ihren wahren Absichten heraus. „You have so beautiful hair and so beautiful blue eyes, you know?”

„Äh, yes, thank you very much, Madam.”

„I would really love to have grandchildren with blue eyes. Many of them. And with those broad hips you make good children!”, rief sie enthusiastisch.

Mir fiel die Kinnlade herunter vor Empörung, aber nur innerlich. Aaah! Breite Hüften! Sie meinte das ganz offenbar als Kompliment. Und es war leider auch nicht komplett an den Haaren herbei gezogen. Aber musste sie deshalb gleich darauf herumreiten? Die Hüften waren nun mal wirklich mein wunder Punkt! Mit den folgenden Sätzen machte meine orientalische Möchtegern-Schwiegermutter sich immerhin ein klein wenig beliebter bei mir.

„A lovely girl like you should get a nice husband, and then the nice husband would make you some babies and buy you nice clothes and nice shoes and all. This is what a lovely girl should do. Not working hard. Go shopping and have nice little babies, eh?”

Die Begeisterung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Ihre schwungvoll nachgezeichneten Augenbrauen zuckten, als sie zum Abschluss ihrer Rede kam.

„Dear Angélique, you really should marry a nice man like my son Mahmud. My Mahmud does need a lovely little wife like you, and he is a very nice man!”

Oh. Aha. Ein sehr netter Mann. „So nett wie die anderen Männer, die die Kohle für eure lustige Mädelsrunde ranschaffen?“, wollte ich sagen. „Klar, ich hätte auch gerne mal einen Dingsbums-Schuh mit Diamanten oder eine Handtasche, die doppelt so teuer wie mein Auto ist. Wenn ich überhaupt eines hätte. Aber wissen Sie, so viel könnte ich bei Chanel gar nicht einkaufen, um mich dafür den Rest meines Lebens in so ein Zelt wickeln zu lassen!“

Natürlich sagte ich das nicht. Dafür ist erstens mein Englisch nicht gut genug, und zweitens sollen wir Krankenschwestern die Patienten nicht vor den Kopf stoßen, schon gar nicht die Privatpatienten mit den Einzelzimmern. Ich sagte stattdessen: „Oh, äh, I have a man already. I mean, I have a boyfriend. I am quite sure your son, äh, Mahmud is a very nice man, but I am sorry, I don’t think I can marry him, really…”

Am liebsten hätte ich dabei die Augen fest geschlossen, weil ich gerade dabei war, die lukrativste Patientin in der Geschichte unserer Klinik zu beleidigen. Erst gestern hatte es uns der Oberchef auf der Personalversammlung wieder vorgebetet: Was auch immer ihr tut – bloß nicht der El-Fayyad auf den Schwanz treten! Noch ein paar Wochen, und die hat unsere Finanzen quasi im Alleingang saniert. Und das im Rollstuhl, hehe. Die Frau ist die sprichwörtliche Ölquelle für uns! Ich hoffte, er hatte mit „nicht auf den Schwanz treten“ nicht das Ablehnen von Heiratsanträgen gemeint.

Die Scheichmutter war aber gar nicht so wahnsinnig beleidigt, wie ich befürchtet hatte. Sie guckte verständnisvoll und strich mir mit ihrer feisten, goldberingten Hand übers Haar. Sie kramte sogar ihr riesengroßes Smartphone hervor und zeigte mir gefühlte vierhundert Fotos von den zahllosen Besitztümern, in die ich hinein heiraten könnte, wenn ich es mir denn in näherer Zukunft noch einmal anders überlegen sollte.

Die mindestens acht verschiedenen Pools, perfekt getrimmten Parkflächen und turnhallengroßen Wohnzimmer voller unendlicher Sofalandschaften hätten mich fast auf ihre Seite gekriegt. Auf die Schnelle konnte ich nicht sagen, ob es sich um einen einzigen Palast von den Ausmaßen einer Kleinstadt handelte oder ob Scheichs abwechselnd in mehreren, leicht unterschiedlichen Anwesen residierten. Die Gebäude waren jedenfalls alle goldgelb gestrichen und erinnerten stark an Disneys Version von Schloss Neuschwanstein. Im Hintergrund tummelten sich glänzende schwarze Rennpferde mit wehenden Mähnen, fleißige Gärtner oder schneeweiße Kamele, je nach Situation. Stark geschminkte Frauen in sehr knappen Designerklamotten (so sahen die also aus, wenn sie gerade kein Zelt tragen mussten) tranken Champagner neben Flachbildschirmen, die man zur Not auch als Esstisch für Ali Baba und die vierzig Räuber verwenden konnte. Auf den Fotos war immer prächtiges Wetter. Alle lachten glücklich, sogar die weiß gekleideten Dienstmädchen, deren Uniform frappierend an unsere Schwesternkittel erinnerte. Zwischen Palmen und Golf spielenden Kindern ging spektakulär die Sonne unter.

Heiliger heißer Wüstensand! Das hätte auch meinem Hamster bestimmt gut gefallen, angeblich kommen doch Hamster da her. Mich machte nur misstrauisch, dass mir die Gute kein einziges Foto von ihrem Sohn zeigte. Es hatte wohl seine Gründe, dass der „sehr nette Mann“ in seinem Heimatland noch keine abgekriegt hatte.

Als ich mich von der El-Fayyad verabschiedet hatte und in der Umkleide meinen Kittel auszog, war ich immer noch ganz verzaubert. Goldene Wasserhähne schwirrten mir durch den Kopf, hundert Paar Manolo-Blahnik-Schuhe und ein turnhallengroßes Freilauf-Paradies für meinen Hamster. Aber erstens dürfen wir Schwestern mit Patienten nichts Privates anfangen, und außerdem hätte ich das alles lieber noch einmal aus einem ganz anderen Mund gehört. Aus dem Mund meines Dauerfreundes Max. You are such a lovely girl, we should marry. I want you to be my lovely little wife. Go shopping. Let’s have some nice little babies, eh?

Max Emanuel Herzog, mit dem ich seit der zehnten Klasse zusammen bin und den ich in Momenten von ausgeprägtem Ego – seinem ausgeprägten Ego – scherzhaft „Max der Erste“ nenne, ist Schauspieler. Kein wahnsinnig erfolgreicher bisher, aber trotzdem Schauspieler mit Herz und Seele. Im Alltagsleben merkt man das an seiner Vorliebe für das Überdramatisieren ganz undramatischer Situationen („Schatz, hast du etwa schon wieder meine neuen schwarzen Socken bei sechzig Grad gewaschen?! Du weißt doch, dann werden die so schnell anthrazitfarben!!! Guck doch, das ist jetzt gar kein richtig echtes Schwarz mehr! Nein, das sieht jeder Idiot, das bilde ich mir nicht ein! Ich STERBE, wenn ich morgen nicht in richtig echt schwarzen Socken zu diesem Casting gehen kann!! Ich werde keinen Ton herausbringen. Keinen einzigen. Ja, ich bin ein NICHTS in anthrazitfarbenen Socken, da fehlt die ganze Essenz und Tiefe des menschlichen Daseins. Ich werde versagen, versagen, versagen in diesen Socken. Untergehen. Und DU bist schuld!“).

Wie vermutlich alle Schauspieler liebt Max Worte. Jedenfalls, wenn sie aus seinem Mund kommen. Auf Höflichkeitsfloskeln erstreckt sich diese Liebe allerdings nicht. Als ich die Wohnungstür aufsperrte, erschallte auf mein fröhliches „Hallo Max, ich bin wieder da!“ – nichts. Wie immer. Allerhöchstens erhalte ich mal ein Brummen zur Antwort. Aber ich bin das gewohnt. Stattdessen freute ich mich einfach, wieder zuhause zu sein. Nach sechs arbeitsintensiven Frühschichten hintereinander lagen nun vier freie Tage vor mir, und das würde diesmal besonders schön werden. Erstens waren die vier Tage genau an einem Wochenende und zweitens würde Max am Sonntag Geburtstag haben, wozu ich ihn mit einer dicken Party überraschen wollte.

Vorher allerdings knurrte mein Magen, und ich wollte nicht hungrig in das schöne verlängerte Wochenende starten. Ich guckte in Igor, den Kühlschrank – ich nenne ihn Igor, weil das ein Name ist, der aus der Kälte kommt – nichts außer einem halben Glas Essiggurken und einer uralten Flasche Barbecuesauce, die wir noch nicht wegzuwerfen gewagt hatten.

Ich beging den Fehler laut festzustellen, dass da wohl mal wieder jemand das Einkaufen vergessen hätte. Nicht unfreundlich sagte ich das, nur laut genug für Max. Es war sowieso erstaunlich, dass er mich hörte, weil er mal wieder seine superstylishen neongrünen Kopfhörer trug und im Wohnzimmer Tanzschritte übte. Gerade versuchte er erfolglos, sein linkes Bein um das rechte herumzuwickeln. Zumindest sah es für mich so aus. Seit er von einem Bekannten gehört hatte, irgendein großer Produzent wolle demnächst eine amerikanische Street Dance-Reihe auf Deutsch neu verfilmen, war er besessen von der Idee, seine Karrierechancen mit Breakdance- und Hip-Hop-Elementen immens beflügeln zu können.

Max hörte auf, seinen linken Fuß schwungvoll um die rechte Wade schlingen zu wollen. Dann nahm er die Kopfhörer ab und schüttelte sein wildes Blondhaar, das er alle sechs Wochen beim zweitteuersten Friseur der Stadt machen lässt. Er murrte: „Bin ich hier nur der Hausmann oder was? Hab’ Besseres zu tun als Einkaufen.“

Nicht Hallo, Schatz oder Willkommen in unserem schönen Wochenende oder gar Entschuldigung, dass ich dir alles weggemampft habe. Ich seufzte. Dass ich zwei Stunden vorher einen Heiratsantrag aus Saudi-Arabien erhalten hatte, verschwieg ich. Ich bin kein Angeber-Typ. Diesen kleinen Triumph wollte ich für mich behalten.

„Ich geh ja schon. Hätte halt nur gerne eine Kleinigkeit gegessen, bevor ich wieder losziehe. Nicht mal mein Lieblingsmüsli hast du mir übrig gelassen. Du warst übrigens wirklich schon sehr lange nicht mehr einkaufen.“

„Du mit deinem nachtragenden Elefantengedächtnis. Mein Leben gehört der Kunst. Ich hab keine Zeit für so einen Kleinscheiß, Icki!“

Da packte mich nun doch ein klein wenig die Wut. Ich hatte einen – tierisch schlauchenden – Vollzeitjob, zahlte unsere Miete praktisch alleine und erledigte nebenher den kompletten Haushalt für ihn mit, und dafür musste ich mich noch doof anmachen lassen, wenn ich mich geschafft zurück in unsere Höhle geschleppt hatte?! Work, only work, kam mir wieder in den Sinn. A lovely girl like you should not have to work so hard.

Klar, dass meine folgenden paar Sätze alles andere als überfreundlich ausfielen. So ähnlich wie Und wegen deiner Kunst soll ich von Luft und Wasser leben? und Für dich ist es vielleicht Kleinscheiß, für mich ist es ein Haushalt, und auch Künstler müssen doch mal was essen, verdammt! Aber seine Antwortsätze übertrumpften mich noch. Vermutlich hatte er wieder irgendwelche Tabletten eingeworfen, doch das war keine Entschuldigung.

„Weißt du, Icki, es gibt Luftmenschen und Erdmenschen. Frag mal, zu welcher Sorte ich gehöre. Und mit deinem Hintern und deinen Waschfrauenhänden eignest du dich halt besser zum Arbeiten als ich, was willst du denn.“

Max kann eben manchmal ein ganz schönes Egomonster sein. Nichts gegen Schauspieler; aber seitdem ich einige seiner „Freunde“ kenne, nehme ich an, die meisten Schauspieler sind so. Ich verstehe das auch. Um psychisch labile Typen spielen zu können, muss man wohl selbst ein bisschen neben der Spur stehen. Sonst kann man sich ja nicht richtig hinein fühlen in all seine möglichen Rollen. Schon mal was von Klaus Kinski gehört? Genau. Voll einen an der Waffel gehabt, allen Leuten in seinem Umfeld übelst mitgespielt, aber ein genialer Künstler gewesen. Max ist zwar noch nicht ganz auf der Ebene von Kinski angelangt, aber nur was den Erfolg betrifft.

Ich war richtig beleidigt von dem Kommentar mit den Waschfrauenhänden. Wer sich täglich zwanzig Mal die Pfoten desinfizieren muss, kann halt keine zehn Zentimeter langen Acrylnägel mit French Manicure haben! Aber das sagte ich auch nicht. Wenn ich so richtig beleidigt bin, sage ich eigentlich nie was. Am Ende verschlimmert das die Situation noch. Lieber gehe ich raus und drehe eine Runde auf meinem totgeliebten, rostigen alten Vehikel von einem Fahrrad, das ich Susi nenne.

„Dann geh halt ich einkaufen“, murmelte ich und schlüpfte schnell aus der Wohnung, bevor Max meine feuchten Augen sehen konnte.

Als ich zurückkam, probierten wir es mit Versöhnungssex. Das heißt, ich probierte es, denn was Max da eigentlich für eine Nummer abzog, weiß der Teufel. Das war zwar Sex, keine Frage, aber zur Versöhnung nicht besonders gut geeignet.

Max lungerte in der Küche herum, als wisse er selbst nicht so ganz, was er eigentlich wollte. Er musterte mich von oben bis unten; meine nachlässig zusammengebundenen Haare, meine Bluse mit dem hübschen Muster, die ausgewaschenen Jeans, meine roten Chucks. Ich schwieg und vermied es, ihn anzusehen. Etwas Lauerndes, Animalisches lag in der Luft, als ob ich ein Reh auf der Lichtung wäre und Max der hungrige Wolf. Noch bevor ich Igor mit meinen paar Einkäufen gefüllt hatte, sprang er mich richtiggehend an. Gerade, als ich mich über den Brotkasten beugte, schlang er von hinten die Arme um meine Taille und zog mich an sich. Er presste die Lippen auf meinen Hals und biss mich leicht in den Nacken. Das sollte wohl das Vorspiel sein, denn gleich danach spürte ich, wie er meine Jeans öffnete und sie mir mitsamt Slip nach unten zerrte.

„He“, hielt ich schwach dagegen. „Was soll das denn werden, ich hab’ doch noch gar nicht geduscht!“

„Egal, ich will das jetzt“, knurrte er, drückte mich über die Küchenarbeitsplatte und knetete kurz meinen nackten Hintern. Ein Schauder durchlief mich. Ich hörte seine Gürtelschnalle klicken und seine Hose rascheln, dann hielt er mich mit einer Hand fest und führte mit der anderen seinen Ständer an meine Öffnung. Er presste seine Hüften gegen meine, stieß ein paar Mal zu und war ganz in mir. Schnörkellos, wie ein Duracell-Häschen ging er zur Sache. Es ruckelte und wackelte, die Haut über meinen Beckenknochen scheuerte gegen die Kante der Arbeitsplatte, und ich versuchte mich mit den Händen irgendwo abzustützen, ohne die Gewürzgläschen auf den Boden zu schubsen. Ich wusste gar nicht so recht, wie mir geschah.

Meine Stirn schlug neben der Espressomaschine an die Wand, als es ihm kam und er verhalten grunzend in mich abspritzte. Obwohl mich das grobe Geruckel und Gewackel nicht ganz unbeeindruckt ließ und ich währenddessen doch immer feuchter wurde, war ich natürlich Lichtjahre davon entfernt, ebenfalls zu kommen. Max ließ sich nicht einmal die Zeit, in mir weich zu werden. Nach seinem Orgasmus zog er sich mit einem befriedigten Seufzer sofort aus mir zurück. Angesichts des ganzen Spermas und der blauen Flecken auf meinen Hüftknochen fühlte ich mich zwar ziemlich gründlich durchgefickt, aber bei Licht betrachtet war die ganze Sache schon eher enttäuschend.

Man mag es kaum für möglich halten, aber hinterher enttäuschte mich Max noch mehr. Statt sich zu mir zu kuscheln und unseren Streit auszudiskutieren, zog er sich die Hose hoch und schlenderte in sein Zimmer. Wir schlafen zwar in meinem großen Kingsize-Bett, Max besteht aber auf seinem eigenen Reich, ohne das er sich nicht konzentrieren könne. Dort packte er leise vor sich hin pfeifend ein paar Klamotten in seine Sporttasche. Als er mich im Türrahmen lehnen sah, schenkte er mir einen langen Blick, den man nur als verächtlich beschreiben kann. Er stand auf, warf sich die Tasche über die Schulter und ging an mir vorbei in den Flur, wobei er diese fiesen zwei Sätze sagte:

„Weißt du, mit dir macht’s halt einfach keinen Spaß, Icki. Du bist und bleibst eine pingelige, langweilige Kuh!“

Und dann war er weg. Die plötzliche Stille meiner Wohnung, so ganz ohne Breakdance und Vorwürfe, umhüllte mich wie eine Wand aus Watte.

Selbstverständlich bezog ich seine letzten Worte irgendwie auf meine sexuellen Fähigkeiten. Max war gegangen, weil er mich nicht nur im Alltag, sondern leider auch noch im Bett pingelig und langweilig fand.

Dabei hatte ich den Sex mit Max immer genossen. Nicht, dass ich da viele Vergleichsmöglichkeiten gehabt hätte. Max war der erste und bisher einzige Mann, der es jemals bis unter meinen Slip geschafft hatte. Okay, sein Schwanz war wohl nicht der allergrößte, aber das störte mich nicht. Dafür wusste er mit seinen Fingern und seiner Zunge so allerhand anzustellen – wenn er wollte. Bei unserem ersten Mal, als entsetzlich aufgeregte Sechzehnjährige, war ich sogar erleichtert über sein mittelprächtiges Format gewesen. Vor so etwas musste man sich wirklich nicht fürchten… Dementsprechend verlief unser erstes Mal völlig untraumatisch und eigentlich ganz nett, was man von all meinen Freundinnen nicht behaupten konnte.

Und jetzt saß ich auf dem hässlichen Sofa und sah mich mit dem ganz neuen Gefühl konfrontiert, beim Heulen zu erröten. Max’ völlig entspanntes Gesicht nach dem Orgasmus, seine von mir wild verstrubbelten Surferhaare. Der nackte Max mit dem Bettlaken als Umhang, wie er mir Hamlet vorspielte. Sein fieses Grinsen, wenn er sich vorbeugte, um meinen Hals zu küssen, weil er genau wusste, wie hilflos ausgeliefert ich dann war. Wie seine Schultermuskeln hervortraten, wenn er in mich eindrang. Sonntage, an denen man das Bett nur verließ, um Kaffee zu kochen und Croissants zu holen, die man in den Bauchnabel des anderen krümeln konnte.

An seiner Stelle standen nun diese drei Vorwürfe im Raum wie Ausrufezeichen: kein Spaß, pingelig, langweilig. Und als ob das nicht ausreichend gewesen wäre, hatte er mich als Ergänzung oder Gratiszugabe auch noch eine Kuh genannt. Zum ersten Mal in unserer Beziehung übrigens, mit meinem nachtragenden Elefantengedächtnis merke ich mir so etwas.

Nachdem Max gegangen war, saß ich lange auf unserem hässlichen Sofa und dachte nach. In meinem Kopf drehte sich ein Karussell. Kein Wunder – Max war mein allererster Freund, dementsprechend war ich gerade zum allerersten Mal verlassen worden. Das Thema „Schluss machen“ war mir neu. Ich weinte nicht. Ich verspürte nicht das Bedürfnis, den Couchtisch zu treten oder Max’ Unterhosen aus dem Fenster zu werfen (das kam dann ein paar Tage später). Ich war sogar zu perplex, um mir einen Kaffee zu kochen oder gleich einen Schnaps zu holen. Ich betrachtete einfach nur meine Hände, wie sie auf meinen Knien lagen und ein ganz klein wenig zitterten. Ehrlich gesagt wunderte ich mich, wie wenig sie zitterten. Dabei zog das Kennenlernen von Max und mir an meinem inneren Auge vorbei. Unsere glorreichen Anfänge…

Es war die inoffizielle Abiturfeier des Nachbar-Gymnasiums, auf der wir zusammen kamen.

„Hey, du bist doch die Icki?“

„Äh, ja?! Warum fragst du?“

„Na ja, weil…“ – gezielt eingesetztes, unwiderstehliches Sonnyboylächeln – „ich gerne weiß, wie das Mädel heißt, das ich heute Abend mit nach Hause nehme.“

Meine Reaktion auf diese unverschämte Anmache war nichts als purer Stolz gewesen. Ich wurde rot vor Glück. Dann grinste ich debil und nickte eilfertig, um mich gegen die Litfaßsäule drücken und küssen zu lassen. Ja, so war das damals mit sechzehn. Keine Ahnung von nichts, aber scharf darauf, dass etwas passiert in der großen weiten Welt, die einem doch angeblich sperrangelweit offen steht.

Nachdem ich eine ganze Weile wie gelähmt dagesessen hatte, begannen die Gedanken langsam wieder Form anzunehmen. Zuallererst überlegte ich, ob Max wohl auch das hässliche Sofa mitnehmen wollte, wenn er eine neue Wohnung gefunden hatte. Wir hatten es erst vor ein paar Wochen gekauft. Der komische grün-graue Farbton hatte mir schon im Laden nicht gefallen, aber Max bestand darauf. Das sei eine absolut zeitlose Farbe, elegant, ein Designklassiker. Für mich sah das Grüngrau eher nach schimmligem Brot aus, aber ich hatte ja keine Ahnung, ich hatte ja nicht studiert, und deshalb gab ich klein bei. Was wissen Krankenschwestern schon von Designklassikern?

Jetzt saß ich allein auf dem Designklassiker, sah meinen Händen beim Zittern zu und ärgerte mich umso mehr, dass ich mich bei der Auswahl nicht durchgesetzt hatte. Immerhin war das Sofa zum Großteil von meinem Geld bezahlt, wie so vieles in unserer Wohnung. Wie die Wohnung selbst auch. Ich war die alleinige Hauptmieterin. Weil natürlich jeder Münchner Vermieter, der seine sieben Sinne zusammen hat, lieber an eine fest angestellte Krankenschwester vermietet als an eine fest angestellte Krankenschwester UND ihren erfolglosen Schauspieler-Freund. Was sich jetzt schon sehr bald rächen würde, weil ich die Miete unmöglich dauerhaft allein aufbringen konnte. Den kleinen Zuschuss von Max’ wohlhabenden Eltern könnte ich natürlich auch vergessen, wenn ihr Sohn nicht mehr hier wohnte. Ausziehen wollte ich aber auf keinen Fall. Ich liebte diese kleine verschrammelte Bude in Haidhausen, schließlich war sie seit beinahe acht Jahren unser Liebesnest gewesen… oh Gott. Vermutlich müsste ich mir einen neuen Mitbewohner suchen. Ogottogott. Ein Eindringling in mein Reich, meine Rückzugshöhle, in der jedes Kissen seinen wohlüberlegten Platz hatte und die Dinge Namen besaßen! Ich gebe den Gegenständen, ohne die ich nicht könnte, nämlich gerne Namen. Mein Kühlschrank heißt Igor, meine alte Schrottmühle von einem Fahrrad Susi und meine Kaffeemaschine Wolfgang. Das ist individuell und leichter zu merken, finde ich. Besser als eine so kalte Buchstabenfolge wie „Espressokocher mit Siebträger“.

Mein zweiter Gedanke war, ob Max irgendwie Recht hatte mit seinen letzten Worten. War ich vielleicht tatsächlich eine Spaßbremse, eine pingelige, langweilige?

Langweilig. Pah! Wer es langweilig findet, eine Vollzeit berufstätige Frau an seiner Seite zu haben und sich von ihr aushalten zu lassen, dem ist nicht mehr zu helfen. Klar, ich war zuletzt vor vielen Jahren mit ihm auf einem seiner Filmfestivals gewesen, und wann ich mit ihm auf einer Party durchgemacht hatte, verschwamm völlig im Nebel der Erinnerung. Ich hätte nicht einmal die Jahreszahl nennen können. Aber das lag einfach daran, dass Max’ Filmrollen so rar gesät waren. Und daran, dass ich in Schichten arbeite. Wer Sonntag um vier Uhr morgens auf der orthopädischen Station mit dem Bettenwechseln beginnt, der geht eben nicht Samstag um halb zwölf noch tanzen. Oder jedenfalls nicht oft.

„Das ist nicht langweilig, das ist Schichtdienst!“, hatte ich Max noch nachgerufen. Aber er hörte es nicht mehr. Wollte es auch gar nicht hören. Wie so vieles in den letzten zehn Jahren.

Oder bezog sich das „langweilig“ gar nicht auf die Art und Weise, wie ich meine Freizeit verbrachte, sondern etwa auf mein Äußeres? Wäre ja noch schlimmer. Klar, ich trage lieber Jeans mit Chucks als Ledermini mit Plateau-Sandaletten. Und figurmäßig bin ich eher der Birnen-Typ. Keine supersaftige Birne, aber eindeutig auch keine Gurke oder Rübe. Aber hey, ich tusche mir täglich die Wimpern, notfalls auch schon um drei Uhr morgens. Außerdem habe ich eine super Haut und „die Haare schön“. Letzteres höre ich jedenfalls häufig in der U-Bahn, sogar von jungen Mädchen. Die sich wahrscheinlich nur mit mir anlegen wollen. Aber egal, es stimmt ja, ich habe schönes Haar. Kastanienbraune, glänzende Wellen bis zum Po. Ich hatte also jeden Anlass, mich in meiner Haut ganz wohl zu fühlen.

Bis Max ging.

Dass er richtig echt gegangen war, also für immer, war mir in dem Moment noch nicht so richtig klar. Mit mir hatte noch nie zuvor jemand Schluss gemacht. Daher wusste ich überhaupt nicht, wie ich mit der Situation umgehen sollte. Ich hatte überhaupt keine Strategie. Vorausgesetzt, dass Max tatsächlich nicht in einer Stunde reumütig wieder aufkreuzen würde, was sollte ich tun?

Wie man am besten mit Liebeskummer umgeht, musste ich jetzt im zarten Alter von siebenundzwanzig irgendwie selbst herausfinden. Laut Metal hören, drei Schachteln Zigaretten rauchen und zwei Wochen nichts essen wie die Mädchen damals in der Schule? Vierhundert SMS an den Typen schreiben und ihn und alle seine Facebook-Kumpels entfreunden?

Vermutlich wäre ich nach einer halben Stunde Gedanken-Ordnen auf dem hässlichen Sofa trotzdem aufgestanden, um mir einen Drink zu machen und meine beste Freundin Freddy anzurufenjedoch kam mir das Klingeln des Paketboten zuvor. Mit einem kompakten, aber sehr schweren Karton schleppte er sich die Stufen zu unserer Wohnung im zweiten Stock hoch. Ich rätselte kurz, bis ich begriff, um was es sich handelte: zwölf Flaschen Prosecco. Nicht irgendeiner, sondern ein ziemlich teurer, direkt aus Italien importierter. Das, was die Filmkumpels von Max gerne tranken. Max hatte wie schon erwähnt Sonntag Geburtstag, und ich hatte ihn und seine Kumpels überraschen wollen. Daraus wurde jetzt wohl eher nichts.

Keuchend setzte der Bote das Paket vor mir ab. Es klirrte ganz leise.

„Grüß Gott“, sagte ich, weil er mit seinem Schnurrbart und dem viereckigen Gesicht sehr bayerisch aussah und ich nicht recht wusste, was man sonst zu einem Paketboten sagen soll. Glücklicherweise hatte ich richtig geraten.

„Grüß Gott. San Sie de Frau Angélique Krüger?“

Er hatte Schwierigkeiten, meinen Vornamen richtig auszusprechen. Auf Anhieb schafft das eigentlich niemand, es sei denn, er ist Franzose oder sehr gebildet. Der Paketbote schaffte es nicht so richtig. So wie er es mit seinem bayerischen Dialekt aussprach, klang es ein bisschen wie „Oarschleckn“, also Arschlecken. Toll. Ich bin gebürtige Bayerin. Bis heute weiß ich nicht, was sich meine Eltern dabei gedacht haben. „Wir fanden das eben schön und so ungewöhnlich!“, sagten sie immer nur. „Würdest du lieber Steffi heißen?“

Meine Eltern. Ich liebe sie, aber sie haben mich vermutlich schon vor meiner Zeugung genervt. Es ist gut, dass sie immerhin eine Viertelstunde von München entfernt wohnen, meine Mutter nach ihrer Grauer-Star-Operation nicht mehr Auto fahren mag und mein Vater als ehemaliger Trucker aus Prinzip in keine S-Bahn steigt. Wer sein Kind Angélique nennt, obwohl er noch nicht einmal selbst Französisch spricht, muss das arme Ding, also mich, dann nicht auch noch jedes Wochenende quälen. Dass es in den Fünfzigern eine schlüpfrige Romanreihe namens „Angélique“ gegeben hatte, ist keine Entschuldigung. Die in den Sechzigern daraus entstandenen Softerotik-Filme, denen mein Papa wahrscheinlich seine sexuelle Erweckung verdankte (Igitt!), ebenfalls nicht.

Ich konnte es ja nicht einmal selbst aussprechen. Scheinbar reagierte ich schon als Kleinkind mit ablehnender Komplettverweigerung. Deshalb auch die Abkürzung, unter der mich seither alle kennen: „Icki“, das war das Einzige, was eine nuschelnde deutsche Zweijährige aus dem großen Namen machen konnte. Oder wollte.

„Das bin ich“, erwiderte ich dem Paketboten.

„Sie miassadn mir trotzdem Eahnaran Ausweis zoang“, seufzte der Mann. „Des is leider so mit dem Alkohol.“

Dann händigte er mir den Karton aus und ging wieder. Da stand ich nun mit zwölf Flaschen feinstem Prosecco für die Geburtstagssause des Mannes, der mich gerade verlassen hatte.

Für ein paar Minuten war ich kurz davor, zu meiner Lieblingsparkbank im Ostpark zu flüchten. Ich hatte die Turnschuhe schon geschnürt, den Mantel übergeworfen und den Fahrradschlüssel und eine Flasche Erdbeerlimes in meine Handtasche gepackt. Nicht, dass ich ständig Erdbeerlimes tränke, ganz im Gegenteil. Das dickflüssige Teufelszeug war von meiner Geburtstagsparty übrig geblieben – manche meiner Kolleginnen bestehen darauf – und ich war in dem Moment noch zu stolz, um Max’ Prosecco anzutasten. Doch als ich nach der Wohnungstür griff, rutschte mir der Henkel meiner Handtasche von der Schulter. Die Tasche schlug gegen den Türrahmen. Es gab einen dumpf knackenden Aufprall, der mir verriet, dass ich soeben meine teuerste Handtasche mit 0,7 Liter Erdbeerlimes geflutet hatte.

Grund genug, zuhause zu bleiben, beim Versuch des Taschenwaschens in der Badewanne doch noch einen Heulkrampf zu kriegen (Echtleder!) und hinterher mit einer Flasche Geburtstags-Prosecco im Wohnzimmer einzuschlafen während des Wartens auf eine SMS von Max.

Ich träumte davon, wie anders die letzten zehn Jahre hätten verlaufen können, wenn Max und ich damals auf der Abifeier nicht zusammen gekommen wären.

„Hey, du bist doch die Icki?“

„Äh, ja?! Warum fragst du?“

„Na ja, weil…“ – gezielt eingesetztes, unwiderstehliches Sonnyboylächeln – „ich gerne weiß, wie das Mädel heißt, das ich heute Abend mit nach Hause nehme.“

In meinem Traum wurde ich nicht rot vor Glück. Ich grinste auch nicht debil und nickte eilfertig, um mich gegen die Litfaßsäule drücken und küssen zu lassen. Ich ging nicht sofort mit zu ihm nach Hause, trank nicht den ersten Prosecco meines Lebens mit ihm und machte kein Petting. Ich unterzog mich nicht der gründlichsten Haarentfernung, die je ein Teenager gemacht hatte, und ich schlief nicht eine Woche später im eleganten Designerbett seines Jugendzimmers zum ersten Mal mit ihm.

In meinem Traum lächelte ich breit und zähnestarrend zurück, bevor ich weit ausholte und Max mit meiner kräftigen rechten Waschfrauenhand so richtig eine zementierte.

2

Ganz schön smart

Max kam nicht zurück. Nicht am nächsten Morgen, nicht am nächsten Tag, nicht einmal an seinem Geburtstag. Er rief auch nicht an. Ich schaffte es, ebenfalls nicht anzurufen, obwohl ich dreiundzwanzigtausend Millionen und siebenhundertvierundfünfzig Mal sooo kurz davor war. Die drei Kumpels, die am Samstagabend in schon ordentlich vorgeglühtem Zustand zu seiner Überraschungs-Geburtstagsparty auftauchten, vertrieb ich ohne Worte – nur durch die Macht meines Gesichtsausdrucks. Immerhin bedeutete ihre Ankunft, dass Max unsere Trennung noch nicht in der ganzen weiten Welt herumtrompetete. Nicht dass mich das großartig aufgeheitert hätte. Ich schwelgte immer noch in Erinnerungen unserer Anfangszeit.

Alle Mädchen wollten Max. Er hatte soeben die Schule geschmissen und als Übergangslösung ausgerechnet den Job im Pausenhofverkauf meiner Mädchenschule angenommen. Das komplette St.-Hedwig-Gymnasium war scharf auf ihn, von der Mittelstufe bis zu den Referendarinnen. Vermutlich hätte ihn auch die Konrektorin nicht von der Bettkante gestoßen, die war immerhin erst Mitte Vierzig.

Max musste nur aus dem zerbeulten Lieferwagen aussteigen, sich zu seinen Körben mit den belegten Semmeln und Plunderstücken bücken und dabei über seiner lässig zerschlissenen Jeans mit dem Knackpo einen Streifen gebräunter Surferhaut entblößen – schon löste er hinter der Fensterfront des Schulgebäudes zwei Dutzend Eisprünge aus.

Denn natürlich ging Max surfen, wenn er mit seinem Pausenhofverkauf fertig war. Am Eisbach, wo nur die Allercoolsten der Coolen surfen. Und natürlich konnte Max ganz hervorragend Nothing else matters von Metallica auf der Gitarre spielen und sogar einigermaßen dazu singen. Er wusste, wie man in den Isarauen ein anständiges Lagerfeuer mit nichts als einem Feuerzeug und einem alten Tempotaschentuch entzündete. Er beherrschte das Cocktailmixen und Jointdrehen aus dem Effeff und hatte auch entsprechende Quellen. Er konnte Bierflaschen mit dem Eckzahn öffnen und innerhalb von Minuten der Mittelpunkt sämtlicher Partys werden.

Überhaupt gab es in ganz München keine größere Partykanone als ihn. Wenn er in der Warteschlange vor einem Club seine blonden Surfersträhnen nach hinten strich und so guckte, als ob ihn nichts weniger interessieren könnte als dieser Laden, wurde er innerhalb von wenigen Minuten vom Türsteher persönlich untergehakt, umsonst hinein komplimentiert und mit zwei Literflaschen Wodka Absolut „aufs Haus“ versorgt.

Mit achtzehn hatte Max die Ausstrahlung des kommenden Weltstars. Sein unverschämt gutes Aussehen und sein gigantisches Ego öffneten ihm alle Türen. Und das Beste war: Die Einladungen galten immer auch für die schüchterne kleine Brünette an seiner Seite, die glücklicherweise niemand nach ihrem Ausweis fragte – mich. Ich schwebte durch die ersten Jahre mit ihm. Alle waren hingerissen vom Surferboy mit dem Strahlelächeln. Ich begnügte mich damit, den Fels in der Brandung zu spielen und ab und zu das Gefühl zu haben, etwas von seinem Glanz abzubekommen.

Im dritten Anlauf erhielt Max einen Ausbildungsplatz an der begehrtesten Schauspielschule Süddeutschlands. Sobald ich mit Ach und Krach mein Abi geschafft hatte, zogen wir zusammen. Ich absolvierte ehrgeizig meine Ausbildung, fütterte Max mit meinem kargen Gehalt mit durch und hielt mich für glücklich. Bis ich irgendwann aufhörte zu zählen, wie oft ich von der Arbeit nach Hause kam und einen komplett zugedröhnten Kerl vorfand, der seinen eigenen Namen nicht mehr wusste. Längst war Max von Joints und Wodka zu ganz anderen Substanzen übergegangen, die ihm seine sogenannten neuen Freunde von der Schauspielschule besorgten.

Langsam verstand ich, was genau Max damals auf dieser vermaledeiten Abifeier an mir entdeckt hatte. Was das Geheimnis war, das ich besaß und nach dem er verzweifelt suchte. Was ihm fehlte. Die Zauberformel, die die unscheinbare Icki so attraktiv für ihn machte, hieß innere Ruhe. Meine stabile Grundstimmung war es gewesen, die ihn angezogen hatte wie einen Vampir. Ihn, den flatterhaften Gesellen, der sich immer wieder aufs Neue die Bestätigung von Fremden holen musste, weil er trotz seines blendenden Äußeren nicht an sich selbst glauben konnte. Weil er gar nicht wusste, wie er den Hohlraum hinter der hübschen Fassade auffüllen sollte.

Ich dagegen hatte mit meinem Inneren nie große Probleme gehabt. Vielleicht nur deshalb, weil mein Äußeres nicht von klein auf Begeisterungsstürme provoziert hatte. Meine innere Ruhe war für mich selbstverständlich (jedenfalls, solange ich in regelmäßigen Abständen auf die Unterstützung von Wolfgang zurückgreifen konnte). Selbst jetzt war sie noch in Resten vorhanden, meine stabile Grundstimmung.

Am Montagmorgen erwachte ich auf dem hässlichen Sofa in einem Zustand, der jeder Beschreibung spottete. Seit Freitag früh drei Uhr hatte ich weder geduscht noch meine Zähne geputzt oder etwas gegessen. Meine individuelle Art von Liebeskummer-Bewältigungsstrategie hatte sich herauskristallisiert: Heulend alte Max-Fotos angucken und den Geburtstagsprosecco vernichten, mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von zwei Flaschen in vierundzwanzig Stunden. Trotzdem herrschte in mir keine ernsthafte Verzweiflung, sondern nur eine enttäuschte Traurigkeit. Ich war in ein Loch gefallen, jawohl, aber es erschien mir nicht so, als ob ich überhaupt nicht mehr herauskommen könnte. Es war eben ein Loch, tief und schwarz, aber es besaß einen Boden und eine kleine Ahnung von Lichtschein über mir. Ich wusste immer noch, wo oben und unten war in meinem Leben.

Draußen regnete es. Der Himmel konnte sich nicht entscheiden, ob er hellgrau oder dunkelgrau sein wollte. Genauso wie ich mich nicht entscheiden konnte, ob ich noch ziellos angetrunken oder doch schon wieder einfach traurig sein sollte. Wenn ich mein Handy nicht so nahe neben meinem Ohr liegen gehabt hätte, würde ich vermutlich heute noch schlafen und dabei laut schnarchend Proseccosabber auf dem Sofa verteilen. Des is leider so mit dem Alkohol, erinnerte ich mich im Halbschlaf an den Sinnspruch des Paketboten. Doch die SMS, die praktisch direkt in meinem Trommelfell einging, weckte mich problemlos. Alarmiert setzte ich mich auf. Wollte sich Max etwa bei mir entschuldigen? Oder noch einmal mit einer netten kleinen Beleidigung so richtig nachtreten? Zweiteres entsprach eher seiner Art. Doch das Display gab Entwarnung. Die SMS war nicht von Max, sondern von Freddy.

Hab so das Gefühl, du brauchst an diesem freudlosen Vormittag etwas Zuspruch. Hab ich Recht?

So schnell es mein uraltes Tastenhandy erlaubte, tippte ich zurück:

Ja bitte. Max weg, Kater da.

Freddy ist meine beste Freundin. Seit etwas mehr als zwanzig Jahren. Ursprünglich lag das nur daran, dass wir beide so sperrige Vornamen haben. Ihre Eltern hatten sie Friederike getauft, was man trotz der stattlichen vier Silben nur ganz doof abkürzen kann. „Ricky“ kam glücklicherweise nicht in Frage – so hieß eines dieser rappenden Mädchen von Tic Tac Toe, die in unserer Grundschulzeit ganz groß waren. „Freddy“ schien die einzige andere Alternative. Hätten wir mit sechs Jahren schon von der Horrorfilmreihe Freddy Krueger gehört, wäre vielleicht alles ganz anders ausgegangen.

So aber war die Erleichterung, sich am ersten Schultag neben jemanden setzen zu können, der nicht Stefanie oder Michael hieß, für uns beide groß genug, um uns innerhalb von Sekunden anzufreunden. Noch vor Weihnachten der ersten Klasse hatten wir herausgefunden, was uns sonst noch alles so verband. Es war und ist eine Menge. Von den kastanienbraunen Haaren und unseren beinahe identisch großen My little Pony-Sammlungen abgesehen, mochten wir beide am liebsten Pfirsich-Eistee und das Fach Deutsch. Wir hatten schon damals eine ganz besondere Art, unsere Umwelt wahrzunehmen, wenn wir zusammen waren. Wir versetzten uns in beliebige Rollen hinein und unternahmen stundenlange Reisen durch unsere verschrobenen Fantasiewelten.

Obwohl wir uns in der Pubertät körperlich gesehen denkbar weit auseinander entwickelten (ich ging eher unten in die Breite, Freddy ausschließlich oben) machen wir immer noch gerne spannende Reisen zusammen. Mittlerweile auch durchaus zu realen Zielen wie den Kanarischen Inseln oder der nächsten Konzerthalle. Und wir haben ein Standardgetränk, wenn wir uns treffen: Pfirsich-Eistee. On the Rocks. Mit Wodka.

An diesem Tag hatte Freddy jedoch keine Lust auf Eistee on the Rocks, vielleicht zum ersten Mal überhaupt. Stattdessen sah sie sich in meinem Wohnzimmer um, betrachtete den eingetrockneten Proseccosabber auf dem Sofa, rümpfte missbilligend die Nase und stakste wie ein Storch über die vollgeheulten Taschentücher und leeren Proseccoflaschen zum Balkon. Sie öffnete die Vorhänge und riss die Balkontür weit auf, um die frische Mailuft herein zu lassen. Dann guckte sie auf die Uhr.

„Icki, ist dir die Rebound-Phase ein Begriff?“

„Nein! Und was auch immer das ist, es ist mir auch egal! Scheißegal sogar!“, schluchzte ich.

„Ganz typisch, ganz, ganz typisch“, murmelte Freddy, setzte sich neben mich und streichelte mit etwas spitzen Fingern meinen Rücken. Ich verstand das mit den spitzen Fingern, weil ich immer noch dasselbe Schlaf-T-Shirt mit den Streublümchen trug, in das ich nach Schichtende am vergangenen Freitagnachmittag geschlüpft war. Vor vier Tagen. Ich verspürte das dringende Bedürfnis, in meinen Ärmel zu rotzen, unterließ es aber im letzten Moment, weil meine beste Freundin mich sowieso schon zu müffelig fand. War ich ja auch. Müffelig und betrunken.

„Typisch Icki, oder?“, murmelte ich. „Die blöde Nuss lässt sich verlassen, und dann sitzt sie rum und besäuft sich. Tut mir leid, aber mir ist nichts Besseres eingefallen. Ist mein erster Liebeskummer.“

„Nein, nicht typisch Icki. Die Icki, die ich kenne und schätze, hat immer gute Laune und einen schnoddrigen Spruch auf Lager. Oder eine abgefahrene Idee. Das, was ich hier vor mir sehe, ist ganz typisch Rebound-Phase.“

„Na gut, du hast gewonnen. Was ist denn diese Phase? Und woher weißt du so was?“

Freddy lächelte und reichte mir einen Superduper-Kaugummi, der so aussah, als wäre er in seiner Wirkung durchaus mit Rohrreiniger vergleichbar. Unter seiner steinharten, blassblauen Kruste mit den zahnreinigenden kleinen Kügelchen schmeckte er auch so. Ich kaute ein paar Mal darauf herum und fühlte mich gleich um ein Promill weniger betrunken.

„Ich hab das letzte Woche im Kurs gelernt.“ Seit einiger Zeit belegte Freddy eine Art Abendschule für Psychologie und Pädagogik, um besseren Zugang zu schwierigen Patienten zu finden. „Es gibt verschiedene Phasen oder Strategien, um mit Einschnitten in seiner Biografie umzugehen. Und die Rebound-Phase ist das, was mit Leuten passiert, die zu lange mit dem falschen Typen rumgedödelt haben. So wie du.“

„Na vielen Dank, du Arschgeige.“

„Gerne. Na komm, du weißt, dass Max und ich nie besonders viel voneinander gehalten haben. Also, kurz zusammengefasst: Wenn der Partner weg ist, müsste man sein Leben eigentlich an die geänderten Umstände anpassen. Man müsste sich fragen, was man eigentlich will, und man müsste eigentlich auch überlegen, was man selbst falsch gemacht haben könnte, um es beim nächsten Mal besser zu machen. Tun aber die wenigsten. Stattdessen verfallen viele erst mal in so ein wildes Rumgebumse nach dem Motto: Jeder Dödel ist besser als gar kein Dödel, und viele Dödel sind noch besser, damit ich mich meinen eigenen Problemen nicht stellen muss. Man will möglichst viel Erfahrung sammeln. Hörner abstoßen. Bei dir längst überfällig, wenn du mich fragst.“

„Ich hab’ aber nichts falsch gemacht!“, brummelte ich beleidigt.

„Ganz typische Reaktion!“, lachte Freddy. „Aber ich geb’ dir Recht. In deinem Fall ist natürlich wirklich nur Max der Arsch. Wobei du dich mit ein paar Jahren Abstand vielleicht mal fragen solltest, wieso du es denn so lange mit dem Depp ausgehalten hast. Da gehören ja doch immer zwei dazu.“

„Noch mal Danke. Und wenn ich aber gar nicht wild rumbumsen will?“

„Du musst. Das ist heilsam. Wenn man das nicht tut, hat man einen an der Waffel und wird ein verkorkster alter Spinner mit komischen Hobbies.“

„Pff! Sagst du!“

Freddy hörte auf, meinen Rücken zu streicheln, stellte sich vor mich und ergriff meine Handgelenke, um mich in Richtung Badezimmer zu manövrieren.

„Jawohl, und in meiner Funktion als deine beste Freundin sage ich dir direkt noch was. Es ist gleich Montagmittag und da draußen wartet eine Millionenstadt auf dich. Ich gebe dir fünf Minuten zum Duschen und zwei Minuten zum Anziehen. Ich mach’ dir in der Zwischenzeit einen achtfachen Espresso, wenn du mich an diese Höllenmaschine in deiner Küche ranlässt. Wir gehen jetzt einkaufen.“

„Aber Max ist weg!“, jammerte ich. „Ich will nicht einkaufen, ich will meinen Max zurück!“

Natürlich brach bei der Gelegenheit auch noch alles andere aus mir heraus – zehn Jahre Beziehung, Jubiläum, hübsche Haare, hässliches Sofa, pingelige Langweilerin, mit der das Leben und vor allem der Sex einfach keinen Spaß machen – aber Freddy fiel mir einfach ins Wort.

„Ach, das weiß ich doch längst. Und ich bin froh, dass du ihn endlich los bist. Und dir werde ich schon auch noch beibringen, dich drüber zu freuen. Aber jetzt ist erst mal Ablenkung angesagt. Wenn du jemals einen neuen Typen abkriegen willst, dann brauchst du ein paar neue Klamotten, und zwar sofort!“

„Was ist denn an meinen alten Sachen auszusetzen?“

„Nichts, sie sind halt alt. Aber wenn du gerne aussiehst wie eine Religionslehrerin, ist das natürlich deine Sache.“

„Eine Religionslehrerin?!“

Freddy hörte auf, meinen Rücken zu streicheln, und zupfte nachdrücklich an meiner Bluse.

„Genau, die Blümchenmuster und das ganze Gedöns. Schau mal, bei dieser Bluse haben sogar die Knöpfe Blumenform. Und sie sind rosa. Wie alt bist du denn, Icki, zwölf?“

„Ich finde das halt mädchenhaft und romantisch!“

„Du suchst aber keinen verwirrten Pädophilen, du bist eine Frau Ende Zwanzig und brauchst dringend einen Kerl. Aber aus dir machen wir schon noch was Flottes. In neuen Lebenssituationen braucht man einfach einen neuen Stil. Komm jetzt, du pingelige Kuh, oder bist du dafür auch zu langweilig?“

Wenn irgendjemand auf der Welt die Diplomatie nicht mit dem Löffel gefressen hat, dann meine beste Freundin Freddy. Ich wundere mich immer wieder darüber, wie sie überhaupt als Physiotherapeutin arbeiten kann, ohne permanent Beleidigungsklagen an den Hals zu kriegen. Bei der Arbeit reißt sie sich zusammen. Bei mir nicht. Mir gegenüber ist sie direkt und unverblümt, da muss sie sich nicht verstellen. Echte Freunde sind ehrliche Freunde. Und genau für diese Ehrlichkeit liebe ich sie auch – denn ich selbst gehe immer viel zu weichherzig in die Welt hinein und bin dann ganz erstaunt, wenn ich eins auf die Nase kriege. Freddy würde das nie passieren, die rollt über alles hinweg wie ein fröhlicher Panzer. Irgendwann, hoffe ich, wird ihre Unverfrorenheit auch ein bisschen auf mich abfärben.

Auch in Sachen Beziehungen zur Männerwelt besteht zwischen Freddy und mir ein Unterschied wie zwischen Tag und Nacht. Während ich noch nie einen anderen Typen als Max auch nur geküsst habe, herrscht rund um den Unterleib meiner besten Freundin so etwas wie Freibier-Stimmung. Jeder darf mal, jeder ist willkommen, aber niemand sollte allzu lange bleiben, damit er nicht irgendwann vom Wirt rausgeschmissen wird. Keiner ihrer „Freunde“ bleibt länger als zehn Wochen, doch der nächste steht immer schon in den Startlöchern. Manchmal hat sie sogar mehrere nebeneinander. Der Stau auf dem Mittleren Ring ist ein Dreck dagegen. Entschuldigung, dass ich das so ausdrücke, aber Freddy hat eine sehr lockere Einstellung und macht selbst Witze über ihr uferloses Sexualleben: „Wenn man Physiotherapeutin ist, muss man den ganzen Tag Leute zu Bewegung und Sport zwingen. Nach Feierabend will ich dann nicht auch noch selber Sport machen. Nach achtzehn Uhr kann ich kein Theraband, keine Gummibälle und keine Weichschaummatten mehr sehen. Aber irgendeinen Work-out brauch’ ich ja trotzdem, also habe ich eben Sex! Mein Schlafzimmer ist im Grunde nur ein getarntes Fitnessstudio. Wobei die Männer heutzutage ja nicht mehr robust sind. So ein einzelner Trainingspartner hält meistens nicht lange vor. Kein Wunder, ich hab’ das schließlich studiert!“

Freddy kauft auch so ein, wie sie Typen aufreißt. Schnell, zielstrebig und ohne die geringsten Selbstzweifel pickt sie sich heraus, was sie brauchen könnte. Ob Männer oder T-Shirts: Sie findet immer etwas. Nicht unbedingt in der besten Qualität, aber für zwei, drei Mal reicht’s schon…

Auch an diesem Mittag im größten Einkaufszentrum Münchens bestätigte sich ihre Schnäppchenmentalität wieder einmal. Während ich angesichts der drängelnden, laut herumtelefonierenden Menschenmassen um uns herum schon in der U-Bahn zu hyperventilieren begonnen hatte, fand Freddy gleich im ersten Laden ein Paar neuer Stiefeletten und ein atemberaubendes Partykleid. Beides war beschämend tief reduziert und passte ihr perfekt. An der Kasse nahm sie souverän auch die Telefonnummer des ganz ansehnlichen Verkäufers entgegen. Weil mein Gesicht immer noch länger wurde, sah Freddy ein, dass mir durch weitere Vorführungen ihres Schnäppchenglücks nicht geholfen wäre. Seufzend hakte sie mich unter und dirigierte mich durch die Menschenmenge in das nächste Eiscafé. Dort gab es eine weitere Telefonnummer vom süßen italienischen Kellner für sie und (nachdem der Laden zwar Wodka, aber keinen Pfirsich-Eistee führte) einen extragroßen Prosecco für mich. Zusätzlich zwängte mir Freddy drei Viertel ihres Baguettes mit Parmaschinken auf, das ihr angeblich zu viel wurde. In Wirklichkeit hörte sie mein übersäuertes Magenknurren nur deutlicher als ich. Manchmal war sie eben doch diplomatisch, aber nur ganz im Geheimen.

Hinterher war mir etwas wohler. Die fünfzigtausend Teenager, die an diesem Montag ebenfalls das Einkaufszentrum heimsuchten, machten mich nicht mehr ganz so kirre. Und Freddy erklärte sich bereit, meine persönliche Shoppingberaterin zu spielen.

Seltsamerweise wirkte ihr Schnäppchenglück auch bei mir. Innerhalb von weniger als einer Stunde hatte sie mich ebenfalls mit neuen Stiefeletten, einem Kleid und einer passenden Handtasche versorgt. Eigentlich trage ich so was gar nicht, aber in diesem Moment war mir das egal. Darin bin ich bestimmt nicht langweilig, schoss mir durch den Kopf, als ich mich in dem engen weinroten Jerseykleid im Spiegel der Umkleidekabine erblickte. Es war gerade lang genug, um nicht obszön auszusehen, und die Wickeloptik in der Taille ließ meine Birnenhüften vorteilhaft geschwungen wirken. Dazu die Stiefel und das albern kleine Lackhandtäschchen – ein perfektes Aufreißer-Outfit. Freddy war zufrieden.

„Wenn du meinst, dass das irgendwie hilft“, protestierte ich.

„Oh ja, tut es, dafür werde ich schon sorgen“, grinste Freddy und zog mich in den nächsten Laden. „Und was bei akuter Trenneritis auch hilft, ist neue Unterwäsche. So richtig wilde, teure Teile, dass es einem selber peinlich ist.“

„Dass einem was peinlich ist – das Wilde oder das Teure?“, fragte ich, doch Freddy lachte nur und blieb vor einem Regal mit halterlosen Strümpfen stehen. Erschrocken stellte ich fest, dass wir uns in einem Sexshop befanden. Jedenfalls sah es für mich auf den ersten Blick so aus: nichts als Strapsgürtel, durchsichtige BHs, Stofffetzen mit roten Marabufedern und Höschen mit sehr zweifelhafter Textillage im Schritt. Wie ich nach ein paar Schocksekunden feststellte, handelte es sich natürlich um einen ganz normalen Wäscheladen. Nur dass ich mit solchen Läden ungefähr ebenso vertraut war wie mit „richtigen“ Sexshops. Meine BHs besaß ich alle schon seit der Schulzeit oder hatte sie als Fehlkäufe von meiner Schwester bekommen, und meine Unterhosen, die ich bis dahin immer im Kaufhaus erworben hatte, waren alle aus Baumwolle. Eine Unterhose hatte in meinen Augen vorrangig eine Pflicht zu erfüllen: den Popo verpacken und dabei möglichst wenig stören und kneifen.

Das Sortiment dieses Ladens hier spielte in einer ganz anderen Liga. Hier gab es keine Unterhosen, hier gab es Dessous. Doch als sich das Blut aus meinem Kopf zurückgezogen hatte und die erstaunlich wenig modelähnliche Beraterin freundlich sich unser angenommen hatte, kam doch die lang verdrängte Glitzerbarbie in mir zum Vorschein. Das kleine Mädchen, das auch all das haben möchte, was die Mädchen mit den reicheren Eltern haben.

Wir verließen das Dessousgeschäft mit einem Set aus schwarzer Spitze und nachtblauem Tüll. Dazu hatte mir Freddy ein Paar schlichter halterloser Strümpfe aufgeschwatzt, weil das den tollen Eindruck des Wäschesets nicht stören würde und es nach ihrer Erfahrung angeblich keinen Mann gab, der wirklich auf Strumpfhosen stand. Ich war stolz. Es war das erste Mal, dass ich überhaupt den passenden BH zum Slip besaß, und in diesem Slip war sogar mein Popo einigermaßen verpackt. Wenn er auch durchschimmerte.

„Danke für die Schützenhilfe“, sagte ich feierlich zu Freddy. „Jetzt fühle ich mich dem zu erwartenden Ansturm der Männerwelt einigermaßen gewappnet. Stell dir vor, ich hätte das ganze neue Zeug schon an. Würdest du mir einen Drink ausgeben, wenn du ein Mann wärst?“

Freddy sah mich belustigt an. „Mal sehen, mein Shopping-Meisterstück…“ Sie stellte sich vor mir auf und musterte mich gründlich von oben bis unten. „Du kennst deinen Marktwert gar nicht, stimmt’s?“

„Marktwert! Ich will mich doch nicht an der Börse bewerben, ich will mir einen neuen Macker aufreißen!“ Das Glas Prosecco im Eiscafé hatte meinen Liebeskummer-Rausch wiederbelebt und meine Zunge gelockert.

„Aber was anderes als eine Börse ist das Ding zwischen Männlein und Weiblein nicht. Damit man was kriegt, muss man auch was bieten können.“

„Bei dir ist das ja auch einfach“, brummelte ich mit einem Seitenblick auf ihre Brüste.

„Na komm, Süße. Jetzt mach mal halblang, du mit deiner Busenfixiertheit. Dafür kannst du alles tragen, ohne dir bloß wegen der Möpse alles zwei Nummern größer kaufen zu müssen. Was glaubst du, wie ich dich für deine Haare und dein Puppengesicht beneide? Du bist sportlich, hast kein Gramm Fett zu viel und übrigens auch tolle Beine, die du nie zeigst, weil du deinen Hintern in Miniröcken dick findest. Was er nicht ist. Nur rund und knackig! Was ich hier vor mir sehe, ist eine schlanke junge Dame, die Frisuren- und Make-Up-Model sein könnte und nach der sich neunzig Prozent der Männer die Finger lecken. Und die restlichen zehn Prozent können mich mal. Und dich erst recht!“

So schöne Komplimente hatte ich zuletzt von einer gewissen Scheichmutter gehört. Ich hatte Tränen in den Augen vor Dankbarkeit. Wortlos nahm ich Freddy in den Arm und drückte sie.

„Moment, Moment, eins fehlt noch!“, fiel Freddy ein. „Was hast du denn in deinem kleinen schwarzen Lackhandtäschchen alles drin, wenn du auf Aufreiß-Tour gehst?“

„Vorausgesetzt, ich würde mich trauen, auf Aufreiß-Tour zu gehen.“

„Ich zwinge dich einfach. Also, was ist in deiner Handtasche?“

Ich zuckte die Schultern. „Schlüssel, Perso, bisschen Kohle, eine Packung Taschentücher.“

„Reicht nicht.“

„Lippenstift?“

„Der zählt nicht.“

„Ein Kondom?“

„Lobenswerte Idee, reicht aber immer noch nicht.“

„Zwei Kondome? Drei Kondome?“

„Na, so einseitig interessiert bin ja noch nicht mal ich“, grinste sie. „Mir genügen immer zwei, die meisten Kerle haben ja auch welche. Nein, Spaß beiseite“ – mit einem schnellen Griff, der jedem Taschendieb Ehre gemacht hätte, langte sie in meine Jackentasche und zog mein Handy hervor – „Ich meine das hier.“ Anklagend hielt sie mir das verkratzte Stück entgegen und tippte vorwurfsvoll gegen das daumennagelgroße Display. „Das ist dein Problem.“

„Wieso? Funktioniert einwandfrei. Gut, es ist nicht mehr das aktuellste…“

Das war schmeichelhaft ausgedrückt. Ich besaß das Ding seit dem Abi. Der dunkelblaue Plastikknochen trug die Bezeichnung Telefon zu Recht. Das Gerät war zwar unkaputtbar, konnte aber nichts anderes als telefonieren und, wenn man sich auf dem winzigen Einfarbdisplay die Mühe machte, mit etwas Gewaltanwendung auch SMS versenden.

„Dieses Gerät wird dir alles verderben. Damit hält dich jeder Mann, der nicht gerade Biokleinbauer mit Strahlenangst ist, für einen komischen Vogel ohne Technikbezug.“

„Hey, mach mal halblang, ich bin ein komischer Vogel ohne Technikbezug und auch noch stolz drauf!“

Ich holte Luft, um Freddy zu erklären, weshalb ich echte soziale Nähe dem ganzen virtuellen Ersatzkram vorzog, doch sie wischte meine Empörung mit einer Handbewegung beiseite und ließ mich gar nicht zu Wort kommen.

„Ach Papperlapapp. Glaub mir, du willst höchstens so lange den komischen Vogel ohne Technikbezug spielen, bis dir der erste verdammt heiße Typ ein Foto von seinem Schwanz schickt und du es nicht öffnen kannst.“

„Schwanzfotos? Echt, so was machen die?“

Freddy verdrehte die Augen. „Du bist so hoffnungslos, meine Gute! Okay, ich hätte es ahnen müssen, ich musste ja schon wochenlang auf dich einreden, bis du dir überhaupt einen Facebook-Account zugelegt hast. Icki, du Kind der Neunziger, weißt du eigentlich schon, dass man heute keine Ersatzteile für seinen Walkman mehr kaufen kann? Wir sind digital, Mäuslein! Was glaubst du eigentlich, wie ich meine ganzen Fickerles aufreiße? Bestimmt nicht in der Pommesbude an der Straßenecke. Dafür gibt es Dating-Apps!“

Ich zuckte misslaunig die Schultern. „Ich will aber gar keinen neuen Freund. Und schon gar kein Fickerle. Ich will allerhöchstens Max.“

„Ach komm, Icki, das ist doch nur so ein Reflex von dir! Ich verstehe ja, dass du dich an den Typen gewöhnt hast, du kennst schließlich kaum andere. Aber wenn du ehrlich bist, war er nie besonders nett zu dir. Was gedenkst du überhaupt zu tun, um ihn zurück zu kriegen?“

„Äh, abwarten und Alkohol trinken?“

„Nein. Lass dir was Besseres einfallen.“

„Eifersüchtig machen und Alkohol trinken?“

„Genau! Und wie stellst du dir das so vor?“

„Ich könnte mit einem Anderen schlafen und ihm dann eine SMS schicken.“

„Keine schlechte Grundidee. Aber du musst noch nicht mal so weit gehen, wenn du nicht willst. Es reicht ja vielleicht schon, wenn du ihm ein Schwanzfoto schickst! Und die kriegst du bei so einer Dating-App frei Haus.“

Ich gab mich geschlagen. „Ein Foto von so einem Mörderding würde vielleicht tatsächlich helfen. Das würde ihn bestimmt bei seiner Männerehre packen.“

Dass Max nicht gerade der Schwertfisch unter den Schwanzträgern war, wusste Freddy als meine intimste Vertraute natürlich längst.

„Na also. Problem gelöst!“ Sie hielt mir mein altes Handy mit spitzen Fingern hin, als wäre es ein vor zwei Wochen im Kühlschrank vergessener Cheeseburger. „Komm, wir kaufen dir ein Smartphone. Jetzt!“

Freddy zog mich auf den blinkenden, bunt leuchtenden Eingangsbereich eines Großfilialisten für Elektrokram zu, doch ich protestierte.

„Also wenn ich mir unbedingt so ein Teil zulegen muss, dann bitte in einem netten kleinen unabhängigen Laden! Ich hasse diese großen Ketten, die den ganzen anständigen armen Schweinen das Geschäft kaputt machen.“

Wir liefen das halbe Einkaufszentrum ab, bis wir einen netten kleinen unabhängigen Laden fanden. Eine sehr freundliche, aber in Sachen Telekommunikation vermutlich noch weniger als ich beschlagene Dame im gefühlten doppelten Renteneintrittsalter erklärte uns, dass sie uns leider nicht mehr bedienen könne, weil sie gleich schließen müsse. Ihr Hund sei nämlich etwas unpässlich und ihr Großneffe, der sie nach dem Tod ihres Mannes hin und wieder im Geschäft vertrete, könne heute auch nicht.

Traurig und unverrichteter Dinge zogen wir davon. Als wir doch die strahlend erleuchtete Filiale des Elektro-Riesen ansteuerten, fühlte ich mich, als hätte ich der armen alten Dame eigenhändig die spärliche Witwenrente halbiert.

Mein neues Telefon entschädigte mich für die schlechten Gefühle. Ein superfreundlicher, supergut aussehender Typ mit Elvisfrisur beriet uns (natürlich gab er hinterher Freddy seine Nummer, aber immerhin, er redete mit mir).

Nachdem ich auf einigen viel zu riesigen und einigen popelkleinen Kästen herumgewischt hatte, entschied ich mich für ein ganz schlichtes Modell eines bekannten asiatischen Herstellers. Es konnte Musik spielen, Videos, Fotos und Audiodateien aufnehmen, hervorragend im Internet herumsurfen, notfalls auch das nicht vorhandene Navigationsgerät meines nicht vorhandenen Autos ersetzen und natürlich auch telefonieren. Vor allem aber besaß es angeblich eine lange Akkulaufzeit und lag gut in der Hand.

Ich hatte ja keine Ahnung gehabt, wie günstig man an so ein Smartphone kam. Klar, der Vertrag war nicht komplett geschenkt und hatte eine Laufzeit von zwei Jahren, aber die monatliche Rate war alles in allem halb so teuer wie der Uralt-Vertrag meines Beißknochens, der sich seit ungefähr zehn Jahren immer automatisch von selbst verlängert hatte.

Ich hatte auch gar nicht gewusst, dass es so viel tolles Zubehör für Smartphones gab. Die wieder auferweckte Glitzerbarbie in mir ließ sich kaum davon abhalten, eine mit Straßsteinchen besetzte Hülle aus rosa Pfauenlederimitat zu erwerben.

„Das brauchst du nicht, du Zwölfjährige“, seufzte Freddy. „Das Einzige, was du bei deinem Geschick vielleicht noch abschließen sollest, ist eine Versicherung gegen Runterfallen.“

Das tat ich. Die Versicherung kostete nur einen Euro pro Monat zusätzlich. Ich verließ den Laden glücklich und in dem Gefühl, gerade noch den Anschluss an den Zeitgeist geschafft zu haben. Vielleicht, ermahnte ich mich, sollte ich neuer Technik (und neuen Bekanntschaften!) nicht von vorneherein immer gleich so negativ gegenüber stehen. Der Verkäufer zum Beispiel war ja schon mal gar nicht so übel gewesen.

„Ich werde es Schorschi nennen“, sagte ich feierlich zu Freddy, während wir mit unseren Tüten und Päckchen behängt auf der Rolltreppe der U-Bahn entgegen schwebten.

Wenn das auf der Rolltreppe möglich gewesen wäre, wäre Freddy entsetzt stehen geblieben. So aber fiel ihr nur eine Tüte mit Schuhen herunter. Abrupt wandte mir Freddy ihre weit aufgerissenen grünen Augen zu, während die Rolltreppe gelassen weiter ratterte. „Wen? Was? Schorschi? Bist du etwa… schwanger?!“

„Aber Nein! Ich bin Krankenschwester, da weiß ich doch, wie man die Pille nimmt!“ Jetzt fiel mir eine Tüte herunter, ausgerechnet die mit den Dessous. Prompt rutschte das Päckchen mit den halterlosen Strümpfen ein paar Stufen weiter und einem älteren Herrn vor die Füße, der es erst stirnrunzelnd betrachtete und mir dann mit einem dreckigen Grinsen nach oben reichte. Mit knallroten Ohren verstaute ich es wieder und erklärte der schockierten Freddy meine Idee: „Ich will einfach nicht immer Smartphone sagen müssen. Smartphone ist doch ein blödes Wort, das holpert so. Aber Telefon trifft es ja auch nicht ganz. Also nenne ich das Ding halt Schorschi!“