Roadtrip mit Millionär - Eva Kah - E-Book

Roadtrip mit Millionär E-Book

Eva Kah

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Beschreibung

Das kann ja mal passieren, dass man -ganz aus Versehen- einen Millionär ausknockt. Vor allem, wenn dieser gerade dabei ist, den Campingplatz, den man leitet, in einen Büropark zu verwandeln. Die junge Linda leitet einen Campingplatz, der schon bessere Tage gesehen hat. Trotzdem hängt ihr Herz daran. Als David, ein schwerreicher Bauunternehmer, daherkommt und den Campingplatz einfach so plattwalzen lassen will, versucht sie alles, um ihn aufzuhalten. Die Bagger lauern schon, da bekommt David versehentlich eine Fünf-Kilo-Dose Tomatenmark an die Schläfe … Und Linda hat eine Idee. Zugegebenermaßen eine total verrückte Idee, aber sie fackelt nicht lange und nimmt David mit auf einen Roadtrip quer durch Osteuropa. Dass David vorübergehend sein Gedächtnis verloren hat, dank der Tomatendose, macht die Sache etwas einfacher. Aber nur ein wenig, denn David sieht nicht nur gut aus, sondern ist auch sehr charmant. Es dauert nicht lange und er verdreht Linda den Kopf. Und damit gehen all ihre schönen Pläne den Bach runter ... Hol dir das Buch, wenn du Lust hast auf einen total verrückten Roadtrip inklusive Millionär, Herzschmerz und Autopannen!

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Roadtrip mit Millionär

Crazy Love

Eva Kah

Inhalt

Disclaimer

1. Die Einzigartigkeit des Schlafsackes

2. Jan Sobieskis Kettensägenmassaker

3. Glamping mit Tante Thea

4. Blut und Borschtsch

5. Warum die Russen die Zahnfee entführten

6. Geiseln nehmen für Anfänger

7. Das goldene Gänseküken

8. Schiffe versenken in Sachsen

9. Rägen bringt Sägen

10. Zum Glück gibt's Shabby-Chic

11. Octopussy Deluxe mit Hogu Boss

12. Das Geheimrezept der Baronesse

13. Karma in Krzywdy und andere Kollateralschäden

14. Wir stecken alle im selben Schlafsack

Epilog

Über den Autor

OBO e-Books

Disclaimer

Dies ist ein Werk der Fiktion. Handlungen und Figuren sind frei erfunden. Sämtliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und wurden nicht beabsichtigt. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Schnappschildkröten können hingegen nicht ausgeschlossen werden.

Zweite Auflage 2019.

1

Die Einzigartigkeit des Schlafsackes

Es ist 3.51 Uhr, als ich zum ersten Mal seit langer Zeit ganz alleine aufwache.

Das ist im engeren Sinne nicht mal „Morgen“, sofern man nicht als Bäcker oder Zeitungsausträger arbeitet, sondern ganz eindeutig noch Nacht. Aber der alte Wecker neben meinem Bett kommt aus einem Werk in Wladiwostok und hat immer recht. Er geht vielleicht nicht auf die Sekunde oder Minute, aber auf die akademische Viertelstunde genau. Ich war zwar nur sehr kurz Akademikerin, aber diese Zeitangabe hat mir immer vollkommen genügt. Wie mir der Kontrollblick unter der Blümchengardine hindurch verrät, ist es draußen stockdunkel.

Eigentlich keine Zeit zum Aufstehen. Aber vielleicht eine gute Zeit, um ungestört nachzudenken. Das bleibt im turbulenten Alltag leider zu oft auf der Strecke, und in der letzten Woche erst recht. Kann man vom Campen Jetlag haben?

3.52 Uhr. Ich strecke mich aus, bis meine Fingerspitzen an die Linolverkleidung über dem Bett stoßen, gähne, bis die Kiefergelenke knacken, und dann verschränke ich die Arme unter dem Kopf und fange mit dem Wichtigsten an. Da ich das Nachdenken so lange habe schleifen lassen, tut eine gewisse Zusammenfassung not. Wie ich mich kenne, werde ich dabei ganz automatisch vom Hundertsten ins Tausendste geraten.

Guten Morgen also, mein Name ist Linda Lewandowski. Meinen Nachnamen kann man hinten auch mit „a“ schreiben, dann handelt es sich um die korrekte weibliche Form in Polen, wo mein Vater herkommt. Aber es macht mir nichts aus, wenn jemand das „i“ benutzt – in der letzten Zeit ist es in meinem Leben derart drunter und drüber gegangen, dass ich manchmal selber nicht mehr wusste, ob ich Männlein oder Weiblein bin und wie das eigentlich alles läuft mit den Bienchen und Blümchen …

Vor einer Woche war ich noch eine harmlose Löwenbütteler Campingplatzbetreiberin mit vielen Tieren, komischer Ersatzfamilie und der vermutlich größten Schlafsacksammlung der Welt. Okay, mittlerweile bin ich eine Löwenbütteler Campingplatzbetreiberin mit vielen Tieren, komischer Ersatzfamilie, weltgrößter Schlafsacksammlung UND einem Verlobten. Und das mit dem Verlobten ist zwar das Wichtigste, aber nicht unbedingt das Aufregendste, was sich in dieser Zeit ergeben hat. Meine Harmlosigkeit zum Beispiel, die hat sich erledigt.

So ganz nebenbei, mehr oder weniger aus Versehen, habe ich auch noch ziemlich viele Straftatbestände erfüllt: Körperverletzung, erpresserischer Menschenraub, Autodiebstahl, Hehlerei, illegale Einreise in verschiedene EU-Länder ohne gültiges Ausweisdokument, unerlaubter Handel mit geschützten Tierarten, Missbrauch von Medikamenten, Gefährdung von Schutzbefohlenen, Amtsanmaßung, Erregung öffentlichen Ärgernisses und wer weiß was sonst noch. Ach ja, Fahren ohne Fahrerlaubnis natürlich auch noch. Wenigstens war ich dabei nicht besoffen. Hätte vielleicht geholfen …

Aber jetzt keine falsche Bescheidenheit. Diese Geschichte soll ja da anfangen, wo sie spannend wird. Der Rest ergibt sich dann schon.

Alles begann mit einem sehr gut gekleideten Mann mit sehr schlechter Laune.

Er stand eines Morgens um 7.21 Uhr in der Einfahrt und suchte nach etwas. Ich konnte ihn von meiner Lieblingstonne aus gut beobachten, und wenn ich in der vorangegangenen Nacht nicht so schrecklich schlecht geschlafen hätte, dann wäre die ganze Sache sicherlich anders ausgegangen. Normalerweise schlafe ich nämlich um 7.21 Uhr noch und krieche erst um fünf vor neun hinüber ins Büro, wo die Kaffeemaschine steht. Vor allem, wenn der vorangegangene Abend ein lauer Sommerabend gewesen ist, an dem ein oder zwei Camper bis tief in die Nacht auf der Bistroterrasse gesessen, ein Bierchen nach dem anderen bestellt und mir dabei ihre Lebensgeschichte erzählt haben. Weil ich selbst meine einzige Angestellte bin, kann ich für so etwas nur mich ausbeuten. Ich zapfe also Bier und höre zu, und wenn ich mich dabei allzu sehr langweile, rechne ich im Hinterkopf meinen Lohn aus: Sechs große Pils in zwei Stunden, das macht dann insgesamt achtzehn Euro brutto und ungefähr sechs Euro netto, solange ich das Toilettenputzen nicht mitrechne. Goldene Kloschüsseln verdient man sich mit so etwas nicht. Manchmal gebe ich auch psychologisch fundierte Ratschläge, aber nur bei mehr als drei Euro in der Stunde und wenn einer nett fragt. Die Lebensgeschichte von Herrn Wiesloch aus Niedereschborn am Tag zuvor war sogar ausnahmsweise recht spannend, aber trotzdem gehen unsere offiziellen Öffnungszeiten von neun bis achtzehn Uhr. Auf einem Campingplatz wird schließlich Urlaub gemacht und kein Kadettentraining!

Dazu muss ich erwähnen, dass es mit meinem Schlafrhythmus eh nicht mehr so weit her ist, seit ich mein Bett im Bürohäuschen für eine neue Tiefkühltruhe eintauschen musste. Es war eh nur ein Klappbett. Aber weil das Bürohäuschen gleichzeitig auch die Küche für mein kleines Camper-Bistro und natürlich die weltgrößte Schlafsacksammlung beherbergt, fiel die Entscheidung zu seinen Ungunsten. War nicht meine Idee, das mit der Tiefkühltruhe. Der Kontrolleur vom Amt für Lebensmittelhygiene meinte, das müsse so sein, wenn ich meine Gastronomielizenz nicht verlieren wolle. Neue EU-Verordnung. Vor allem, weil er bei der Fritteuse (zu alt) und der Kaffeemaschine (kein GS-Prüfsiegel) schon beide Augen zugedrückt habe.

Und da Pommes, Bier und Currywürste nun mal das Einzige waren, was an meinem Campingplatz wirklich Umsatz brachte, bestellte ich mir zähneknirschend so eine neue Tiefkühltruhe im Gegenwert eines kleinen Gebrauchtwagens, mit Tuten und Blasen und supernervigen Piepstönen zum Stromsparen, sobald man sie nur anguckt. Mein altes Bettgestell wanderte auf den Sperrmüll, die Matratze schenkte ich unserem paranoiden Hausmeister Horst und seither schlief ich eben reihum da, wo gerade ein Bett frei war. Auf so einem Campingplatz gibt es immer irgendwo Kapazitäten. Und wozu verfüge ich schließlich über die womöglich weltgrößte Sammlung von Schlafsäcken?

So ohne eigenes Bett weht einem gleich der Duft der großen weiten Welt um die Nase, auch wenn man es selten über die Stadtgrenze von Löwenbüttel hinaus schafft. Ich mag die Unabhängigkeit und Freiheit. Es ist auch gut, wenn ein Vermieter seine Räumlichkeiten regelmäßig testet. So fand ich zum Beispiel rechtzeitig heraus, dass der Stromverteiler bei den regulären Zeltstellplätzen einen Wackelkontakt hatte, die Terrasse der Bungalows an einer Stelle morsch war und das Dach von Tante Theas Wohnmobil bei Hagel undicht war. Jetzt nicht mehr.

Am liebsten schlief ich aber im hintersten der drei Tonnenhäuschen aus Holz. Diese Tonnen sind der Renner bei den Gästen. Ist ein Trend aus Skandinavien, obwohl unsere Tonnen von einem örtlichen Schreiner stammen, und ich kann das total nachvollziehen. Man fühlt sich einfach wohl, sobald man so ein Tonnenhäuschen nur sieht: In ein enges, rundes Loch zu schlüpfen muss ein Urinstinkt sein. Wie ein gemütlicher Kaninchenbau oder der unterirdische Geheimgang einer Burg. Löst sofortige Geborgenheitsgefühle aus, jedenfalls bei mir. Ich überlegte, im nächsten Jahr eine dazu passende Saunatonne zu erwerben. Vorausgesetzt, die von der Tiefkühltruhe ins Geschäftskonto geschlagene Kerbe wäre bis dahin wieder ausgeglichen. Jedes Mal wenn alle drei Tonnen vermietet waren, ärgerte ich mich fast ein wenig. Dann musste ich mir mit meinem Schlafsack ein anderes Plätzchen suchen. Eines, das einen Tick weniger gemütlich war.

In der Nacht vor der Ankunft des gut gekleideten Mannes aber schlief ich schlecht, obwohl durch eine Stornierung in letzter Minute meine Lieblingstonne frei geworden war. Ich wachte ständig auf, trank einen Schluck Wasser, wühlte mich in mein Zusatzkopfkissen, drehte mich wieder um, ging pinkeln, kratzte mich am linken Schienbein, kippte das Fenster, trank noch einen Schluck Wasser, wälzte mich auf den Bauch, machte das Fenster wieder zu, legte mich auf den Rücken, fluchte. Das lag weniger an einer düsteren Vorahnung, sondern an meinem Schlafsack.

Jede Woche teste ich einen anderen Schlafsack aus meiner Sammlung (abgesehen von denen mit historischem Wert – wie dem Expeditionssack vom Nanga Parbat – und natürlich dem peruanischen Totensack). So bleiben die guten Stücke in Benutzung und werden wenigstens alle drei, vier Jahre mal gewaschen, ohne dass sie überstrapaziert werden. Der aktuelle war ein Modell unbekannten Ursprungs, das ich in der Woche zuvor vom Apfelbaum hinter dem Zeltplatz geklaubt hatte. Ob der Schlafsack dort zum Trocknen hingehängt und vergessen oder absichtlich ausgesetzt worden war, wusste ich nicht, auch wenn das Testergebnis Letzteres vermuten ließ. Der Sack hatte eine unbequeme, verrutschende Füllung aus lauter Knötchen und Bollen, kratzte wie ein Jutesack und war zu allem Überfluss auch noch schwitzig. Ich würde ihn trotzdem aufbewahren und dem Besitzer genug Zeit geben, ihn zurückzufordern. Wie immer. So war ich über die Jahre zum ursprünglichen Grundstock meiner Sammlung gekommen, deren Wachstum sich irgendwann verselbstständigt hatte: Durch Langstreckenwanderer, die ihren Sack bei mir zwischenlagern wollten und sich dann nie wieder meldeten. Durch Besucher aus fernen Ländern, die so viele Souvenirs gekauft hatten, dass sie das Übergepäck im Flugzeug mehr gekostet hätte als der Schlafsack-Neukauf im Heimatland. Durch Stammgäste, die von meiner Sammlung wussten und mir ungefragt Ergänzungen mitbrachten: „Weil Sie diese Farbe noch nicht hatten, die gab es nämlich nur bei Aldi Süd!“

Außerdem fing ich an, auf Flohmärkten, im Internet und bei Wohnungsauflösungen nach Schlafsäcken zu stöbern. Auch die städtische Fundsachenversteigerung und die Kleiderkammer entpuppten sich als hilfreich, wenn mir das nötige Kleingeld fehlte, wozu man aber sagen muss, dass ein gebrauchter Schlafsack – ähnlich wie getragene Unterwäsche – üblicherweise äußerst günstig in der Anschaffung ist. Von wenigen Einzelfällen abgesehen. Es kommt halt immer darauf an, wer den Schlafsack oder die Unterwäsche benutzt hat.

Seit dem Tod meiner Mutter füllen die Säcke zwei Reihen von Schwerlastregalen in ihrem Zimmer, und da ist noch Luft nach oben. Bei diesem Umzug zählte ich die Säcke erstmals und kam auf zweiundsechzig. Mittlerweile sind es hundertsiebenunddreißig, von Reinhold Messners Originalsack der Nanga-Parbat-Expedition 1970 über den handgewebten peruanischen Hängesack für Verstorbene und ein Modell in Eiform für stark Übergewichtige aus US-amerikanischer Produktion bis hin zum Hightechteil mit Silberionen-Ausrüstung gegen Fußgeruch. Ich besitze eines der ersten Probestücke aus der Werkstatt von Faltbootpionier Carl Joseph Luther, dem Erfinder des Daunenschlafsacks, ersteigert aus einem Nachlass. Ich habe Schlafsäcke mit Ärmeln und welche mit einschiebbarer Isomatte, welche aus Hanf und welche aus kompostierbarer Naturwolle, einen auf Maß gestrickten und einen mit Beinen, in dem man aufstehen und davonrennen kann, falls der Eisbär angreift.

Natürlich ist so eine Sammlung niemals komplett. Erst der erfahrene Sammler kennt seine Objekte gut genug, um die unzureichende Lächerlichkeit seiner bisherigen Sammlung einschätzen zu können. Man ist zum Perfektionismus verdammt. Das ist die Tragik, aber auch die Herausforderung beim Sammeln. Was mir zum Beispiel noch fehlt, ist ein Weltraumschlafsack. In der Schwerelosigkeit würden die Bettdecken einfach davonschweben, also kriechen die Astronauten zum Schlafen in einen dünnen Sack, der an der Wand festgeschnallt ist. Leider ist der Markt für Weltraumschlafsäcke äußerst überschaubar. Wenn die Dinger überhaupt am Stück aus der Stratosphäre zurückkehren, heben die Amerikaner sie lieber selbst zu Erinnerungszwecken auf. Und die Russen … schwieriges Thema.

Schlafsäcke sind wie Raupenhüllen oder abgestreifte Schlangenhäute. Schützende Panzer, Pelze und Stacheln, die wir Menschen nicht haben und die uns in der Nacht an einem fremden Ort die Möglichkeit geben, uns in ein neues, anderes Ich zu verwandeln. Manchmal schlüpft daraus am Morgen ein wunderschöner Schmetterling, manchmal leider auch ein giftiger Skorpion.

Am betreffenden Morgen war ich eher den Skorpionen zuzurechnen. Schlecht gelaunt saß ich im unteren Bett meiner Lieblingstonne und versuchte zu ergründen, mit was zur Hölle dieser Neuzugang in meiner Sack-Sammlung gefüllt war. Rosshaar? Stroh? Er musste auf jeden Fall einem Asketen gehört haben, einem Geizkragen voller Selbstverachtung, dem sein körperliches Wohl nicht viel bedeutete. Der Größe und Farbgebung nach – hellrot mit marineblau abgesetzten Seiten – einem Mann. Ich fand kein eingenähtes Etikett mit Angaben und wunderte mich über die doch recht starken Abnutzungserscheinungen des Schlafsacks. Über den Nähten und Klettverschlüssen glänzte der Stoff schon fadenscheinig. Der Vorbesitzer, der so oft in dem unbequemen Ding geschlafen hatte, tat mir leid. Dann fiel mir ein, dass der ihn vielleicht gar nicht so oft benutzt, sondern nur ganz oft in die Waschmaschine gesteckt hatte. Doch beim verzweifelten Versuch, das Ding durch häufiges Waschen und Trocknen weich und gemütlich zu kriegen, hatte sich das biestige Innenleben nur noch mehr verknotet und verzogen. Ne, ganz sicher würde ich nicht noch mal darin schlafen. Eine Fehlkonstruktion. Dieser Schlafsack war mit Fug und Recht zurückgelassen worden und somit ein klarer Fall für das Kann-man-haben-muss-man-aber-nicht-Regal. Nachdem ich das beschlossen hatte, gähnte ich erst mal herzhaft.

Dabei fiel mir draußen eine Bewegung auf und ich entdeckte den sehr gut gekleideten Mann in unserer Einfahrt.

Er mochte vielleicht Mitte vierzig sein, hatte keine Haare, aber ein sehr breites Kreuz und einen Knackpo. Sein schwarzer Anzug saß für meinen Geschmack eine Spur zu eng, und zwar überall. Da er einen weißen Briefumschlag bei sich trug, ging ich davon aus, dass es vermutlich der Briefkasten war, den er suchte. Den konnte er aus drei Gründen nicht finden: Erstens, weil er eine Sonnenbrille trug. Was trug der Kerl an einem Donnerstagmorgen um kurz vor halb acht eine Sonnenbrille? Selber schuld. Zweitens würde er den Briefkasten nicht finden, weil ich ihm nicht dabei helfen würde, unausgeschlafen und im Kleiner-Maulwurf-Nachthemd, wie ich war. Und drittens konnte er den Briefkasten nicht finden, weil der Campingplatz keinen Briefkasten hatte, nur eine an beiden Seiten offene Plastikrolle für die Zeitung, auf der „Zeitung“ stand.

Der alte Briefkasten war vor Jahren an Altersschwäche gestorben und ich hatte keine Notwendigkeit gesehen, ihn zu ersetzen. Werbeprospekte brauche ich nicht. Alle Buchungsanfragen kommen per E-Mail oder Telefon, niemand schickt heute noch Briefe aus Papier an einen Campingplatz. Und wenn es doch einmal passiert, steckt unser Postbote den Brief eben einfach mit in die Zeitungsrolle oder gibt ihn direkt bei mir im Büro ab.

Doch der sehr gut angezogene Mann war nicht unser Postbote und hatte offenbar den Auftrag, sein Schreiben persönlich zuzustellen. Ich schaute ihm zu, wie er durch die Fußgängerschwingtür in der Einfahrtsschranke stieg und näher kam. Er suchte immer noch nach dem Briefkasten, das konnte ich am ständigen Drehen und Wenden seines Kopfes sehen. Das würde rote Scheuerlinien an seinem Hals hinterlassen, der Hemdkragen war etwas zu unelastisch dafür. Trotzdem blieb ich reglos in meinem Schlafsack sitzen und überlegte, ob ich mich nicht einfach wieder hinlegen und so tun sollte, als ob ich schliefe. Der optische Gegensatz zwischen mir und dem Fremden kam mir so unüberbrückbar vor. Das kannte ich gar nicht.

Normale Besucher erreichen unseren Campingplatz in kurzen Jeans und T-Shirt, manchmal auch in Jogginghosen und Socken in Sandalen. Sie steigen verschwitzt und von der langen Anreise zerknittert aus dem Auto, bereit, mit Zeltstangen zu hantieren und in einen Schlafsack zu kriechen. Sie kommen, um den Alltags- und Bürostress von sich abzuwerfen und sich zu entspannen. Da ist es dann egal, wie ich aussehe. Wenn ich wie aus dem Ei gepellt im korrekten Kostüm daherkäme, wäre das sogar geschäftsschädigend, deshalb passe ich mich gerne an (bis auf die Socken in den Sandalen, da habe ich ein Trauma). Jerseykleid und Leggings oder uralte Jeans und Strickweste. So was halt. Darin bin ich für alle Lebenslagen gerüstet, kann sowohl Pommes braten und Bier ausschenken, als auch den Rasen mähen oder mal spontan mit anpacken, wenn jemandem das Vorzelt umkippt. Bloß nichts bügeln!

Jetzt aber fühlte ich mich in meinem Kleiner-Maulwurf-Nachthemd zum ersten Mal gewaltig underdressed. Meine langen braunen Locken standen in alle Richtungen ab wie die Regenwürmer bei Tauwetter, mein Gesicht war noch verquollen vom Schlafen, und zum Zähneputzen würde mir auch keine Zeit bleiben.

Der Mann hatte jetzt das Bürohäuschen als solches identifiziert, was nicht schwierig war, da in großen Buchstaben „BÜRO“ darauf stand. Er beschleunigte seinen Schritt, bremste vor der Tür zackig ab, klingelte und rüttelte gleich an der Klinke, ohne abzuwarten, ob jemand aufmachen würde. Wie konnte man bloß so früh so hektisch sein?

Vermutlich fühlte er sich einfach nicht wohl in seiner Haut. Steckte in der falschen Beziehung, der falschen Wohnung, dem falschen Job natürlich auch und im falschen Anzug sowieso. War vielleicht gar kein Frühaufsteher, aber sein Chef zwang ihn dazu. Hätte vielleicht viel lieber ein olles T-Shirt und eine Jogginghose getragen und kam sich deshalb immer irgendwie fehl am Platz vor.

Dafür habe ich Verständnis, denn schon meine Eltern sind solche Fälle gewesen. Zwischen-den-Stühlen-Sitzer. Nicht unbedingt am Rande der Gesellschaft oder gar von ihr ausgestoßen, aber doch auch alles andere als mittendrin – so wie ich seitdem auf dem Campingplatz. Meine Mutter war das einzige Ossimädchen in unserer Kleinstadt, mein Vater ein Spätaussiedler. Ein sehr später Spätaussiedler. Meiner Meinung nach ein Viel-zu-spät-Aussiedler. Er hatte im Sommer 1989 aus Polen rübergemacht, als es eigentlich eh schon wurscht war. Die paar Wochen bis zum endgültigen Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs hätte er auch noch warten können. Oder gleich dableiben! Für ein Kind ist es nämlich schwer genug, sich mit einem ostdeutschen UND einem richtig ausländischen Elternteil in Westdeutschland zurechtfinden zu müssen, auch wenn man nicht dreimal im Jahr zurück in die alte polnische Heimat fährt und es „Urlaub“ nennt.

Dieses Hin und Her hat mich ganz wuschig gemacht. Immer wenn ich gerade ansatzweise in Löwenbüttel angekommen war und den Unterschied zwischen Nutella, Nusspli und Nudossi wieder draufhatte, bekam Papa erneut Heimweh und nahm mich mit nach Polen, wo es damals nichts als Rübensirup gab. Kein Wunder, dass ich heute noch ab und zu Albträume von alten Mütterlein in geblümten Kittelschürzen habe, die mich mit Gewalt ins Unterholz zerren und mir selbst gepflückte Blaubeeren in den Mund stopfen, bis ich keine Luft mehr bekomme. Wenn ich dann schweißgebadet aufwache, schreie ich laut: „Die Russen kommen!“

Nein, das war ja gar nicht ich. Das war immer nur der Horst, unser Hausmeister mit dem Verfolgungswahn.

In dieser Nacht hatte der Horst auch wieder geschrien. Ein Grund mehr, weshalb ich bei der Ankunft des gut gekleideten Mannes leicht derangiert war. Denn wenn der Horst schreit, ist es meine vornehmste Pflicht, den Schlaf unserer zahlenden Gäste zu retten. Seit letzter Saison haben sie es schon tagsüber schwer genug, weil der Campingplatz auf drei Seiten von Bürohochhäusern umzingelt wird. Wir sind hier immer noch am Stadtrand von Löwenbüttel, aber da ist nicht mehr viel mit Naturidyll und Erholung. Die Klimaanlagen in den Bürotürmen laufen leise, aber ständig, und fünf Meter hinter dem Dauercamper-Bereich mit den feststehenden Wohnmobilen geht es vierspurig die Tiefgarage runter. Viele von den Bankern und anderen Anzugträgern machen Überstunden bis tief in die Nacht, sodass man zu jeder Zeit mit einem erleichtert davonröhrenden Porsche rechnen muss. Wenigstens fahren die Banker keine frisierten Motorräder.

Die drei Hochhäuser sind blau verglast, was grundsätzlich nicht so schlecht aussieht, und von der Höhe her abgestuft. Die beiden äußeren haben nicht so viele Stockwerke, vielleicht zehn oder zwölf, das ist von außen bei der reflektierenden Fassade nur schlecht zu zählen. Soweit ich weiß, sind die äußeren Türme an externe Firmen vermietet, jedenfalls stehen an den Schildern mit den Gebäudenummern ganz unterschiedliche Namen, meistens mit fantasievollen Wortneuschöpfungen auf Englisch oder sogar Latein.

Der mittlere Turm ist der größte. Bei dem besteht das Firmenschild nur aus drei Buchstaben: KGB. Steht nicht für den russischen Geheimdienst, das musste ich aus Sorge um den Horst natürlich gleich mal abchecken, sondern für Konkret Gesellschaft Bau GmbH. Die haben das Ding geplant und sitzen jetzt selber drin, weil es ihnen so gut gefällt. Verständlich, denn das mittlere Drittel besteht nicht aus Büroräumen, sondern aus einem Garten. Komplett mit zehn Meter hohen Bäumen und frei schwebenden Terrassen, von denen allerlei Grünzeug herabhängt. Sogar Vögel fliegen da drin herum. Kann man von außen erkennen, weil das Glas in dem Bereich durchsichtiger ist als sonst.

Ich war noch in keinem der Gebäude drin, obwohl mich der hängende Garten schon interessieren würde. Aber mich hat noch nie jemand eingeladen. Die Angestellten, die reingehen, haben alle sehr wichtige Zugangskarten umhängen. Wahrscheinlich würde sofort irgendein Alarm losgehen, sobald ich ohne Berechtigung da illegal eindringe. Ich finde ja, dass die Neubauten von unserem Campingplatz aus stark an einen riesigen blauen Stinkefinger erinnern. Gut, man gewöhnt sich an alles.

Aber zurück zum gut angezogenen Mann. Der fluchte, weil die Bürotüre abgesperrt war und er gleich darauf das kleine Messingschild mit den Öffnungszeiten las: 9–18 Uhr. Wegen der Entfernung von bestimmt fünfzig Metern hörte ich nicht, was er fluchte, aber ich erkannte es an seiner Körperhaltung und den Mundbewegungen. Und daran, dass er gleich danach ausspuckte, direkt in meinen liebsten und einzigen rosa Hortensienbusch.

Was für ein Mistkerl! So schlimm war es ja wohl auch wieder nicht, wenn man mal einen Brief nicht sofort persönlich zustellen konnte. Was sollte da schon groß drinstehen? Soweit ich wusste, hatten wir keine unbezahlten Rechnungen, und da ich nie Auto fuhr, bekam ich auch nie einen Strafzettel. Vielleicht betraf diese dringende Postsendung einen unserer Dauercamper. Aber dafür fühlte ich mich auch nicht zuständig. Die Dauercamper schliefen noch, genau wie ich. Sollte er doch in zwei Stunden zu einer christlicheren Zeit wiederkommen!

Mein Handlungsbedürfnis setzte erst ein, als der gut angezogene Mann begann, an den Bungalows zu klingeln. Das konnte ich nicht zulassen. Die ersten drei Bungalows waren im Moment wegen eines kleinen Softwareproblems nicht belegt, aber im vierten der vier Bungalows schlief eine sympathische Camperfamilie aus Wunsiedel mit einem neugeborenen Säugling. Die konnten mit Sicherheit auch nichts dafür, dass der gut angezogene Mann hier dringend einen Brief zustellen zu müssen glaubte. Die brauchten ihren Schlaf noch mehr als ich. Ich musste sie vor dem Eindringling bewahren!

Ich sprang auf, wobei ich mich im Schlafsack verhedderte und mir eine Kopfnuss am oberen Etagenbett holte, riss dann die Tonnentür auf und rannte barfuß durch das taufeuchte Gras. Gerade noch rechtzeitig, bevor er bei den Wunsiedlern klingeln konnte, erreichte ich den Kerl und tippte ihm von hinten auf die Schulter.

„Ey!“, schrie er und fuhr herum wie ein Kampfroboter, die Fäuste geballt. Der Brief flatterte zu Boden.

„Suchen Sie mich?“, fragte ich in der ganzen unschuldigen Glorie meines Kleiner-Maulwurf-Nachthemds. Wenn ich mich schon ungewaschen und mit zerzausten Locken vor einem so formell gekleideten Herrn präsentieren musste, dann wenigstens mit so viel Sexappeal wie möglich. Ich drückte die Brust heraus und machte Kulleraugen, um noch etwas mehr Sympathiefaktor herauszuholen, und es wirkte. Der gut gekleidete Mann scannte mich von den Wuschelhaaren bis hinab zu den nackten Füßen und zurück, mit Zwischenstopp auf meiner Oberweite. Als er wieder bei meinem Gesicht angekommen war, zeichnete sich unter seiner Sonnenbrille ein kantiges Lächeln ab.

„Hoffentlich suche ich Sie“, sagte er mit leichtem Akzent, der mir sofort verdächtig russisch vorkam. „Wenn Sie Frau Linda Lewandowska sind. Mein Name ist Petrow von der KGB GmbH.“

Das bestätigte meine schlimmsten Befürchtungen oder, besser gesagt, die von Horst. Ich antwortete nicht gleich, sondern biss mir auf die Lippen und linste am Bürohäuschen vorbei in den hinteren Teil des Campingplatzes. Puh, alles ruhig unter dem Tarnnetz. Der Horst schlief noch. Jetzt musste ich es nur noch hinkriegen, diesen Russen irgendwie abzuwimmeln, bevor er aufwachte.

Bisher hatte sich sein Albtraum nicht erfüllt. In den zwanzig Jahren mit Horst war kein einziger echter Russe auf unserem Campingplatz aufgetaucht. Ich hatte keine Ahnung, was bei einer direkten Konfrontation zwischen Horst und den Russen passieren würde – aber ich wollte es eigentlich auch gar nicht herausfinden. Ich bin nicht besonders erpicht auf Konflikte.

2

Jan Sobieskis Kettensägenmassaker

„Warum haben Sie die Räumungsfrist verstreichen lassen, Frau Lewandowska?“, fragte Petrow unangekündigt. Das fand ich unfair, wo er doch gerade so ausgiebig in mein Dekolleté gestarrt hatte. Beim Starren hatte ich ihm ja auch keine Frist gesetzt.

„Was denn für eine Räumungsfrist?“, fragte ich zurück. „Bei uns lag dieses Jahr nur an drei Tagen Mitte Januar Schnee, und ich habe jedes Mal pünktlich vor acht Uhr morgens den Gehweg geräumt, obwohl da im Winter keine Sau, Verzeihung, kein Mensch vorbeikommt. Wir öffnen den Platz ja erst nach Ostern.“

„Wollen Sie mich verarschen?“

„Aber nicht doch! Ich bin Geschäftsfrau. Ich lege Wert auf gute Beziehungen zu meiner Umwelt.“

Ich hatte wirklich keine Ahnung, was er meinte.

Seiner zuckenden linken Augenbraue zufolge schwankte er zwischen Aggression und Gönnerhaftigkeit. Schnell drückte ich meinen Busen ein Stück weiter in seine Richtung und er entschied sich für den gönnerhaften Tonfall.

„Na, dann schauen Sie doch bei Gelegenheit mal in diesen Brief hinein. Den soll ich Ihnen nämlich persönlich zustellen. Vielleicht ist es gut, wenn Sie ihn auch persönlich in meiner Anwesenheit lesen, damit es keine weiteren Missverständnisse gibt.“

„Da muss ich Sie enttäuschen, ich lese so früh am Morgen grundsätzlich keine Geschäftspost. Das verdirbt einem ja die Laune“, gähnte ich. „Um Punkt neun Uhr mache ich mein Büro auf, und ich verspreche Ihnen, dass ich den Brief dann lese. Wer schickt Sie eigentlich? Russland-Inkasso?“ Der Witz musste einfach sein.

„Danke für das Kompliment“, grinste Petrow. „Aber mein Boss ist noch viel härter als jeder Russe. Sonst würde ich auch nicht für ihn arbeiten. Wenn ein Russe sich etwas in den Kopf setzt, dann funktioniert das schon irgendwann und irgendwie, vorausgesetzt, es fließt genug Wodka. Ich muss es wissen, ich komme aus Sewastopol. Aber wenn David Haller sich etwas in den Kopf setzt, dann kriegt er das auch ganz ohne Wodka. Er lässt nicht locker. Bei dem beißt du so lange auf Granit, bis du plötzlich genau das machst, was er die ganze Zeit wollte. Ich bewundere den Kerl.“

„Kenn ich nicht“, wich ich aus. „Wer soll das sein, David Haller?“

Statt zu antworten, trat Petrow einen Schritt zurück und machte eine weite Geste. Er wies auf die Bürohochhäuser, die den Campingplatz von drei Seiten umgaben. Vor wenigen Minuten musste vorne an der Hauptstraße der Linienbus gehalten haben, denn die ersten Angestellten eilten schon zu den Eingängen. Menschen mit ordentlichen Haaren und Aktentaschen, die Blicke brav auf den Boden gerichtet, um so kurz vor dem Ziel ihrer beruflichen Selbstverwirklichung bloß ja nicht noch in einen Hundehaufen zu treten. Streber.

„Das hier ist alles auf seinem Mist gewachsen. Sein bisher größtes Projekt für die KGB. Sehr erfolgreich und fast fertig. Und Sie kleines Licht werden den Teufel tun, es weiter zu verzögern.“

„Ich? Verzögern? Wie käme ich denn dazu! Das Gegenteil ist doch der Fall“, erregte ich mich. Jetzt würde ich diesem glatzköpfigen Bürschlein mal erklären, was hier wirklich abging. „Aber es ist ja großartig, dass sich endlich mal einer von euch Immobilienheinis hier blicken lässt. Wird auch Zeit! Da warten wir nämlich drauf, seit ihr letztes Jahr mit dem Bau angefangen habt. Ich meine, es ist ja nicht verboten, in die Entwicklung der Stadtrandgebiete zu investieren. Arbeitsplätze habt ihr da ja auch genug geschaffen und so. Aber mein Publikum und euer Publikum, die unterscheiden sich halt schon ziemlich. Mit der absoluten Ruhe und dem ländlichen Idyll zum Beispiel gewinne ich keinen Blumentopf mehr. Gut, die Straße hat einen neuen Belag gekriegt, aber dafür hören wir jetzt ständig die Ventilatoren von den Klimaanlagen, auch nachts. Viele von den Büros sind nach Feierabend noch erleuchtet wie die Weihnachtsbäume, da fühlt man sich direkt wie in Frankfurt City und nicht wie in Löwenbüttel West. Wir haben eine schöne Liegewiese hinten, aber da legt sich natürlich keiner von meinen Campern mehr drauf, wenn einen aus dem zehnten Stock die Managerkonferenz auslacht. Ich meine, letztes Jahr noch ist hier alle sechs Wochen mal der Bauer mit dem Traktor vorbeigefahren, das war alles! Dutzende Stammgäste sind mir schon abgesprungen. Wie gesagt, wir haben uns jetzt schon irgendwie damit arrangiert, die Anbindung an die Öffis ist ja wirklich besser geworden, aber für uns kam das alles komplett überraschend. Eine Woche bevor die erste Planierraupe gekommen ist, habe ich noch zweitausend Flyer mit dem absolut ruhigen Idyll drucken lassen. Für den Papierkorb. Hätte ja nicht sein müssen, wenn wir vorher schon mal geredet hätten! Es wäre doch wenigstens angebracht gewesen, die Nachbarschaft“, dabei deutete ich mit meinem rechten Daumen auf meine eigene Brust, „persönlich schon im Vorfeld über die notwendigen Einschränkungen zu informieren. Das wäre einfach nett gewesen. Also jedenfalls in meinen Augen. Finden Sie nicht auch?“ Zum Abschluss meiner Ausführungen zwang ich mich noch zu einem Lächeln, um meine grundsätzliche Verhandlungsbereitschaft zu demonstrieren.

„Sie sehen also, wir verzögern da überhaupt nichts. Sie sind es doch, wegen denen wir weniger Umsatz machen, nicht andersherum.“

Ich dachte, dass ich meinen Standpunkt damit klar genug gemacht hätte. Aber zu meiner Überraschung lachte Petrow nur müde auf. Dann seufzte er, nahm eine kleine, rechteckige Aluminiumverpackung mit buntem Aufdruck aus der Hosentasche und riss sie auf. Ich dachte zuerst, es wäre ein Kondom, bis er seine Sonnenbrille abnahm und sie mit dem Inhalt des bunten Tütchens – einem Desinfektionstuch – zu putzen begann, obwohl sie makellos sauber war. Ganz klare Ersatzhandlung. Wahrscheinlich hatte er sich das sinnlose Sonnenbrillengeputze angewöhnt, um in der Öffentlichkeit nicht so oft zur Zigarette greifen zu müssen. Und auch wenn Brilleputzen in Sachen Coolnessfaktor nicht ganz gleichauf mit Rauchen lag – bei Petrow wirkte es. Die zackigen Bewegungen, mit denen er das Desinfektionstuch über das Glas schrubberte, hatten etwas von soldatischer Entschlossenheit.

„Fräulein, Fräulein“, sagte er gegen Ende seiner Ersatzhandlung zu mir und fixierte mich streng. Seine Augen waren hellblau genug, um die Sonnenbrille vor acht Uhr morgens zu rechtfertigen. „Da will ich Ihnen nur einen kleinen Brief überreichen, eine klitzekleine letzte Warnung, und dann versuchen Sie den Spieß umzudrehen und mir ein schlechtes Gewissen einzureden. Was soll ich nur mit Ihnen machen? Wissen Sie, ich bin hier im Grunde nur der Sekretär. Ein kleines Licht. Nur ein Sohn einfacher Fabrikarbeiter aus Sewastopol, der seinen Job machen muss wie alle anderen auch. Aber selbst ich – selbst dieser arme kleine Russe Grigorij Petrow – weiß, wie weit ich in welcher Situation gehen kann. Und wann es einfach genug ist mit dem Blödsinn.“ Seine Stimme wurde schneidend. „Lady, Sie kapieren es wohl einfach nicht, auch wenn Sie gar nicht so blöd aussehen. Oder Sie wollen es nicht kapieren und reiten die Dummes-kleines-Mädchen-Karte, bis es zu spät ist. Hier geht es nicht um nette Nachbarschaft. Wir von der KGB brauchen keine netten Nachbarn, schon gar keine komischen Zelthippies, die ihrem Idyll am Busen der Natur hinterherjammern. Wir brauchen solvente Kunden für Vorzeigeprojekte in aller Welt. In einem Jahr steht hier ein Gesamt-Ensemble, das den Bodenwert im Umkreis von zehn Kilometern mal eben verdoppelt. Schon der Entwurf hat den renommiertesten Architekturpreis des Landes gewonnen. Die Mietverträge sind alle schon unterzeichnet. Wenn wir hier fertig sind, wird nichts mehr an den popeligen Campingplatz erinnern. Restrukturierung ist das Zauberwort, nicht Resozialisierung. Nettsein ist nicht mehr marktfähig.“

Ich wusste nicht genau, wovon er da sprach, aber es klang nicht so, als ob er mir demnächst meine Umsatzausfälle ersetzen wollte.

„Das ist ja schön für Sie mit dem Architekturpreis und so“, sagte ich. „Herzlichen Glückwunsch. Unter dem Aspekt habe ich das noch gar nicht betrachtet. Aber wenn es für blaue Glas-Stinkefinger am Stadtrand so viel Nachfrage gibt, dann muss ich mich wohl darauf einstellen. Vielleicht sollte ich neue Flyer drucken lassen: Camping für Hochhausfans! Gratis-Ausblick auf die preisgekrönten Bürotürme von Löwenbüttel West inklusive. Mit Rabatt für Architektur- und Bauingenieursstudenten. Damit die noch was lernen können, wenn sie aus dem Zelt kriechen.“

Darüber lachte Petrow natürlich nicht.

Ein Fauchen erregte unsere Aufmerksamkeit. Es kam aus Bodenhöhe. Zu meiner eigenen Überraschung krabbelte dort Jan Sobieski zielstrebig Richtung Einfahrt, und Petrows linker Fuß war ihm dabei im Weg.

Jan Sobieski war eine nahezu ausgewachsene Gemeine Schnappschildkröte mit einer Panzerlänge von 42 Zentimetern und einem Gewicht von ungefähr 12 Kilogramm. Dabei handelt es sich um eine Schätzung, da es sehr schwierig ist, Schnappschildkröten gegen ihren erklärten Willen zu wiegen. Er war der jüngste und bislang exotischste Neuzugang in meiner zoologischen Sammlung. Am Ostersonntag hatte er plötzlich im Teich gedümpelt, und obwohl ich die Umgebung mit „Schildkröte gefunden!“-Aushängen plakatiert hatte, vermisste ihn offenbar niemand.

Seit ich mir ein paar Videos auf Youtube angesehen hatte, wusste ich auch warum: Schnappschildkröten seiner Größe können menschliche Unterarme zermalmen. Danach kaufte ich mir ein Paar Spezialhandschuhe mit integriertem Kettensägenschutz, wie sie auch von Forstarbeitern getragen werden. Die verwendete ich, um Jan Sobieski zu füttern. Glücklicherweise fraß er ohnehin nur selten. Am liebsten halb im schlammigen Teichgrund vergraben, wo ihm niemand sein Katzenfutter oder auch mal die aufgetaute Tiefkühlforelle streitig machen konnte.

Er war mir trotzdem sympathisch mit seinem Entenschnabel und dem langen, dornenbesetzten Dinosaurierschwanz. Irgendwie aus der Zeit gefallen – wie ich selbst. Ich beschloss, ihn zu behalten, und zog zusammen mit Horst einen niedrigen Zaun um den Teich. Weniger, um unseren Neuzugang zu maßregeln. Eher, um Kinder von ihm und seinen kräftigen Kiefern fernzuhalten. Sicher war sicher! Vielleicht, dachte ich damals, war er früher als erwartet aus der Winterstarre erwacht und hatte sich auf die Suche nach Futter begeben. Vielleicht war er aus seinem alten Quartier getürmt, weil es ihm dort zu eng geworden war. Man sagt ja, Schildkröten in einem derart hohen Alter wären weise, also nannte ich ihn Jan Sobieski, in Anlehnung an den beliebtesten polnischen König Johann III., der nicht nur der Befreier Wiens und Retter des Habsburgerreiches vor den Türken, sondern auch ein sehr gebildeter Mann und großer Kunstmäzen gewesen war.

Ich hätte nicht falscher liegen können. Für andere Arten und Exemplare mochte das mit der Weisheit ja stimmen. Doch dieses hier war eher aktiv als weise. Überaus aktiv für ein Reptil sogar, in mehr als einer Hinsicht. Und das, obwohl es der Panzerlänge nach schon mindestens 30 Jahre auf dem Buckel haben musste. Jan Sobieski, die erste Schildkröte, die ich näher kennenlernen durfte, befand sich schon in einem anderen Stadium: Dem der Altersgeilheit. Der tarnfarbene Kerl mit den vielen Ecken und Kanten rammelte erbarmungslos alles, was nicht bei drei auf dem Baum war und auch nur ansatzweise infrage kam. Von auf der Terrasse vergessenen fauligen Bananen über Wasserbälle bis hin zu Lücken zwischen größeren Kieselsteinen. Was er einmal einem an Altersschwäche verstorbenen Goldfisch antat, spottete jeder Beschreibung. Man kann nur hoffen, dass der Goldfisch wirklich schon vorher tot war.

Vor allem die halbrunde Form meiner solarbetriebenen Teichfontäne hatte es Jan angetan. Sobald die Sonneneinstrahlung es seinem wechselwarmen Kreislauf erlaubte, bestieg er das schwarze Plastikgehäuse und nudelte es rhythmisch kreuz und quer durch den Teich, wobei er Knurrlaute ausstieß. Wenn man nicht wusste, was er da trieb, oder besser, dass er es trieb, dann sah das eigentlich ganz idyllisch aus. Geradezu niedlich, wie er inmitten der Seerosen vor sich hin schnaufte und mit seinen rasiermesserscharfen Vorderkrallen das Plastik bearbeitete. Vorausgesetzt, man war keine weibliche Schnappschildkröte.

Offensichtlich war ihm die Solarfontäne aber jetzt zu langweilig geworden. Er wollte die frühe Morgenstunde wohl nutzen, um sich auf die Suche nach neuen Geschlechtspartnerinnen zu machen. Irgendwie musste er sich unter dem Zaun durchgegraben haben. Ich sprang auf, um das wanderfreudige Tier am Auswandern zu hindern, aber zu spät: Petrow kam mir zuvor. Er machte ein Geräusch, wie ich es bis dahin nur von älteren Damen beim Anblick von Rehpinschern mit rosa Haarschleifen gehört hatte. Vor lauter Ergriffenheit fiel er zurück in sein muttersprachliches Idiom Russisch. „Nu, moy solnechnyy svet, gde doroga? Davay, Shnaki!“, sang er in den süßesten Flötentönen, und dann beugte er sich hinunter und wollte den alten Rammler streicheln. So gut, wie man eine Schildkröte eben streicheln kann – am Nacken kraulen.

Eine herzerwärmende Szene, wie der muskulöse Glatzkopf im Maßanzug die süße kleine Schildkröte liebkoste. Aber Shnaki (ich kombinierte messerscharf, dass es sich um das russische Pendant zu unserem „Schnucki“ handeln musste) hielt nicht allzu viel von körperlicher Zuwendung durch Geschlechtsgenossen. Ich selbst hatte nach intensiver Recherche im Internet und Rücksprache mit dem örtlichen Zoofachgeschäft herausgefunden, dass es überhaupt nur eine Möglichkeit gab, sich Jan Sobieski ohne Gefahr für Leib und Leben beider Parteien zu nähern: Man musste ihn von hinten überraschen und dann mit beiden Händen rechts und links am Panzer packen, wobei man ihn mit ausgestreckten Armen so weit wie möglich von sich weghalten sollte, um außer Reichweite der messerscharfen Krallen und der kräftigen Kiefer zu kommen. Es war auch möglich, die Schnappschildkröte an den Hinterbeinen zu tragen, wobei man allerdings auf den peitschenden Schwanz achten musste.

Das alles aber wusste Petrow nicht, obwohl große Bereiche Russlands der nordamerikanischen Heimat von Gemeinen Schnappschildkröten klimatisch durchaus ähneln und auch der Gemeine Russe ja häufig Erfahrung mit gefährlichen Tierarten hat. Ich sah Johanns Dornenschwanz nervös durchs Gras zucken und konnte nichts tun. Wie so oft, wenn ich das böse Ende einer Situation erahnte, war ich einfach zu fasziniert, um einzugreifen – in diesem Fall auch zugegebenermaßen etwas beleidigt, weil Petrow so unfreundlich zu mir gewesen war. Ich ließ das Schicksal einfach seinen Weg nehmen.

Petrow gurrte und kraulte und gab noch ein letztes „Da, da, korosho!“ von sich, da drehte die Schildkröte den Kopf, schnappte sich blitzschnell seinen Zeigefinger und hielt ihnfest. Schraubstockfest.

Ich hatte nicht gewusst, dass das Tier so früh am Morgen schon etwas anderes tun konnte als rammeln, wenn überhaupt. Normalerweise ließ es erst in der Abenddämmerung von seiner Teichfontäne ab, um sich etwas zwischen die Kiemen zu schieben. Am liebsten fraß Jan das Katzenfutter von Aldi, und zwar die Sorte „Rind & Karotte“, auch wenn mir schleierhaft war, warum er ausgerechnet diese Geschmacksrichtung schätzte, denn welche Schildkröte hätte bitte schön im wahren Leben jemals ein Rind erbeutet? Na ja, es war ja kein Wunder, dass er nach seinem ungezügelten Tagespensum ein paar Proteine brauchte.

Womit wir wieder beim Thema wären – Petrows Zeigefinger.

Die wirklich gefährlichen Elemente an Shnakis Maul waren nicht die Zähne (er hatte keine), sondern die beiden spitzen Dornfortsätze ganz vorne an den Schnabelenden. Eine Schnappschildkröte benutzt sie wie Haken, um sie beim blitzschnellen Zuschnappen in die Beute zu stechen und diese damit festzuhalten. Die Dornhaken sind das Besteck der Schnappschildkröte. Wie man sich vorstellen kann, ist es schlecht, wenn man diese „Gabeln“ in die Hand gestochen bekommt. Oder in den Unterarm, der ebenso perfekt in Jans Maul gepasst hätte.

Im vorliegenden Fall sah ich jedoch ganz deutlich, dass sich Shnakis Dornhaken erst hinter Petrows Finger geschlossen hatten. Was für ein Glück! So war es keine Fleischwunde mit Knochensplittern, sondern nur eine Quetschung. Trotzdem führte sich der gerade eben noch so knallharte Petrow auf wie eine Prinzessin. Er verharrte mit seinem Finger in der Schildkröte und bückte sich immer tiefer, um sich mit der anderen Hand auf dem Boden abzustützen. Dabei reckte er den Hintern in die Luft und machte die Beine breit wie ein Rugbyspieler kurz vor dem Angriff. „Oy oy oy“, jammerte er und schüttelte den Kopf. Die frisch geputzte Sonnenbrille rutschte ihm von der Nase ins Gras, aber er achtete nicht darauf. Schmerzverzerrten Gesichtes ging er vor der Kröte in die Knie. Ich hielt das für keine gute Idee, weil er so auch noch andere wertvolle Körperteile in Jans Reichweite brachte, und sah mich um, ob schon ein Camper auf unsere kleine Freiluftvorstellung aufmerksam geworden war. Bisher noch nicht. Aber bisher jammerte der Russe auch noch relativ leise. Das würde sich mit Sicherheit ändern, sobald ihm Jan in die Eier zwickte.

„Knie und Zähne zusammen, Herr Petrow“, empfahl ich ihm. „Und machen Sie doch nicht gleich so einen Aufstand, mir ist das auch schon passiert. Überhaupt nicht der Rede wert, so eine kleine Quetschung. Das hinterlässt keine bleibenden Schäden, das sieht man in einer Woche gar nicht mehr. Ich habe Arnikasalbe im Kühlschrank. Soll ich Ihnen welche holen?“

Petrow hörte nicht auf mich. Er richtete sich auf und begann sich im Kreis zu drehen. Er versuchte, Jan Sobieski durch Herumschleudern loszuwerden, aber das fruchtete nicht. Die Kiefergelenke meiner Gemeinen Schnappschildkröte waren stärker als die Fliehkraft, die ein einzelner Mann auf der Erdoberfläche erzeugen konnte. Das machte mich für einen kurzen Moment stolz und ich grinste, bevor mir einfiel, dass Besitzerstolz auf eine bissige Bestie meine Verhandlungsposition gegenüber Petrow nicht eben stärkte. Ich zwang mich zu einem ernsten Gesichtsausdruck und sprach in ruhiger Tonlage auf Petrow ein. „Wenn Sie mit dem Gefuchtel aufhören, kann ich vielleicht was machen.“

Die russische Zentrifuge schleuderte etwas langsamer. „Weg! Nehmen Sie das Vieh weg!“, kreischte er.

„Sie müssen schon richtig stillhalten und ihn wieder auf den Boden setzen, Herr Petrow. Dann lässt er gleich los, Sie werden sehen! Und wenn er loslässt, dann bitte zügig entfernen. Nicht, dass er Sie noch mal erwischt – Aaah!“, kreischte jetzt auch ich, weil mir jemand von hinten auf die Schulter tippte.

Es war das Ehepaar Lindenmaier, ehemalige Autohausbesitzer aus Günzburg in Mittelschwaben und passionierte Frühaufsteher. Komplett gebügelt und gestriegelt hatten sie den Weg zum Waschplatz angetreten, einen Plastikkorb mit leerem Kaffeegeschirr dabei. Sicherlich hatten sie das Gespräch zwischen Petrow und mir schon über längere Zeit vom Frühstückstisch aus belauscht. Ihr Wohnmobil parkte nicht weit entfernt, und auch wenn sie mit ihren hautfarbenen Hörgeräten im Partnerlook nicht alles hundertprozentig verstanden haben mochten, gehörten sie immer noch zur Kategorie der rüstigen Rentner.

„Könned mir helfa?“, fragte der Herr Lindenmaier und rollte seine Pulloverärmel hoch.

„Guadr Maa, was machet Sie denn da mit dem kloina Krötle!“, rügte die Frau Lindenmaier den russischen Derwisch. „Tiere quälen duad ma fei it, au ned im Urlaub!“

Jan Sobieski hasste es, im Mittelpunkt zu stehen. Sobald mehr als zwei Leute am Teichrand standen, verschwand er im Schlamm. Da ließ er dann sogar die Teichfontäne sausen. Er war Erotomane, aber kein Exhibitionist. Kaum hatte die Frau Lindenmaier gesprochen, ließ die Kröte Petrows Zeigefinger los und versuchte, sich in die Hecke zu stürzen. Ich hinderte sie mit einem Hechtsprung und einem gekonnten Hebegriff daran und brachte sie wieder zum Teich. Die Ausbruchsstelle würde ich später suchen müssen.

Als ich zurückkam, begutachtete Petrow immer noch von allen Seiten seinen Zeigefinger, als hätte er beim Angeln einen seltenen Fang gemacht. Der Finger war rot und an der Kuppe vom Sauerstoffmangel etwas lila-blau verfärbt, aber er blutete nicht. Und das Wichtigste: Er war gerade, also nicht gebrochen. Die Schwellung ließ noch auf sich warten.

„Wollet Sie an Kühlpack?“, bot die Frau Lindenmaier ihre Hilfe an. „I hätt no oin in dr Gfriere denna. Aber ganz ährlich, des gschieht Ihne scho a weng recht au. Was muass dr Maa au des Viechle so rumschleudra wia beim Maitanz!“

Petrow ignorierte sie. „Das wird Konsequenzen haben, Frau Lewandowska“, murmelte er.

„Stellen Sie sich doch nicht so an, haben Sie noch nie einen blauen Fleck gehabt? An Ihrer Stelle wäre ich froh, dass er nicht Ihren Fuß vergewaltigt hat“, sagte ich, aber das war allem Anschein nach nicht Petrows Art von Humor. Er erwiderte gar nichts, sondern drehte sich einfach um und ging zu seinem Auto. Als er mit mühsam beherrschten Bewegungen einstieg und grußlos davonfuhr, wusste ich, dass ich jetzt einen echten Feind hatte.

Den Brief hatte er in seiner Wut wieder mitgenommen. Ich machte mir keinen Kopf darum. Wenn es so wichtig war, sollte er halt zu den offiziellen Öffnungszeiten noch mal vorbeikommen.

3

Glamping mit Tante Thea

Auch in der Nacht nach Petrows Besuch schrie der Horst wieder, und zwar so laut wie selten. Tage später sollte ich mich daran erinnern und überlegen, ob er vielleicht eine Vorahnung gehabt hatte. Wenn dem so war, dann gab es schlimmere Vorahnungen: Es sollte nämlich das vorvorletzte Mal sein, dass er von den Russen träumte.

Für diese Nacht aber war es wie immer mein Job, ihn schnellstmöglich zu beruhigen. Ich stand auf und schlüpfte in meine uralten Holz-Clogs. Draußen vor dem Tonnenhäuschen empfingen mich der Sternenhimmel und ein Konzert der Kröten, die sich im Koiteich der Bürohochhäuser hinter dem Zaun angesiedelt hatten. Ansonsten lag der Campingplatz wieder in absoluter Ruhe, aber ich flitzte trotzdem die hundert Meter zu Horsts supergut getarntem Wohnwagen namens Beule rüber und rief durch das gekippte Plexiglasfenster: „Alles gut, Horst, war nur ein Albtraum. Keine Russen weit und breit, du kannst wieder einschlafen.“

Der alte Mann seufzte beruhigt und drehte sich knarzend auf seiner Matratze um. Ich nutzte die Gelegenheit noch für einen weiteren Abstecher zum Sanitärcontainer und ging dann langsam wieder zurück zu meiner Tonne.

Horst war schon immer so gewesen. Ich jedenfalls kannte ihn nicht anders, und ich habe auch noch nie jemanden getroffen, der den Horst zu besseren Zeiten gekannt hätte. Ob er überhaupt Familie oder Freunde außerhalb unseres Campingplatzes besaß, entzog sich damals noch meiner Kenntnis. In den letzten Jahren hatten sich seine sozialen Kontakte darauf beschränkt, hin und wieder eine neue Hose zu kaufen und unseren Gästen freundlich zuzunicken.

Ganz anders verhielt es sich bei Tante Thea.

Natürlich ist Tante Thea in Wirklichkeit gar nicht meine Tante. So alte und glamouröse Tanten gibt es im echten Leben nicht. Wir sind überhaupt nicht miteinander verwandt, auch wenn sie in meiner Kinderzeit mehr für mich da war als jede richtige Tante. Und jetzt bin ich eben für sie da. Das finde ich nur fair.

Tante Thea ist darüber hinaus der Hauptgrund, weshalb ich Camper nicht so richtig mag. Das klingt komisch aus dem Munde einer Campingplatzbetreiberin, ich weiß. Abgesehen von kriminellen Bettlern und besoffenen Schlägertypen gibt es keine Personengruppe, die mir so unangenehm ist wie die der Camper. Zum Glück überschneiden sich diese Gruppen nur selten. Selbstverständlich gibt es auch löbliche Ausnahmen, aber meiner Erfahrung nach sind Camper zum Großteil verantwortungslose Gesellen, die sich wenig bis gar keine Gedanken über das machen, was nach ihnen kommt. Vorne herum verzieren die Camper nämlich ihr Vorzelt mit Plastikgeranien und regen sich auf, wenn ihnen ein Vogel auf ihren Lieblingsgartenzwerg scheißt oder der Platznachbar um zwei Minuten nach acht noch sein Geschirr spülen will. Hintenrum aber lassen sie ihre eigene Mutter in der Fremde zurück wie einen kranken Hundewelpen an der Autobahnraststätte!

So und nicht anders geschehen mit Tante Thea.