Mit Glitzergarn ins Glück - Eva Kah - E-Book

Mit Glitzergarn ins Glück E-Book

Eva Kah

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Beschreibung

Ein attraktiver Mann, der sich in Liesels kleinem Nähtreff die Kleidung vom Leib reißt? In Liesels Nähtreff gibt es alles, was das Schneiderherz begehrt: ausgesuchte Stoffe und Kurzwaren, allerlei Tüddelkram - und praktische Lebenshilfe. Was es bisher nicht gab, sind gut aussehende Männer, die sich ausziehen. Und Ben ist nicht der einzige Mann, der plötzlich in dem kleinen Laden auftaucht. Denn Liesels ruhiges Leben ändert sich komplett. Die Ladenmiete wird drastisch erhöht. Das kleine Handarbeitsparadies ist in Gefahr! Um ihren Lebenstraum zu retten, muss Liesel allerlei unangenehme Aufträge annehmen. Mehr aus Versehen lernt sie dabei plötzlich MÄNNER kennen ... Teil 1 der Serie "Der kleine Nähtreff" von Eva Kah.

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MIT GLITZERGARN INS GLÜCK

DER KLEINE NÄHTREFF - TEIL 1

EVA KAH

IMPRESSUM

Nachdruck, Vervielfältigung und Veröffentlichung - auch auszugsweise - nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages!

Im Buch vorkommende Personen und Handlung dieser Geschichte sind frei erfunden und jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist zufällig und nicht beabsichtigt.

Copyright © 2022 dieser Ausgabe Obo e-Books Verlag,

alle Rechte vorbehalten.

M. Kluger

Fort Chambray 

Apartment 20c

Gozo, Mgarr

GSM 2290

[email protected]

WIDMUNG

Für meine Oma, die mir so viel mehr als das Nähen beibrachte. Zum Beispiel die allerwichtigste Lektion im Umgang mit Männern: Nicht hinterherlaufen!

Männer müssen erobern dürfen. Dann liebt er dich später auch noch, wenn du plötzlich selbstgenähte Unterhosen mit dem kleinen Maulwurf drauf trägst.

… Uuuund natürlich für meinen eigenen Mann. Der eroberte einst mein Herz, indem er mir nachts um halb vier frische Crêpes zauberte. Bewaffnet mit Spezialpfanne, Teigschieber und Knoblauchgarnelen. Das hat mich damals so beeindruckt, dass die Szene es sogar in diesen Roman geschafft hat 😉

INHALT

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

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Über OBO e-Books

1

GEGEN DEN FADENVERLAUF

Strippen:

1. Ein physikalisches Verfahren in der Schwerindustrie, um beispielsweise Kerosin vom leichter brennbaren Benzin zu trennen.

2. Menschen, die ihre Kleider ablegen.

Zugegeben, dabei kann es auch heiß hergehen. Im Alltag stehen Normalsterbliche aber meist vor der entgegengesetzten Frage: Was ziehe ich an?

Psst: Ich glaube, meine Freundin Bernadette kann zaubern.

Sie vollbringt nämlich Dinge, die eigentlich gar nicht menschenmöglich sind. Gut, sie ist ja auch kein Mensch (obwohl ich das manchmal ganz gern vergesse), sondern eine Nähmaschine. Sogar eine sehr alte. Eine Bernina Favorit aus der Schweiz, Baujahr 1959, über dreißig Jahre älter als ich. Meine Oma hat sie mir zum vierzehnten Geburtstag geschenkt, und seither läuft und läuft und ... zaubert Bernadette vor sich hin. Zuerst in meinem Kinderzimmer, dann während der Ausbildungszeit im Lehrlingswohnheim und seit einigen Jahren in meinem Münchner Atelier. Atelier ist etwas hoch gegriffen. In meinem kleinen, kunterbunten, kreativen Laden, dem Herz meines Schaffens, meinem Lebensmittelpunkt – Liesels Nähtreff.

Mir ist natürlich klar, dass auch eine Schweizer Qualitäts-Nähmaschine nur ein Apparat ist. Zwar ein sehr ausgefeilter, aber doch nur eine seelenlose Maschine. Bernadette jedoch wächst so oft über sich hinaus, dass es kein Zufall mehr sein kann. Sie näht durch zwanzig Schichten Stoff, wenn es drauf ankommt. Sie steppt gerade Linien in den vertracktesten Engstellen von dreifach umgeschlagenen Innenfutterteilen, obwohl ich da selbst gar nichts mehr sehe. Und trotzdem täuscht sie sofort einen Kurzschluss vor und hält millimetergenau vor meinem Fingernagel an, sobald ich Gefahr laufe, mit der extradicken Jeansnadel in meine eigene Hand zu nähen (was auch einer Schneidermeisterin nach acht Stunden an der Nähmaschine gar nicht so selten passiert). Wenn ich dann nachsehe, ist der Stecker in der Dose minimal wackelig, obwohl ich ihn am selben Tag erst kräftig festgedrückt habe. Das muss Absicht sein. Bernadette will nicht, dass mir etwas zustößt. Sie liebt mich. Und ich sie auch.

Leider ist die ganze schöne Zauberei nicht reproduzierbar. Das bedeutet, ich werde niemals irgendwo irgendjemandem beweisen können, dass meine Nähmaschine zaubern kann. Aber ganz ehrlich – vielleicht ist das auch besser so. Schließlich bin ich schon Schneiderin, Ladeninhaberin, Nähkursleiterin, Kurzwarenverkäuferin und nicht zuletzt Stil- und Beziehungsratgeberin (letzteres nicht besonders erfolgreich, aber trotzdem stark nachgefragt).

Wenn Bernie wieder mal etwas schafft, was ich alleine niemals schaffen würde, dann verwischen die Grenzen zwischen Benutzer und Gerät. Ich bin dann nicht länger die Krönung der Schöpfung und sie mein Hilfsmittel, sondern es verhält sich genau anders herum. In solchen Fällen darf ich nur noch hinter ihr sitzen, sie mit Strom, einem Tröpfchen Öl und dem richtigen Pedaldruck versorgen – und sie zaubern lassen.

* * *

Zum Beispiel heute Nachmittag, als dieser unverschämt heiße Typ mit der kaputten Hose hier reingestürmt kam. Das hatte schon auch was von Magie, anders kann man es nicht sagen.

Heute Nachmittag nämlich beugte ich mich mit einer meiner anstrengendsten Kundinnen über eine Rolle Webband und diskutierte deren von der Vorstellung der Kundin minimal abweichende Farbstellung, als es passierte.

"Im Internet hat das Rosa aber ganz anders ausgesehen", sagte die Frau Wumplitz gerade. "Und da kostet es auch neunzehn Komma drei Prozent weniger. Sie wissen ja, dass ich nur wegen meiner datenschutzrechtlichen Befürchtungen bei Ihnen im Laden kaufe und nicht im Internet, gell?"

"Selbstverständlich weiß ich das, und ich weiß es auch sehr zu schätzen. Mein Dank wird Ihnen ewig nachschleichen", nickte ich und lächelte die Wumplitz besonders freundlich an. Sie überhörte meinen Sarkasmus und lächelte befriedigt zurück. Diese Mäkelei kannte ich schon von ihr. Sie kaufte seit dem Tag meiner Ladeneröffnung vor drei Jahren bei mir ein, und noch nie hatte ihr etwas auf Anhieb gepasst. Obwohl sie eine meiner Nähkursteilnehmerinnen der ersten Stunde ist, siezen wir uns immer noch. Die Wumplitz ist der Kundentyp "Pferdehändler", der auch auf dem ausgefuchstesten orientalischen Bazar noch seinen Reibach macht. Aber da sie jeden Monat einige kleine Scheinchen in meine Ladenkasse spült und schon zum Inventar gehört, spielte ich das Spielchen gerne mit. Wenn ich Menschen in all ihren verschiedenen Varianten und den Umgang mit ihnen nicht mögen würde, hätte ich Chemielaborantin werden können statt Schneidermeisterin.

Innerlich bereitete ich mich darauf vor, dass ich der Wumplitz noch einen Kaffee ausgeben und ein paar Knöpfe schenken musste, bis wir uns handelseinig würden. Aber das war okay – die Knöpfe waren Farbmuster und lagen für exakt diesen Zweck schon bereit, und ich selbst konnte nach sechs Stunden im Laden auch einen Kaffee gebrauchen. Ich setzte also zu einer beruhigenden Antwort an. So à la "Jetzt atmen wir beide erst mal tief durch, und dann gehen wir kurz nach draußen und schauen uns das Rosa noch mal bei Tageslicht an. Vielleicht ein Käffchen dazu, schwarz wie immer?"

In diesem Moment riss jemand so heftig die Ladentür auf, dass mein dahinter von der Decke baumelndes Klangspiel zu Boden fiel und ich mir Sorgen um die Glaseinsätze der Tür machte.

Es war ein Anzugträger von Anfang Dreißig, der da hereinstürmte. Mein geschultes Auge enttarnte den Anzug sofort als einen von der alleredelsten Sorte. Bulgari, Brioni – auf jeden Fall aus Italien und maßgeschneidert. Ich weiß so etwas nur in der Theorie, weil ich ein halbes Modedesign-Studium und eine ganze Lehre als Maßschneiderin absolviert habe. Aus der Praxis kenne ich weder die Sorte Anzug noch die Sorte Mann. Keiner von beiden verirrt sich jemals in meinen kleinen Laden. Darüber steht schließlich Liesels Nähtreff. Nicht Haute Couture. Und bis auf den schwulen Uwe und das ein oder andere von seiner Mutter mitgeschleppte Kleinkind ist Liesels Nähtreff eine absolut männerfreie Zone – so wie mein Privatleben auch. Beides nicht unbedingt freiwillig. Aber ich bin nach einem langen Leidensweg zu der Überzeugung gekommen, dass das stärkere Geschlecht allergisch auf handarbeitende Frauen reagiert.

Der attraktive Mann im teuren Anzug sah auch nicht besonders gesund aus. Er lief komisch. So wie jemand, der dringend zur Toilette muss. Oder eben wie jemand, dessen Hose kaputt ist und der nicht will, dass ihm die Weltöffentlichkeit auf die herausklaffende Unterwäsche guckt.

"Wichtiger Termin in sechs Minuten!", schnaufte er statt einer Begrüßung, schubste die Frau Wumplitz zur Seite und legte ohne Vorwarnung mitten in Liesels Nähtreff einen Striptease hin. Im Zeitraffer. Er öffnete seinen Gürtel, riss sich die Hose auf und ließ sie fallen, dann kickte er seine schicken Treter von sich und wand sich in Sekundenschnelle aus dem Beinkleid, das er in einer fließenden Bewegung aufhob und vor mir auf den Tresen knallte. Aus dem Knallgeräusch schloss ich, dass meine Tischplatte sich soeben eine neue Delle eingefangen hatte. Hosen knallen ja normalerweise nicht. Diese hier schon, weil noch Gürtel samt massiver Metallschnalle und ein dickes Portemonnaie dranhingen.

Der heiße Typ (groß, dunkelblonde Haare mit einem sehr gepflegten kleinen Pferdeschwanz, kantiger Kiefer, Dreitagebart) stand jetzt in Unterhose und Socken vor mir. Enge Boxershorts, schwarz. Die Socken auch. Über den Rest seines Körpers konnte ich wenig sagen, weil er ein weißes Hemd und ein Sakko mit schmaler Lederkrawatte trug, aber von den Beinen her war er schon mal ziemlich preisverdächtig. Lang, wohlgeformt, muskulös, aber nicht aufgepumpt. Moderat behaart. Was auch immer ein Kerl im teuren Anzug mit Pferdeschwänzchen und Lederkrawatte beruflich machte – als Unterhosen- oder Sockenmodel hätte ihm ebenfalls eine glorreiche Karriere bevorgestanden. Er hatte mittelgroße Füße und die Sorte Beine, für die man keinerlei Änderungen am Schnittmuster vornehmen muss, wenn man ihnen eine Hose näht. Der Traum jedes Anzugschneiders. Und trotzdem war genau in diesem Bereich irgendwas schiefgelaufen. Anklagend deutete er auf seine Hose.

"Zack, aus dem Auto gestiegen und Schritt geplatzt. In der Preisklasse eigentlich nicht vorgesehen, aber trotzdem passiert."

Die Frau Wumplitz und ich waren so perplex, dass wir erst gar nicht reagierten. Unsere Neutronen brauchten noch eine Weile, um das Geschehen von unseren Augen an das Stammhirn weiterzuleiten. So einen Anblick darf man als Frau ja auch nicht täglich verarbeiten – die Wumplitz schon mal bestimmt nicht und ich leider auch selten ... lassen wir das. Über mein Verhältnis zur Männerwelt werde ich mich bei anderer Gelegenheit auslassen.

Das Sockenmodel sah sich um, während er auf meine Antwort wartete. Sein Blick irrlichterte durch den Laden, blieb an diesem und jenem Einbauschrank, der hundertjährigen Kassettendecke und dem fast genauso alten Teppichboden hängen und landete schließlich überdeutlich auf seiner eigenen protzigen Armbanduhr.

"Lady, Sie haben noch fünf Minuten", herrschte er mich prompt an und schüttelte die Hose. "Wird's bald?"

Okay ... innerlich war ich kurz davor, mein erstes Urteil über ihn zu überdenken. Das war vielleicht doch kein unverschämt heißer Typ mit kaputter Hose, sondern eher eine unverschämt heiße Hose mit einem kaputten Typen. Was bildete sich der eigentlich ein? Na schön, es war nicht das erste Mal, dass ein Mann über eine Frau und deren Beschäftigung ein vorschnelles Fehlurteil fällte. Die armen Typen haben halt einen Tunnelblick. Wahrscheinlich hatte er im Schaufenster meine Adler-Nähmaschine von 1899 erspäht und den Geschäftsnamen einfach ignoriert.

"Das hier ist ein Nähtreff und keine Änderungsschneiderei", erklärte ich ihm extra langsam und deutlich. "Liesels Nähtreff. Ich bin Liesel, und hier treffen sich Freunde des Selbstgemachten. Hier kann man Nähkram kaufen und Nähen lernen, nicht nähen lassen. Steht auch draußen auf dem Schild. Lesen müsste man halt können, gell!"

Das Sockenmodel ließ sich davon nicht abschrecken. Er guckte erst mit hochgezogenen Augenbrauen auf Bernadette und ihre jüngeren Kolleginnen, die sich hinter mir aufreihten. Dann deutete er auf das Maßband, das um meinen Hals hing.

"Ja und? Hier gibt es Nähmaschinen, und Sie können sie auch bedienen, oder? Das ist doch die Hauptsache." Er klopfte auf seine dicke Armbanduhr, öffnete sein Portemonnaie, legte einen Fünfzig-Euro-Schein auf den Tisch und sagte: "Der könnte Ihnen gehören. Noch vier Minuten."

Fünfzig Euro für vier Minuten Arbeit! Das war ja ein Stundensatz von ... Moment ... siebenhundertfünfzig. So viel, wie ich in einer Woche einnahm – wenn es eine gute Woche war.

Was soll ich noch groß dazu sagen. Ich schluckte meinen Stolz hinunter und machte mich wortlos daran, die superteure maßgeschneiderte Hose zu flicken. Zufällig hatte ich vom vergangenen Projekt noch passendes dunkelgraues Garn eingefädelt. Als ich den Bund auseinanderzog und den Hosenboden in die Maschine einspannte, schnupperte ich unauffällig an dem Kleidungsstück. Ich war einfach neugierig, wie ein so gutaussehender Mann roch, schließlich kam ich ja selten in den Genuss. Was genau ich erwartete, weiß ich auch nicht. Vielleicht den betörenden Geruch von sonnenwarmem Leder, Tabak und Getreidefeldern. Holz, Rauch, eine Spur frischen Schweiß. Irgendetwas Cowboyhaftes, Wildes, das den elementaren Unterschied zwischen Männern und Frauen hervortreten ließ: Testosteron!

Stattdessen roch ich – nichts. Nichts außer einer Prise Waschmittel. So rochen meine eigenen Sachen auch, wenn ich sie ganz frisch aus dem Schrank gezogen hatte. Etwas enttäuscht ging ich ans Werk.

Bernadette war sichtlich geschmeichelt, ein so edles Stöffchen vorgelegt zu bekommen. Sie zauberte so gut wie selten zuvor. Nach nur drei Minuten waren wir fertig, und ich konnte mit Fug und Recht behaupten, dass die Naht nun besser ausgeführt war als vorher.

Das Sockenmodel wiederholte seinen Striptease in umgekehrter Reihenfolge, bedankte sich knapp und stürmte ebenso rasant wieder davon, wie er erschienen war.

Zurück blieben eine um fünfzig Euro reichere Nähtreff-Inhaberin und eine Frau Wumplitz, die ausnahmsweise für eine ganze Weile die Klappe hielt.

"Was war denn das?", sagte sie schließlich in einer Tonlage, die ich noch gar nicht von ihr kannte. Es klang, als ob ihre Eierstöcke spontan in Wallung geraten, durch ihren Rumpf nach oben gewandert wären und sich um ihren Kehlkopf gewickelt hätten. Offenbar hatte sie es dem Kerl nicht übelgenommen, dass er sie und ihr rosa Webband auf die Seite geschubst hatte. Im Gegenteil.

"Ich stehe ja auf Männer, die sich gut anziehen! Und dann auch noch so bestimmt und gerade heraus. Einer, der weiß, was er will. Kein Würstchen wie mein Hubert. Vielleicht war das einer von diesen Modebloggern? Diese Beine, meine Güte, dafür würde ich morden. Oder doch ein Fußballer? Hätte ich den kennen sollen? Aber nee, das kann kein Fußballer sein, er war ja nirgendwo tätowiert ... Hach, wie aufregend!"

"Tja, München ist groß", seufzte ich. "Wird schon irgendein B-Prominenter gewesen sein. Der Sohn von irgendwem. Oder ein aufstrebender Fernsehmoderator. Ich meine, Lederkrawatten kann man ja auch nicht in allen Berufen tragen."

Damit schlossen wir das Thema ab und widmeten uns wieder dem rosaroten Eulen-Webband, von dem die Frau Wumplitz vor lauter innerer Wallung am Ende doch ganze acht Meter kaufte.

* * *

Der Rest des Nachmittags verlief ruhig. Ich verkaufte drei Meter Ringeljersey und ein bisschen Bündchenstoff an eine Mutter mit von Kopf bis Fuß selbst benähten, vielleicht vierjährigen Zwillingsjungs. Ich ließ die Jungs unter dem Zuschneidetisch Verstecken spielen, während ihre Mama mit leuchtenden Augen durch die Stoffe stöberte. Sollte sie das Nähen ruhig auskosten, solange die lieben Kiddies sich noch nicht dagegen wehrten, dachte ich und gab ihr einen Rabattgutschein für ihren nächsten Einkauf. Dann beriet ich eine ältere Dame, die einen ganz speziellen Futterstoff für ihr Chaneljäckchen suchte. Wie sie freimütig gestand, arbeitete sie schon seit vier Jahren an diesem einen Stück, das sehr viele Handnähte erforderte. Ich lobte sie für ihre Ausdauer, aber auch bei mir wurde sie nicht fündig. Dazwischen befestigte ich das vom Sockenmodel heruntergerissene Klangspiel wieder an der Decke, saugte ein bisschen Staub (oder vielmehr Fadenreste und Wollmäuse aus Organza) im Lager und sortierte meine Restebox neu, damit sie für den nächsten Tag ein paar Eyecatcher bereithielt.

* * *

Obwohl die Sache mit dem Sockenmodel, der Wumplitz und der Hose dank der üppigen Bezahlung sehr zu meinen Gunsten ausgegangen war, stieß mir das mit der Änderungsschneiderei auf dem Heimweg noch sauer auf.

Es ist ja nicht das erste Mal, dass das passiert. Ich bin diplomierte Schneidermeisterin, nicht Kesselflickerin! Mein Job ist das Entwerfen von grandiosen Roben aus sechsundzwanzig komplizierten Schnittteilen und das Weitergeben des Näh-Feuers, nicht das Kürzen von Hemdsärmeln. Natürlich KANN ich auch Hemdsärmel kürzen und Hosen reparieren. Sonst hätte es das Sockenmodel nicht mehr vollständig bekleidet zu seinem ach so wichtigen Termin geschafft. Aber auch, wenn das jetzt vielleicht hochnäsig klingt: Von anderen Leuten genähtes Zeug zu flicken fühlt sich für mich ungefähr so an, als würde man Vincent van Gogh zwingen, ein Mandala auszumalen. Ich kann doch so viel mehr! Ich will nicht immer nur die krummen Nähte und falschen Pflegehinweise unserer schnelllebigen, unüberlegten Konsumgesellschaft ausbaden müssen. Die ausbeuterische Modeindustrie muss man nicht auch noch unterstützen, indem man sich jede Saison dreißig neue T-Shirts für je zwei Euro kauft und sich drei Wäschen später wundert, wieso da überall die Säume aufgehen – das ist es nämlich, was eine Änderungsschneiderin üblicherweise reparieren soll, und da spiele ich nicht mit.

Lieber zeige ich meinen lieben Mitmenschen, wie sie sich ihre eigenen Träume auf den Leib schneidern. Klar kostet das Selbernähen Zeit und im Normalfall sogar mehr Geld, aber es lohnt sich in so vielfältiger Weise. Wer selber näht, erweist sich eine Wertschätzung für alle Sinne und investiert direkt in die Seele!

Nähen ist mein Yoga, lautet ein vielzitierter Spruch zum Thema, und er trifft meiner Meinung nach vollkommen zu. Die ganze Körperhaltung ist doch eine andere, wenn man Liebe und Achtsamkeit in seine äußere Hülle steckt. Und mal ganz abgesehen von dem philosophischen Drumherum macht Stoffe streicheln und Meditieren vor der Nähmaschine auch einfach Riesenspaß. Das ist wohl sowieso der Hauptgrund für den Handarbeits- und Selbermachboom der letzten Jahre, ganz egal, ob man nun strickt, häkelt, filzt, klöppelt oder eben näht: Wo gibt es sonst so schnelle, greifbare, kuschelige Erfolgserlebnisse?

Nähen ist nicht nur wie Yoga oder wie Zaubern – Nähen ist wie eine bunte Glitzerwolke aus Möglichkeiten, die über einen hereinbricht. Plötzlich ist man imstande, nahezu alles um sich herum mit Tüddelkram im eigenen Design zu überzuckern. Sogar sich selber! Dadurch wird das Leben nicht nur individueller und farbenfroher, sondern in nicht wenigen Fällen überhaupt erst erträglich. Stoffsucht ist die gesündeste Form von Drogenabhängigkeit.

Das sieht meine Mutter nicht so. Mit der hatte ich gleich ein Date. Mir grauste es jetzt schon. Es gibt eindeutig angenehmere Möglichkeiten, seinen wohlverdienten Feierabend zu verbringen, aber Mama bequemte sich sowieso nur alle Jubeljahre aus ihrem Villen-Vorort in die Stadt, und ich war eine pflichtbewusste Tochter.

Nur in Sachen Mode, da bin ich weniger pflichtbewusst. Da habe ich meinen ganz eigenen Kopf, da lasse ich nicht mit mir reden. Angebliche Widersprüche zu kombinieren, ist meine leichteste Übung. Das hatte im Kindergarten angefangen, als ich als einziges Mädchen der ganzen Gruppe einen pflegeleichten Kurzhaarschnitt trug, aber grundsätzlich Hosen verweigerte, auch im Winter und zum Radfahren (was ich mit vielen offenen Knien bezahlte, aber trotzdem nie bereute).

Meine Eigenarten bei der äußeren Erscheinung setzten sich in der Schule fort: Wenn alle anderen Jeansjacken von Levi Strauss trugen, kam ich im alten Armeeparka meines Onkels daher. Wenn dann plötzlich Armeeparkas in wurden, stieg ich auf Levi Strauss-Jeansjacken um – allerdings mit Nieten und selbst gestickten Blümchenborten.

Schon aus Prinzip wollte ich nie so aussehen wie jedes beliebige Mädchen, und weil ich optisch so gerne gegen den Strom schwamm, gewöhnte ich mich an die Rolle des Paradiesvogels. Einerseits, weil es die einzige Möglichkeit zur Rebellion gegen meine Mutter war, andererseits, weil meine Figur sich sowieso nicht so entwickelte, wie sie Anfang der Zweitausender Jahre hätte sein sollen. Statt mit Androgynität und schmalen Hüften wurde ich mit gleich zwei körperlichen Schwerpunkten gesegnet – Busen und Po. Damit war ich meiner Zeit mal wieder meilenweit voraus, denn Kim Kardashian kannte damals noch kein Mensch. Mit einem gewissen Trotz suchte ich mir genau die Ära aus, die meine unmoderne Figur noch betonte. Schon als Teenager stürzte ich mich in die Mode der Fünfziger Jahre (oder das, was ich dafür hielt). Ich trug Petticoats, Ponyfrisur und wilde Muster, fand mich sehr speziell und war stolz darauf. Diesem Style bin ich bis heute treu geblieben, obwohl ich längst nicht mehr die einzige damit bin. Es heißt Rockabilly oder einfach nur Vintage, und das lebe ich noch heute.

Mein eigener, selbst für mich ganz allein entworfener Lieblingsschnitt heißt Rita. Ein Kleid für alle Fälle sozusagen. Rita ist auf Webware ausgelegt und kann in allen Längen genäht werden, vom Croptop bis zum bodenlangen Walla-Walla, aber meine Lieblingslänge ist die bis knapp übers Knie. Eigentlich besteht mein Kleiderschrank nur aus Ritas, in allen Farben und Formen. Ich besitze eine Rita aus Jeansstoff, welche aus Kuschelsweat und sogar eine aus wasserabweisendem Material. Dazu kombiniere ich gerne Strickjacken oder Häkeltücher und in der kalten Jahreszeit Strumpfhosen. Strumpfhosen sind die einzigen Kleidungsstücke, die ich mir ab und zu kaufe. Nicht die sexy Sorte Strumpfhosen, nicht die durchsichtigen mit Netzmuster, sondern die warmen, gemütlichen aus Wolle. Knallbunt und gerne auch geringelt. So passen sie prima zu meinen selbstgenähten Unterhosen aus Jerseyresten, auf denen sich ehemalige Modefarben mit Eulen der vergangenen Saison streiten. Sieht eh keiner!

Natürlich würde ich mich freuen, wenn ich mit meinen Entwürfen ein größeres Publikum begeistern könnte. Wenn nicht nur meine Nähschüler und ich selber meine Sachen anziehen würden, sondern Tausende. Wenn meine Ritas über die Laufstege der Berliner Modemessen liefen und in den Schaufenstern von kleinen, feinen Boutiquen hingen ... Aber da, fürchte ich, ist Hopfen und Malz verloren. Die Modewelt ist zwar schon einen großen Schritt weiter, aber für tragbare Figurschmeichler mit witzigen Details ist immer noch wenig Platz. Ich bin auch nicht mit irgendwelchen Promis bekannt, die meine Kleider werbewirksam in die Kameras halten. Individualität und geschäftlicher Erfolg, das schließt sich irgendwie aus.

Genauso wie Individualität und Männer. Männer stehen nicht auf Individualität. Und auf was stehe eigentlich ich?

Ich bin ein kleines Schneiderlein. In meinem kleinen Laden flicke ich alles wieder zusammen, notfalls auch gebrochene Herzen. Nur nicht mein eigenes. Da fehlen mir der Abstand, der Obertransporteur, da hakelt es mit der Fadenspannung ... Keine meiner acht Nähmaschinen hat einen ausreichend großen Freiarm, um mein eigenes Herz darunter zu quetschen. Nicht mal Bernadette.

2

NADELKÜSSE

Die Geschichte des Nähens ist immer auch in erster Linie eine Geschichte der dazu verwendeten Nadeln. Steinzeitleute schnitzten ihre Nadeln aus feuergehärtetem Holz oder Knochen. Norwegische Walfänger feilten sie aus Walross-Stoßzähnen und afrikanische Steppenjäger aus Elfenbein, bevor die Metallverarbeitung uns schließlich hauchdünne Stahlstäbchen schenkte. Eins haben die Nadeln aller Menschheitsepochen gemeinsam: Gefährlich spitz sind sie alle.

Weil ich mir wie immer nicht die Zeit genommen hatte, zusätzlich zum Ladenschlüssel auch noch den Hausschlüssel mitzunehmen, nahm ich die Tür zum Hinterhof. Ich zwängte mich an dort abgestellten Fahrrädern vorbei und traf im Treppenhaus auf die alte Frau Meier vom zweiten Stock, die sich gerade mit einer schweren Tüte voller Einkäufe die Stufen hinauf plagte.

"Kann ich Ihnen helfen?", fragte ich und nahm ihr mit sanfter Gewalt die Tüte ab, ohne auf eine Antwort zu warten. Die Frau Meier musste man zu ihrem Glück zwingen. Nie im Leben hätte sie mich freiwillig ihre Einkäufe tragen lassen, dafür war sie viel zu halsstarrig. Stumm stapften wir nebeneinander die Treppen hinauf. Ich sah ihr trotzdem die Erleichterung an, sich mit beiden Händen am Geländer festhalten zu können. Sie war nämlich schon fast neunzig und ganz schön gebrechlich.

"Chic siehst du aus, Liesel!", sagte sie wie jedes Mal, als wir im zweiten Stock ankamen und ich ihr die Einkaufstasche zurück gab. Es war ihr unangenehm, Hilfe anzunehmen, also machte sie Komplimente, die nichts mit der Situation zu tun hatten. Damit drehte sie den Bedankungs-Spieß einfach um.

"Danke, Frau Meier!", sagte ich.

"Ein sehr schönes Kleid ist das. Hast du heute noch ein Rendez-Vous? Oder ... wie sagt ihr jungen Leute, ein Date?"

Ich sah an mir hinab und zupfte mir ein Stück Zwiebelschale vom Rock. "Leider nicht, Frau Meier. Ich treffe mich zum Abendessen mit meiner Mutter."

Missbilligend verzog die alte Dame das Gesicht, während sie in ihrer Handtasche nach dem Wohnungsschlüssel kramte. "Deine Mutter hat dich in den ersten achtzehn Jahren genug gesehen. Die kann dich zum Sonntagskuchen einladen, wenn du verheiratet bist."

"Aber Frau Meier!", spielte ich die Empörte und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Wenn irgendjemand auf dieser Welt überhaupt nichts von Sonntagskuchen hielt (geschweige denn von Selberbacken), dann meine Mutter.

"Na, ist doch so! Ich verstehe einfach nicht, wieso so eine hübsche junge Frau wie du noch auf dem Markt ist. Die Männer von heute müssen doch allesamt Tomaten auf den Augen haben!"

"Nicht unbedingt Tomaten, aber unerfüllbare Vorstellungen. Und sie können mich ja auch schwer finden. Ich bin doch den ganzen Tag in meinem Laden, da kommt nur einmal in hundert Jahren ein Mann vorbei. Und wenn, dann steht er nicht unbedingt auf Frauen”, ergänzte ich mit dem Gedanken an Uwe. “Vielleicht sollte ich mich öfter mal in freier Wildbahn sehen lassen, da haben Sie Recht. Aber für den Anfang ist es doch schon gar nicht so übel, wenn ich jetzt Essen gehe!"

"In Begleitung seiner Mutter hat noch niemand den Mann seiner Träume kennen gelernt. Das hat schon bei Effi Briest nicht geklappt", sprach die gebildete Frau Meier, hob einen Zeigefinger und ich lachte.

"So, jetzt muss ich mich aber wirklich ein bisserl beeilen. Auf Wiedersehen, Frau Meier!"

"Beeil' dich gefälligst auch bei der Männersuche, Liesel. Geh tanzen, spazieren, von mir aus ins Fußballstadion. Hauptsache ohne deine Mutter. Meinen Fritz selig hab ich damals beim Metzger kennen gelernt ... also, denk dran, ich will deine Hochzeit noch erleben. Und wehe, es gibt keine Pfirsich-Sahnetorte!", brummelte die Frau Meier und verschwand in ihrer Wohnung.

Gerührt setzte ich meinen Weg ins Dachgeschoss fort. Sie erinnerte mich immer an meine Großmutter. Innen ein wollig-weicher Kern, aber außen eine raue Schale! Die brauchte man leider auch, wenn man eine alleinstehende ältere Dame in der Großstadt war.

Ich hätte mich gerne noch länger mit ihr unterhalten, aber das endete immer darin, dass sie mich in ihre Wohnung bat und ich dort irgendetwas entdeckte, das die arme alte Dame unmöglich alleine schaffen konnte. So etwas wie einen Riesenhaufen Altpapier, der dringend zum Container gebracht werden wollte – meinem Helfersyndrom fiel immer etwas ein. Und ich musste mich beeilen, wenn ich mich vor dem Eintreffen meiner Mutter noch etwas frisch machen wollte. Das Date mit ihr würde unangenehmer werden als jedes Rendez-Vous mit einem Mann. Wie immer.

Warum nur fanden Männer mich uninteressant, wenn ich etwas konnte? Wenn ich etwas selber machen wollte? Es war ja nicht so, dass ich mir nur seniorenfarbene Säcke nähte. Im Gegenteil ... mich auszuziehen, das war eine ganz besonders einmalige Angelegenheit. In meinen besten Momenten stellte ich mir vor, von einem attraktiven Surfertypen mit wilden Wuschellocken und breiten, sonnengeküssten Schultern genüsslich ausgepackt zu werden. Wie ein Überraschungspaket. Und der attraktive Typ würde beim Auspacken natürlich erst große Augen machen und dann schmunzeln und mich küssen, und schließlich würden wir kichernd und kitzelnd durch die Laken rollen, bis die Sache langsam ernst und sexy würde. Das Eis wäre jedenfalls gebrochen: Denn keine andere Frau auf dieser Welt hatte die selben Dessous wie ich! Ich trug natürlich nur selbstgenähte Unterhosen. Mit neonfarbener Elastikspitze und dem kleinen Maulwurf drauf! Manche auch mit der Eiskönigin. Denn so wie Elsa, die Eiskönigin, fühlte ich mich hin und wieder, an sentimentalen Abenden in ausschließlicher Gesellschaft von Bernadette: Selbstgewählte Isolation.

Ja, solche Abende gab es, aber zum Glück waren sie meist sehr kurz. Immerhin lebte ich in der besten WG aller Zeiten! Beim Betreten der Wohnung schüttelte ich den Kopf, um meine Auspack-Fantasien loszuwerden.

3

MADE BY … MAMA

Die Entwicklung der Nähmaschine ist voller Missverständnisse und verzwickter Sackgassen. Da war zum Beispiel der geschickte Tüftler Barthélemy Thimonnier, dessen patentierte Maschine „Couseuse“ 1830 bereits 100 Stiche in der Minute nähen konnte. Doch wann immer Thimonnier in Paris oder Manchester kurz vor dem großen Durchbruch stand, bekam er Heimweh, ließ alles stehen und liegen und flüchtete zurück zu seiner Familie. Er war eben ein gemütlicher Typ. Ich bin sicher: Wenn er eine Mutter wie meine gehabt hätte, wäre die Geschichte ganz anders verlaufen.

“Hey Liesel! Hast du Wasser in den Ohren?”, fragte mich eine teilnahmsvolle Stimme.

“Höchstens Kaffee”, seufzte ich und betrat die Wohnküche.

Meine Mitbewohnerinnen und besten Freundinnen Mandy und Shanaya schnippelten gerade Obst. “Setzt du dich noch mit auf den Balkon?”

Nichts hätte ich lieber getan als das. “Sorry Mädels, später. Meine Mutter will mit mir essen gehen. Sie kommt gleich.”

Ich erntete eine Runde Mitleid, und meine Mitbewohnerinnen verzogen sich wieder nach draußen. Sie kannten meine Mutter schon und wollten lieber nicht in der Nähe sein, wenn sie mich abholte.

Meine Mutter (groß, blond, mager) ist das absolute Gegenteil von mir. Aber nicht nur optisch. Sie ist SAP-Consultant. Das bedeutet, dass sie ihr nicht geringes Einkommen damit erzielt, große bis sehr große Unternehmen in Sachen Ordnung zu beraten. Nur wer sie nicht persönlich kennt, wundert sich darüber, wie schnell eine Mittfünfzigerin in dieser Branche aufsteigen konnte. Das liegt daran, dass Mama innerlich schon SAP-Consultant war, bevor die Gründer von SAP überhaupt wussten, was ein Computer ist.

Ordnung und Struktur liegen ihr einfach im Blut. Die Mütterlichkeit eher nicht so. Seit ich angefangen habe, durch die Wohnung zu krabbeln und nicht nur mich, sondern auch Dinge bewegte, verzweifelt sie an mir. Ordnung ist für sie nicht das halbe, sondern mindestens das ganze Leben. Für Ordnung UND mich ist jedenfalls nie so recht Platz darin gewesen. Das merke ich selbst heute noch an jedem Wort und jeder Geste von ihr.

Meine Mutter hat mich zum Beispiel nie einfach so umarmt. Wir hatten schon Körperkontakt, sie ist ja kein Eisklotz. Aber Mamas Berührungen standen nie einfach so für sich. Sie dienten immer dem vorrangigen Zweck, irgendetwas an mir in ORDNUNG zu bringen. Ich glaube, ich bin ab und zu absichtlich durch Gestrüpp gekrochen oder habe Grasflecken in mein T-Shirt gemacht, nur damit Mama mich kämmen oder umziehen musste und ich mich dabei an sie kuscheln konnte. Nutzloses Rumfummeln ist ineffizient, sagte sie gerne.

Das Schönste war das Fußnägelschneiden. Denn das dauerte ziemlich lange und ich durfte dabei auf ihrem Schoß sitzen, den Rücken an sie geschmiegt. Wenn ich dann die Augen schloss und nicht an die Nagelschere dachte, fühlte es sich total gut an. Ich spürte ihren Atem in meinem Nacken und kam mir geborgen vor. Für einen ganzen Winter waren Quarkspeisen mein Leibgericht. Weil ich einmal gehört hatte, davon wüchsen die Nägel schneller. Ob es stimmt, konnte ich nicht herausfinden – denn Mama war natürlich viel zu organisiert, um das Nägelschneiden dem Zufall oder der Notwendigkeit zu überlassen. Fußnägel wurden immer Sonntag Abend nach dem Baden geschnitten, ob sie nun einen halben oder fünf Millimeter lang waren. Dafür mag ich bis heute keinen Quark.

Wenn aber Fußnägelschneiden das Schönste war – das Schlimmste waren ihre Geburtstage. Nie wusste ich, was ich ihr schenken sollte. Einmal, als ich für eine Zehnjährige schon wirklich gut nähen konnte, arbeitete ich wochenlang heimlich an einem Nadelkissen in Form eines Porsche Cabrios (von dem sie träumte). Als sie es auspackte, verzog sie geringschätzig den Mund. "Was ist denn das wieder für ein gebastelter Quatsch? Ein Kuscheltier? Liesel, du hast es sicher nett gemeint, aber lass' das doch einfach. Wenn du mir wirklich eine Freude machen willst, dann lernst du in der Zeit lieber Französisch-Vokabeln. Von guten Noten haben wir beide etwas!"

Sie erkannte noch nicht einmal, dass es ein Porsche Cabrio sein sollte. Als ich ihr erklärte, dass es sich um ein Nadelkissen handelte, schenkte sie es direkt an mich zurück. Ich würde so etwas doch eher brauchen, ich könnte ja wenigstens nähen.

Pflichtschuldig legte ich mir das verunglückte Geschenk eine Weile auf den Schreibtisch, bis ich den Anblick nicht mehr ertragen konnte und es wegwarf. Auch Viertklässlerinnen haben ihren Stolz.

Komisch eigentlich, dass ich den Menschen in meinem Beruf so eng auf die Pelle rücke. Abnäher direkt unter einer schwitzigen Achsel abzustecken oder bei einem Mann die korrekten Hüftmaße abzunehmen, das muss man schon auch mögen. Und ich mag es auch, also solange die Kunden wenigstens noch (saubere) Unterwäsche tragen. Muss der Versuch sein, meine Kindheitstraumata auszugleichen.

Genau fünf Minuten vor sieben Uhr klingelte es an der Tür. Ich musste nicht extra die Gegensprechanlage betätigen, um sicher zu gehen, dass sie es war. Meine Mutter erschien immer und überall exakt fünf Minuten vor dem vereinbarten Termin. Außerdem hatte ich durch das gekippte Fenster ihre Stöckelschuhe schon über den Hof klappern hören. Ich öffnete die Tür.

Eine Wolke aus Chanel No. 5 waberte das Treppenhaus hinauf und fing sich unter dem Dachstuhl wie ein verirrter Schmetterling. Gleich darauf erschien sie selbst, wie immer mehr für eine Vorstandssitzung als ein Abendessen mit der Tochter gekleidet. Frisur und Make-up waren makellos. Die Situation oder klimatische Bedingung, der meine Mutter nicht gewachsen wäre, musste erst noch erfunden werden.

"Bin ich zu früh?", fragte sie und gab mir rechts und links je ein Küsschen. Sie prickelten auf meinen Wangen wie feine Nadelstiche. Vielleicht reagierte ich allergisch auf ihren neuen Lippenstift in der Farbe der Saison: Apricot. Es stand ihr auch noch.

"Natürlich nicht, Mama", antwortete ich, obwohl ich erst drei Minuten vor ihr zuhause angekommen war und die eigentlich verbliebene zusätzliche Zeit gut gebrauchen hätte können, um mich noch ein bisschen frisch zu machen und seelisch auf ihren Besuch vorzubereiten. Auch das wie immer.

Ich trug also immer noch das Rita-Kleid mit den Karos, das ich im schon Laden angehabt hatte. Und obwohl ich eh nicht der Typ bin, der sich nach Feierabend sofort in Jogginghose und ausgeleiertes altes Band-Shirt schmeißt, war das in den Augen meiner Mutter ein genauso großer Fehler. Ich konnte es ihr eben einfach nicht recht machen.

"Na, ist das auch schon wieder selbst genäht?", fragte sie beim Anblick meines Outfits mit einem Gesichtsausdruck, als hätte sie im Hausflur etwas Ekliges gefunden und würde nun mit spitzen Fingern den Verursacher suchen. Natürlich wollte sie die Antwort gar nicht wirklich hören. Ich bejahte trotzdem, schließlich war ich sehr stolz auf meinen ausgeklügelten Zuschnitt des Karomusters, die perfekt passenden Knöpfe und die selbst konstruierten Wiener Nähte, die meine Oberweite betonten und sich trotzdem sehr bequem trugen. Mama nickte missbilligend. "Sieht aus wie Fasching. Kauf dir doch mal was Normales!"

"Ich kaufe mir schon seit Jahren keine Klamotten mehr, Mama. Allerhöchstens mal einen BH oder eine Strumpfhose."

"Dann näh dir halt mal was Normales!"

"Sowas wie das, was du da trägst?" Ich wies auf ihr superbiederes Kostüm aus Tweedrock und Chaneljäckchen. Wie ich die Einkommenssituation und das Konsumverhalten meiner Mutter kannte, handelte es sich wahrscheinlich sogar um ein original Chaneljäckchen, ebenso wie die zweireihige Perlenkette bestimmt echt war. Wenn auf ihrer Tasche Louis Vuitton stand, dann stimmte das auch. In Sachen Mode war mit Mama nicht zu spaßen, da musste alles Hand und Fuß und allerhöchste Qualität haben. Bei ihr selbst herrschte im Gegensatz zu mir nie Fasching – der bayerische Karneval.

"Tut mir leid, das würde mir niemals so gut stehen wie dir", blieb ich höflich. "Und bei meiner Arbeit brauche ich auch mehr Bewegungsfreiheit."