Keltenmord - Alexander Lorenz Golling - E-Book

Keltenmord E-Book

Alexander Lorenz Golling

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  • Herausgeber: Midnight
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Tom Berger hat seine besten Tage als Journalist hinter sich. In der beschaulichen bayerischen Ortschaft Leitenacker sucht er eigentlich nichts anderes als Entspannung. Stattdessen stößt er vor allem misstrauische Dorfbewohner, irritierend verführerische Bäckersfrauen und rätselhafte Todesfälle. Seine alte Spürnase wittert eine heiße Story, doch je tiefer er in den Sumpf aus alter Sippschaft und unverzeihlichen Taten, aus Ritualmorde und einen uralten Fluch vordringt, desto mehr muss er an seinem gesunden Menschenverstand zweifeln - und um sein Leben fürchten.

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Der AutorAlexander Lorenz Golling wurde 1970 in Augsburg geboren. Nach einem Musikerdasein in Augsburg und erfolgter Berufsausbildung in Schwäbisch Gmünd ließ er sich in Oberhausen bei Neuburg nieder, um seiner Arbeit im sozialen Bereich nachzugehen. Im Februar 2012 begann er mit der Arbeit an Romanen und Kurzgeschichten des Genres Horror und Mystik.

Das BuchTom Berger hat seine besten Tage als Journalist hinter sich. In der beschaulichen bayerischen Ortschaft Leitenacker sucht er eigentlich nichts anderes als Entspannung. Stattdessen stößt er vor allem auf misstrauische Dorfbewohner, irritierend verführerische Bäckersfrauen und rätselhafte Todesfälle. Seine alte Spürnase wittert eine heiße Story, doch je tiefer er in den Sumpf aus alter Sippschaft und unverzeihlichen Taten, aus Ritualmorde und einen uralten Fluch vordringt, desto mehr muss er an seinem gesunden Menschenverstand zweifeln - und um sein Leben fürchten.

Alexander Lorenz Golling

Keltenmord

Roman

Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de

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Originalausgabe bei Midnight.Midnight ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinJuli 2015 (1)© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015Umschlaggestaltung:ZERO Werbeagentur, MünchenTitelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © privat

ISBN 978-3-95819-042-9

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Erstes Kapitel

Urlaub mit Denkzettel

»Verdammt! Was für eine wunderschöne Aussicht! Einfach herrlich!«

Mit dieser für ihn typischen, aber dennoch etwas verwirrenden Aussage lehnte sich Tom Berger aus dem offenen Fenster seines Hotelzimmers und blickte müde über das sich weit ausdehnende, im diesigen Morgennebel versunkene Donaumoos. Die außergewöhnlich drückende Hitze dieses Apriltags war an jenem frühen Morgen noch nicht zu verspüren – eine erfrischende Kühle, durch leichten Wind verstärkt, strömte in Toms Zimmer. Die Morgendämmerung war nur durch einen fahlgelben Streifen am Horizont angedeutet. Es würde also wahrscheinlich ein wolkenverhangener Tag werden.

Das Landhotel St. Emmeran ist unterhalb einer barocken Wallfahrtskirche gleichen Namens auf einem waldigen Hügel am Rande des Donaumooses gelegen, auf halbem Weg zwischen Sinning und dem kleinen Dorf Leitenacker; man genießt von hier aus eine gute Aussicht über fast die gesamte flache Ebene dieses leider in großen Teilen flurbereinigten, ehemaligen Moorgebietes. Ursprünglich war es ein altes Gasthaus aus dem 17. Jahrhundert, welches die damals noch zahlreichen Pilger nach ihrem langen Bußgang mit Speis und Trank versorgte; später, in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, wurde es in ein Landhotel für gestresste Großstädter und Wandervögel umgewandelt, wahrscheinlich auch deshalb, weil aus den wenigen Wallfahrern, die noch kamen, kein Kapital mehr zu schlagen war.

Soviel zur Lokalität.

Tom machte seinen Morgenmantel zu und legte sich rücklings lang auf das noch ungeordnete Bett. Seine Arme hinter dem Kopf verschränkt, genoss er die kühlende, seine Nerven beruhigende Morgenluft, die mittlerweile das ganze Hotelzimmer ausfüllte. »Verdammtes, aalglattes Arschloch, dieser Greininger!«, dachte er grimmig. Die Kritik seines Chefs hatte ihn letzte Woche kalt erwischt. Wenn er schon so unzufrieden mit ihm war, nach acht Jahren guter und – für dieses Klatschblatt! – durchaus finanziell erfolgreicher Zusammenarbeit, hätte er ihm dies auch in einem angemessen freundlichen Tonfall sagen können und nicht zwischen Tür und Angel, mal eben so unerwartet dahergeschissen. »Bedenken Sie, Herr Berger, die Leute kaufen unsere Zeitung wegen der Titten auf Seite 4 und wegen der kernigen, kurzen Kommentare, und nicht für dieses langweilige Zeugs, das Sie in letzter Zeit bei mir abgeliefert haben. Kein Hahn kräht nach ihrem lyrischen vorgestrigen Mist! Ich habe Sie zum Abteilungsleiter gemacht, damit Sie die Auflage steigern, und ich kann Sie auch wieder fallen lassen. Wir brauchen keine verhinderten Poeten! Auch Sie sind nicht unersetzbar, also reißen Sie sich gefälligst am Riemen! Schönen Urlaub noch!« Danach lautes Türenschlagen und Stille. Einfach unerhört! Als ob er ein kleiner Postillenverkäufer an der hintervorletzten Ecke eines Kaffs wäre!

Tom schloss seine Augen. Seit gestern Abend logierte er nun schon im St. Emmeran und suchte nach Ruhe vor der Hektik des Alltagslebens und den genannten beruflichen Untiefen. Seine Kindheit und Jugend hatte er in Ingolstadt verbracht, genauer gesagt im südöstlichen Stadtteil Unsernherrn. Nachdem er dort geborgen und behütet bis zu seinem zehnten Lebensjahr aufgewachsen war, wurde die Welt des jungen Thomas durch die Scheidung seiner Eltern, die mit vielen Zerwürfnissen, lautstarken Streitereien und, am allerschlimmsten, tödlichem Schweigen einherging, heftig durcheinander gewirbelt. Vom Gericht wurde er danach seinem Vater zugesprochen, ein eher ungewöhnlicher Schritt. Begründet wurde diese Entscheidung damit, dass seine Mutter trotz all der Liebe, die sie ihm entgegenbrachte, nicht in der Lage wäre, ihm weiterhin ein solides Heim zu bieten. Denn sie sei drogensüchtig, und die Leute, mit denen sie jetzt zusammenlebte, seien das auch, und dies wäre etwas furchtbar Schlimmes, hatte ihm sein Vater erzählt. Dementsprechend hatte Tom seine Mutter auch in den folgenden Jahren so gut wie gar nicht mehr gesehen. Einmal, als er gerade 18 Jahre alt geworden war, besuchte er sie in einer heruntergekommenen WG im Norden der Stadt. Es hatte ihm dort überhaupt nicht gefallen; überall lagen Matratzen am Boden, dazwischen leere Bierflaschen und ausgedrückte Kippen, und es roch fürchterlich. Auch sie selbst sah alles andere als gut aus, hatte fast keine Zähne mehr und war sehr schwach.

Während also seine Mutter ihre Lebenskrise nicht – und vielleicht sogar nie mehr – in den Griff bekam, wurde auch das Verhältnis Toms zu seinem Vater, einem selbstständigen Automechaniker, immer problematischer. Dieser missbilligte ganz offen die Entscheidung seines Sohnes, anstelle des fälligen Wehrdienstes den Zivildienst anzutreten; genauso wenig mochte er Toms damalige lange Haarpracht, seine Neigung zum Lesen in Büchern unterschiedlichster Thematik oder sein aufkommendes berufliches Interesse für das journalistische Gewerbe.

Trotz dieser schwierigen Familienverhältnisse (oder vielleicht auch gerade deswegen) war sein Fortkommen in Sachen Schule und Beruf in immer geordneten Bahnen und nach einem fast schon mustergültigen Plan verlaufen: Volksschulabschluss mit 15, Mittlere Reife mit 18, Abitur dann mit 22 Jahren. Anschließend Zivildienst in einem Altenheim, dann Volontär bei einer kleineren überregionalen Zeitung in Ingolstadt. Er hatte sich vom Brotzeitbesorger über seine Ausbildung zum Verlagskaufmann bis zu seinem gegenwärtigen Status hochgearbeitet – anders als die netten Jungs und Mädels von der Uni, mit ihrem von Staat und Eltern gesponserten Journalistikstudium, die ihm manchmal mit ihrer angelernten, grünschnäbeligen Weisheit so extrem neben der Realität zu liegen schienen. Was wussten die schon vom echten Leben? Durch seine direkten, manchmal kompromittierenden Interviews und Beiträge (vor allem in den Klatschspalten seines Zeitungsverlags) machte er sich langsam, aber sicher einen Namen. Leider musste er aber sowohl in der Berufsschule als auch später im Betrieb wüste Intrigen und Demütigungen unterschiedlichster Art überstehen, was ihn infolgedessen ziemlich vorsichtig, manchmal sogar ablehnend gegenüber anderen Menschen werden ließ.

Misstrauen war tatsächlich ein wesentlicher Charakterzug Toms; jedoch trug er diesen nicht von Geburt an in sich, sondern hatte ihn erst im Laufe seines unsteten und von Unsicherheiten geprägten Lebens angenommen. In ruhigeren Stunden, wenn er Zeit hatte, über sich selbst nachzudenken, kam ihm zwar durchaus in den Sinn, dass diese Einstellung, ja Beurteilungsgrundlage gegenüber Menschen, die er gar nicht genau kannte oder die einen vollkommen anderen Hintergrund hatten als er, ungerecht sein könnte. Andererseits war seine Angst, ausgenutzt und hintergangen zu werden, immer noch sehr groß. Entsprach es denn nicht den Tatsachen, dass liebe, nette und tolerante Menschen (zu denen sich Tom früher zweifellos gezählt hatte und es manchmal auch heute noch tat), gnadenlos untergebuttert wurden von den Alphatieren dieser Gesellschaft (oder denjenigen, die sich dafür hielten)? War dies denn nicht die Quintessenz der gesammelten Lebenserfahrungen von Thomas Berger, Band eins, Kapitel zwei?

Doch dann trat eine unvorhergesehene Wendung ein. Während eines feuchtfröhlichen Abends in einem Ingolstädter Lokal hatte Tom eine Frau kennengelernt, die er sehr sympathisch fand und die ihm mehr als nur gut gefiel. Die Folge war eine, wie er anfangs dachte, vorübergehende einmalige Bettgeschichte. So wie er schon etliche im Laufe seines Lebens gehabt hatte. Der Sex war gut zwischen den beiden, doch am Morgen danach war alles anders. Er konnte es anfangs kaum beschreiben, doch als sie ihn nach einem Frühstück mit Kaffee, Brötchen und Orangensaft fragte, ob man sich noch mal sehen könnte, hatte er zu seinem eigenen Erstaunen sogar zugestimmt. So etwas war ihm, dem großen, auf Abstand bedachten Planer, noch nie passiert. Seine Überraschung wurde noch größer, als er feststellte, dass er sich nach den nächsten paar Treffen in sie verliebt hatte. Klara, Klara Sennmeier hieß die glückliche Auserwählte (so sah er es zumindest). Die attraktive blonde Enddreißigerin, eine resolute Frau mit definitiv mehr Lebenserfahrung als Tom, fristete nach ihrer Scheidung ein Singledasein, welches sie mit ihrem heißgeliebten siebenjährigen Sohn Daniel, für den sie sich das alleinige Sorgerecht erstritten hatte, teilte. Ihr Mann mochte den Kleinen zwar, doch sein großes, alles zersetzendes Alkoholproblem und seine ständig wechselnden Partnerschaften waren Klara berechtigterweise ein Dorn im Auge. Auch das in dieser Angelegenheit zuständige Vormundschaftsgericht sah die Sache ähnlich. Aus diesem Grund wurde der Mutter schließlich das alleinige Sorgerecht zuerkannt. Die Beziehung gestaltete sich anfangs noch einfach. Tom betrat zwar Terra Incognita, doch passte er sich – für einen eingefleischten Individualisten – relativ schnell an die neuen Verhältnisse an. Klara machte es ihm mit ihrer einfachen, offenen Art und dem hinreißenden Augenaufschlag (schon oft mit Erfolg erprobt) auch leicht. Erst im Laufe der Zeit stellte sich heraus, dass der kleine Daniel mit ihm leider nicht so recht klarkam. Zwar versuchte Tom, dem jungen Burschen der beste Freund zu sein (dass er die Vaterrolle nicht erfüllen konnte, war ihm bewusst), doch Daniel weigerte sich beharrlich, ihn an der Seite seiner Mutter zu akzeptieren.

Neben den Querelen in seinem Job war dies einer von mehreren Gründen, warum sich Tom kurz nach Ostern in jenem Landhotel wiederfand, wo er sich gerade in der kühlen, frischen Frühlingsluft aus seinen trübseligen Gedankengängen erwachend auf dem Bett räkelte. Zurückhaltend klopfte es dreimal an der Tür.

»Was zum Geier soll das? Kann man hier nicht mal in Ruhe ausschlafen?«, murmelte er in sich hinein und raffte sich auf.

Als er seine Zimmertür öffnete, stand die Putzfrau mit ihrem Reinigungswagen vor der Tür und sah ihn freundlich an.

»Oh, entschuldigen Sie, habe ich Sie aufgeweckt? Soll ich später wiederkommen?«

»Nein, lassen Sie nur. Sie können gleich reinkommen, ich muss mich nur noch kurz waschen. Bin gleich fertig – wie viel Uhr haben wir eigentlich, ist es schon so spät?«

»Na ja, es ist schon zehn Uhr, die übliche Zeit für den Zimmerputz – die anderen Gäste sind ja auch alle schon wach und haben fertig gefrühstückt. So einen gesegneten Schlaf möchte ich auch einmal haben«, entgegnete die Putzfrau mit leichtem polnischen Akzent etwas schnippisch.

»Was, schon zehn?«

Tom war leicht verwirrt. War er so lange in Gedanken versunken auf dem Bett gelegen? Aber egal. Er ging ins Badezimmer, putzte in rekordverdächtiger Geschwindigkeit seine Zähne und steckte seinen Kopf unter den Wasserhahn, um frisch zu werden. Als er fertig war, zog er sich flink an und ließ die Putzfrau rein, damit diese ihre Arbeit verrichten konnte. Tom entschuldigte sich kurz wegen seiner Unpässlichkeit bei ihr und sagte dann: »Eine Frage noch: Habe ich das Frühstück verschlafen oder gibt‘s noch was? Ich bin erst seit gestern Abend hier, Sie verstehen!?«

Die Putzfrau sah ihn zuerst ein wenig verständnislos an, dann antwortete sie ihm freundlich: »Frühstück gibt es täglich von sieben bis elf Uhr, Herr Berger. Sie haben also gerade noch mal Glück gehabt.«

Tom bedankte sich kurz und ging dann den Flur und die Treppe hinunter zum Hoteleingang. Da das eigentliche Hotel und die Gaststätte zwei getrennte Gebäude waren, musste er die Straße nach Leitenacker überqueren und den waldigen Berg zur Wirtschaft hinauflaufen, um dort das Frühstück einzunehmen. Auf dem Weg den Hügel aufwärts fiel ihm auf, dass der Weg von aufrecht gestellten Steinplatten begrenzt wurde, die auf ihn wie die Miniaturversionen vorzeitlicher Menhire wirkten. Sein Magen knurrte vernehmbar. Ein starker Kaffee wäre jetzt nicht schlecht, dazu noch ein paar Croissants, und der Tag wäre vorerst gerettet, dachte sich Tom, als er die durch ihr Alter dunkel gewordene dicke Eichentür öffnete und ins Foyer der Gastwirtschaft eintrat. Vor ihm lag ein langer Flur; links davon befand sich der Gastraum, rechts davon das separate Esszimmer für die Hotelgäste. Dort waren gerade noch drei Leute anwesend; die anderen waren offenbar schon fertig.

Tom sah zu seiner Zufriedenheit, dass das Frühstücksbuffet noch angerichtet war. Er nahm sich eine der großen Kaffeekannen und eine Tasse, um diese aufzufüllen. Anschließend suchte er sich einen Platz am durchgehenden Panoramafenster, von dem aus er die alte Wallfahrtskirche im Blick hatte. Nach und nach stellte sich Tom nun sein Frühstück zusammen: Ein Brötchen mit Marmelade, eine Schale Joghurt, ein Ei und noch etwas Zucker und Milch für seinen Kaffee. Er verstand die Menschen nicht, die ihren Tag ohne ein ausgiebiges Frühstück begannen. Noch weniger verstand er allerdings diejenigen, die ihren Kaffee ohne Milch und Zucker tranken – das lag für Tom schon nahe an der Grenze zur Perversion.

Entspannt setzte er sich nun und genoss diesen schönen ruhigen Beginn des Tages. Wie alt diese Kirche gegenüber seines Fensters wohl sein mochte? Nun, das könnte man ja nachher erkunden, Zeit hatte er ja jetzt mehr als genug. Tom war erst gestern Nachmittag angekommen und hatte sich noch nicht genauer umsehen können. Auch das Abendessen hatte er ausfallen lassen. Nach der stressigen Packerei zu Hause in Ingolstadt und dem seiner Ankunft im Hotel folgenden elenden Auspacken seiner Mitbringsel für die nächsten vier Wochen hatte er einfach keinen Hunger mehr verspürt.

Das war typisch für ihn: Wenn ihn einmal die Arbeitswut gepackt hatte, sei es im Job oder auch privat, war er schwerlich zu stoppen und erst dann zufrieden, wenn alles bis ins kleinste Detail vollendet war. Für so etwas wie gutes Essen und andere störende, spießige Nebensächlichkeiten hatte er dann weder Zeit noch Geduld. Also hatte er sein Zimmer seinem Stil entsprechend planvoll und in großer Geschwindigkeit eingerichtet. Es war sowieso eher nüchtern gehalten: Rechts von der Tür stand ein Tisch mit einem Fernseher sowie DVD–Player, davor ein Stuhl, und direkt dahinter in der rechten Ecke das Bett, welches immerhin höhenverstellbar war. Zwischen Bett und Wand war ein schmaler Gang freigelassen, um an das dortige Fenster zu kommen; an der Stirnseite des Zimmers eröffnete sich dem Betrachter durch ein weiteres, größeres Fenster die bereits erwähnte Aussicht auf das Donaumoos. Die Wand links von der Tür wurde von einem wuchtigen Kleiderschrank größtenteils verdeckt, in der linken hinteren Ecke konnte man durch eine weitere Tür zum Badezimmer gelangen, welches allerdings nur ein Waschbecken, eine Dusche und eine Toilette enthielt.

Danach hatte er sich, auf dem Bett liegend, durch das Fernsehprogramm gezappt. Auf sämtlichen Kanälen liefen jedoch nur die üblichen nachmittäglichen, gestellten Fälle »vor Gericht« und kitschige Dokusoaps, die Tom nicht leiden konnte. Also griff er in die unter dem Fernsehtisch liegende Minibar und machte es sich bei einem Brandy und seinem mitgebrachten Buch mit klassischen Gruselgeschichten, das er schon seit seiner Kindheit besaß, auf dem Bett gemütlich.

So war er eingeschlafen, wachte aber gegen zwei Uhr nachts kurz auf und entledigte sich, noch halb im Delirium, seiner Klamotten. Anschließend begab er sich wieder ins Reich der Träume und erwachte, wie wir wissen, erst wieder gegen neun Uhr am folgenden Tag.

»Scheiße! So ein Dreck!«, fluchte Tom leise in sich hinein, als er sein Frühstücksei aus Versehen auf den Boden fallen gelassen hatte.

Vorsichtig, schwitzend und mit leicht zitternden Händen, denn er fühlte sich von den anderen Gästen genau beobachtet, hob er das angeknackste Ei wieder auf und setzte es in den Eierbecher. Die von Zeit zu Zeit auftretenden großen Schwankungen seines Selbstwertgefühls und das leider daraus resultierende tollpatschige Verhalten gehörten zu den Dingen, die er an sich selbst nicht leiden konnte.

Er hasste es, wenn er sich so verhielt, er hasste es wirklich, und fühlte sich dann dementsprechend auch als Totalversager, so lächerlich gering seine »Fehltritte« für Außenstehende auch gewesen sein mochten. Seine Wut auf sich und die Welt verrauchte angesichts der Aussicht auf vier Wochen Ruhe und dem seine Nerven beruhigenden, gemütlichen Frühstück jedoch schnell wieder. Er lehnte sich entspannt in seinem Stuhl zurück und nahm die auf seinem Tisch liegende Zeitung zur Hand. Die Nachrichten aus Politik und Wirtschaft überflog Tom nur kurz; sie interessierten ihn nicht besonders. Klara ging ihm durch den Kopf. Wie es ihr wohl ging? Die Konzentration auf den Zeitungsinhalt fiel ihm schwer. Er musste an ihr Lächeln denken, kurz vor dem Abschied …

»Entschuldigen Sie, wenn ich störe, aber ist der Platz hier noch frei?« Tom sah mit gerunzelter Stirn von seiner Lektüre auf. »Nicht, dass ich mich Ihnen aufdrängen will, aber wenn ich hier im Hotel bin, ist dies immer mein gewohnter Platz, Sie verstehen – ich sitze nun mal gern am Fenster …«

»Aber klar doch, tun Sie sich keinen Zwang an, setzen Sie sich her«, gab Tom ruhig zur Antwort.

Der Fragesteller bedankte sich höflich und setzte sich mit seiner Tasse Kaffee ihm gegenüber auf den freien Platz am Frühstückstisch.

Tom musterte ihn mit kritischem Blick. Eigentlich wäre er gerne für sich alleine geblieben, aber er wollte nicht schon am Morgen einen Streit um Platzrechte vom Zaun brechen, und außerdem hatte der andere eine gewisse freundlich und gebildet wirkende Ausstrahlung, die ihn in seinen Augen sympathisch machte.

Das erste, was Tom auffiel, war eine dicke Hornbrille, die ihren Träger mehr verunstaltete als zierte. Zeugt nicht gerade vom besten Geschmack, dachte er sich im Stillen. Er sieht damit aus wie einer dieser Nerds, die den ganzen Tag vor dem PC verbringen.

Das Haar seines Gegenübers war glatt, dunkelblond und rechts gescheitelt, so wie es vielleicht in den Siebzigerjahren Mode gewesen sein könnte. Dazu trug er ein weißes Hemd und ein graues Jackett, so dass die ganze Erscheinung zwar adrett, aber doch irgendwie aus der Zeit gefallen schien.

»Erlauben Sie mir, dass ich mich vorstelle? Helbich, Dr. Ewald Helbich«, sprach dieser ihn nun vertrauensbildend an und reichte ihm die Hand zum Gruß. Tom nahm sie an und bemerkte, dass Helbich einen kräftigen Händedruck hatte. »Angenehm, Thomas Berger. Sind Sie schon länger hier im Hotel?«

Sein Gegenüber sah ihn freundlich an und holte dann aus: »Nein, ich bin gerade erst angekommen und ehrlich gesagt noch ziemlich erschöpft. Die Fahrt von München hierher zieht sich doch ganz schön in die Länge.«

»München? Haben Sie dort Ihre Praxis?«

Helbich lächelte breit. »Oh, da haben Sie mich missverstanden, ich bin mitnichten ein Arzt. Ich habe mir meinen Doktortitel in den Naturwissenschaften erarbeitet, verdiene mein Geld also nicht durch den Beschau anderer Menschen – außerdem wohne ich nicht in München, ich war nur wegen einer Fortbildung dort. Man muss heutzutage schließlich immer auf dem Laufenden bleiben.«

»Ach so?«, fragte Tom, dem die ironische Antwort Helbichs gefiel. »Welchen Beruf üben Sie denn nun aus?«

Dr. Helbich lehnte sich grinsend in seinem Stuhl zurück.

»Mein Beruf? Nun, ich bin der Beauftragte für Umweltschutz und Renaturierung des Landkreises Neuburg-Schrobenhausen. Ich hoffe, das ist Ihnen ein Begriff.«

Tom nickte und antwortete: »Ich denke schon. Renaturierung bedeutet meines Wissens, dass zum Beispiel Bäche und Flüsse, die in den Sechziger- und Siebzigerjahren im Rahmen der so genannten Flurbereinigung kanalisiert und begradigt wurden, wieder in ihren ursprünglichen Zustand zurückgeführt werden, so dass sich wieder eine gewisse Artenvielfalt entwickeln kann – liege ich damit richtig?«

»Ja, das trifft es ungefähr, wenn auch die Aufgaben im Gesamten sehr viel umfangreicher sind als diejenigen Maßnahmen, die Sie gerade genannt haben. Hier im Donaumoos, oder besser gesagt im ehemaligen Donaumoos, denn es handelt sich heute um eine fast vollständig flurbereinigete Nutzfläche, geht es vor allem darum, hier und dort, wo es die ansässige Landwirtschaft gerade erlaubt und wo es möglich ist, wieder die alte, ursprüngliche Moorlandschaft herzustellen, die früher ja für diese Gegend so prägend war.«

Tom lächelte. »Das halte ich für eine sehr umfangreiche und interessante Aufgabe, Herr Dr. Helbich. Ist das manchmal nicht ziemlich anstrengend?«

»Nun ja, es gibt schon Tage, die schwieriger sind als andere, keine Frage. Es wird einem ja nicht immer leicht gemacht, denn etliche Landwirte finden es alles andere als erstrebenswert, dort wieder Sümpfe und Moore entstehen zu lassen, wo sich ihre Ahnen und teilweise auch sie selbst eine halbe Ewigkeit damit abgearbeitet haben, genau diese zu entwässern und für die Nutzung als neue landwirtschaftliche Fläche bereitzustellen. Es gehört schon ein gutes Verhandlungsgeschick und auch eine gewisse Überredungskunst dazu, diese alteingesessenen Bauern vom Nutzen neuer – alter! – Moorflächen für die Natur und damit auch für uns alle zu überzeugen. Notfalls bietet der Landkreis eine Kompensation an …«

»… was bedeutet, dass mal wieder das gute Geld die eigentliche Hauptrolle spielt, habe ich recht?«, fiel ihm Tom ins Wort.

»Jein«, sagte Dr. Helbich und bewegte seinen Kopf mit nachdenklichem Ausdruck abwägend von links nach rechts, »als ganz so extrem würde ich es nicht bezeichnen. Aber sicher, eine angemessen hohe Entschädigung ist eine von mehreren möglichen Methoden, die nötigen Maßnahmen zur Renaturierung auch umzusetzen. Trotzdem bleiben sie einfach Flickwerk. Sie sehen, es handelt sich um ein sensibles Thema. Im Augenblick bin ich übrigens ebenfalls aus beruflichen Gründen hier, es gibt nämlich unweit von St. Emmeran einige kleinere Moorflächen, die meine Behörde in den Neunzigern neu angelegt hatte, und ich überprüfe jährlich, ob sie sich auch in die richtige Richtung entwickeln.«

»Aha, Sie verbinden also das Nützliche mit dem Angenehmen, was?«, schmunzelte Tom.

»Warum auch nicht? Die Gegend ist schön, und wenn ich nebenher ein wenig ausspannen kann, dann ist das schon in Ordnung, sofern die Arbeit stimmt. Ich bin schließlich meinem Arbeitgeber – dem Landkreis – Rechenschaft schuldig.« Dr. Helbich nippte an seinem Kaffee. »Was machen Sie eigentlich beruflich, Herr Berger?«

Auf eine solche Frage hatte Tom schon gewartet.

»Ich bin Journalist. Aber keine Angst, ich werde schon nichts über Sie schreiben, denn erstens bin ich hier wirklich nur zum Urlaub, und zweitens sind Sie für das billige Revolverblatt, bei dem ich angestellt bin, wohl auch ein paar Takte zu seriös. Es sei denn, Sie gehen vielleicht fremd oder wollen eine übermäßig teure Geschlechtsumwandlung über sich ergehen lassen.«

Tom machte diese Bemerkung augenzwinkernd und hoffte, Dr. Helbich würde seine Ironie schon verstehen.

Dieser sah ihn mit kritisch-durchdringendem Blick durch seine Hornbrille an und sagte dann langsam: »Was, Sie gehören zur schreibenden Zunft? Sind Sie ein Schreibtischtäter oder einer dieser Paparazzi, von denen man immer wieder mal hört?«

Tom zitterte innerlich. Er konnte es nicht leiden, immer wieder mit diesen aufdringlichen und fotogierigen, aber leider bis auf weiteres notwendigen Kollegen in einen Topf geworfen zu werden. Ohne sich seine Verärgerung anmerken zu lassen, antwortete er: »Nun ja, ich bevorzuge normalerweise seriösere Vorgehensweisen, um Stoff für einen Artikel zu bekommen. Aber manchmal lassen sich, sagen wir mal, gewisse zum Ziel führende Maßnahmen nicht vermeiden. Gewissensbisse oder gar Mitleid empfinde ich dabei allerdings nicht. Schließlich lebe ich von diesen Promis oder denen, die sich für so etwas halten. Der Begriff wird ja mittlerweile sehr inflationär verwendet …«

Helbich sah ihn prüfend an und entgegnete verwundert: »So hätte ich Sie überhaupt nicht eingeschätzt, Herr Berger! Sie wirken so nett.«

»Nun, mein größter Vorteil war bis jetzt immer noch der, von anderen Menschen massiv unterschätzt zu werden. Übrigens ist es dabei vollkommen gleichgültig, ob es sich um private oder berufliche Angelegenheiten handelt. Für mich persönlich hat sich dieser Umstand aber in jeglicher Hinsicht immer ausgezahlt.«

»So so, das ist ja interessant! Sie spielen den Unbedarften und kommen erst zum richtigen Zeitpunkt aus der Deckung. Ich schätze, dass Sie Ihre sämtlichen Gesprächspartner bei einem Interview genau mit dieser Masche um den Finger wickeln. Habe ich recht?«

Tom war ein wenig von Helbichs Spitzfindigkeit überrascht.

»Na ja, manchmal läuft das schon so ähnlich, ich geb‘s zu. Was haben Sie eigentlich heute noch vor?«

Tom wollte das Gespräch beenden, nicht, weil ihm Helbich unsympathisch gewesen wäre – das war nicht der Fall –, sondern weil er heute schlicht und ergreifend noch etwas unternehmen wollte.

»Ich werde erst mal auf mein Zimmer gehen und meine Siebensachen verstauen. Und Sie?«

Tom trank den letzten Schluck Kaffee aus seiner Tasse und sagte: »Ich denke, ich werde mir nachher diese Kirche von innen ansehen und dann zum benachbarten Dorf wandern – ich glaube, es heißt Leitenacker oder so ähnlich. Damit, fürchte ich, werde ich noch den ganzen restlichen Tag eingespannt sein …«

»Die Kirche? Ehrlich?« Helbich schmunzelte ein wenig und sah Tom prüfend an. »Ich wünsche Ihnen viel Spaß dabei. Man sieht sich dann wahrscheinlich zum Abendessen wieder!«

Damit erhob er sich und schlenderte langsam durch den Gastraum zum Ausgang.

Auch Tom schickte sich an zum Gehen. Kaum einen Tag hier und schon eine Bekanntschaft gemacht! Aber was soll‘s, dieser Dr. Helbich machte einen ganz netten Eindruck auf ihn. Zumindest schien er kein Dummkopf zu sein, der einem die ganze Zeit hinterherlief. Speichellecker konnte er auf den Tod nicht ausstehen, und das letzte, was er hier brauchen konnte, war ein unaufrichtiger Mensch, der dauernd kriecherisch um ihn herumscharwenzelte. Schließlich war das hier sein Urlaub, und er wollte sich nicht andauernd mit aufdringlichen und neugierigen Leuten abgeben.

Also mit Leuten, die so waren wie er selbst. Wut stieg wieder in ihm auf. Das kaputte Frühstücksei. So typisch! Tom verjagte seine selbstzerstörerischen Gedanken erneut. Schluss damit!

Er stand eilig auf und ging auf sein Zimmer zurück, um sich für seine Wanderung fertig zu machen.

Zweites Kapitel

Es hat wieder angefangen …

Tom war erst vor wenigen Monaten zum Abteilungsleiter beim Aktuellen Sonntagsblatt, der schon vorher genannten Regenbogenzeitung aus Ingolstadt, ernannt worden. Jetzt, mit Anfang vierzig, begann sein Haar lichter zu werden, doch dies war nur ein relativ kleines, unbedeutendes Anzeichen dafür, dass sich in seinem Leben etwas zu verändern begann. Bevor Klara auf der Bildfläche erschien, war er nämlich immer als ungebundener Single durch die freie Wildbahn des Ingolstädter Nachtlebens gezogen, hatte mal eine kleinere Affäre, mal einen One-Night-Stand, blieb aber immer ohne festere Beziehung oder Bindung. Nicht, dass er ein renitenter, verschrobener Einzelgänger oder gar hässlich gewesen wäre, aber er hatte sich seit einer für ihn sehr ernsthaften Jugendliebe einfach nicht mehr in ein weibliches Wesen verlieben können, sei es, weil er damals in emotionaler Hinsicht schwer verletzt wurde, oder weil die beruflich bedingte Abhärtung im Laufe der Zeit auch auf sein Seelenleben übergriff. Seine Zweifel am »System Familie« waren auf jeden Fall sehr ausgeprägt und ließen ihn vor allem, was mit Liebe, Heirat und Kindern zu tun hatte, zurückschrecken, auch wenn er in abendlicher Ausgehlaune durchaus gesellig werden konnte. Aber dieses Einlassen auf andere Menschen war immer nur von kurzer Dauer, sozusagen ein Ausflug des einsamen Wolfes in die Gesellschaft der »Normalbürger«. Er blieb für sich alleine und fand das gut, basta. Und hatte er nicht aus seinen eigenen Erfahrungen gelernt, dass derjenige, der sich zu sehr seinen Gefühlen oder denen anderer hingab, doch nur Schwäche zeigte, sich mithin also selbst zum Opfer machte? Ein Opfer, auf das jene Raubtiere, die sich bisweilen hinter einer Maske mit menschlichem Antlitz versteckten, nur gewartet hatten? Er hatte es schon oft genug schmerzlich erleiden müssen … Und doch hatte Tom sich im Laufe der Jahre die Stärke erarbeitet, mit dem Erlebten abzuschließen. »Immer vorwärts mit festem Blick, wer sucht das Glück, schaut nie zurück!« Wie wahr war doch dieser kluge Merksatz, den ihm sein Vater schon in jungen Jahren eingebläut hatte. Und meist lebte Tom jetzt auch danach. Nabelschau und sich selbst verzehrender Ärger über vergangene Angelegenheiten, die man nicht mehr ändern konnte, waren nicht sein Ding. Er existierte ganz im Hier und Jetzt, genoss alle hedonistischen Freizügigkeiten seines Singledaseins und ging, wenn eine echte oder auch nur imaginäre Gefahr drohte, die Treppe hinunter in seinen bewährten Bunker, der aus Misstrauen, Abstandhalten und sarkastischen Bemerkungen bestand. Doch dann kam Klara, und alles änderte sich schlagartig. Zum Guten wie zum Schlechten.

Sein Weg hatte ihn nun hierher geführt, nach St. Emmeran, wo er mit sich selbst und seiner Umwelt ins Reine kommen wollte.

Nachdem er sich fertig umgezogen hatte, brach er zu seiner Erkundung der näheren Umgebung auf.

Als Tom versuchte, das alte, schwere Türschloss an der Pforte der Kirche herunterzudrücken, musste er feststellen, dass es verschlossen war. Auch mehrmaliges Rütteln brachte nichts, und so beschloss er, sich gleich auf den Weg nach Leitenacker zu machen. Der Himmel hatte sich noch weiter zugezogen, aber das bekümmerte ihn nicht besonders. Er hatte in seinem Rucksack einen Regenmantel dabei, und im Gegensatz zu vielen anderen Menschen liebte er den Regen. Als nächstes wurde er vor die Tatsache gestellt, dass es anscheinend keinen Wanderweg nach Leitenacker gab, er also gezwungen war, sich auf der Landstraße dorthin zu begeben. Er nahm es gelassen und marschierte zügig den waldigen Hügel hinunter. An der Sohle des Hügels endete der Wald und gab den Blick auf weite Felder frei, die von der Landstraße, auf der er wanderte, durchschnitten wurden. Sie stieg in einer weit ausholenden Rechtskurve leicht an, und in nicht allzu großer Entfernung – geschätzt etwa zwei Kilometer – sah er den Kirchturm von Leitenacker über niedrige, gebeugte Walmdächer lugen. Er hielt darauf zu. Links von ihm fielen die Felder sanft ab, hinunter in das Donaumoos. Ein leichter Wind machte sich erfrischend bemerkbar. Tom hatte gute Laune und pfiff ein Liedchen vor sich hin. Bald würde er an seinem Ziel sein. Mal sehen, was es dort in diesem sehr alten, angeblich auf römische Ursprünge zurückgehenden Dorf zu entdecken gab. Leitenacker erwies sich als ein recht kleiner Flecken, der sich zum größten Teil links der Straße ausdehnte, auf der er hergekommen war. Etwas überrascht stellte er fest, dass die Gassen, anders als in einem typischen bayerischen Bauerndorf üblich, recht eng waren, und die Häuser sehr nahe beieinander standen. Tom hatte den Eindruck, dass sich die Dächer der uralt wirkenden, teilweise windschiefen Gebäude beinahe oben an den spitzen Giebeln berühren würden, fast schon einen Tunnel bildend. Außerdem registrierte er, dass es merklich kälter geworden war. Dann erblickte er rechter Hand die Kirche und den sie umgebenden Friedhof.

Als er ihn erreichte, machte er, nun doch ziemlich erschöpft, an der Pforte eine kleine Pause zum Verschnaufen. Tom war es als Stadtmensch einfach nicht gewohnt, so lange Strecken zu Fuß zurückzulegen. Er erfrischte sich an dem kühlen Mineralwasser, das er in seinem Rucksack mitgebracht hatte. Welch eine Wohltat!

Er sah sich um. Kein Mensch war ihm bis jetzt begegnet, weder in den dunklen Gassen noch auf dem kleinen Vorplatz vor der Kirche. Alles war menschenleer. Hatten die sich alle in den Häusern verkrochen?

Als er sich erholt hatte, betrat er das Friedhofsgelände und ging direkt auf die geduckte, mit ihren romanischen Rundbögen sehr alt aussehende Kirche zu. Doch wie er erfahren musste, war auch dieses Gotteshaus abgesperrt. Was war denn hier nur los? Wenn sie den Tourismus in dieser Gegend ankurbeln wollten, dann war dies auf jeden Fall ein recht seltsames Gebaren. Wie es aussah, war er vollkommen umsonst in dieses Kaff gewandert. Nun gut, ändern konnte er die Umstände nicht, warum sollte er sich also darüber aufregen? Er beschloss, sich die Kirche von außen anzusehen und dann auf den Friedhof zu gehen. Einige alte Epitaphe waren an der Außenwand des Kirchenschiffs angebracht. Den Inschriften war zu entnehmen, dass es sich um ehemalige Pfarrer dieser Gemeinde und andere Honoratioren handelte, die hier beerdigt lagen. Der Friedhof an sich war recht klein und in der Form eines unregelmäßigen Trapezes angelegt, wobei die Kirche selbst die langschenklige Basis bildete. Mit mäßiger Neugier schlenderte Tom über die sorgsam mit Schotter bedeckten Wege. Es begann leicht zu tröpfeln. Er sah in den Himmel, wo die tiefhängenden Wolken vom stärker werdenden Wind schnell vorangetrieben wurden. Es würde also doch Regen geben. Dann blieb er vor einem Grab stehen, das an die vom Kirchturm abzweigende Mauer grenzte. Der Gedenkstein war relativ klein und ziemlich schmucklos, das Grab selbst von Unkraut und Haldenpflanzen überwuchert. Auch die Begrenzungssteine waren bereits entfernt worden. Lediglich an der Spitze des Steines wachten zwei aus weißem Marmor geformte Putten über den Toten.

Die Inschrift verriet Tom, dass hier der Körper eines gewissen Andreas lag, dessen Nachname aber fehlte.

»Geboren 9. November 1945, gestorben 6. April 1964. Wenn ich am Tage des Jüngsten Gerichts wieder aufstehe, steht ihr alle mit mir auf«, lautete die vollständige Angabe. Reichlich düster also.

Der Junge, der hier beerdigt worden war, ist also noch nicht einmal 19 Jahre alt geworden. Tom strich sich nachdenklich über sein bartloses Kinn. Welches betrübliche Schicksal mochte ihn wohl ereilt haben in so jungen Jahren?

»Es ist schon ein Kummer, dass der Anderl so früh hat sterben müssen.«

Tom zuckte vor Schreck zusammen. Neben ihm stand eine alte Frau, deren Annäherung er gar nicht bemerkt hatte.

»Oh, Grüß Gott! Sie haben mich vielleicht erschreckt!«, keuchte er aufgeregt und doch erleichtert.

Sie war eine kleine, gebückte Erscheinung von schwer einzuschätzendem Alter, vielleicht siebzig, vielleicht auch schon achtzig Jahre alt. Gekleidet war sie in das, was Tom als »typische Altfrauenklamotten« bezeichnen würde: Sie trug einen langen braunen Rock, eine braune Strickjacke über einer beigen Bluse, und auf dem Kopf ein blaues Kopftuch.

»Entschuldigung, das habe ich nicht gewollt. Wissen Sie, ich habe den Jungen, nun ja, gekannt. Ich war gerade zwanzig geworden, damals, als das Unglück passiert ist – mein Gott, wie schnell die Zeit doch vergeht!«

»Was ist denn geschehen – mit dem Jungen, meine ich?«

Die alte Frau wendete sich lächelnd von ihm ab.

»Sie sind nicht von hier. Was will ein eleganter Mann wie Sie denn in diesem abgelegenen Dorf?«

»Nun, Urlaub machen, schätze ich mal. Mir ein wenig Zeit für mich selbst nehmen. Ich wohne oben im Hotel St. Emmeran. Ich dachte, es gäbe hier vielleicht etwas Besonderes zu sehen, doch da habe ich mich leider getäuscht!«, antwortete Tom spöttisch lachend.

»Was Besonderes? Nein, hier in Leitenacker gibt‘s nichts Besonderes zu sehen.« Die alte Frau hob ein wenig ihren Kopf und blinzelte zu Tom hoch. »Aber es hat schon wieder angefangen. Dort drüben, sehen Sie«, sie wies auf eine frische Grabstelle unweit von ihnen, »da liegt der Bub vom Samhauser Josef. Hat letzte Woche einen schlimmen Unfall mit dem Auto von seinem Vater gehabt. Dabei hat er die alte Straße und die gefährliche Kurve doch genau gekannt! Vierundzwanzig war er erst, der junge Bursche. Die Wege der Götter sind unergründlich, und sie sind es hier in Leitenacker leider ganz besonders …«

»Was meinen Sie damit?«, fragte Tom, der, während die Frau erzählt hatte, ein paar Schritte auf den neu aufgeworfenen Grabhügel zugegangen war. Als er keine Antwort bekam, drehte er sich um und sah: nichts. Verwirrt blickte Tom sich um, konnte aber niemanden entdecken. Er war vollkommen alleine auf dem Friedhof, als ob die alte Dame nie dagewesen wäre. Nahe des Kirchenschiffs entdeckte er jedoch, halb versteckt hinter Eibenbüschen, eine kleine rückwärtige Pforte; vielleicht war sie ja still und heimlich durch diese Tür entschlüpft.

Tom fühlte sich durch sein unverhofftes Treffen mit der alten Frau keineswegs beunruhigt. Jedoch war nun seine beruflich bedingte Neugier geweckt worden. Warum wollte ihm die Alte nicht verraten, was mit diesem Andreas geschehen war? Und was sollte die nebulöse Bemerkung, dass »es schon wieder angefangen« hatte?

Das bisherige Tröpfeln hatte sich in einen leichten Regenschauer verwandelt.

Tom verließ den Friedhof durch die hintere Pforte und suchte unter einem danebenstehenden großen Baum Schutz. »Seltsame Menschen leben in diesem Dorf«, dachte er. »Vielleicht bekomme ich heraus, was hier los ist.«

Er grinste in sich hinein.

Wäre doch gelacht, wenn ausgerechnet ihm, Tom Berger, der bis jetzt noch aus jedem B-Promi die letzten Geheimnisse herausgekitzelt hatte, dies nicht gelingen würde! Damit legte er sein Regencape an und wanderte, leise ein Liedchen pfeifend, durch den mittlerweile strömenden Regen zurück ins Hotel St. Emmeran.

»Ah, da sind Sie ja wieder! Wohl ziemlich nass geworden, was? Ja, das ist nun mal der April: Erst glaubt man, der Sommer würde verfrüht anbrechen, und schon eine Stunde später steht man im Regen und friert!«

Tom war gerade dabei gewesen, sich seines durchnässten Regencapes zu entledigen, als ihn Dr. Helbich auf etwas spöttische Weise ansprach. »Wanderers Freud, Wanderers Leid«, entgegnete er ihm freudig, »mir macht dieser Regen absolut nichts aus. Ganz im Gegenteil, ich finde ihn nach den letzten schwülen Tagen richtig erfrischend!«

Ein paar Wasserspritzer trafen Helbich, der zurückzuckte, als wäre es Gift gewesen. Dann antwortete er: »Na, mein Fall wäre das nicht, da ist mir eine gute heiße Dusche doch erheblich lieber. Sie kommen übrigens gerade recht zum Mittagessen, wollen wir gemeinsam rübergehen?«

»Nein, danke, ich habe keinen Hunger. Ich esse mittags sowieso kaum etwas. Bin eher ein Anhänger der mediterranen Lebensweise, Sie wissen schon: Morgens viel zu essen, mittags nichts, abends wieder viel. Ist auf Dauer viel gesünder als unsere mitteleuropäischen Essgewohnheiten! Und davon abgesehen habe auch ich jetzt Lust auf eine heiße Dusche! Bis zum Abendessen also, guten Appetit noch!«

Tom ging an Dr. Helbich vorbei auf sein Zimmer und machte seine Ankündigung wahr. Er genoss es, nach dem langen Fußmarsch und dem kalten Regen ausspannen zu können. Nachdem er geduscht hatte, machte er es sich auf seinem Bett bequem und ließ den bisherigen Tag Revue passieren. Etwas komisch waren die Dinge, die ihm heute aufgefallen waren, schon. Wegen der verschlossenen Kirchen wollte er auf jeden Fall Dr. Helbich fragen, der sich, seiner eigenen Auskunft nach, in dieser Gegend hier ja gut auszukennen schien. Aber auch auf dieses ominöse Grab auf dem Kirchhof von Leitenacker wollte er ihn ansprechen, denn was die Alte angedeutet hatte, ging ihm immer noch im Kopf herum: »Es hat schon wieder angefangen …«

Sie hatte damit auf einen erst vor kurzem geschehenen Autounfall Bezug genommen, nicht auf das, was diesem Andreas damals passiert war.

Wie geheimnisvoll! Aber vielleicht bildete er sich ja auch nur etwas ein und es steckte rein gar nichts dahinter. Die Landbevölkerung repräsentiert nun mal einen abergläubischen und verschlossenen Menschenschlag, eine Tatsache, die sich zumindest nach Toms Ansicht bis heute kaum geändert hatte. Wer den ganzen Tag alleine ist und das zumal auch noch auf einem Dorf, wird vielleicht automatisch ein wenig seltsam und wirkt auf Außenstehende wie ihn verschroben. Die alte Frau konnte nichts dafür, dass sie so war, wie sie nun einmal war.

Aber etwas erschreckend war es dennoch, dass die Alte plötzlich auftauchte und wieder verschwand, dachte er, als er gerade dabei war, frische Kleidung anzuziehen. Mal sehen, was dieser Helbich dazu zu sagen hat …

»Guten Abend, Herr Berger! Na, haben Sie sich von Ihrer kleinen Wanderung schon erholt?«

Dr. Helbich saß bereits am Esstisch, als Tom das Gästezimmer betrat. Mittlerweile hatte er einen gesunden Hunger auf etwas Deftiges zum Abendessen entwickelt. Nachdem er sich gesetzt hatte, riss er deshalb der Kellnerin, die ebenfalls gekommen war, um die Bestellung aufzunehmen, fast schon die Karte aus der Hand.

Nachdem er sich bei der Frau für sein ungehobeltes Verhalten entschuldigt hatte, orderte er bei ihr Käsespätzle mit Röstzwiebeln und Salat. Dann erst antwortete er Dr. Helbich: »Ja, das kann man wohl sagen! Nach meiner Dusche habe ich mich noch ein Weilchen hingelegt und bin in einen richtig schönen, tiefen Schlaf gefallen. Jetzt aber habe ich Hunger wie ein Bär, ich könnte wirklich einen ganzen Ochsen verzehren. Übrigens gut, dass Sie hier sind – ich habe ein paar Fragen an Sie!«

Dr. Helbich grinste Tom spitzbübisch an. »Verspüren Sie das Bedürfnis, trotz Ihres Urlaubs Ihrer Berufung nachgehen zu müssen? Nun, wie Sie vorhin selbst schon richtig bemerkt hatten: Ich bin absolut langweilig. Keine Sexskandale mit minderjährigen Mädchen, keine Drogengeschichten, und fremdgegangen bin ich meines Wissens auch noch nicht …«

»Ach was, nichts in dieser Art, was denken Sie nur!«, unterbrach ihn Tom kurz und bündig.

Innerlich bedauerte er seine Geschwätzigkeit, die sein Gegenüber schon nach relativ kurzer Zeit über seinen Beruf aufgeklärt hatte. Dennoch fuhr Tom fort: »Wenn ich mich nicht irre, haben Sie heute morgen doch erwähnt, dass Sie häufiger beruflich in dieser Gegend zu tun haben, nicht wahr?«

»Ja, das ist korrekt.«

»Gut. Können Sie mir dann vielleicht erklären, warum sowohl die Wallfahrtskirche hier als auch die Dorfkirche von Leitenacker verschlossen ist? Finden gerade irgendwelche Renovierungsarbeiten statt?«

Helbich lächelte. »Nein, nicht, dass ich wüsste. Aber möglicherweise hat der Pfarrer gerade Urlaub oder befindet sich im Krankenstand. Wissen Sie, er betreut nämlich beide Kirchen, ein Umstand, der dem gegenwärtigen Mangel an Priestern in der katholischen Kirche zu verdanken ist. Aber genaues kann ich Ihnen leider auch nicht sagen, ich bin zwar des Öfteren mal hier, aber deshalb weiß ich natürlich noch lange nicht alles …«

»Sicher, Herr Dr. Helbich. Aber es ist dennoch schade, ich hätte sehr gerne zumindest mal die Wallfahrtskirche von innen betrachtet. Ach ja, bevor ich es vergesse, ich hatte auf dem Friedhof von Leitenacker ein seltsames Erlebnis.«

»Ein seltsames Erlebnis? Ist Ihnen ein Gespenst erschienen?« Dr. Helbich lachte frei heraus.

Tom blieb jedoch ruhig und schilderte ihm das, was er an diesem Vormittag erlebt hatte, in allen Einzelheiten und dennoch gerafft, wie es eben nur ein Journalist konnte.

Als er fertig war, sah Tom, wie Helbich in Gedanken versunken aus dem Fenster schaute und antwortete: »Wissen Sie, Herr Berger, die Landbevölkerung hier im Donaumoos und den angrenzenden Gebieten war schon immer sehr abergläubisch, auch wenn sie jeden Sonntag brav in die Kirche gehen und ihre Kirchensteuer zahlen. Ich weiß von diesem schrecklichen Unfall in der vergangenen Woche. Der arme Junge kam dabei ums Leben, und warum er überhaupt von der Straße abkam, konnte bisher noch nicht geklärt werden. Schon möglich, dass einige ältere Dorfbewohner, die sonst den lieben langen Tag nichts zu tun haben, alles Mögliche in einen solchen Vorfall hineingeheimnissen.«

Er wandte sich um und sah Tom direkt ins Gesicht.

»Geben Sie doch nicht allzu viel auf das Geschwätz dieser Leute, auch wenn Sie Journalist sind und mit derartigen Dingen Ihren Lebensunterhalt bestreiten.«

»Tja, meine Arbeit verfolgt mich sogar in meinen Urlaub hinein, das ist wahr. Wie Sie sehen, ist sie viel zu sehr in mein Fleisch und Blut übergegangen, als dass ich zu ihr Abstand nehmen und mal richtig durchatmen könnte«, gab Tom nun zur Antwort, »aber wahrscheinlich haben Sie recht. Man darf auf den ländlichen Aberglauben genauso wenig geben wie auf die altbekannten Großstadtlegenden, die mir als Journalisten immer wieder den Weg kreuzen. Aber unter uns gesagt: Meine Neugier zwickt mich schon!«

»Na, das glaube ich Ihnen auf Anhieb, sonst wären Sie ja auch ein schlechter Journalist. Aber trotzdem müssen auch Sie sich erholen. Nehmen Sie sich Zeit für sich.«

Seine Augen nahmen einen grüblerischen Glanz an. »Ja, die Zeit. Sie rennt uns immer schneller davon, wie ein wilder, gehetzter Hund, je älter wir werden. Sie lässt sich einfach nicht einfangen, geschweige denn zurückdrehen. Und ehe wir uns versehen, sind wir schon alt und runzlig, an der Schwelle des Todes …«

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