Crossover - Fred Ink - E-Book

Crossover E-Book

Fred Ink

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Beschreibung

Sechs Menschen erwachen in einem heruntergekommenen Laborkomplex. Sie erinnern sich an nichts, haben teilweise sogar ihren Namen vergessen. Wie sind sie an diesen Ort gelangt? Wer ist Freund, wer Feind? Was hat es mit den grässlichen Affenkreaturen auf sich, die schon bald hinter ihnen her sind? Und weshalb sieht die Welt, die sich jenseits der verdreckten Fenster erstreckt, so verstörend aus? Das Puzzle setzt sich nur langsam zusammen, während nach und nach die Erinnerungen zurückkehren. Bald wird ihnen klar, dass die Antworten auf sämtliche Fragen noch schrecklicher sind, als sie befürchtet hatten. Der grausame Überlebenskampf hat längst begonnen, und er wird sie alle verändern.

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Seitenzahl: 363

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Table of Contents

Horror eBook Band 6

KOVD Online

Titelseite

Impressum

Widmung

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6

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Der Autor

Danksagung

Literatur Guerillas

Horror eBook

Band 6

Online zu erreichen unter:

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Impressum

Alle Rechte vorbehalten.

1. Auflage November 2020

Copyright © dieser Ausgabe 2020 by KOVD Verlag, Herne

 

 

Nachdruck und weitere Verwendung

nur mit schriftlicher Genehmigung.

 

ISBN: 978-3-96987-719-7

 

Für Ramona

 

»Es ist nicht die stärkste Spezies, die überlebt, und auch nicht die intelligenteste. Es ist diejenige, die sich am ehesten dem Wandel anpassen kann.«

 – Charles Darwin

Harald Strehlau war tot. Er musste tot sein, weil nichts mehr stimmte.

Weder lag er in seinem Bett, noch baumelte der triangelförmige Griff über ihm, an dem er sich für gewöhnlich in die Höhe zog. Die weiß gestrichene Zimmerdecke war einem verwaschenen Durcheinander aus Braun und Grau gewichen. Als Harald nach seiner Brille tastete, um den trüben Augen auf die Sprünge zu helfen, griff er ins Leere. Das Merkwürdigste an der Situation war aber, dass er nicht urinieren musste. Seit Ewigkeiten war Harald nicht mehr aufgewacht, ohne dass seine apfelsinengroße Prostata ihm auf die Blase drückte.

Heute musste er nicht. Er war vertrocknet, inner- wie äußerlich.

Nach einer Phase der Verwunderung, gefolgt von Ungewissheit und Furcht, machte sich eine fundamentale Ruhe in ihm breit. Es war also endlich soweit, er hatte es hinter sich.

Ich werde Utta wiedersehen.

Der Anflug eines Lächelns bahnte sich den Weg durch tief eingegrabene Falten, während Harald versuchte, sich hochzustemmen.

Ihm wurde bewusst, dass manche Dinge sich nicht verändert hatten. Die Arthritis, Geißel seines Lebensabends, plagte ihn nach wie vor. Tausend winzige Schlangen schienen sich in seine Gelenke zu bohren und dort in den Nervenenden zu verbeißen, als er steife Finger auf kühlen Untergrund presste. Da es ihnen an Schmiere mangelte, knirschten seine Schultern, als würde jemand altbackenes Brot zerbröseln. Die Wirbel in seinem Rücken knackten wie Holzscheite in einem lodernden Kaminfeuer. Sein Atem ging flach und pfeifend. Die Anstrengung, sich in eine sitzende Position aufzurichten, ließ schwarze Punkte vor Haralds Augen tanzen.

»Das ist nicht fair«, stöhnte er und verabscheute den asthmatischen Klang seiner Stimme. Es war lange her, dass sein Mund Worte voller Kraft und Zuversicht geformt hatte. Schwäche und Hilfsbedürftigkeit schwangen heutzutage in allem, was er hervorbrachte.

Und dann sein Atem: Er roch nach angetrocknetem Speichel, ach was, nach Sabber. Und er trug zusätzlich diesen irgendwie heimeligen und doch schrecklichen Hauch mit sich; etwas, das man als Kind gerne wahrnahm, weil es der unverwechselbare Geruch von Omi oder Opi war. Wenn man aber erst selbst danach stank, lernte man es schnell hassen.

Ich bin noch immer ein alter Knacker.

War es womöglich doch nicht vorbei? Befand sich Utta nach wie vor in unerreichbarer Ferne?

Aber falls ja, was war das hier?

Er sah sich um. Ohne Brille war nicht viel zu erkennen, nur grobe Umrisse. Aber die Farben … und die Lichtverhältnisse … es konnte nicht seine Wohnung sein.

Er befand sich in einem Zimmer, so viel war klar, denn zu seiner rechten Seite fiel trübes Licht herein. Es war kränklich und schwach, wie an einem Wintertag. Was die Einrichtung betraf, herrschten düstere Töne vor. Von Braun über Grau bis Schwarz fand sich jede Nuance von Schmutz und Zerfall.

Harald kniff die Augen zusammen und zwang die Welt in einen geringfügig schärferen Zustand. »Wie bei Hempels unterm Sofa«, murmelte er.

Überall schienen Dinge herumzuliegen. Die verschiedensten Formen waren kreuz und quer im Raum verteilt wie weggeworfener Unrat.

Und vielleicht war es ja genau das.

Irgendwie fühlte sich der Gedanke, in einem verwahrlosten Zimmer voller Müll zu liegen, stimmig an. Als Harald länger darüber nachdachte, wurde ihm auch klar, warum.

Er war unter der durchdringenden Note des Alters, die Harald selbst verströmte, nicht leicht wahrzunehmen, aber er war definitiv vorhanden: Der Gestank von Schimmel und Gärung. Harald war umgeben von vermoderndem Gerümpel.

»Was ist das hier für ein Mumpitz?«

Plötzlich war da eine Stimme, volltönend und durchdringend. Harald konnte nicht sagen, ob sie durch den Raum dröhnte oder nur in seinem Kopf widerhallte.

BEFREIE MICH!

Der Befehl schmerzte, als er überlaut in sein Gehirn fuhr. Harald riss reflexartig die Hände an die Ohren.

»Was … wer?«

Niemand antwortete.

»Wo bin ich? Was wollen Sie von mir?«

Das Zimmer reagierte mit Schweigen auf seine Fragen. Der Forderungen stellende Sprecher – so es ihn denn jemals gegeben hatte –, gab sich nicht zu erkennen.

So leicht lasse ich mich nicht einschüchtern.

Harald hatte Schützengräben, russische Gefängnisse, Hippies und Computerfreaks überlebt. Er beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen.

Während er die Beine über die Kante von dem schwang, worauf auch immer er gelegen hatte, spürte er ein schmerzhaftes Scheuern. Er tastete prüfend um sich und versuchte, seinen von Hornhaut überzogenen Fingerspitzen etwas Gefühl zu entlocken. Eine Substanz blätterte aufgrund der Bewegungen ab. Er nahm Stückchen davon zwischen die Finger, worauf sie zu Krümeln zerfielen. Harald besah sich seine Hände. Wenn er sie dicht vor die Augen hielt, konnte er sie einigermaßen scharf erkennen. Die Kuppen seiner Finger hatten sich rötlich-braun gefärbt.

»Rost.«

Er saß auf einer korrodierten Metallfläche.

Ein Blick hinab zu der Stelle, an der seine Füße baumelten, enthüllte verschwommene, bleiche Dinger. Krumm und steif sahen sie aus, vom Alter entstellt. Gelbe Flecken hingen im trüben Weiß – Zehennägel. Wo waren seine Strümpfe geblieben?

Harald bemerkte, dass sein Pyjama ebenfalls fehlte. Das einzige Kleidungsstück, das an seinem Körper hing, war eine fleckige Unterhose. So ging er niemals zu Bett! Wenn er sich hinlegte, dann …

Ja, was dann? Was trug er, welche Rituale pflegte er? Putzte er sich die Zähne? Las er noch ein wenig? Oder schaute er sich den überdrehten Mist an, der im Fernsehen lief? Nahm er sein Gebiss heraus? Hatte er überhaupt ein Gebiss oder genoss er das Privileg, selbst im hohen Alter noch im Besitz seiner eigenen Zähne zu sein?

Furcht erkannte die Gelegenheit und kehrte zurück. Weshalb konnte er sich an nichts erinnern?

Er öffnete den Mund und umschloss die oberen Schneidezähne mit den Fingern. Ein saugendes Geräusch erklang, als er daran zog.

»Gebiss«, murmelte er. Wenigstens eine der Fragen war somit beantwortet. Was gab es abgesehen davon?

Harald wusste, dass er sich nicht in seiner Wohnung befand, er entsann sich der Farbe seiner Zimmerdecke und auch der Haltegriff über dem Bett war ihm nicht entfallen … aber sonst?

In welcher Stadt wohnte er?

Was tat er den lieben langen Tag?

Wie alt war er genau?

»Oh Gott, ich weiß es nicht«, stammelte er. »Mein Gedächtnis …«

Ein schockierender Gedanke folgte: Was, wenn ich mich doch am richtigen Ort befinde? Wenn ich nur vergessen habe, weshalb ich hier bin?

Jeder Mensch, der sich im Herbst seines Lebens befand, fürchtete ein Schreckgespenst mehr als jedes andere. Jetzt umkreiste es Harald wie eine aggressive Hornisse.

Demenz.

Womöglich befand er sich schon jahrelang hier, wachte jeden Morgen ohne Erinnerung auf und durchlebte diesen Mist. War dies hier ein heruntergekommenes Altersheim, eine schäbige Anstalt, in die man ihn abgeschoben hatte, damit er dort starb?

Harald hatte keine Angst vor dem Tod. Er wartete schon lange auf ihn, dessen entsann er sich. Aber auf diese Weise wollte er ihm nicht gegenübertreten.

Existierten Verwandte, die skrupellos genug waren, ihm so etwas anzutun? Hatte er überhaupt Verwandtschaft?

Das Gefühl der Unwissenheit war schrecklich. Obwohl er sich an einem Punkt seines Lebens befand, der von diesem Stadium weit entfernt war, kam Harald sich wie ein Neugeborenes vor, das unsanft aus dem Körper der Mutter gerissen worden war und nichts von der Welt verstand.

»Ich bin Harald Strehlau«, verkündete er, um sich selbst vor Augen zu führen, dass er nicht alles vergessen hatte. »Und ich bin kein Hasenfuß.«

Mit diesen Worten stand er auf.

Seine Füße trafen auf kaltes, hartes Material, Beton vielleicht. Steinchen bohrten sich in seine Haut, doch er verzog keine Miene. Haralds Körper hatte im Lauf der Jahre an Empfindsamkeit eingebüßt, und außerdem war er Schmerzen gewohnt.

Er schlurfte los, in Richtung des Fensters. Vielleicht würde ein Blick nach draußen seiner Erinnerung auf die Sprünge helfen.

Bei jedem stolpernden Schritt kickte er versehentlich Gegenstände vor sich her. Manche boten kaum Widerstand und verursachten keinerlei Geräusche. Sie glitten beiseite wie weggeworfene Taschentücher. Andere klapperten oder rasselten, als wären es Schrauben und Kettenglieder. Wieder andere klangen hohl und hell, Harald dachte an leere Joghurtbecher und dergleichen.

Er mochte Joghurt nicht. Daran erinnerte er sich.

Der Gedanke an kühle Milchprodukte gab ihm das nächste Rätsel auf: Ungeachtet der Tatsache, dass er praktisch nackt war, fror er nicht. Dabei wurde ihm eigentlich nie wirklich warm. Weshalb war ihm nicht kalt, obwohl der Boden ihm offensichtlich Wärme entzog?

Es war die Luft, wurde ihm klar. Das Klima innerhalb des Zimmers war schwül, dampfig, wie im Dschungel. Als würden die Verwesungsgase, die ringsum aufstiegen, die Umgebung aufheizen.

Er erreichte das Fenster. Der Sims auf Bauchhöhe war nur noch teilweise vorhanden. Morsche Splitter brachen unter Haralds Fingern ab. Die Scheibe selbst war etwa einen Quadratmeter groß und vollkommen verdreckt.

Er rieb mit dem Daumen darüber, und nachdem er zuerst rostrote Farbtöne in das Grau geschmiert hatte, legte er allmählich eine klare Stelle frei. Ein Lichtstrahl stach durch die entstandene Lücke.

Harald nahm jetzt die gesamte Hand zur Hilfe. Es war ihm egal, ob er schmutzig wurde – immerhin trug er keine Kleidung, die er dabei hätte ruinieren können. Das Glas knirschte immer wieder, und mit der Zeit erkannte Harald den Grund dafür: Ein Spinnennetz aus Rissen durchzog es. Er gab Acht, nicht zu fest zu drücken, damit die Scheibe nicht unter seiner Hand zerbrach und ihm womöglich die Pulsadern aufschnitt. Auch so wollte er dem Tod nämlich nicht gegenübertreten.

Langsam tat sich eine kreisförmige Fläche auf. Warmer Schein fiel herein und brachte Harald zum Schwitzen. Auch das noch! Er konnte sich nicht erinnern, wann seine Schweißdrüsen zuletzt etwas abgesondert hatten. Aber was hieß das schon – immerhin erinnerte er sich auch sonst an kaum etwas.

Er stützte sich keuchend auf die Überreste des Simses, beugte sich vor und spähte hinaus. Seine altersschwachen Augen offenbarten nicht viel, aber was sie sahen, war nicht dazu angetan, ihn zu beruhigen.

Wie es schien, befand er sich auf dem Land. Bis zum Horizont ragte nicht ein Umriss auf, der wie ein Gebäude wirkte. Stattdessen standen dort knorrige, verästelte Gebilde, die zu unregelmäßig geformt waren, um Bäume zu sein. Aus irgendeinem Grund glaubte Harald, in den verkrümmten, kauernden Formen eine Präsenz zu erkennen. Etwas, das sprungbereit lauerte. Aber das lag bestimmt an seinen Augen, immerhin sah er alles verschwommen.

Der Boden, der sich zwischen den Umrissen ausbreitete, schien bewachsen zu sein. Er war von einer Masse bedeckt, die leicht hin und her wogte, wenn der Wind durch sie strich.

Aber sie hatte die falsche Farbe.

»Gras ist nicht rot«, flüsterte Harald sich selbst zu.

Und der Himmel darüber, wolkenlos, mit der unerbittlich brennenden Sonne darin …

»Lila?«

Die Glasscheibe musste schuld sein. Oder seine Augen. Aber mit Farben hatte er eigentlich nie ein Problem gehabt, eher mit der Nah- und Fernsicht.

Dann spuckte Haralds Verstand eine Erklärung für sämtliche Unstimmigkeiten aus, und diese Erklärung klang so schlüssig und gleichzeitig erschreckend, dass sich etwas in ihm zusammenzog.

Bin ich vielleicht das Problem?

Er hatte offensichtlich nicht mehr alle Tassen im Schrank. Aus welchem anderen Grund sollte er in dieser Müllkippe hausen? Womöglich war alles genau so, wie es sein sollte, wie es schon immer gewesen war … bis auf ihn. Was, wenn er sich in seinem Wahn nur ausmalte, dass der Himmel blau und das Gras grün sein müssten?

Er begann zu zittern. Ein frustrierter Aufschrei brach sich Bahn. Haralds rechte Hand schlug, einem zornigen Impuls folgend, auf die verschmutzte Fensterscheibe ein.

Das Glas splitterte, eine Scherbe schnitt tief in die Handfläche hinein. Während Harald ein zischender Schmerzenslaut entwich, fiel gut die Hälfte der Scheibe in sich zusammen und verschaffte ihm zwei beunruhigende Erkenntnisse: Erstens ging draußen kein Wind. Nicht das leiseste Lüftchen kam durch die gezackte Öffnung hereingeweht.

Was immer das Gras bewegt, strömende Luft ist es nicht.

Zweitens war keine Änderung bei den Farben auszumachen. Die Fensterscheibe war nicht der Grund für Haralds gestörte Wahrnehmung.

Entweder bin ich also tatsächlich verrückt, oder … oder …

Er hielt sich die blutende Hand. Verzweifelt legte er den Kopf in den Nacken, sah hinauf in den lilafarbenen Himmel … und keuchte entsetzt. Seine Augen waren zwar schlecht, aber nicht so sehr, dass er doppelt sah.

»Zwei«, stammelte er, »zwei Sonnen.«

Nichts stimmte, und doch war er nicht tot. Obwohl der Horror, der Harald plagte, geistiger Natur war, empfand er ihn als belastender als alles, was er in seinem Leben hatte ertragen müssen. Nichts kam diesem Entsetzen gleich, nicht einmal das Kauern im Graben, über ihm das Dröhnen von Geschützfeuer und die Blitze von Explosionen. Kalter Schlamm im Nacken und stinkendes Gummi vor dem Gesicht, während um ihn herum seine Kameraden zerfetzt wurden oder Blut erbrachen, weil sie etwas von dem Gas eingeatmet hatten …

Das war schrecklich gewesen, über alle Maßen falsch und grässlicher, als Harald es sich vor dem Krieg hätte träumen lassen. Aber es war trotz allem rational erfassbar gewesen. Es hatte an seinem Verstand genagt, aber er hatte es nachvollziehen und somit irgendwann abschütteln können. Was er damals gesehen hatte, war das Schlimmste gewesen, zu dem die menschliche Rasse imstande war. Hier schienen jedoch Kräfte am Werk zu sein, die weit über die Fähigkeiten von Menschen hinausgingen, und das ließ Harald bis ins Mark erschauern.

Nun musste er doch urinieren, aber es lag nicht daran, dass seine Prostata noch weiter angeschwollen wäre. Die Angst drückte auf seine Blase.

Während er noch angestrengt versuchte, sein einziges Kleidungsstück nicht zu beschmutzen, geschah das Schlimmste.

Erst spürte er es mehr, als dass er es hörte. Sinne, die im grausamen Überlebenskampf geschärft worden waren, ließen sich auch vom Alter nicht gänzlich abstellen. Mit plötzlicher Gewissheit wusste Harald, dass sich etwas näherte. Etwas Bedrohliches. Es musste das Klirren des Glases gehört haben, oder sein Gejammer. In wenigen Sekunden würde es vor dem Fenster stehen.

Harald biss sich auf die Unterlippe und ging in die Hocke. Seine Oberschenkel brannten, die Muskeln waren seit Ewigkeiten nicht dermaßen gedehnt worden. Die Knie knallten so laut, dass der Feind es mit Sicherheit hörte. Schmerzen schossen in die Gelenke. Harald musste sämtliche Willenskraft aufbieten, um den Mund geschlossen zu halten. Er presste sich an die fleckige Wand unterhalb der Fensterscheibe und versuchte, seinen Atem unter Kontrolle zu bekommen.

Ein Schnauben ertönte, tief und voluminös. Was immer dieses Geräusch ausstieß, verfügte über einen Brustkorb, der mindestens so groß wie der eines Elefanten war. Dann folgte das Schnüffeln. Langsam, fast gemächlich, feucht und zischend. Ein Schatten verdunkelte das Fenster und tauchte das Zimmer in Zwielicht. Harald nahm die blutende Hand vors Gesicht und biss sich auf die Knöchel. Panik mit Schmerz zu überlagern war ein Trick, den er schon in jungen Jahren gelernt hatte.

Das Ding klang wie ein monströser Hund. Und gleichzeitig nach so viel mehr. Bilder blitzten vor Harald auf, und im Gegensatz zu seiner Umgebung sah er sie gestochen scharf: Pelz. Schuppen. Zähne. Gezackte Mundwerkzeuge. Hörner. Antennen. Klauen und Giftdrüsen. Borsten. Gierige, rote Augen.

Das Wesen mochte sämtliche dieser Merkmale in sich vereinen oder keines davon. Klar war nur, dass es nicht stimmte. Genau wie alles hier.

Im nächsten Moment erzitterte die Wand in Haralds Rücken, als etwas Kolossales sich dagegen warf. Die Überreste der Fensterscheibe rieselten auf ihn herab, etwas schob sich in die Öffnung und füllte sie aus.

Harald konnte später nicht sagen, ob er deswegen nicht aufschrie, weil er im Kern noch immer ein abgebrühter Soldat war, oder weil der Schreck ihn lähmte. Er starrte nach oben, die Arme um den hageren Körper geschlungen, die Knie zitternd.

Es war eine Art Bein. Eine Extremität, mit einem zangenförmigen Greifwerkzeug am Ende. Sie war anthrazitfarben und gepanzert. Wie die Platten einer Ritterrüstung umschloss festes Material das Ding, nur an den Gelenkstellen klafften Lücken. In diesen Spalten war helles Fleisch zu sehen, voller Schleim und durchzogen von fingerdicken, türkisfarbenen Blutgefäßen. Die Zange selbst bestand aus drei Gliedern, einem größeren und zwei kleinen. Jedes davon hätte Harald problemlos umfassen können. Und jetzt stocherten sie hinter dem Fenster herum.

Ein fürchterlicher Gestank nach Fisch und Erbrochenem senkte sich herab, während die Greifwerkzeuge krachend aufeinander schlugen und Harald sich so tief duckte, wie es ihm möglich war. Dass er sich dabei an weiteren Scherben schnitt, nahm er kaum wahr.

Zwei-, dreimal fuhr die monströse Zange dicht über ihn hinweg, während das Wesen versuchte, noch tiefer in den Raum hineinzugreifen. Es verdeckte die Fensteröffnung jetzt vollständig und verwandelte das Zimmer in ein Durcheinander entsetzlicher Schatten.

Das Schnauben steigerte sich. Zuerst zu einem Grollen, dann zu einem dröhnenden, alles durchdringenden Fauchen. Staub rieselte herab, der Boden erbebte.

Harald schloss die Augen, schlug die Hände über dem Kopf zusammen, bedeckte seine Ohren mit den Unterarmen und ließ sich zur Seite fallen. Er konnte und wollte das nicht länger miterleben. Zwischen seinen Beinen wurde es feucht.

Dann herrschte plötzlich Stille.

Licht fiel auf Haralds geschlossene Lider. Ungläubig öffnete er sie und spähte nach oben. Das Wesen war fort, er hörte seine stampfenden Schritte in der Ferne verklingen. Es hatte den Versuch eingestellt, seiner habhaft zu werden.

Fürs Erste.

»Ich weiß jetzt, wo ich bin«, stöhnte Harald. Voller Scham sah er an sich hinab.

Er war tot und alles war anders. Aber das hier war nicht der Himmel. Er hätte sich denken können, dass einem Mann wie ihm etwas anderes blühte.

 

Tom Meyer war mächtig angepisst.

»Was soll die Scheiße?«

Sein Schädel dröhnte wie bei ’nem Mörder-Kater, er hatte keinen Plan, wo er war, und auch sonst wusste er nicht viel. Was auch immer er eingeworfen hatte, es ballerte ihn ordentlich weg.

»Fuck.«

Er lag auf dem Boden, im Staub. Seine Billabong-Hose war verdreckt, ebenso wie der Burton-Hoodie. Von den limitierten Nikes ganz zu schweigen. Schnell stand er auf, schwankte, stützte sich an etwas ab, das wie ein völlig vergammelter Tisch aussah, und klopfte sich, so gut es ging, den Schmutz von den Klamotten.

Pilze … es mussten Pilze gewesen sein. Vermutlich wirkte der Scheiß noch immer und ließ Tom Hallus sehen. Es waren bestimmt Hallus, denn er war noch nie an so einem abgefuckten Ort gewesen. Er musste besser aufpassen, wo er sein Zeug herbekam.

Aber wo bekam er sein Zeug eigentlich her?

»Fuck, Mann.«

Er erinnerte sich an überhaupt nichts. Alter, Adresse, Freundin … gab es eine Schnecke in seinem Leben? Er schätzte schon, denn aufgrund seines Outfits war klar, dass er rockte und die Weiber auf ihn standen. Aber er wusste es nicht mit Sicherheit. Möglicherweise war er auch nicht der Typ für eine Beziehung. Die Welt war groß, es gab scharfe Bräute an jeder Ecke und jemand, der es geschnallt hatte, konnte feiern und vögeln, soviel er wollte. Die Bitches brauchten es doch, man musste sich nur ansehen, wie sie herumliefen.

»Yeah«, murmelte Tom und nickte. Das klang nach ihm. So einer war er, zumindest so lange, bis die Pilze aufhörten zu wirken. Und falls er anschließend feststellte, dass er doch nicht so einer war, würde er eben einer werden.

Sein Magen knurrte. Fressflash. Hatte er etwa auch einen durchgezogen?

Er sah sich um, suchte nach etwas Essbarem. Bereits nach wenigen Sekunden wusste er, dass er hier nichts Derartiges finden würde.

»Dieses Haus lutscht.«

Es kam ihm vor, als sei er in einen Teil der Resident Evil–Reihe gestolpert. Das Zimmer, in dem er stand, war früher vielleicht ein Labor gewesen. Inzwischen hatte es sich aber in eine Müllhalde verwandelt. Hängeschränke lagen zerbrochen und halb verrottet am Boden, Reste von Pappschachteln moderten überall vor sich hin, Kabel hingen von der Decke, löchrige, vom Rost zerfressene Leitungen verliefen zwischen ihnen oder hingen ebenfalls herab. Der Anstrich blätterte von den Wänden; wo er noch haftete, durchzogen ihn Risse, als wäre er aufgesprungener Wüstenboden. Alles war schmutzig und staubig, und wirklich hell war es auch nicht. Da gab es zwar ein Fenster, aber das sah aus, als hätte es jemand von oben bis unten vollgeschissen.

Überhaupt hing echt merkwürdiges Zeug in der Gegend herum. Zwischen den vielen Kabeln spannten sich Fäden, aber sie bildeten keine Spinnennetze. Sahen eher aus wie …

»Schleim«, murmelte er. »Was ist das für ein kranker Scheiß?«

Tom kannte kein Tier, das solche Dinger produzierte. Aber irgendwo mussten sie ja herkommen. Und dann diese kleinen Kugeln, die an mehreren Stellen das gammlige Holz bedeckten. Sie sahen aus wie Pilze, aber nicht wie die Sorte, die Tom sich gerne reinpfiff. Blass, käsig, irgendwie durchscheinend und … glibberig. Er stupste einen davon mit dem Finger an.

»Au!«

Es brannte, als hätte er eine glühende Zigarettenspitze berührt. Als wären diese Glibberkugeln Quallen und keine Pilze.

»Selbst wenn’s hier was zu essen gäbe, würde ich’s nicht fressen«, zischte er, während er die Hand mit dem verletzten Finger in der Luft schwenkte.

Ihm war heiß. Der Trip wurde immer schlimmer, jetzt fühlte er sich schon wie in der Sauna. Darauf bedacht, mit dem brennenden Finger nichts zu berühren, zog er den Hoodie aus und warf ihn sich lässig über die Schulter, wobei er den Daumen in der Kapuze verhakte. Einen schlechten Trip zu haben musste schließlich nicht automatisch bedeuten, scheiße auszusehen.

Aber auch wenn es ein verflucht schlechter Trip war … etwas stimmte nicht damit. Klar, mit schlechten Trips stimmte so manches nicht, aber sie fühlten sich trotzdem immer wie das an, was sie waren: Trips eben.

Hier fehlte das Gefühl; diese verschickte, verschobene Perspektive, das Eingelulltsein. Die Effekte, derentwegen man sich den Krempel überhaupt erst einwarf. Tom hatte verdammte Kopfschmerzen, aber er war nicht breit. Trotzdem stand er mitten in der Umbrella-Villa. Oder einem Labor an Bord der Nostromo aus Alien. Vielleicht schlüpfte ja gleich eine Horde Facehuggers aus den Schleimpilzen.

Wie ging man mit so etwas um? Tom hatte keine Erfahrung mit dermaßen üblen Hallus.

»Scheiße.«

Er wollte irgendwas tun, und wenn es nur dämliches Rumlaufen war. Aber das konnte gefährlich sein. Was, wenn er in Wirklichkeit über eine vielbefahrene Straße torkelte, während er sich einbildete, in diesem Drecksloch herumzustromern?

Was schließlich den Ausschlag gab, war der Gestank. Es roch wie im Arschloch des Teufels, und je mehr Tom zu sich kam, desto schlimmer wurde es. Sein Magen protestierte.

Er wollte nicht kotzen. Selbst wenn er vollkommen besoffen war, kotzte er nicht, denn er hatte was drauf. Da würde er hier bestimmt nicht damit anfangen.

Also lief er los. Und blieb nach zwei Schritten direkt wieder stehen.

Er hatte etwas gehört. Jemand hatte geschrien, und es war kein fröhlicher Laut gewesen. Klang eher nach jemandem, der echt in der Scheiße steckte. Und gleich darauf war irgendwas zu Bruch gegangen.

Tom überlegte, ob er hingehen und nachsehen sollte. Vielleicht war da einer, der dieselben Pilze gefressen hatte. Gut möglich, dass so jemand noch weniger klarkam als er. Ob dieser Jemand die gleichen Hallus hatte?

Aber hingehen bedeutete Stress. Im schlimmsten Fall ging womöglich ein durchgeknallter Irrer auf Tom los – wer konnte schon sagen, was in einem dermaßen weggeballerten Hirn vorging? –, im besten Fall würde er sich um einen flennenden, verstörten Typen kümmern müssen. Tom war von beiden Möglichkeiten kein großer Fan.

»Scheiß auf den«, murmelte er.

Vor ihm befanden sich die Überreste einer Türöffnung. Sie bestand aus einem unregelmäßigen Umriss, vor dem eine Holzplatte vergammelte. Eine ganze Kolonie der Schleimkugeln bedeckte die Fläche.

Der Schrei war von links gekommen. Tom machte einen großen Schritt über die Reste der Tür hinweg – er wollte gar nicht dran denken, was die glitschigen Kugeln mit seinen Nikes anstellen würden, falls er drauftrat –, und wandte sich nach rechts. Sollte der Typ allein damit fertigwerden.

Steinchen knirschten unter seinen Schuhen. Er würde sie später aus dem Profil der Sohlen fummeln müssen. Diese ganze Scheiße ruinierte ihm echt das Outfit! Sobald er wieder ganz da war, würde er rausfinden, wer ihm das Zeug besorgt hatte. Der Typ musste in Zukunft ohne ihn als Kunde auskommen, so viel war klar. Wenn Tom Bock auf abgefahrenen Gammel-Kram hatte, warf er die X-Box an und legte Dead Space ein, verdammt noch …

Der Gang verfinsterte sich. Krasser Lärm brandete plötzlich durch das Gebäude. Er kam von dort, wo der andere Kerl geschrien hatte. Irgendwas Großes war da am Werk, Zeugs ging kaputt, die Wände wackelten. Etwas schlug krachend gegen was anderes … und unter allem glaubte Tom, ein Schnaufen zu hören. Es wurde immer lauter, steigerte sich zu einem trompetenartigen Brüllen, das selbst die Alien Queen vor Neid hätte erblassen lassen.

Dann wurde es still. Kurz schepperte und bröckelte noch was, ehe sich der Gang aufhellte.

Tom hatte sich umgedreht, ohne es zu merken. »Kranker Scheiß.«

Jetzt wollte er erst recht weg, aber etwas hielt ihn davon ab: sein Stolz. Trotzdem nachsehen zu gehen, erforderte nämlich Eier. Weggehen nicht.

Tom wusste zwar, dass er Eier hatte, aber es schadete nicht, sich das ab und an zu demonstrieren. Nie wieder würde es sein wie in der Grundschule, als die anderen Kinder ihm hinterhergerufen hatten: »Der Meyer ohne Eier, der Meyer ohne Eier!«

Hey, ich erinnere mich an was!

Sie waren gnadenlos gewesen, wie Kids es nun mal waren. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem er ihnen eins aufs Maul gegeben hatte. Er hatte es ihnen damals gezeigt, und er zeigte es heute noch jedem, der es wissen wollte … und allen anderen auch. Er war keine Memme.

Jemand begann zu weinen. Das klang nun wirklich nicht wie etwas, vor dem man sich fürchten musste.

Tom zuckte mit den Schultern. »Drauf geschissen. Sind eh nur Hallus.«

Er ging auf das Weinen zu, erreichte kurz darauf eine weitere Türöffnung, trat hindurch und fand einen alten Knacker mit vollgepisster Unterhose.

 

»Kati!«

Birgit Rehm war der Panik nahe. Das Gefühl umschlang ihre Eingeweide, als sei es eine Würgeschlange.

Irgendwo in der Ferne brüllte etwas. Und war das eben ein Klirren gewesen? Wo war sie hier gelandet, um Himmels willen?

Birgit hetzte durch einen heruntergekommenen Raum nach dem anderen, rannte dunkle, nach Moder riechende Flure hinab. Sie sah zerschmetterte Computermonitore, dermaßen von schleimigem Bewuchs befallen und zersetzt, dass sie kaum noch zu erkennen waren. Die Absätze ihrer Schuhe zertraten Gewächse, die aussahen, als gehörten sie in tiefe Erdlöcher oder Höhlen, jedenfalls an Orte, die kein Lichtstrahl je erreichte: blass, durchscheinend, gefüllt mit zähem Gallert. Alle paar Schritte trat sie zudem auf Knochen, die unter trockenem Knirschen zu Staub zerfielen. Die Gebeine befanden sich in viel zu schlechtem Zustand, um zu bestimmen, zu welchen Tieren sie gehörten. Aber da war etwas in der Form und Anordnung der Knochen, das in Birgit ein Gefühl der Fremdartigkeit hervorrief. Ein Kribbeln der Falschheit und des Abscheus, als handele es sich um die Überreste einer Kreatur, die es sowieso zu zertreten galt. Diese Knochen zu betrachten fühlte sich an, als säße man gemütlich auf der Couch und bemerkte plötzlich, wie eine gigantische, haarige Spinne die Wohnzimmerwand herunterkrabbelte. Birgit wusste einfach, dass diese Kreaturen nicht friedfertig neben ihr existieren konnten. Es nicht durften.

Sie taumelte durch ein zerfallendes Labyrinth und hatte keine Ahnung, wie sie hierher gelangt war. Alles war weg, nicht einmal fundamentale persönliche Erinnerungen waren ihr geblieben. Birgit kam es vor, als hätte eine höhere Macht ihr Betriebssystem neu gebootet. Der Gedanke gefiel ihr nicht. Sie war eine gläubige Frau, und die Vorstellung, Gottes Zorn auf sich gezogen zu haben, war mehr als nur ein wenig beunruhigend.

Aber nichts davon war der Grund für die Furcht, die sie zu übermannen drohte, die sich in ihren Nacken krallte und ihr Herz bis hoch zum Hals schlagen ließ. Es war die eine Sache, von der sie wusste; die Erinnerung, die ihr geblieben war. Für Birgit war sie das Wichtigste auf Erden. Und sie war nicht mehr da.

»Kati!«, schrie sie noch einmal.

Ihre Tochter, ihre wunderhübsche Tochter! Sie war irgendwo hier drin, in einem Gebäude voll scharfer Kanten, Scherben und, dem allgemeinen Zustand der Zersetzung nach zu urteilen, allen Arten von Krankheitserregern. An jeder Ecke schien ein potenzielles Unglück nur darauf zu lauern, über das Mädchen hereinzubrechen.

»Hundi!«, hatte Kati gequiekt und war losgerannt. Im Gegensatz zu ihrer Mutter schien sie angesichts der Umgebung nicht im Mindesten verwirrt zu sein. Vielleicht, dachte Birgit, liegt es daran, dass ihr Verstand nach seinen eigenen Regeln funktioniert.

Kati hatte die Welt schon immer mit anderen Augen gesehen. Manche Menschen bezeichneten sie deshalb als zurückgeblieben, aber Birgit wusste es besser.

Als Kati davongelaufen war, hatte Birgit mit dröhnendem Schädel auf dem Boden vor dem Gebäude gelegen. Auf etwas, das einmal Asphalt gewesen sein mochte. Dunkle Krümel waren unter ihr zerbröselt, als sie sich mühsam herumgewälzt und die Hand nach ihrer Tochter ausgestreckt hatte. Doch es war längst zu spät gewesen. Kati war kichernd durch eine halb zerfallene, fleckige Betonwand geklettert, aus der Metallstangen ragten wie Gräten aus einem angefressenen Fisch. Eine gezackte Öffnung hatte das blonde Mädchen verschluckt, ihr blaues Kleidchen war das letzte gewesen, auf das Birgit noch einen Blick hatte erhaschen können.

Und jetzt war sie irgendwo hier drin. Allein, hilflos, ahnungslos. Sie verfolgte etwas, das sie für einen Hund hielt. Birgit betete im Stillen darum, dass es tatsächlich ein Hund war. Ein streunender, tollwütiger Kläffer wäre schlimm genug, aber es könnte noch viel schrecklicher werden.

Kati bezeichnete alles, was Fell und große Augen hatte, als »Hundi«. Selbst den zweieinhalb Meter großen Tiger im Zoo hatte sie so getauft. Und sie zeigte niemals Angst vor Tieren. Es war fast, als fehlte ihr dieser Instinkt vollständig. Birgit erinnerte sich an zahlreiche Nächte, in denen sie schweißgebadet hochgeschreckt war, davon überzeugt, ihre Tochter wäre von einem Bären, Löwen oder Wolf getötet worden, weil sie ihn ohne zu zögern in den Arm genommen hatte. Oder ein Auto hatte sie erfasst, auf das sie lächelnd zugegangen war …

 Birgit blinzelte mehrmals, während sie sich darüber klar zu werden versuchte, ob das Zurückkehren dieses Gedankenschnipsels etwas Erfreuliches war oder nicht. Dann rief sie abermals nach ihrer Tochter, zwängte sich zwischen zwei rostigen Stahlträgern hindurch und betrat den nächsten Flur.

Hier war es so dunkel, dass Birgit kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Sie befand sich tief in den Eingeweiden des Gebäudes, seine Verdauungsgase lagen schwer in der feuchtwarmen Luft.

»Kati? Wo bist du, Schätzchen?«

Mehrere Herzschläge lang war Birgit sicher, sie verloren zu haben. Sie hatte wahrscheinlich einen anderen Weg eingeschlagen, das Gebäude war so riesig, dass sie sie niemals rechtzeitig finden würde. Wahrscheinlich war sie längst in eine Spalte gefallen oder hatte sich an einer scharfen Kante den Hals aufgeschlitzt. Oder etwas hatte sie vor Birgit gefunden. Etwas mit Zähnen, das hungrig war.

»Hundi!«

Birgits Herz machte einen Satz und schlug anschließend noch schneller. »Kati? Kati! Wo bist du?«

Glockenhelles Kichern antwortete ihr aus der Dunkelheit, hallend und verzerrt, so als stiege es aus dem Gewölbe einer Krypta auf. Obwohl Birgit sich dagegen sträubte, blitzte ein Bild vor ihr auf. Kati, auf einem Altar, die Händchen über einem blütenweißen Kleid gefaltet. Ihre Augen waren geschlossen und man musste nicht erst die fahle Farbe der Wangen bemerken, um zu wissen, dass kein Leben mehr in ihr steckte …

»Nein!«, zischte Birgit. Etwas regte sich in ihr, straffte ihren Rücken, gab ihr Kraft. Entweder war es Gott, der ihren Willen stärkte, um sie durch das finstere Tal zu führen, oder es handelte sich um eine Macht, die nur eine Mutter verstehen konnte. Vielleicht traf ja beides zu.

»Ich komme, Süße! Warte auf Mami!«

Sie streckte die Hände aus und ging weiter. Obwohl ihre Augen sich allmählich an die Lichtverhältnisse gewöhnten, kollidierte sie ständig mit irgendwelchen Gegenständen. Manches davon erkannte sie – etwa das von Rost zerfressene Metallskelett eines Bürostuhls –, manches glaubte sie, zu erkennen – wie einen unförmigen Klumpen schleimbedeckten Kunststoffs, der entfernt an einen Kopierer erinnerte. Und wieder anderes wollte sie lieber nicht identifizieren. Die länglichen Umrisse zum Beispiel, die vollkommen von transparenten Blasen bewachsen waren und die Formen von in Agonie erstarrten Menschen annahmen, wenn man zu genau hinsah.

Sie wusste, dass Kati nicht warten würde. Kati tat so gut wie nie, was man ihr sagte. Nicht, weil sie ein unfolgsames oder gar böses Kind gewesen wäre, nein: Sie war einfach zu schnell abgelenkt. Eindrücke rauschten durch den Verstand des Mädchens wie Herbstwind über ein Feld voller Laub. Gedanken wurden aufgewirbelt und verteilten sich chaotisch, sobald Kati etwas Neues wahrnahm. Sie vergaß einfach, was man von ihr wollte, oft innerhalb von Sekundenbruchteilen. Angesichts eines »Hundis« war an das Befolgen von Anweisungen also im wahrsten Sinne des Wortes überhaupt nicht zu denken.

»Kati? Schatz?« Sie musste sie bremsen, Gegenimpulse setzen, um sie zu verlangsamen. »Was sagt der Frosch?«

Frösche waren Katis Lieblingstiere. Sie mochte sie noch mehr als Hunde. Würde jetzt einer an ihr vorbeihüpfen, hätte sie das andere Ding in Nullkommanichts vergessen.

Aber Birgit war froh, dass Kati nicht »Froschi« rief. Gott allein wusste, wie ein Wesen aussehen mochte, das ihre Tochter für ein Amphibium hielt – hier, an diesem Ort. Birgit war der Himmel mit den beiden Sonnen keineswegs entgangen, genauso wenig wie der rote Pflanzenbewuchs, der einige Meter jenseits des bröckelnden Asphalts begann, als hätte man eine Linie mit dem Lineal gezogen. Aber sie hatte diese Beobachtungen in einen entlegenen Winkel ihres Verstands gesperrt. Kati war das Wichtigste. Solange sie nicht in Sicherheit war, konnte ihr alles andere gestohlen bleiben.

Sie kam an mehreren Türen vorbei, die noch in den Rahmen steckten und wie kariöse Zähne vor sich hinfaulten. Ein Gewirr aus Kabeln baumelte von der Decke; mit dem Unterarm wischte sie es weg und sah sich gleich darauf einem Rechteck aus umfassender Schwärze gegenüber. Sie zögerte, und das rettete ihr vermutlich das Leben.

Birgits nächster Schritt trat in leere Luft. Sie schrie auf, ruderte mit den Armen und musste erkennen, dass sie das Gleichgewicht nicht halten konnte. Auf der Suche nach Halt griff sie um sich, kippte vornüber … und landete auf der obersten Stufe einer Treppe. Ein matschiges Knirschen ertönte. Offenbar war der Beton hier genauso marode wie im Rest des Gebäudes.

Sie atmete japsend, griff sich erst ans Herz und dann ins Gesicht. Kalter Schweiß blieb an ihrer Hand haften.

Das Kichern erklang wieder. Es war nicht mehr weit entfernt.»Hundi ustig!«

Weiter, Birgit musste weiter! Sie streckte die Arme aus, ertastete rechts von sich eine feuchte Wand und stützte sich dagegen, während sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte.

Was, wenn die nächste Stufe wirklich fehlt?, fragte sie sich, oder dein Gewicht die Treppe nachgeben lässt?

Sie schluckte und verdrängte die Sorgen. Falls ihr etwas geschah, so wäre es Gottes Wille. Und sie war sich ziemlich sicher, dass Gott ihr nichts Schlimmes zustoßen lassen würde. Immerhin hatte er ihr Kati geschenkt. Es war gewiss in seinem Sinn, dass sie das Mädchen zurück ans Tageslicht führte.

»Hundi ustig«, quiekte es abermals unter ihr. Birgit fragte sich, auf der Grundlage welcher Sinneseindrücke ihre Tochter feststellen konnte, dass das Wesen unterhaltsam war. Die Dunkelheit umschloss alles dermaßen dicht, dass sie selbst noch nicht einmal Umrisse wahrnahm.

Sie wäre beinahe der Länge nach hingefallen, als der Weg plötzlich eben wurde. Prüfend griff sie um sich und traf mit der Handfläche auf eine Wand direkt vor ihr. Die Treppe beschrieb eine Kehre! Und dort, auf der linken Seite … waren das Stufen? Sie konnte sie sehen, wenn auch nur ganz schwach.

Wo kam das Licht her?

»Schatz? Bist du da unten?«

»Mami! Mami, Hundi!«

Sie war jetzt ganz nah! Beinahe hätte Birgit vor Erleichterung geschluchzt. Sie beeilte sich, die drei Schritte zum nächsten Treppenabschnitt zurückzulegen, in Richtung des bläulichen Schimmers. Ihr Fuß traf auf die erste Stufe, sie sah nach unten … und erstarrte.

Kati stand nur wenige Meter entfernt, auf dem nächsten Absatz. Einen Schritt vor ihr gähnte ein finsterer Abgrund. Wohin auch immer die Betontreppe früher geführt hatte, jetzt endete sie im Tod.

Als wäre ein drohender Sturz nicht grauenhaft genug, befand sich neben Kati dieses … Ding. Es war die Quelle des Leuchtens, Licht strömte aus seinem Körper wie aus einer Laterne. Birgit hatte etwas Derartiges niemals zuvor gesehen. Augenblicklich sprang sie dasselbe Gefühl an wie bei der Betrachtung der vermodernden Knochen. Das hier war ein Feind. Diese Spezies und die menschliche Rasse konnten nicht koexistieren. Was immer es sein mochte, es war ihrer Tochter und ihr so sicher böse gesinnt, wie abends die Sonne unterging. Unmöglich konnte so etwas Gottes Schöpfung entspringen, es stellte den Inbegriff der Blasphemie dar.

»Kati, geh da weg!«, keuchte sie mit staubtrockener Kehle. »Komm zu Mami.«

Kati schob schmollend die Unterlippe vor und deutete auf das Scheusal. »Hundi!« Ihre Augen leuchteten wie die einer Dreijährigen, obwohl sie erst vor Kurzem ihren zwölften Geburtstag gefeiert hatte.

Das Wesen zitterte jetzt. Sein Pelz stellte sich auf, es öffnete das Maul. Nadelartige Zähne standen in sämtliche Richtungen ab, der Rest des Schädels war im Vergleich dazu winzig. Drei überdimensionale Augen nahmen den größten Teil davon ein, starrten lidlos und hasserfüllt. Es war der Kopf einer bizarren Tiefseekreatur, montiert auf einen Primatenkörper.

Das Monster war nicht sonderlich groß, es reichte Birgit vielleicht bis an die Hüfte. Trotzdem flößte sein Anblick ihr schreckliche Angst ein. An den Stellen, wo der zottige Pelz zurücktrat und faltiger Haut Platz machte, trat das Leuchten hervor. Extremitäten, Gesicht, Bauch und Genitalregion … sie verströmten kaltes, blaues Licht, das alles, worauf es fiel, krank und welk erscheinen ließ.

Es handelte sich um Biolumineszenz. Birgit hatte keine Ahnung, woher sie das wusste, aber sie wusste es. Das Ding leuchtete von innen heraus, und es war dabei so transparent wie die Kugelgewächse, die sie weiter oben gesehen hatte. Ungläubig starrte sie auf durchscheinende Muskeln, unter denen Knochen und verschlungene Organe zu erkennen waren. Und überall dazwischen, alles umspannend, ein Netzwerk aus Blutgefäßen.

Es war unbeschreiblich scheußlich und brachte ihren Glauben an Gottes großen Plan ins Wanken.

»Hundi böse«, stellte Kati fest, als das Monster zu knurren begann. Aus dem grollenden Laut wurde gleich darauf ein Kreischen. Es bohrte sich schmerzhaft in Birgits Ohren.

Großer Gott, dachte sie, wenn dieses Fangeisen von einem Maul nach ihrem Gesicht schnappt …

Sie versuchte, ihren Worten Kraft zu verleihen, als sie forderte: »Gib mir meine Tochter, du Scheusal!«

Anstelle einer Antwort riss das Wesen den Kopf herum. Etwas schoss aus seinem Maul und schlang sich um Katis Unterarm.

Zähne, dachte Birgit noch, oh Gott, es ist eine Zunge voller Zähne …

Kati schrie und sämtliche rationalen Gedanken waren fort.

 

Der Mann ohne Namen kauerte in den Schatten und beobachtete. Er hatte instinktiv damit begonnen, als er erwacht war, und er schien gut darin zu sein. Deshalb vermutete er, dass Beobachten ein Teil dessen war, was er tat. Seines Berufs. Vielleicht war er Privatdetektiv, möglicherweise auch Polizist.

Allerdings sprach gegen diese Annahme, dass er kein Interesse daran hatte, Kontakt zu anderen Menschen herzustellen. Oder ihnen gar zu helfen. Im Verborgenen herumzuschleichen, das Gelände zu erkunden und die anderen zu observieren, fühlte sich deutlich besser an. Womöglich, dachte der Mann ohne Namen, bin ich ja beim Militär. Bei der Aufklärung.

Inzwischen hatte er mehrere Menschen beobachten können, allerdings waren zwei davon nicht mehr am Leben. Bei den Toten handelte es sich um eine auffällig geschminkte Frau in knapper, aufreizender Kleidung – er vermutete, dass sie Prostituierte gewesen war – sowie einen Mann in Uniform, offensichtlich ein Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma.

Die Frau hatte nie die Gelegenheit erhalten, wirklich zu sich zu kommen. Als der Mann ohne Namen sie entdeckt hatte, war sie bereits tot gewesen. Sie hatte außerhalb des Gebäudes gelegen, halb im roten Gras verborgen. Nur dass es kein Gras gewesen war, sondern etwas weitaus Gefährlicheres. Den Spuren im bröckelnden Asphalt nach zu schließen, hatte sie sich in einem Zustand der Benommenheit befunden, war getorkelt, mehrfach gestürzt und schließlich mit dem Gesicht in den Gewächsen gelandet. Die roten Strukturen waren daraufhin in sämtliche Öffnungen gedrungen, die ihnen ein Kopf bot. Vom Gesicht war nichts mehr zu erkennen gewesen, einzig ein Fleck besonders üppigen Bewuchses deutete auf den grausigen Dünger hin, der darunter verborgen lag. Es musste schnell geschehen sein, denn als der Mann ohne Namen die Leiche gefunden hatte, war der Körper noch warm gewesen. Und während er die Tote mit einer Nüchternheit betrachtet hatte, die ihn noch immer erstaunte, waren die Gewächse an ihr entlanggewuchert. Zielgerichtet, präzise, gnadenlos. Er nahm an, dass die Tote inzwischen vollständig von dem roten Gras eingehüllt war.

Seit diesem Erlebnis wusste er, dass er sich in einer feindlichen Umgebung befand.

Sein ursprünglicher Plan hatte vorgesehen, die Gegend zu durchstreifen. Das Gebäude schien keine Antworten zu bieten, weil nichts darin intakt war. Den Menschen hatte er sich nicht nähern wollen; allein der Gedanke an eine Kontaktaufnahme flößte ihm Unbehagen ein, und außerdem schienen sie nach allem, was er gesehen hatte, mindestens ebenso von ihrer Lage verwirrt zu sein wie er. Sie würden ihm also nicht dabei helfen können, die Situation zu verstehen. Folglich blieb nur die Erkundung des umliegenden Geländes.

Aber ein Marsch durch diese endlosen, roten Felder wäre Selbstmord gewesen. Deshalb hatte er den Plan geändert und war in das Gebäude zurückgekehrt, um nach Ressourcen Ausschau zu halten. Möglicherweise gab es doch ein paar Dinge, die nicht verrottet waren. Etwas, das als Nahrung dienen würde, oder das man als Werkzeug verwenden konnte.

Oder als Waffe.

Der Mann ohne Namen war im Besitz einer halbautomatischen Pistole mit Schalldämpfer, deren Magazin vollständig geladen war. Aber er hatte das dumpfe Gefühl, dass die Kugeln an diesem Ort bald verbraucht sein würden. Außerdem schadete es nie, wenn man vorbereitet war.

Wenige Minuten nach der Entdeckung der toten Prostituierten hatte er dabei zugesehen, wie der Wachmann starb. Es war simples Pech gewesen. Der Kerl war in das falsche Zimmer gegangen, der Boden hatte plötzlich unter ihm nachgegeben und ihn verschluckt. Zwar hatte er sich noch für einige Sekunden an den Überresten der Dielen festgekrallt, doch zu seinem Unglück waren diese von den weißen Kugeln bewachsen gewesen, die überall dort zu haften schienen, wo etwas verfaulte – also an den meisten Orten innerhalb des Komplexes. Der Mann ohne Namen hatte beobachtet, wie die Kugeln platzten und zähen Schleim auf die Finger spien, die sich verzweifelt in sie bohrten. Es hatte gezischt, Dampf war aufgestiegen, der Wachmann hatte zu brüllen begonnen … und eine Sekunde später war seine Stimme in der Tiefe verklungen. Der Mann ohne Namen hatte in das Loch hinabgespäht, aber dort war nichts zu sehen gewesen. Keinerlei Regung in der Finsternis, der Abgrund war ihm bodenlos erschienen.

Er bedauerte den Tod des Mannes. Nicht, weil ein Leben ausgelöscht worden oder ein potenzieller Mitstreiter im Kampf ums Überleben verloren gegangen war, sondern wegen der Waffe, die das Gebäude verschluckt hatte. Er wünschte, er wäre rechtzeitig zu dem Mann geeilt. Im Austausch für seine Rettung hätte er die Pistole einfordern können. Oder sie dem Wachmann einfach abnehmen, während der noch an der Kante baumelte – immerhin war der Kerl kaum in einer Position gewesen, in der er großartig Widerstand hätte leisten können.

Aber so war das mit verpassten Chancen. Manchmal bot sich nur einmal die Gelegenheit für einen sauberen Schuss, und wenn man dann zögerte, entkam die Beute.