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Die Wattpad- und TikTok-Sensation und Romanvorlage zum Amazon-Streaming-Megahit - ab Oktober 2025 auf Amazon Prime Video
Nicks und Noahs Beziehung ist an einem Tiefpunkt angelangt, und es sieht aus, als ob es zwischen den beiden nie mehr so sein wird wie zuvor. Immer neue Hindernisse stellen sich ihnen in den Weg, und beide müssen herausfinden, ob sie wirklich füreinander geschaffen sind oder ob sie nur getrennt voneinander glücklich werden können.
Liebe ist manchmal nicht genug und Verzeihen kann nicht alle Wunden heilen. Aber kann man eine so starke Verbindung jemals vergessen? Wie löscht man Erinnerungen, die sich direkt ins Herz tätowiert haben? Können beide die Vergangenheit hinter sich lassen und von Neuem beginnen?
»Culpa nuestra – Unsere Schuld«, Wattpad- und TikTok-Sensation mit erfolgreicher Amazon-Verfilmung, ist eine unwiderstehliche Enemies-to-Lovers-Romance über fatale verbotene Liebe und der krönende Abschluss der Weltbestsellertrilogie »Culpables«, für alle Fans von Colleen Hoover, Anna Todd und Beth Reekles.
Die Culpa-Mía-Trilogie:
Culpa Mía – Meine Schuld (Band 1)
Culpa Tuya – Deine Schuld (Band 2)
Culpa Nuestra – Unsere Schuld (Band 3)
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 636
Veröffentlichungsjahr: 2024
MERCEDESRON
UNSERE SCHULD
Aus dem Spanischen
von Ursula Bachhausen und Sabine Giersberg
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Erstmals als cbt Taschenbuch Oktober 2024
© 2018 Mercedes Ron
Die Originalausgabe erschien erstmals 2018 unter dem Titel
»Culpa Nuestra« bei Penguin Random House Grupo Editorial, S. A. U.,
Travessera de Gràcia, 47 – 49, Barcelona, Spanien.
© 2024 für die deutschsprachige Ausgabe
cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag in der
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Aus dem Spanischen von Ursula Bachhausen und Sabine Giersberg
Umschlaggestaltung: Marie Graßhoff
Umschlagmotive: Adobe Stock (Zamurovic Brothers, Glitter_Klo)
kk · Herstellung: DiMo
Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss
ISBN 978-3-641-31871-0V002
www.cbj-verlag.de
Meiner Cousine Bar.
Danke, dass du mich auf diesem Weg begleitet hast.
Dieses Buch ist ebenso sehr deins wie meins.
Ich fragte mich immer wieder, warum ich jetzt, ein Jahr nach unserer Trennung, nicht aufhören konnte zu weinen, als wäre es wirklich für immer vorbei. Irgendwann fuhr ich rechts ran und stellte den Motor ab, um nicht noch einen Unfall zu verursachen.
Ich umklammerte das Lenkrad und weinte um das, was zwischen uns gewesen war, um das, was noch hätte sein können … ich weinte um seinetwillen, weil ich ihn enttäuscht und ihm das Herz gebrochen hatte, weil ich ihn dazu gebracht hatte, sich der Liebe zu öffnen, nur um ihm dann zu zeigen, dass die Liebe nicht existierte, zumindest nicht ohne Schmerz, und dass sich dieser Schmerz für immer in unser Herz brennt.
Ich weinte um die Noah, die ich an seiner Seite gewesen war, die Noah voller Leben, die Noah, die trotz ihrer inneren Dämonen mit ganzem Herzen zu lieben vermochte. Ich hatte ihn mehr geliebt als irgendjemanden sonst auf der Welt, und auch deshalb weinte ich. Wenn du den Menschen kennenlernst, mit dem du den Rest deines Lebens verbringen willst, gibt es kein Zurück mehr. Vielen ist das nicht vergönnt, sie machen sich nur etwas vor. Ich wusste, ich weiß, dass Nick die Liebe meines Lebens ist, er ist der Mann, von dem ich Kinder haben wollte, der Mann, den ich in guten wie in schlechten Tagen, in Gesundheit und Krankheit an meiner Seite haben wollte, bis dass der Tod uns scheidet.
Nick war der Richtige, er war meine andere Hälfte, und nun musste ich lernen, als halber Mensch weiterzuleben.
WIEDERSEHEN
NOAH
Zehn Monate später …
Im Flughafen war es ohrenbetäubend laut, Menschenmassen mit Gepäck, Kindern und Kofferkulis wimmelten hin und her. Auf der Anzeigetafel über meinem Kopf suchte ich nach meinem Ziel und der Boardingzeit. Ich flog ungern allein, denn ich hatte Flugzeuge noch nie gemocht, aber was blieb mir anderes übrig? Ich war jetzt ganz auf mich allein gestellt. Es gab nur noch mich, niemanden sonst.
Ich schaute auf meine Armbanduhr und dann wieder auf die Anzeige. Okay, ich hatte noch genug Zeit, um im Terminal einen Kaffee zu trinken und ein bisschen zu lesen, das würde mir bestimmt helfen runterzukommen. Ich ging zur Sicherheitskontrolle. Wie sehr ich es hasste, dort abgetastet zu werden. Jedes Mal hatte ich irgendwas an mir, das den Alarm auslöste. Vielleicht hatte ich ja wirklich ein Herz aus Stahl, wie mir gesagt worden war, vielleicht war das die Erklärung dafür, warum es für mich so unangenehm war, Metalldetektoren zu passieren.
Ich deponierte meinen kleinen Rucksack auf dem Förderband, nahm meine Uhr, meine Armbänder und die Kette mit dem Anhänger ab, die ich nie ablegte – obwohl ich das schon seit Langem hätte tun sollen –, und legte alles zusammen mit meinem Handy und den wenigen Münzen, die ich in der Tasche hatte, dazu.
»Die Schuhe auch, Madam«, sagte der junge Security-Mann träge. Verständlich, dieser Job war der Inbegriff von Langeweile und Monotonie, sicher machte es ihn unendlich müde, immer das Gleiche zu tun und zu sagen. Ich legte meine weißen Converse mit auf das Tablett und war heilfroh, dass ich keine bunten Socken mit Bildchen trug, das wäre mir echt peinlich gewesen. Während meine Sachen langsam auf dem Förderband vorwärtsglitten, ging ich durch den Scanner, der sofort zu piepsen anfing. Wie hätte es auch anders sein können?
»Stellen Sie sich bitte hierher, mit ausgebreiteten Armen, die Füße auseinander«, sagte er zu mir. Ich seufzte. »Führen Sie einen Gegenstand aus Metall mit sich, irgendetwas Spitzes oder …«
»Nein, gar nichts. Ich weiß nicht, warum mir das jedes Mal passiert«, antwortete ich, während mich der Security-Mann von oben bis unten abtastete. »Sicher ’ne Zahnfüllung.«
Der junge Mann musste bei meiner Bemerkung grinsen, und ich wünschte mir plötzlich, er würde seine Hände wegnehmen.
Als er einen Schritt zurücktrat und mich gehen ließ, schnappte ich mir schnell meine Sachen und ging auf direktem Weg zum Duty-free-Shop. Hallo? Toblerone im Riesenformat? Aber klar doch! Das war doch das einzig Angenehme am Fliegen. Ich kaufte gleich zwei, die ich in mein Handgepäck steckte, bevor ich mich auf die Suche nach meinem Gate machte. Der Flughafen von Los Angeles ist groß, aber ich hatte es zum Glück nicht weit. Der Boden unter meinen Füßen wies mit allerhand Zeichen und Pfeilen die richtige Richtung, und ich kam an unzähligen Plakaten vorüber, auf denen in den verschiedensten Sprachen »Auf Wiedersehen« stand. Im Wartebereich waren nicht viele Leute, sodass ich ohne Probleme einen Platz fand. Ich setzte mich, holte mein Buch heraus und begann, meine Schokolade zu naschen.
Alles lief ganz gut, bis mir plötzlich der Brief, den ich wohl zwischen die Seiten des Buchs gesteckt hatte, auf den Schoß fiel und Erinnerungen wachrief, die ich eigentlich für alle Zeit begraben und vergessen wollte. Mein Magen krampfte sich zusammen, als die Bilder vor meinem geistigen Auge zurückkehrten. Mit meinem bis dahin ruhigen Tag war es schlagartig vorbei.
Neun Monate zuvor …
Die Nachricht, dass Nicholas wegziehen würde, hatte mich kalt erwischt. Niemand in meinem Umfeld ließ auch nur ein Wort über ihn oder etwas, das mit ihm zu tun hatte, fallen. Klar, er hatte in der Hinsicht sicher unmissverständliche Ansagen gemacht. Nicht mal Jenna erwähnte Nick, dabei wusste ich genau, dass sie ihn mehr als einmal getroffen hatte. In ihrer gequälten Miene spiegelte sich wider, in welchem Zwiespalt sie sich befand, wenn sie ihn mit Lion in seiner Wohnung besuchte. Meine Freundin saß zwischen den Stühlen. Auch das gehörte auf die Liste der Anklagepunkte, derer ich mich schuldig bekannte.
Ich hatte Nicholas nicht mehr wiedergesehen, aber es dauerte nicht lange, bis ich von ihm hörte. Knapp zwei Wochen nach unserer Trennung bekam ich ein paar Kartons mit Sachen von mir, und als ich N in einer Transportbox sitzen sah, überfiel mich eine heftige Panikattacke. Ich weinte stundenlang, und als meine Tränen versiegt waren, lag ich nur noch fix und fertig auf meinem Bett und starrte die Decke an. Unser armer kleiner Kater, der jetzt mein Kater war … Ich konnte ihn nicht mal behalten, sondern musste ihn in die Obhut meiner Mutter geben, weil meine Mitbewohnerin superallergisch gegen Tierhaare war. Mich von ihm zu trennen, fiel mir unendlich schwer, aber ich hatte keine andere Wahl.
Ich hatte diese Phase, in der ich nur untröstlich weinen konnte, »meine schwarze Phase« getauft, und das zu Recht. Es war, als befände ich mich in einem düsteren Tunnel, aber an dessen Ende gab es nicht das berühmte Licht. Nicht einmal der strahlende Sonnenschein eines neuen Tages oder das künstliche Licht der Nachttischlampe neben meinem Bett konnten mich aus dieser absoluten Finsternis herausholen. Beinahe täglich hatte ich Panikattacken, bis mich die Hausärztin schließlich kurzerhand zum Psychiater überwies.
Anfangs hatte ich von Seelenklempnern nichts wissen wollen, aber vermutlich half es mir doch irgendwie, denn allmählich kam ich morgens wieder aus dem Bett und konnte zumindest das Allernötigste erledigen. Es ging in winzigen Schritten bergauf. Bis zu dem Tag, an dem ich erfuhr, dass Nick fortziehen wollte und wirklich alles für immer verloren wäre.
Es war in der Cafeteria auf dem Campus, wo ich beiläufig eine Unterhaltung aufschnappte. Mein Gott, selbst die notgeilen Studentinnen wussten zu der Zeit besser über Nick Bescheid als ich.
Eine Kommilitonin zog über meinen Freund, sorry, Ex-Freund her und informierte mich so unwissentlich darüber, dass er wenige Tage später nach New York ziehen würde.
Es war, als hätte irgendetwas von mir Besitz ergriffen. Mechanisch stieg ich in mein Auto und fuhr zu seiner Wohnung. Bis dahin hatte ich mir jeden Gedanken an diesen Ort und an alles, was geschehen war, verboten, doch ich durfte nicht zulassen, dass er fortging, nicht, ohne ihn vorher noch einmal zu sehen oder noch einmal mit ihm zu reden. Seit der Nacht, in der wir Schluss gemacht hatten, hatte ich ihn nicht wiedergesehen.
Mit zitternden Händen und weichen Knien betrat ich Nicks Apartmentblock. Ich fuhr mit dem Aufzug hinauf zu seiner Wohnung und blieb vor der Tür stehen.
Was sollte ich sagen? Was konnte ich tun, damit er mir verzieh und nicht fortging? Damit er mich wieder liebte?
Als ich auf den Klingelknopf drückte, war ich einer Ohnmacht nahe. Angst, Sehnsucht und Trauer durchfluteten mich. Da öffnete er die Tür.
Zuerst schauten wir uns nur wortlos an. Mich hatte er ganz sicher nicht erwartet. Ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, dass er vorgehabt hatte, wegzugehen, ohne sich noch einmal umzublicken. Er wollte bestimmt einfach so tun, als hätte es mich nie gegeben. Aber so leicht würde ich es ihm nicht machen.
Die Anspannung war beinahe mit Händen zu greifen. In seinen dunklen Jeans, dem weißen Shirt und dem zerzaust gestylten Haar sah er so umwerfend aus wie immer. Aber das strahlende Leuchten in seinem Gesicht, wenn er mich sah, war nicht mehr da, das magische Band zwischen uns war zerschnitten.
Sein Anblick – gut aussehend, groß, mit jeder Faser mein Nick – war wie ein Schlag ins Gesicht, denn mir wurde deutlich vor Augen geführt, was ich verloren hatte.
»Was willst du?« Seine harte, eiskalte Stimme holte mich aus meiner Trance.
»Ich …«, stammelte ich. Was sollte ich sagen? Was konnte ich tun, damit er mich wieder mit diesem warmen Blick ansah, als wäre ich sein Licht, sein Leben?
Meine Antwort schien ihn nicht zu interessieren. Bevor er mir die Tür vor der Nase zuknallte, fasste ich mir ein Herz: Wenn es sein musste, würde ich kämpfen. Ich dachte nicht daran, ihn einfach so fortgehen zu lassen, ich durfte ihn nicht verlieren, denn ohne ihn konnte ich nicht weiterleben. Es tat mir in der Seele weh, mich nicht in seine Arme flüchten zu können, damit die Wunden heilten. Beherzt schlüpfte ich durch den Türspalt an ihm vorbei in sein Reich.
»Was soll das?« Er folgte mir, als ich schnurstracks den Weg ins Wohnzimmer einschlug. Die Wohnung war nicht wiederzuerkennen: Überall standen gepackte Kisten und auf dem Sofa und dem Couchtisch lagen weiße Tücher. Erinnerungen überfielen mich: an uns zwei beim gemeinsamen Frühstück, an geraubte Küsse auf dem Sofa, Knutschen beim Filmeschauen, daran, wie er mir etwas zu essen machte oder wie ich zwischen diesen Kissen vor Lust gestöhnt hatte, wenn er mich leidenschaftlich küsste …
Das alles war unwiederbringlich vorbei.
Mit Tränen in den Augen wandte ich mich zu ihm um.
»Du darfst nicht fortgehen«, erklärte ich mit brüchiger Stimme.
»Verschwinde, Noah, ich habe keine Lust auf eine Szene«, erwiderte er mit versteinertem Gesicht.
Sein harscher Tonfall sorgte dafür, dass ich zusammenzuckte und meine Tränen nur noch heftiger flossen.
Nein … verdammt.
»Nick, bitte, ich will dich nicht verlieren«, flehte ich. Meine Worte waren vielleicht nicht sonderlich originell, aber sie kamen direkt aus meiner Seele: Ein Leben ohne ihn würde ich nicht durchstehen.
Nicholas atmete vernehmlich. Ich wollte ihn nicht unter Druck setzen, doch wenn ich mich schon in die Höhle des Löwen begab, dann richtig.
»Verzieh dich.«
Sein Befehl war klar und unmissverständlich, aber ich war Expertin darin, seine Ansagen zu ignorieren. Das hatte ich schon immer getan, und ich hatte nicht vor, das ausgerechnet jetzt zu ändern.
»Vermisst du mich denn nicht?« Meine Stimme brach und ich konnte kaum zu Ende sprechen. Dann nahm ich all meinen Mut zusammen. »Ich kann kaum atmen … Abends gehe ich zu Bett und denke an dich, und ich stehe auf und denke an dich, wenn ich es überhaupt schaffe aufzustehen …«
Ungeduldig wischte ich mir die Tränen ab. Nicholas machte einen Schritt auf mich zu, allerdings nicht, um mich zu trösten, ganz im Gegenteil. Er packte mich fest an den Armen. Viel zu fest.
»Und was meinst du, wie es mir geht?«, fragte er wütend. »Verdammt, du hast mir das Herz gebrochen!«
Die Berührung seiner Hände zu spüren, gab mir neue Kraft, ganz gleich, wie grob seine Geste war. Ich hatte ihn so sehr vermisst, dass meine geschundene Seele so was wie einen Adrenalinkick bekam.
»Es tut mir leid«, entschuldigte ich mich und schaute auf meine Füße, denn so selig ich auch war, ihn zu spüren, den Hass in seinen schönen, hellen Augen konnte ich nicht ertragen. »Ich habe einen Fehler gemacht, einen riesigen, unverzeihlichen Fehler, aber du darfst nicht zulassen, dass es so mit uns endet.« Ich blickte auf. Er musste meinen Worten diesmal glauben, er musste doch sehen, dass sie aufrichtig waren. »Ich werde niemals jemanden so lieben wie dich.«
Er ließ plötzlich meine Arme los, als hätte er sich verbrannt, und wandte sich ab. Er fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Als er mich endlich wieder anschaute, wirkte er so mitgenommen, als müsste er den schlimmsten Kampf seines Lebens ausfechten.
Keiner von uns sagte ein Wort.
»Wie konntest du das nur tun?«, fragte er schließlich, und es versetzte mir einen Stich ins Herz, als ich seine brüchige Stimme hörte.
Zögernd machte ich einen Schritt auf ihn zu. Ich hatte ihn verletzt, ja, aber ich wünschte mir so sehr, dass er mich wieder in die Arme schloss und mir sagte, dass alles gut werden würde.
»Ich kann mich nicht mal dran erinnern …«, erklärte ich. Und das stimmte, die Sache war in meinem Kopf wie ausgelöscht. In dieser unseligen Nacht hatte ich gedacht, er sei fremdgegangen, und war so am Boden zerstört, dass ich es einfach geschehen ließ. Mein Körper hatte allein gehandelt, denn meine Seele war wie betäubt. »Das hat doch alles keine Bedeutung, Nick. Du musst mir verzeihen und mich wieder so ansehen wie früher. Ich kann so nicht leben.« Das hörte sich alles so furchtbar jämmerlich an, aber es tat einfach verdammt weh, ihn direkt vor mir zu haben und zu spüren, wie weit er weg war. »Was kann ich tun, damit du mir verzeihst …«
Er schaute mich ungläubig an, als würde ich etwas Unmögliches von ihm verlangen.
Ich kam mir so lächerlich vor. Was, wenn es andersrum gewesen wäre? Hätte ich Nick verzeihen können, wenn er mit einer anderen ins Bett gegangen wäre?
Ein heftiger Schmerz fuhr durch mein Herz. Nein, natürlich nicht, allein der Gedanke war unerträglich. Ich hätte alles dafür gegeben, um das Bild von Nick in den Armen einer anderen in meinem Kopf auszulöschen.
Mit dem Unterarm wischte ich mir die Tränen ab. Es war aussichtslos, das hatte ich jetzt kapiert. Eine Weile standen wir uns schweigend gegenüber. Mein Bitten und Flehen war umsonst, es gab nichts, was ich noch tun konnte. Außer gehen, natürlich.
Tränen rannen mir über die Wangen. Ich sollte mich von Nick verabschieden? Wie sollte das gehen? Wie verabschiedet man sich von dem Menschen, den man mit jeder Faser seines Herzens liebt und den man braucht wie die Luft zum Atmen?
Auf dem Weg zur Wohnungstür stellte sich Nick mir in den Weg. Ich ließ es geschehen, dass er seine Lippen auf meinen Mund drückte, mich an den Schultern packte und an sich zog. Wow, damit hätte ich im Leben nicht gerechnet.
»Warum, verdammt?«, stöhnte er im nächsten Moment und verstärkte den Griff um meine Arme.
Ich legte die Hände um sein Gesicht, und ehe ich mich’s versah, stieß ich mit dem Rücken gegen die Wand, wo er mich festhielt und seine Lippen auf meine presste. Ich zog ihn verzweifelt an mich, und er küsste mich, während seine Hände über meinen Körper glitten. Aber dann ging plötzlich ein Ruck durch ihn, seine ganze Haltung, sein Kuss wurden fordernder, gröber. Er zog seinen Kopf weg und drückte mich so fest gegen die Wand, dass ich mich kaum rühren konnte.
»Du hast hier nichts zu suchen«, brüllte er wutentbrannt, und als ich die Augen öffnete, sah ich, wie ihm Tränen über die Wangen rannen. So hatte ich ihn noch nie erlebt.
Ich bekam keine Luft mehr und versuchte, mich loszumachen. Es war nicht richtig, was wir taten. Ich wollte ihm die Tränen von den Wangen wischen, ihn umarmen und ihn tausendmal um Verzeihung bitten. Was er in diesem Moment in meinem Blick gelesen hatte, weiß ich nicht, doch seine Augen funkelten vor Zorn und vor Schmerz, einem tiefen Schmerz, den ich nur zu gut kannte.
»Ich habe dich geliebt«, sagte er und verbarg sein Gesicht an meinem Hals. Ich spürte, wie er zitterte, und umarmte ihn, als wollte ich ihn nie wieder loslassen. »Ich habe dich geliebt, verdammt!«, schrie er erneut, befreite sich und wich zurück.
Nicholas starrte mich an wie eine Fremde.
»Verschwinde aus meiner Wohnung und lass dich nie wieder blicken.«
Es war aus, es gab kein Zurück. In seinen Augen glitzerten Tränen, doch es gab kein Fünkchen Liebe mehr darin, nur noch Schmerz und Hass, und dagegen war ich machtlos. Ich hatte geglaubt, ich könnte ihn zurückgewinnen, hatte mir eingeredet, meine Liebe zu ihm wäre stark genug, um seine Gefühle für mich wieder wecken zu können, aber ich hatte mich getäuscht. Zwischen Liebe und Hass liegt nur ein schmaler Grat, das erkannte ich nun.
Das war unsere letzte Begegnung.
»Miss.« Eine Stimme neben mir holte mich in die Realität zurück.
Ich schaute von dem Brief auf und sah eine Flugbegleiterin, die mich ungeduldig musterte.
»Ja?« Als ich mich aufsetzte, rutschten mir das Buch und die Schokolade vom Schoß und fielen zu Boden.
»Die meisten Passagiere sind schon an Bord. Ihr Ticket, bitte.«
Ich schaute mich um. Fuck! Ich war die Letzte im Wartebereich. Am Durchgang zu dem Rüssel, der mich zur Maschine bringen würde, standen zwei weitere Flugbegleiterinnen und schauten zu mir herüber. Ich sprang auf.
»Tut mir leid.« Rasch suchte ich in meinem Rucksack nach meinem Pass und dem Ticket. Die junge Frau nahm sie entgegen und ging zum Schalter. Nachdem ich mich mit einem kurzen Blick vergewissert hatte, dass ich auch nichts vergessen hatte, folgte ich ihr.
»Ihr Platz ist hinten rechts. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Flug.«
Ich nickte und betrat mit einem flauen Gefühl den Rüssel zur Maschine.
Vor mir lagen sechs Stunden Flugzeit nach New York.
Sie kamen mir vor wie eine Ewigkeit. In New York würde es jetzt, Mitte Juli, sicher brüllend heiß sein. Zum Glück würde ich mich nicht lange dort aufhalten, denn meine Reise hatte ein anderes Ziel.
Nach der Landung nahm ich am Flughafen den Zug bis zur Jamaica Station, wo ich in einen anderen Zug nach East Hampton umsteigen musste. Ich konnte es immer noch nicht fassen. Es hatte mich noch nie in diesen Ferienort der Schönen und Reichen gezogen, aber Jenna hatte sich nun mal in den Kopf gesetzt, dort eine Hochzeit mit allen Schikanen zu feiern. Seit Monaten hatte sie mit der Organisation zu tun, denn sie wollte unbedingt in den exklusiven Hamptons heiraten, typisch reiche Amerikanerin halt. Ihre Mutter besaß dort seit Ewigkeiten ein Haus, wo sie fast immer den Sommer verbrachten, und Jenna liebte den Ort, mit dem sie so viele Kindheitserinnerungen verband. Ich recherchierte ein bisschen im Internet und war sprachlos, als ich sah, wie viele Millionen man dort für ein Haus hinblättern musste.
Jenna hatte sich gewünscht, dass ich schon ein paar Tage vor der Trauung kam. Es war Dienstag und von Sonntag an wäre meine beste Freundin die längste Zeit ledig gewesen. Manche Leute hatten gemeint, es sei Wahnsinn, mit neunzehn zu heiraten, doch wer kann sich schon über die Liebe eines Paares ein Urteil erlauben? Zum Teufel mit den Konventionen, wenn sie sich liebten und sich ganz sicher waren!
Also stieg ich an der Jamaica Station um und hatte nun etwas mehr als zwei Stunden Fahrtzeit vor mir, um mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass meine beste Freundin unter die Haube kam. Ich würde bei der Gelegenheit auch Nicholas Leister wiedersehen, von dem ich, bis auf das wenige, das ich im Internet über ihn gefunden hatte, seit neun Monaten nichts mehr gehört hatte.
Nick war Trauzeuge und ich eine der Brautjungfern. Dass das wie die Faust aufs Auge passte, könnt ihr euch ja vorstellen. Vielleicht hatte die Zeit die Wunden geheilt, vielleicht hatte er mir verzeihen können. Keine Ahnung, aber wenn wir uns von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden, würde wahrscheinlich der dritte Weltkrieg ausbrechen.
NOAH
Gegen sieben Uhr abends kam ich am Bahnhof an. Die Sonne stand noch hoch am Himmel. Jetzt, mitten im Juli, würde sie erst nach neun untergehen, und ich fand es angenehm, mir nach der Zugfahrt die Beine zu vertreten, die warme, salzige Luft einzuatmen und mir die frische Brise der Küste um die Nase wehen zu lassen. Ich war schon lange nicht mehr am Strand gewesen und vermisste das Meer. Mein College lag in der Stadt, und ich vermied es nach Möglichkeit, meine Mutter in Williams Haus auf den Klippen zu besuchen. Meine Beziehung zu ihr war zerrüttet, und trotz der vielen Monate, die inzwischen vergangen waren, hatten wir uns nie richtig ausgesprochen. Wir telefonierten sehr selten miteinander, und wenn sich das Gespräch in eine Richtung bewegte, die mir nicht behagte, legte ich einfach auf.
Jenna wartete vor dem Bahnhof auf mich. Als sie mich erblickte, sprang sie aus ihrem schicken weißen Cabrio und lief mir entgegen. Mitten auf der Straße fielen wir uns in die Arme und hüpften vor Freude herum wie verrückte Hühner.
»Du bist da!«
»Ja, endlich!«
»Ich werde heiraten!«
»Aber hallo!«
Wir lachten aus vollem Hals, bis uns das energische Hupen der Autos, die wir an der Weiterfahrt hinderten, auseinandertrieb.
Im Auto plapperte meine Freundin gleich drauflos. Sie erzählte, wie fertig sie war und was es vor dem großen Tag noch alles zu tun gab. Lange wären wir beide nicht allein, denn schon bald würden die ersten Gäste eintreffen. Die engsten Freunde sollten im Haus ihrer Familie wohnen, und die anderen hatten entweder selbst Häuser in den Hamptons – und wenn ich »Häuser« sage, meine ich Riesenvillen –, oder sie kamen bei irgendeinem Bekannten unter, der in der Gegend wohnte.
Das war einer der Gründe, warum Jenna die Trauung in den Sommer gelegt hatte. Damit nicht alle extra anreisen mussten, hatte sie die Ferienzeit gewählt, in der ein großer Teil ihrer Freunde und Bekannten ohnehin in den Hamptons waren oder zumindest in der Nähe.
»Ich habe mir für uns ein Wahnsinnsprogramm überlegt, Noah. In den nächsten Tagen werden wir nur am Strand liegen, ins Spa gehen, essen und Margaritas trinken. Ich genehmige mir einen total relaxten Junggesellinnenabschied, davon habe ich immer geträumt.«
Ich nickte, während ich aus dem Fenster schaute. Mein Gott, dieser Ort war ein Traum! Es war, als wäre ich auf einen Schlag ins siebzehnte Jahrhundert versetzt worden, mitten in die Kolonialzeit. Die kleinen weißen Backsteinhäuser in der Stadt waren mit langen, schönen Schindeln gedeckt. Viele besaßen auf der Vorderseite eine Veranda, auf der Schaukelstühle standen. Ich war so sehr an die funktionale Architektur von Los Angeles gewöhnt, dass ich vergessen hatte, wie malerisch manche Orte waren. Als wir aus der Stadt hinausfuhren, entdeckte ich prachtvolle Villen, die sich imposant auf weitläufigen Grundstücken erhoben. Jenna bog in eine Seitenstraße ein, die in Richtung Meer führte, und in der Ferne erblickte ich die Schindeln einer fantastischen, ganz in Weiß und Hellbraun gehaltenen Villa.
»Sag nicht, dass das euer Haus ist.«
Lachend holte Jenna eine kleine Fernbedienung aus dem Handschuhfach. Sie drückte auf einen Knopf und nahezu lautlos öffneten sich die riesigen Flügel des äußeren Tors. Und dann lag das unfassbar große, wunderschöne Haus vor uns.
Wie alle Häuser der Gegend war es ein Bau im Kolonialstil ohne modernen Schnickschnack. Es lag auf einem herrlichen Grundstück, das bis ans Meer reichte. Die rauschende Brandung konnte man bis zur Auffahrt hören. Laternen, die ein weiches Licht spendeten, säumten den Weg zu einer Freifläche, auf der mindestens zehn Autos Platz hatten.
Das weiße Backsteingebäude besaß eine schöne Veranda mit riesigen Säulen. Die umliegenden Rasenflächen waren von einem so saftigen Grün, wie ich es schon lange nicht mehr gesehen hatte, und mittendrin standen zwei majestätische, jahrhundertealte Eichen, die uns zu begrüßen schienen.
»Hier wirst du heiraten? Wahnsinn, Jenna, das ist echt der Hammer«, rief ich, als ich aus dem Cabrio sprang. Ich konnte mich an der vornehmen Villa nicht sattsehen, dabei konnte man nicht behaupten, ich sei nicht an Luxus gewöhnt. Immerhin hatte ich bei den Leisters gewohnt, aber das hier, das war etwas ganz anderes. Es war atemberaubend schön.
»Nein, die Hochzeit ist nicht hier. Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, aber als ich das meinem Vater gegenüber erwähnt habe, hat er gesagt, wie sehr es ihn freuen würde, wenn ich auf dem Weingut heirate, von dem wir immer gesprochen haben: Es liegt etwa eine Stunde von hier entfernt. Mein Vater und ich waren oft zum Reiten da, als ich klein war. Ich weiß noch, dass er einmal zu mir gesagt hat, er fände es schön, wenn ich irgendwann dort meine Hochzeit feiern würde, weil der Ort einen einzigartigen Zauber besitzt. Ich war damals erst zehn und träumte von einer Hochzeit wie im Märchen, mit mir als Prinzessin. Mein Vater spricht heute noch davon.«
»Wenn es dieses Haus hier in den Schatten stellt, muss es fantastisch sein.«
»Und ob, du wirst hin und weg sein. Da werden viele Hochzeiten gefeiert.«
Nebeneinander stiegen wir die Stufen zur Veranda hinauf. Ich fand es himmlisch, wie das Holz leise unter unseren Schritten knarrte.
Innen war das Haus genauso beeindruckend wie außen: Es war großzügig und geräumig. Wir kamen in einen riesigen, offenen Raum mit Eichendielen auf dem Boden. In der Mitte umstanden Sofas einen modernen, runden Kamin. Dann kam eine Bibliothek mit kleinen Sesseln, die zu einer Treppe in den ersten Stock führte, von wo man über eine Balustrade nach unten blicken konnte.
»Wie viele Leute werden hier wohnen, Jenn?«
Jenna ließ ihre Jacke achtlos auf ein Sofa fallen und wir gingen in die Küche. Auch hier gab es mehr als genug Platz: Es war eine Art Wohnküche mit gelben Sesseln und einem kleinen Frühstückstisch. Durch die großen Fenster konnte man einen riesigen Garten hinter dem Haus sehen, und nur wenige Meter dahinter lag der Strand, der mit seinem unberührten weißen Sand dem großen quadratischen Pool Konkurrenz machte.
»Lass mal überlegen … ich glaube, mit uns beiden, Lion und Nick insgesamt etwa zehn. Die anderen wohnen in der Nähe oder in einem Hotel im Hafen.«
Als ich Nicks Namen hörte, wandte ich mich ab und schaute aus dem Fenster. Ich nickte beiläufig, damit Jenna mir meine Betroffenheit nicht anmerkte.
Aber natürlich konnte ich ihr nichts vormachen. Sie holte zwei Flaschen Ginger Ale aus dem Kühlschrank, schwenkte eine vor meiner Nase und zwang mich so, sie anzusehen.
»Es ist zehn Monate her, Noah … Ich weiß, dass es dir noch wehtut, und ein Stück weit habe ich auch wegen euch so lange gewartet, denn ich hätte mir nicht vorstellen können, ohne meine beiden besten Freunde zu heiraten, aber glaubst du, dass du das packst? Ich meine … du hast ihn nicht mehr gesehen, seit …«
»Ich weiß, Jenna. Ja, du hast recht, ich will dir nichts vormachen und behaupten, dass es mir egal ist. Denn das stimmt nicht, ich bin noch lange nicht darüber hinweg. Aber wir wissen beide, dass es sowieso irgendwann passiert wäre. Immerhin sind wir praktisch verwandt … Es war nur eine Frage der Zeit, dass wir uns irgendwo wieder über den Weg laufen.«
Jenna nickte und ich musste mich abwenden. Ihr Blick behagte mir nicht. Wann immer die Sprache auf Nick kam, war es wie ein Eiertanz. Ich wusste selbst, wie ich mit meinem Schmerz umzugehen hatte, ich brauchte kein Mitleid, von niemandem. Ich hatte unsere Beziehung zerstört und mein gebrochenes Herz war die Strafe dafür.
Dankbar stimmte ich zu, als Jenna mir kurz darauf mein Zimmer zeigen wollte, denn ich war fix und fertig. Nachdem sie mich herumgeführt und mir alles gezeigt hatte, umarmte sie mich herzlich und rief zum Abschied munter, ich solle mich gut ausruhen, denn am nächsten Tag würden wir es ordentlich krachen lassen. Ich grinste, und als sie fort war, ließ ich mir ein warmes, wohltuendes Bad ein.
Die kommenden Tage würden verdammt schwer werden. Jenna zuliebe musste ich mich zusammenreißen, sie sollte nicht sehen, wie fertig ich war.
In der nächsten Woche würde ich so gut schauspielern müssen wie noch nie in meinem Leben, nicht nur vor Jenna, sondern auch vor Nicholas, denn wenn er sah, wie verwundbar ich war, würde er meiner Seele und meinem Herzen den Rest geben … Das war seine Form der Rache.
Am nächsten Morgen wachte ich ziemlich früh auf, weil ich die Vorhänge nicht zugezogen hatte. Als ich aus dem Fenster schaute, begrüßten mich die Wellen. Wir waren so nah am Meer, dass ich fast den Sand zwischen meinen Zehen fühlen konnte.
Rasch zog ich mir meinen Bikini und ein Strandkleid an. In der Küche traf ich auf Jenna, die schon putzmunter war und sich mit einer Frau unterhielt, die ihr mit einer Tasse Kaffee gegenübersaß.
»Noah, komm her, ich will dich vorstellen.« Jenna stand auf und zog mich am Arm. Die Frau, die bei ihr saß, sah fantastisch aus. Sie hatte asiatische Gesichtszüge und perfekt frisiertes dunkles Haar. Sie war … makellos, ja, dieses Wort traf es wohl am besten. »Das ist Amy, unsere Hochzeitsplanerin.«
Lächelnd reichte ich ihr die Hand.
»Freut mich.«
Amy musterte mich anerkennend. Sie zog ein Notizbüchlein aus ihrer Handtasche und blätterte es auf der Suche nach etwas schnell und zielsicher durch.
»Jenna hat mir schon gesagt, dass du hübsch bist, aber jetzt, wo ich dich vor mir sehe … Das Brautjungfernkleid wird dir ausnehmend gut stehen.«
Meine Wangen glühten.
Jenna setzte sich neben mich und schob sich ein Stück Toast in den Mund.
»Hey, die Schönste auf dem Fest sollte eigentlich ich sein.« Mit vollem Mund war sie zwar kaum zu verstehen, doch ich wusste, dass sie ihren Protest nicht ernst meinte. Jenna war so schön, dass sie immer herausstechen würde, egal, wie viele gut aussehende Frauen sich in ihrer Nähe befänden.
»Schau mal, Noah, das ist dein Kleid«, sagte Amy und zeigte mir ein Foto von einem Modell der Designerin Vera Wang. Es war ein entzückendes rotes Kleid mit V-Ausschnitt und zwei dünnen Trägern, die sich auf dem Rücken kreuzten. Der Ausschnitt auf dem Rücken war der Hammer. »Gefällt es dir?«
Echt jetzt? Das war doch gar keine Frage. Als Jenna mich gebeten hatte, eine ihrer Brautjungfern zu werden, hätte ich beinahe angefangen zu heulen. Damals hatten wir etwas vereinbart: Wenn ich ihre Brautjungfer würde, musste sie mir ein Kleid aussuchen, in dem ich nicht aussehen würde wie eine Geburtstagstorte. Und diese Bitte hatte sie offenbar sehr ernst genommen: Das Kleid war atemberaubend.
»Wer wird außer mir noch Brautjungfer?«, fragte ich, ohne meinen Blick von dem Foto abwenden zu können.
»Ich habe mir überlegt, dass ich nur eine Brautjungfer haben will«, erklärte sie. Ich war platt.
»Warte mal … Und was ist mit deiner Cousine? Janina oder Janora, wie heißt sie noch mal?«
Jenna stand auf und ging zum Kühlschrank. Und Amy holte ihr Handy heraus und verzog sich in eine Ecke der Küche, wo sie ungestört telefonieren konnte.
Jenna holte Erdbeeren und Milch aus dem Kühlschrank und stellte sie auf eine der Arbeitsflächen. Während sie den Mixer heranzog, um einen Milchshake zuzubereiten, zuckte sie mit den Schultern.
»Janina ist unerträglich. Meine Mutter hat sie mir quasi aufgezwungen, aber als sie erfahren hat, dass Janina nicht kann, musste sie zugeben, dass es besser ist, nur eine Brautjungfer zu haben anstatt zwei. Du weißt schon: ›wegen der Harmonie‹. Das waren genau ihre Worte.«
Ich musste schlucken. Na toll, offenbar sollte ich jetzt ganz allein vor den Hunderten von Gästen stehen, die zur Trauung kommen würden, ohne jemanden an meiner Seite zu haben, mit dem ich mein Unglück teilen konnte.
»Außerdem hat Lion am Altar auch nur einen Freund neben sich. Deswegen brauche ich mir keinen Kopf zu machen, dass es irgendwie komisch aussehen könnte: So ist alles perfekt ausgewogen.«
Das Dröhnen des Mixers durchbrach die plötzliche Stille und lenkte mich ab, bevor ihre Worte richtig in mein Bewusstsein drangen.
Moment mal … nur ein Freund und eine Freundin am Altar?
»Jenna!« Ich sprang auf und lief quer durch die Küche zu ihr, doch meine Freundin starrte wie gebannt auf den Mixer. Ungeduldig schaltete ich das Gerät aus. »Willst du damit etwa sagen, dass ich deine Trauzeugin sein soll?«
Jenna schaute mich schuldbewusst an.
»Es tut mir leid, Noah, aber Lion hat keinen Vater mehr, deshalb ist Nick sein Trauzeuge. Und du verstehst doch sicher, dass ich schlecht meine Mutter bitten konnte, meine Trauzeugin zu sein, wenn Lion nicht seinen Vater an seiner Seite hat. Das erschien mir nicht richtig. Deshalb haben wir beschlossen, dass es unsere besten Freunde sein sollen.«
Ich schloss die Augen.
»Weißt du, was du da von mir verlangst?«
Ich würde nicht nur gemeinsam mit Nick zum Altar ziehen müssen, wir waren auch dafür verantwortlich, dass alles wie am Schnürchen ablief. Und das bedeutete zwangsläufig, dass wir uns nicht nur bei der Trauung begegnen würden, sondern auch schon bei den Proben im Vorfeld.
Da ich gedacht hatte, Jenna hätte längst eine Trauzeugin, hatte ich mich für den genauen Ablauf der Zeremonie nicht weiter interessiert. Ich hatte mich damit arrangiert, dass ich Nick aus der Ferne sehen würde. Klar, wir wären zwar im selben Raum, aber wir müssten ja nicht miteinander reden. Doch nun sah die Sache anders aus: Ich hätte ihn nicht nur während der Trauung neben mir, auch beim anschließenden Hochzeitsbankett könnte ich ihm nicht ausweichen.
Jenna ergriff meine Hände.
»Es sind doch nur ein paar wenige Tage, Noah«, sagte sie, um mir Mut zu machen. »Ihr habt vor Monaten einen Schlussstrich gezogen … Es wird schon alles glattgehen, du wirst sehen.«
Ihr habt einen Schlussstrich gezogen …
Ihr? Nicholas hatte den gezogen, nicht ich. Und ich hielt nur durch, weil ich aus den tiefsten Tiefen ab und zu an die Oberfläche kam, um Luft zu holen.
NICK
Ich schaute auf die Uhr. Es war vier Uhr früh, doch ich konnte keinen Schlaf finden. Meine Gedanken überschlugen sich, und mir stand immer wieder vor Augen, was in ein paar Tagen auf mich zukommen würde. Fuck … ich würde sie wiedersehen.
Bei der Aussicht auf diese verdammte Hochzeit rauschte meine Laune in den Keller. Auf eine dumme Zeremonie, bei der sich zwei Menschen die ewige Liebe schwören, konnte ich im Moment echt verzichten. Was für ein Schwachsinn!
Aber ich hatte es Lion einfach nicht abschlagen können, sein Trauzeuge zu sein. Er hatte keinen Vater mehr, und sein Bruder Luca war ein Ex-Knacki, der nicht mal wusste, ob man ihn vor den Altar treten lassen würde. Aber je näher der besagte Tag rückte, desto mieser gelaunt und fahriger wurde ich.
Ich wollte sie nicht sehen … Irgendwann hatte ich mir sogar Jenna vorgeknöpft und sie genötigt, sich zwischen ihr und mir zu entscheiden, doch damit hatte ich mir nur mächtig Stress mit Lion eingehandelt, der mir ordentlich die Leviten las, weil ich Jenna in diese Zwickmühle gebracht hatte.
Tausend Ausreden waren mir durch den Kopf gegangen, warum ich nicht zur Hochzeit kommen konnte, aber es gab nichts, das es rechtfertigen würde, meine zwei besten Freunde hängen zu lassen. So ein Arsch war ich nicht.
Ich stand vom Schreibtisch auf und ging hinüber zu dem riesigen Fenster, das eine fantastische Aussicht über New York bot. Hier oben, im 62. Stock, war ich so weit von allem entfernt. Ich verspürte eine grausame Kälte. War ich wirklich so ein Eisberg?
Die letzten zehn Monate waren ein einziger Albtraum gewesen. Ich war in die Hölle hinabgestiegen, verbrannt und als ein anderer aus der Asche auferstanden.
Die Träume waren ausgeträumt. Ich war unfähig, für jemanden etwas anderes zu empfinden als körperliches Verlangen. Dort oben, fern der Welt, saß ich in meinem ganz persönlichen Gefängnis, in dem es nur einen Gefangenen gab, und das war ich selbst.
Ich hörte Schritte hinter mir. Als sich von hinten Arme um mich schlangen, erschrak ich nicht mal. Ich fühlte nichts mehr, ich vegetierte nur noch vor mich hin.
»Warum kommst du nicht zurück ins Bett?«, fragte das Mädchen, das ich erst wenige Stunden zuvor in einem der besten Restaurants der Stadt aufgelesen hatte.
Mein Leben drehte sich jetzt nur noch um die Arbeit. Ich schuftete von früh bis spät, machte einen Haufen Kohle, und am nächsten Tag ging das Spiel wieder von vorn los.
Gerade mal zwei Monate nach dem Firmenjubiläum von Leister Enterprises hatte mein Granddad Andrew von dieser Welt die Nase voll und machte sich aus dem Staub. Als ich die Todesnachricht erhielt, erlaubte ich es mir endlich, zusammenzubrechen. Nach so kurzer Zeit wurde mir schon der zweite Mensch entrissen, den ich liebte. In diesem Moment erkannte ich, wie beschissen das Leben ist: Du schenkst jemandem dein Herz, damit er gut darauf aufpasst, und dann musst du feststellen, dass er es mit Füßen tritt. Und dann entschließt sich auch noch der Mensch, der dich von deinem ersten Atemzug an geliebt und beschützt hat, diese Welt ohne Vorankündigung zu verlassen. Er verschwindet spurlos, und du bleibst allein zurück und fragst dich, was geschehen ist und warum er gehen musste …
Na ja, so ganz spurlos war er nicht verschwunden, er hatte ein Testament hinterlassen, das mein Leben auf einen Schlag radikal auf den Kopf stellen sollte.
Mein Granddad hatte mir alles hinterlassen, absolut alles. Nicht nur sein Haus in Montana und seine Ländereien, sondern auch Leister Enterprises, und zwar ganz. Selbst mein Vater hatte keinen Teil des Erbes erhalten. Allerdings hatte er es auch nicht nötig, immerhin leitete er eine der angesehensten Anwaltskanzleien des Landes. Mich dagegen hatte mein Granddad zum Alleinerben seines ganzen Imperiums bestimmt, inklusive Leister Corporate, der Firma, die zusammen mit der meines Vaters einen Großteil des nationalen Finanzsektors beherrschte. Es war schon immer mein Herzenswunsch gewesen, zusammen mit meinem Granddad in der Finanzwelt zu arbeiten, aber ich hatte nie gewollt, dass mir aus heiterem Himmel alles in den Schoß fiel.
Plötzlich sah ich mich gezwungen, den ersehnten Posten schon vor der Zeit auszufüllen, und stand mit nur vierundzwanzig Jahren ganz offiziell an der Spitze eines Firmenimperiums.
Voller Elan hatte ich mich in die Arbeit gestürzt. Ich wollte beweisen, dass ich in der Lage war, jedes Hindernis zu überwinden, und alle Zweifel daran ausräumen, dass ich der Beste für diese Rolle war. Nun war ich ganz oben, und doch konnte ich nicht leugnen, wie tief ich gesunken war.
Ich drehte mich zu dem Mädchen um, mit dem ich mich für ein paar Stunden amüsiert hatte. Sie war schlank, hochgewachsen, hatte blaue Augen und perfekte Brüste, aber sie war nur eine schöne Hülle. Ich erinnerte mich nicht mal an ihren Namen. Eigentlich hätte sie längst weg sein sollen, denn ich hatte von Anfang an klargestellt, dass ich nur ficken wollte und ihr gern danach für den Heimweg ein Taxi bestellen würde. Doch nun stand sie vor mir. Und nachdem ich mich so hilflos und wütend gefühlt hatte, weil ich mich einer Situation stellen musste, mit der ich überhaupt nicht umgehen konnte, verspürte ich das Bedürfnis, mich abzureagieren.
Während sie mir tief in die Augen blickte, glitten ihre Hände über meine Brust nach oben.
»Ich muss sagen, an den Gerüchten, die man über dich so hört, ist was dran«, sagte sie und schmiegte sich verführerisch an mich.
Ich packte ihre Handgelenke und unterband ihre Liebkosungen.
»Es interessiert mich nicht, was über mich geredet wird«, fuhr ich ihr in die Parade. »Es ist vier Uhr morgens. In einer halben Stunde rufe ich dir ein Taxi, also solltest du dir was Besseres einfallen lassen, um die verbleibende Zeit zu nutzen.«
Trotz meiner Grobheit lächelte sie.
»Jawohl, Mr Leister.«
Ich seufzte und ließ sie gewähren. Mit geschlossenen Augen gab ich mich der flüchtigen Lust hin, um für einen Moment meine innere Leere zu vergessen. Auch Sex war nicht mehr das, was er einmal gewesen war, und für mich war das sogar besser so.
NOAH
Mit der Ruhe war es ein paar Tage später auf einen Schlag vorbei, als es morgens in aller Frühe an der Tür klingelte. Wir hatten die Zeit gut genutzt und es uns im Spa von Sag Harvor gut gehen lassen, wir hatten uns frische Meeresfrüchte in malerischen Restaurants schmecken lassen und stundenlang in der Sonne gelegen, bis unsere Haut die begehrte Bräune angenommen hatte, für die wir sicher eines Tages mit Falten würden büßen müssen.
Amy, die Hochzeitsplanerin, hatte uns während dieser Tage uns selbst überlassen, damit wir die Zeit zu zweit nach Herzenslust auskosten konnten, aber so kurz vor der Hochzeit und der Ankunft der zahlreichen Gäste war es mit unserem schönen dolce far niente vorbei.
Jenna war anzumerken, dass sie immer nervöser wurde. Sie redete wie ein Wasserfall und rief immer wieder panisch Lion an. Er hatte inzwischen nach monatelanger Vorbereitung auf das Vorstellungsgespräch die wohlverdiente Stelle als Filialleiter in einer der Firmen von Jennas Vater bekommen. Endlich schienen die Dinge für das schwarze Schaf unter uns in die richtige Richtung zu laufen. Jenna und Lion hatten es geschafft, einander zu verzeihen, und sie waren verliebter denn je.
An diesem Morgen durfte ich endlich das Brautkleid sehen. Amy war mit der Schneiderin gekommen, damit Jenna es noch einmal für die letzten Nachbesserungen anprobieren konnte. Es war ein wunderschönes tailliertes Kleid mit weißer Spitze und einem langen, ausgestellten Glockenrock. Es erinnerte mich an die Roben, die Filmstars oder Models in Zeitschriften tragen und die in uns automatisch die Sehnsucht wecken, auch einmal im Leben so auszusehen. Jennas Mutter hatte das Kleid gemeinsam mit einer der exklusivsten Designerinnen von Los Angeles entworfen und meine Freundin sah darin einfach fantastisch aus.
Kurz nach der Anprobe traf eine Gruppe von Arbeitern ein und im riesigen Garten begannen die Vorbereitungen für einen bombastischen Empfang. Die einen schmückten den Eingang des Hauses mit Blumen, die laut Jenna zum Blumenschmuck der Hochzeit passten, während andere ein üppiges Büfett vorbereiteten, mit dem die im Laufe des Tages eintreffenden Freunde und Familienmitglieder begrüßt werden würden.
In zwei Tagen sollte gleich neben der Bucht das Probeessen stattfinden. Wie nervös ich war, brauche ich wohl nicht zu sagen. Nick wiederzusehen, würde hart werden. Ich bezweifelte, dass ich es länger als zwei Tage mit ihm unter einem Dach aushalten würde.
Das Anwesen wimmelte bald vor Menschen. Ständig trafen neue Verwandte und Freunde ein, die aufgeregt auf Jenna zukamen und sie über die Zeremonie und das Kleid ausfragten oder einfach nur plaudern wollten.
Meine Freundin hatte ihre engsten Freunde und die nächsten Angehörigen eingeladen, in der Villa zu übernachten, und vor allem die Jüngeren hatten begeistert zugestimmt. Die Älteren zogen es vor, in Hotels zu übernachten, wo ihr Ruhebedürfnis nicht durch unseren jugendlichen Überschwang gestört werden würde.
Während der Strom der Caterer scheinbar kein Ende nahm, wurde Jenna von ihren Cousinen belagert. Ich beschloss, mich für eine Weile auf mein Zimmer zurückzuziehen. Als ich an der Haustür vorbeikam, hielt draußen ein Auto, das ich kannte. Ich schirmte mit der Hand meine Augen ab und erkannte Lions Bruder, der wie ein Ganove aus dem Auto stieg.
Er ließ die Autoschlüssel um den Finger kreisen und musterte mich von Kopf bis Fuß, als er bemerkte, dass ich ihn von der Veranda aus beobachtete.
»Na, wen haben wir denn da«, sagte er mit einem schiefen Grinsen, als er auf die Treppe zukam, »die verschollene Prinzessin.«
Genervt verzog ich das Gesicht. Mit Luca war ich nie richtig warm geworden. Er hatte ein paar Jahre im Gefängnis gesessen. Jenna zufolge steckte er noch immer ständig in Schwierigkeiten, die Lion für ihn löste. Ich musste zugeben, dass sich Luca seit unserer letzten Begegnung ziemlich verändert hatte. Es war vor Monaten gewesen, damals bei diesem fürchterlichen Rennen, als Jenna mit Lion Schluss gemacht hatte. An dem Abend hatten auch Nick und ich einen mordsmäßigen Streit gehabt, der, wie immer, mit Sex geendet hatte, Sex, der keine Probleme löste, sondern uns nur half, die Augen davor zu verschließen, dass wir uns langsam, aber sicher gegenseitig kaputtmachten.
»Wie geht’s, Süße?« Er baute sich vor mir auf, sodass ich zu ihm hochschauen musste. Lion war schon ein wahrer Riese, doch Luca stand ihm in nichts nach. Sein ganzer Stolz waren die Tattoos auf seinen Armen, die auf brave Leute furchterregend wirkten, doch mich konnte er damit nicht beeindrucken.
»Bestens, Luca, schön, dich zu sehen«, antwortete ich und wich einen Schritt zurück. Es behagte mir nicht, wie nah er mir auf die Pelle gerückt war. »Jenna ist drin, falls du sie begrüßen willst.«
Desinteressiert schaute Luca mir über die Schulter. Dann ließ er seinen Blick unverhohlen über mein weißes Kleid gleiten.
»Das hat Zeit, ich kann die künftige Braut später noch begrüßen. Apropos, stimmt es, dass du solo bist?«
Sein Interesse irritierte mich. Ich hatte wenig Lust, mich über mein Gefühlsleben auszulassen, und schon gar nicht vor dem Proletenbruder des besten Freundes von meinem Ex, der mit Sicherheit bestens auf dem Laufenden war und genau wusste, was ich getan hatte.
»Ich bin sicher, dass du die Antwort kennst«, erwiderte ich kühl. Warum mussten die Leute immer in meinen Wunden bohren. Ich wollte nur noch weg und mich in meinem Zimmer verkriechen.
In dem Moment tauchte Jenna auf, die sich im Gegensatz zu mir über seine Anwesenheit zu freuen schien. Er breitete die Arme aus, um sie an sich zu ziehen.
»Hallo, künftige Schwägerin«, rief er und kniff sie in die Taille. »Hast du zugenommen? Vorsicht, nicht dass du nachher nicht in das Kleid passt.«
Luca grinste und Jenna entwand sich mit einem Ruck seinen Armen. Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
»Idiot!«, fauchte sie ihn an und schubste ihn von sich.
Luca wandte sich wieder mir zu.
»Ich habe Noah gerade gefragt, wo mein Zimmer ist. Du weißt ja, ich bin es nicht gewohnt, in einem Palast am Strand zu wohnen, und ich bin müde von der Reise.«
Jenna schnaubte genervt.
»Auf die Idee, mit dem Auto quer durch das ganze Land zu fahren, kannst auch nur du kommen. Hast du schon mal was von Flugzeugen gehört?«
Überrascht schaute ich ihn an.
»Bist du wirklich den ganzen Weg von Kalifornien mit dem Auto gefahren?«
Luca nickte und schob die Daumen unter die Träger seines Rucksacks.
»Ich mag die Diners an der Landstraße«, erklärte er und schob sich zwischen uns durch zur Haustür. »Wo muss ich hin?«
Jenna schüttelte den Kopf und lächelte. In diesem Moment wurde sie in die Küche gerufen.
»Noah, bring du ihn nach oben. Sein Zimmer ist gleich rechts, neben dem Balkon.«
»Aber …«
Jenna achtete nicht auf meinen Protest. Sie ließ uns stehen und verschwand in Richtung Küche.
»Na los, Prinzessin, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.«
Nachdem ich ihm sein Zimmer gezeigt hatte, wandte ich mich zur Tür. Ich wollte ihn so schnell wie möglich loswerden und mich in mein Zimmer zurückziehen, doch Luca stellte sich mir in den Weg.
»Lass uns ein wenig durch die Gegend cruisen und an den Strand gehen«, schlug er vor. So etwas wie Widerspruch war ihm fremd, vor allem von einer Frau.
»Nein, danke«, entgegnete ich und versuchte, ihm auszuweichen.
»Ich will nicht hierbleiben. Komm schon, sei nicht so langweilig. Ich lade dich auf einen Hotdog ein.«
Ich musterte ihn und versuchte dahinterzukommen, was er vorhatte. Luca war ein Mensch, der nur schwer zu kontrollieren war. Und er hatte Hummeln im Hintern. Hierzubleiben und die eintreffenden Gäste zu begrüßen, stresste ihn sicher mehr, als er zugeben wollte.
»Ich will keinen Hotdog, ich will in meinem Zimmer eine Weile lesen, also geh mir bitte aus dem Weg.«
Doch meine Worte interessierten ihn nicht.
»Lesen?« So wie er es betonte, klang es wie eine Beleidigung. »Du kannst noch genug lesen, wenn du tot bist. Komm mit, wir drehen eine Runde durch dieses Schickimicki-Kaff.«
»Luca, ich kann nicht einfach so verschwinden. Jenna braucht Hilfe. Außerdem kennen wir uns hier nicht aus, und ich kann echt darauf verzichten, mich mit dir in den Hamptons zu verlaufen.«
Luca schob sein Basecap nach hinten und schaute mich an.
»Dich mit mir zu verlaufen, ist das Beste, was dir passieren kann, Süße, aber danach steht mir gerade nicht der Sinn. Ich will bloß weg hier, um in netter Gesellschaft einen Happen zu essen, und du bist nicht verkehrt, auch wenn du einen auf hochnäsige Prinzessin machst.«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust, weil es mir in den Fingern juckte, ihm einen Stoß zu geben, wie Jenna, und ihm ein paar Takte zu erzählen, aber da fing er plötzlich lauthals an zu lachen.
»Das war ein Witz! Na, komm schon, sei nicht so ein Trauerkloß, ich verspreche dir, dich wohlbehalten zurückzubringen. Jenna soll doch nicht ohne Brautjungfer dastehen.«
In diesem Moment kamen Verwandte von Jenna die Stufen herauf und im Nu war der Eingangsbereich voller munter plaudernder Leute. Lucas Idee, einfach zu verschwinden, erschien mir mit einem Mal nicht mehr so abwegig.
»Unter einer Bedingung«, sagte ich ernst.
Luca grinste mich schelmisch an.
»Was immer du willst.«
»Ich fahre.«
Zu meiner Verblüffung hatte Luca nichts dagegen, dass ich mich ans Steuer seines glänzenden schwarzen Mustangs setzte. Im Gegenteil, er schien froh zu sein, dass er sich nicht auf den Verkehr konzentrieren musste und stattdessen den Ausblick auf die Küste genießen konnte. Die Sonne würde bald untergehen und es wehte eine angenehme Brise.
Wir hüllten uns in Schweigen, was sich jedoch kein bisschen unangenehm anfühlte. Es gefiel mir, ziellos durch die Nebenstraßen zu fahren. Mir war klar, dass Luca sich mir gegenüber zusammenriss, er war nicht der Typ, der einfach so ohne Hintergedanken Zeit mit einer Frau verbrachte, aber seine Absichten interessierten mich herzlich wenig. Nachdem wir eine Weile herumgefahren waren, hielt ich vor einem Hotdog-Stand am Strand an. Ringsherum standen ein paar Tische, an denen zwei Pärchen und ein Ehepaar mit zwei kleinen Kindern saßen. Es war inzwischen dunkel geworden.
»Ich hab Hunger«, verkündete ich und zog den Schlüssel aus dem Zündschloss.
Grinsend stieg Luca aus. Ich schaute ihm einen Moment lang durch das Seitenfenster nach, dann folgte ich ihm.
»Ich wusste gar nicht, dass du auch Autos mit Schaltgetriebe fahren kannst.« Er nahm sein Basecap ab, strich sich über das raspelkurze Haar und setzte es wieder auf.
»So gut kennen wir uns ja auch nicht. Kein Wunder, dass du das nicht wusstest.«
Ich steuerte den Junkfood-Stand an. Das Essen war Müll, schon klar, aber es roch göttlich. Ich bestellte einen Hotdog mit allem, dazu Pommes frites und eine Cola. Luca nahm dasselbe, allerdings mit einem Bier. Als unser Essen fertig war, setzten wir uns an einen der Tische. Ich fand es komisch, hier mit dem Bruder des künftigen Ehemannes meiner besten Freundin zu sitzen, einem Ex-Knacki mit ziemlich miesem Ruf, aber ich musste zugeben, dass er sich bisher mustergültig benommen hatte.
»Du hast es nicht so mit Diäten, oder?«, sagte er und zeigte auf den fetttriefenden Teller vor mir.
»Ich treibe Sport«, erwiderte ich und biss in den Hotdog. Er war köstlich.
Luca nickte und trank einen Schluck Bier, dann lehnte er sich zurück und schaute mich interessiert an.
»Du hast eben gesagt, dass wir uns nicht so gut kennen. Warum spielen wir nicht das Spiel mit den zwanzig Fragen?«
Vorsichtig legte ich den Hotdog auf den Teller und wich seinem Blick aus.
Natürlich hatte ich die versteckte Anmache in seinem Vorschlag mitbekommen, doch ich war abgelenkt, weil seine Worte etwas in mir anstießen. Vor langer Zeit hatten auch Nick und ich dieses dumme Spiel gespielt, um uns besser kennenzulernen.
Damals hatte keiner etwas von den Problemen des anderen gewusst. Am liebsten wäre ich aufgesprungen und zurückgefahren, um mich in meinem Zimmer zu verbarrikadieren, das ich besser gar nicht erst verlassen hätte. Doch stattdessen tat ich etwas, das unter diesen Umständen sicher klüger war: Ich schloss kurz die Augen, atmete tief durch und konzentrierte mich auf etwas anderes.
Vor mir saß ein attraktiver junger Mann, der absolut nicht mein Typ war und mir in meiner ohnehin verzwickten Lage nur Probleme bescheren würde. Aber es war egal, was er sagte oder tat, er würde mich niemals zum Fliegen bringen können, wie es Nicholas Leister allein mit einem Blick vermochte. Manchmal vermisste ich einfach nur die unvergleichliche Art, wie er mir in die Augen schaute.
Luca wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht, um mich aus meiner Versunkenheit zurückzuholen. Ich rief mich zur Ordnung und konzentrierte mich wieder nur auf ihn, seine Tattoos und die vor Neugier blitzenden grünen Augen.
»Du darfst mir eine einzige Frage stellen«, sagte ich, denn ich wollte nicht abweisend wirken.
Lächelnd rieb sich Luca mit der Hand übers Kinn und beugte sich vor.
»Wenn du mir nur eine Frage gewährst, muss ich wohl direkt zur Sache kommen.«
Unruhig rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her. Zum ersten Mal seit Monaten war ich mit einem Typen allein, und ich fühlte mich, als würde ich etwas Verbotenes tun.
»Würdest du auch morgen Abend mit mir ausbüxen?«
»Nein.«
Meine Antwort war eindeutig. Ich stand auf und wandte mich zum Gehen, denn mir war der Appetit vergangen, doch er hielt mich fest.
»Warum nicht?«
»Ich kann nicht.«
Irritiert schaute er mich an.
»Wie? Du kannst nicht? Was soll denn das heißen?«
Ich wand mich unruhig, aber er hielt mein Handgelenk fest umklammert.
»Ich will nicht«, erklärte ich und starrte auf seine rechte Schulter.
Es dauerte einen Moment, bis er wieder etwas sagte.
»Verstehe, du bist immer noch verknallt in ihn.« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Ich riss mich los und wich zurück.
»Das geht dich nichts an, klar?«
Lachend hob Luca die Hände.
»Noah, ich wollte dir nur vorschlagen, joggen zu gehen, okay? Das ist doch nicht die Welt … Ich hab ja schon gehört, dass du eigen bist, aber …« Offenbar sprach mein Blick Bände, denn er verstummte. »Bei Sonnenuntergang, wenn es nicht mehr so heiß ist. Dann verziehen wir uns von diesem Irrsinn. Komm schon, ich suche ja bloß nach einem Vorwand, um aus diesem Palast zu verduften. Zieh nicht so ein Gesicht, du kannst meinetwegen verliebt sein, in wen du willst, das ist mir so was von egal.«
Seine Worte brachten mich zum Nachdenken. Ich hatte es mit Luca zu tun. Er war kein Feingeist, sondern haute einfach das Erstbeste raus, das ihm durch den Kopf ging. Mein Privatleben war ihm piepegal.
Joggen, ja, das ging wohl … Das war langweilig und unpersönlich, und außerdem, wer hatte schon Hintergedanken, wenn er jemanden einlud, mit ihm laufen zu gehen? Ich würde nach Schweiß stinken und schrecklich aussehen, also bestand doch keine Gefahr, oder?
»Nur, um joggen zu gehen?«, fragte ich und verwünschte mich selbst, dass meine Stimme so verzagt klang.
Luca runzelte unmerklich die Stirn. Er ließ meine Hand los und nickte mit einem gezwungenen Lächeln.
»Nur joggen.«
Ich seufzte innerlich und setzte mich wieder, bis er aufgegessen hatte.
In der nächsten halben Stunde machten wir belanglosen Small Talk über die Hochzeit, doch ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich ihm gegenüber die Hosen heruntergelassen hatte. Ich hatte mir die Unsicherheit anmerken lassen, mit der ich seit Monaten zu kämpfen hatte, und das gefiel mir gar nicht.
Noch anderthalb Tage bis zur Hochzeit und Luca hing an mir wie eine Klette. Wir waren joggen gegangen, wie er es sich gewünscht hatte, und zu meiner Überraschung war es ganz okay gewesen: Er setzte sich seinen Kopfhörer auf, ich meinen, und wir liefen nebeneinander bis zum Hafen und dann über den Strand wieder zurück. Ich muss zugeben, dass es ein cleverer Weg war, uns davonzustehlen, denn inzwischen waren so viele Gäste eingetroffen, dass man im Haus nirgendwo seine Ruhe hatte. Jennas Eltern waren seit dem Vorabend da und ich hatte endlich ein bisschen Freiraum und konnte Jenna auch mal allein lassen. Ihre Mutter war als Gastgeberin ganz in ihrem Element, es schien sie glücklich zu machen, so viele Freunde und Verwandte zur Hochzeit ihrer ältesten Tochter um sich scharen zu können.
Dieses Mal hatte Luca darauf bestanden, dass wir ein Stück weiter liefen als sonst. Ich war am Ende meiner Kräfte und meine Beine versagten mir den Dienst. Auf dem Rückweg würde ich wohl langsamer machen müssen.
»Mach hin!« Der Scherzkeks lief nun rückwärts, um mich ansehen zu können, während er mich verspottete. Ich zeigte ihm den Mittelfinger und versuchte, ihn zu ignorieren, aber ich musste stehen bleiben, um zu verschnaufen und einen Schluck Wasser zu trinken. In ein paar Stunden würde es dunkel werden, dann mussten wir geschniegelt und gestriegelt mit den übrigen Gästen zu Abend essen. Jennas Vater hatte für diese Tage einen Catering-Service engagiert und im Garten ein Zelt aufstellen lassen. Es war ein nie enden wollendes Fest und rund um die Uhr wurden Köstlichkeiten gereicht. Das Haus der Tavishs hatte sich in ein Fünfsternehotel verwandelt und alle waren hingerissen.
»Sei nicht so ein Weichei!«
Ich atmete langsam aus und kippte mir Wasser über den Kopf. Mein rosafarbenes Top wurde klitschnass, aber so konnte ich mir den Schweiß abwischen, der mir an Bauch und Brüsten hinunterrann. Dann rieb ich mir durchs Gesicht und beschloss, tatsächlich im Schritttempo zurückzugehen. Für diesen Nachmittag hatte ich meinen Körper schon genug geschunden.
»Lauf allein weiter, du Großkotz!«
Kopfschüttelnd kam Luca zu der Stelle zurück, an der ich stehen geblieben war.
»Ich dachte, du würdest mit der Zeit fitter werden, Prinzessin. Du enttäuschst mich.«
»Ach, halt die Klappe.«
Zu Fuß machten wir uns auf den Weg zu Jennas Haus. Die Landstraße führte eine kleine Steigung hinauf, und oben angekommen, konnten wir sehen, wie die Sonne am Horizont unterging und am Himmel ein überwältigendes Farbenspiel erzeugte.
»Der große Tag ist bald da. Bist du nervös?«, fragte Luca, während er sich den letzten Rest Wasser aus seiner Trinkflasche über den Kopf goss, wie ich es kurz zuvor selbst getan hatte. Er schüttelte sich und mit Schweiß vermischte Wassertropfen spritzten mir ins Gesicht. Ich verpasste ihm einen Ellenbogencheck und er grinste mich idiotisch an.
»Ich heirate doch nicht, Luca«, erwiderte ich betont gelassen.
Wir hatten in den letzten beiden Tagen nicht viel miteinander geredet, doch dass ein bestimmtes Thema tabu war, war mehr als deutlich geworden. Aber so kurz vor der Hochzeit konnte ich seine Neugier sogar verstehen.
»Du bist die Trauzeugin … Du hast eine wichtige Rolle«, sagte er, ohne mich anzusehen.
Ich antwortete nicht. Die Nervosität, die ich in den letzten Tagen erfolgreich unterdrückt hatte, kam mit Macht zurück, und mir wurde ganz flau im Magen. Ich hatte Jenna nicht fragen wollen, wann er kommen würde; ich war mir nicht mal sicher, ob er überhaupt vor dem Tag der Hochzeit, ach was sage ich, vor der Trauung selbst auftauchen würde. Besser so, ich hätte nichts dagegen gehabt. Allein bei dem Gedanken, ihn wiedersehen zu müssen, zitterten mir die Knie.
In diesem Moment fuhr ein Auto blitzschnell an uns vorbei. Geistesgegenwärtig riss Luca mich zur Seite.
»Arschloch!«, rief er dem Wagen nach, aber der schwarze Lexus war längst ein dunkler Fleck am Ende der Straße.
Mir wurde es mulmig. Plötzlich hatte ich es eilig, zum Haus zu kommen.
NICK
Es war schon sechs Uhr und ich hing noch immer in New York rum. Die Sekretärin, die für meine Termine zuständig war, hatte irrtümlich ein Meeting mit zwei aufgeblasenen Witzfiguren vereinbart, mit denen ich nur meine Zeit vergeudet hatte.