Tell Me in Secret - Mercedes Ron - E-Book

Tell Me in Secret E-Book

Mercedes Ron

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Beschreibung

++ SPIEGEL-Bestseller ++
Ein Mädchen. Zwei Brüder. Ein Spiel mit dem Feuer – der zweite Band der spicy Forbidden-Love-Trilogie von der Culpa-Mía-Autorin


Kamilas beste Kindheitsfreunde sind wieder in ihr Leben getreten. Thiago und seine grünen Augen rauben ihr den Atem. Taylor mit seinen blauen Augen wird sie nie enttäuschen. Kami möchte weder den einen noch den anderen missen. Als ihr Leben aus den Fugen gerät, ihre Eltern sich scheiden lassen und ihre Freundinnen ihr den Rücken kehren, braucht sie die Brüder mehr denn je. Und dann küsst Thiago eine andere und Taylors Gefühle für Kami sind stärker als ihre für ihn. Als wäre das nicht genug, scheint ihr Ex-Freund nicht nur ihr, sondern auch ihrem kleinen Bruder das Leben zur Hölle machen zu wollen. Kami ahnt nicht, wie weit er zu gehen bereit ist.
Mit ihrer sinnlichen und temporeichen New-Adult-Trilogie »Culpa Mía« hat sich Mercedes Ron in die Herzen von Millionen Fans auf der ganzen Welt geschrieben. Die Verfilmung von Band 1 wurde zum erfolgreichsten nicht-englischsprachigen Film auf Amazon Prime Video und auch die Tell-Me-Reihe wird dort ab 2025 zu sehen sein.

Die Tell-Me-Reihe:
Tell Me Softly (Band 1)
Tell Me in Secret (Band 2)
Tell Me with Kisses (Band 3) erscheint im Februar 2026
Enthaltene Tropes: Enemies to Lovers, Haters to Lovers, Forbidden Love/Romance
Spice-Level: 2 von 5

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 362

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Mercedes Ron

Tell Me in Secret

Aus dem Spanischen

von Ursula Bachhausen und Sabine Giersberg

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

INHALTSWARNUNG:

Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deshalb findet ihr am Ende einen Hinweis.

Er enthält Spoiler für die gesamte Geschichte.

Deutsche Erstausgabe November 2025

© 2020 Mercedes Ron

© 2025 für die deutschsprachige Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel

»Dímelo en secreto« bei Penguin Random House Grupo Editorial, S. A. U., Travessera de Gràcia, 47 – 49, 08021 Barcelona

Aus dem Spanischen von Ursula Bachhausen und Sabine Giersberg

Umschlaggestaltung: Marie Graßhoff, nach einer Gestaltung von Elsie Lyons unter Verwendung von Motiven von: Getty images/Tuomas A. Lehtinen, Getty images/Jane Khomi, istock/Lyudmila Lucienne, shutterstock/Elena Schweitzer, shutterstock/Chinnapong

kk · Herstellung: DiMo

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 9783641328931

www.cbj-verlag.de

All denen gewidmet, die schon mal geglaubt haben, sie wären nicht genug. Doch, das seid ihr!

Prolog

Kami

Das nächste Abenteuer wartete auf uns. Und dazu angestiftet hatte uns wieder mal derjenige, der aufgrund seines Alters eigentlich der Vernünftigere im Bunde sein sollte.

Thiago hatte uns mitten in der Nacht zum Baumhaus bestellt, und als er ein gebogenes Metallteil, ein Feuerzeug und ein Erste-Hilfe-Kit aus dem Rucksack zog, verhieß das nichts Gutes. Aber er war Thiago Di Bianco. Wir hörten immer auf ihn. Er hatte das Sagen, weil er drei Jahre älter war als wir. So einfach war das.

Ich hatte so meine Probleme damit, mich an dieses ungeschriebene Gesetz zu halten und mich jemandem unterzuordnen, der mich bei der erstbesten Gelegenheit wieder zum Weinen bringen würde. Doch ich muss gestehen, dass ich mich selbst bei den gefährlichsten Abenteuern an seiner Seite sicher fühlte. Er strahlte eine Stärke aus, die uns vergessen ließ, welchen Mist wir gerade bauten.

Und seit der Nacht, in der wir bei unserem geizigen alten Nachbarn eingebrochen waren, um Süßkram zu stehlen, und es zu dem ersten Kuss gekommen war, hatte sich sein Verhalten mir gegenüber verändert. Er triezte mich nicht mehr länger, indem er an meinen Zöpfen zog, sondern spielte sich zunehmend als Bestimmer auf, der die ganze Zeit meine Aufmerksamkeit verlangte.

»Was hast du denn damit vor?«, fragte ich mit einem Blick auf das Feuerzeug, das im Schein unserer Taschenlampe glänzte.

Thiagos verrückte Einfälle wurden immer waghalsiger und erforderten von Taylor und mir eine gehörige Portion Mut. Natürlich war ich offen für Abenteuer, aber ich hatte meine Grenzen … von meinem jungen Alter ganz zu schweigen.

»Nichts, was du nicht aushalten kannst«, erwiderte er und ging zu dem Guckloch, wo er seinen Rucksack abgelegt hatte.

Ich schaute zu Taylor, der seinen älteren Bruder ebenfalls nervös beobachtete.

Wir befanden uns in unserem Baumhaus oder, besser gesagt, der Hütte, die Thiago wild zusammengezimmert hatte, aber der Wille zählt. Und er hatte sich echt Mühe gegeben.

Taylor war zum ersten Mal dort und entsprechend aufgeregt.

»Keine Angst, Kami«, sagte er und nahm meine Hand. »Ich bin bei dir.«

Ich lächelte ihm zu. Doch Thiago ging dazwischen.

»Du hast doch keine Ahnung, worum es hier geht«, meinte er und quetschte sich, bewaffnet mit dem Feuerzeug und dem Metallteil, zwischen uns. Das Ding hatte die Form eines Dreiecks. »Wisst ihr, was das ist?«, fragte er und hielt es stolz in die Höhe.

Woher hätten wir das wissen sollen?

»Das ist das Zeichen unserer Freundschaft.«

»Hä? Wie das?«, fragte ich. Ratlos wanderte mein Blick von dem Feuerzeug zu dem unscheinbaren Metalldreieck. Was hatte das zu bedeuten?

Thiago wandte sich mir zu.

»So ein Tattoo ist doch für die Ewigkeit, nicht?«, meinte er und entzündete das Feuerzeug.

Unsere Augen leuchteten im Schein der kleinen Flamme.

»Wie könnten wir unsere Freundschaft besser besiegeln als mit einem unauslöschlichen Zeichen?«

»Was soll das, Thiago?«, fragte Taylor beunruhigt.

Thiago gab ihm keine Antwort.

Er hielt das kleine Metalldreieck über die Flamme, bis es zu glühen begann, und nachdem er sich mit einem kurzen Seitenblick vergewissert hatte, dass ich ihn beobachtete, presste er es sich auf die Haut des linken Unterarms direkt neben dem Handgelenk.

Er schloss die Augen und biss die Zähne zusammen, um dem brennenden Schmerz zu trotzen.

»Thiago, hör sofort auf damit!«, rief ich verzweifelt, aber er dachte gar nicht daran.

Er hielt noch ein paar Sekunden durch und nahm das Dreieck dann weg.

Taylor und ich beugten uns vor. Wir konnten es kaum erwarten, das Ergebnis zu sehen.

Die Stelle war feuerrot … feuerrot und runzelig. Er hatte sich tatsächlich selbst eine Brandwunde zugefügt!

»Spinnst du?«, fragte ich fassungslos.

»Hat es sehr wehgetan?«, fragte sein Bruder voller Bewunderung.

»Alles halb so wild«, meinte er und drehte das Handgelenk so, dass wir das Kunstwerk bewundern konnten. In der stark geröteten Haut war das Dreieck klar und deutlich zu erkennen.

»Wer will als Nächstes?«

Taylor und ich sahen uns mit großen Augen an. Die Angst stand uns ins Gesicht geschrieben.

»Ich hab nicht vor, mir die Hand zu verbrennen!«, meinte Taylor.

»Das Handgelenk, nicht die Hand«, korrigierte Thiago, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Er sah die ganze Zeit über mich an. »Und was ist mit dir, Prinzessin? Willst du unsere Freundschaft in einem Tattoo verewigen oder bist du auch so ein Angsthase wie der da?«, fragte er ohne Rücksicht auf die Gefühle seines Bruders.

»Ich bin keine Prinzessin«, erwiderte ich ernst. Ich nahm allen Mut zusammen, kniete mich hin und schob den Ärmel meines Pullovers hoch. »Na, mach schon«, sagte ich, ohne mit der Wimper zu zucken.

Ich kann mich noch lebhaft an Thiagos stolze Miene erinnern.

Daran und an den fürchterlichen Schmerz, den seine bekloppte Idee auslöste.

1

Kami

Seit zwei Wochen hatte die Kälte in Carsville Einzug gehalten und den letzten Hauch von Sommerfeeling vertrieben. Der Herbst brachte jede Menge sintflutartigen Regen und heftige Stürme mit sich, sodass an Rausgehen und Spaßhaben nicht zu denken war. Davon abgesehen hätte ich auch gar nicht das Geld dafür gehabt. Die Situation meines Vaters hatte sich weiter zugespitzt und wir waren blank. Ich hätte alles dafür gegeben, wenn ich hätte in die Stadt gehen und mir im Mill’s einen Erdbeershake oder einen Kaffee mit einem Schoko-Muffin gönnen können … Aber das konnte ich vergessen. Seit der Pleite meines Vaters hatte ich ja nicht mal mehr ein Auto, um dorthin zu fahren.

Aber zum Glück war mir der Blick aus dem Fenster geblieben. Na ja, ob das wirklich ein Glück für mich war oder eher das Gegenteil, sei dahingestellt. Jedenfalls beobachtete ich seit einer Weile die junge Frau, die in einem knapp unter dem Po endenden Minirock ihre langen Beine präsentierte und Thiago Werkzeuge anreichte.

Und das bei acht Grad Außentemperatur! Hallo? Es musste ihr doch furchtbar kalt sein.

Wo hatte er die bloß aufgegabelt?

Ich musste zugeben, sie war bildschön. Sie hatte langes, dunkles Haar und passend dazu, so vermutete ich, strahlend blaue Augen. Sie war ziemlich weit weg, aber irgendwann hatte sie sich für einen Moment zu unserem Haus umgedreht und im spärlichen, sich durch die Wolken drängenden Licht dagestanden wie ein Star auf einer Bühne: groß, schlank, vollkommen.

Da konnte ich nicht mithalten. Ich war gerade mal einen Meter fünfundsechzig groß und meine straßenköterblonden Haare reichten mir nur bis zur Schulter. Die helleren Strähnen, durch die der Sommer sie aufpeppte, waren längst nachgedunkelt. Neben ihr fühlte ich mich wie eine mickrige Kröte …

Die starken Hände, die jetzt auf ihrer Taille ruhten, hatten mich zwei Wochen zuvor während eines Unwetters im Auto gestreichelt und fast in den Wahnsinn getrieben. Wenn ich die Augen schloss und daran dachte, pochte mir das Herz bis zum Hals. Glut stieg in mir auf, meine Schenkel pressten sich automatisch aneinander, und in Gedanken kehrte ich zurück zu dem Moment, in dem wir wild geknutscht hatten. Ich stellte mir vor, wie es weitergegangen wäre, wie es sich angefühlt hätte, wenn seine Hände meine Brüste berührt und seine Finger mir Lust verschafft hätten. Wie wir einander in die Augen gesehen hätten und unsere Körper …

Durch ein Klopfen an der Tür wurde ich unsanft aus meinem Tagtraum gerissen. Meine Mutter schaute kurz herein.

»Kamila, dein Vater und ich wollen mit dir reden. Komm bitte runter ins Wohnzimmer.«

Mehr sagte sie nicht. Sie schloss die Tür und ging hinunter.

Ich schaute wieder aus dem Fenster und sah, wie Thiago die fremde Schönheit küsste.

Tief in mir verspürte ich einen Schmerz. Wo genau vermochte ich nicht zu sagen. Ich glaube nicht, dass ein Herz aus Kummer oder aus Liebe – oder wie auch immer ihr es nennen wollt – zu bluten beginnt. Aber es tat höllisch weh.

Ich stand auf und zog die Vorhänge zu.

Was meine Eltern wohl jetzt von mir wollten?

Die letzten Wochen hatte ich in meinem Zimmer verbracht und laut Musik gehört, um das Geschrei zu übertönen. Ich wollte mich einfach nur wegbeamen.

Taylor hatte mich hin und wieder aus meinem Schneckenhaus gelockt, und wir fuhren in seinem Auto nach Stony Creek, um ins Kino zu gehen oder einfach nur bei Starbucks Kaffee zu trinken und uns stundenlang zu unterhalten. Unsere Beziehung entwickelte sich in rasendem Tempo weiter, mit jedem Tag wuchs er mir mehr ans Herz. Ich brauchte seine Gesellschaft, seine Herzenswärme, seine Küsse und seine Art, mich zum Lachen zu bringen, wie die Luft zum Atmen.

Keine Ahnung, wie er es machte, aber in seiner Gegenwart schienen sich alle Probleme in Luft aufzulösen. Ich konnte selbst Thiago vergessen. Wenn wir zusammen waren, nur Taylor und ich, waren wir wieder ein Herz und eine Seele, wie früher, nur dass jetzt als Bonus noch das gewisse Prickeln dazukam.

Aber wenn er nicht da war, fühlte ich mich hin- und hergerissen. Mein Herz liebte den einen und begehrte den anderen. Ich fühlte mich deshalb wie die hinterhältigste Bitch unter der Sonne.

Ich ging hinunter und betrat das Wohnzimmer. Meine Mutter saß auf dem weißen Sofa und starrte in das lodernde Kaminfeuer. Es war schon verrückt, dass es binnen zwei Wochen Herbst und saukalt geworden war.

Mein Bruder Cameron lag ausgestreckt auf dem anderen Sofa, seine Nintendo Switch in der Hand. Die Geräuschkulisse von Mario Bros. erfüllte den ganzen Raum. In den letzten Tagen war er extrem mies drauf gewesen. Er hatte niemanden an sich herangelassen und wollte auch nicht wie sonst im Garten spielen. Stattdessen hatte er die ganze Zeit vor dem Fernseher gesessen, gezockt oder sich Zeichentrickfilme reingezogen. Er war nicht wiederzuerkennen. Wo war der kleine Knirps geblieben, dessen Lachanfälle mich selbst noch aus dem tiefsten Loch zu holen vermochten?

»Was ist los?«, fragte ich und ließ mich neben ihn auf die Couch fallen.

Mein Vater, der die Holzscheite umgeschichtet hatte, legte den Schürhaken beiseite und sah meine Mutter an.

»Kinder … Euer Vater und ich werden uns scheiden lassen.«

Mein Verstand stockte für einen Moment und die Geräusche der Videokonsole verstummten.

»Was?«, sagte ich, als ich mich von dem ersten Schock erholt hatte.

Meine Eltern stritten ständig, ja. Meine Mutter war unerträglich, ja. Aber, verdammt, sie liebten sich doch, oder? Sie hatten sogar einen Fehltritt überstanden. Meine Mutter hatte meinen Vater betrogen und er hatte ihr verziehen …

»Wir haben das Für und Wider abgewogen und sind zu dem Schluss gekommen, dass es nicht gut für euch ist, in einem Haus aufzuwachsen, in dem nur noch Streit herrscht«, sagte mein Vater.

»Sie ist doch der Streithahn, nicht du«, sagte ich und zeigte anklagend auf meine Mutter.

Angst, Wut und Hilflosigkeit brodelten in mir wie in einem Dampfkochtopf kurz vor der Explosion.

»Kamila«, herrschte mich meine Mutter wütend an. »Das ist kein Spiel. Was verstehst du schon davon? Manchmal geht die Liebe zu Ende und …«

»Oh nein, nicht schon wieder die Leier von der kaputten Liebe«, gab ich aufgebracht zurück und stand auf. »Nicht die Liebe ist am Ende, sondern der Geldstrom ist versiegt!«

Ich sah meinen Vater an, doch der wich mir aus und blickte zu Boden.

Mein Gott, er wollte das bestimmt alles nicht.

»Wie kannst du es wagen …?«

»Das fragst du noch?«, tobte ich. Ich war völlig außer mir. »Bei der erstbesten Gelegenheit wendest du dich von ihm ab! Kaum läuft es schlecht und du musst mal für eine Weile auf dein Spa, dein Cabrio und deinen Kaufrausch verzichten, schreist du gleich nach Scheidung!«

»Kamila, es reicht«, unterbrach mich mein Vater.

»Ich lasse nicht zu, dass du so mit mir sprichst, du ungezogene Göre«, bellte meine Mutter dazwischen.

»Ach, ich soll ungezogen sein?«, konterte ich. Es war nicht zu fassen.

Meine Mutter wollte etwas erwidern, doch mein Vater schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Genug jetzt!«, sagte er entschieden, und das wirkte. »Da gibt es nichts zu diskutieren. Es ist beschlossene Sache, Kamila. Wir werden uns scheiden lassen, und ich kann durchaus verstehen, dass dir das nicht gefällt. Wir müssen darüber reden, wie es von jetzt an weitergehen soll, und vor allem …«

»Ich gehe mit dir«, sagte ich wie aus der Pistole geschossen. »Ich will nicht bei ihr leben. Ich werde dich nicht alleinlassen, Dad.«

»Ihr bleibt bei eurer Mutter«, erklärte mein Vater und sah mich und meinen Bruder an.

Den hatte ich völlig vergessen.

Cam saß wie ein Häufchen Elend da und wusste nicht, wie ihm geschah.

»Ich möchte die Sache so zivilisiert wie möglich über die Bühne bringen. Ihr bleibt hier im Haus und ich ziehe in eine Mietwohnung. Es ist alles organisiert.«

»Wie bitte?« Meine Augen füllten sich mit Tränen. »Dad, ich will nicht, dass du gehst.« Ich fühlte mich hilflos wie ein kleines Kind. Der Boden brach mir unter den Füßen weg.

»Wir sehen uns an den Wochenenden.«

»Nun, das wird der Richter entscheiden, Roger. Du solltest dem Kind nichts versprechen, was noch nicht klar ist.«

Ich sah meine Mutter hasserfüllt an.

»Nenn mich nicht ›Kind‹ und komm mir jetzt nicht mit richterlichen Entscheidungen. Wenn ich meinen Vater sehen will, dann werde ich das tun, kapiert?«

»Niemand hat gesagt, dass du ihn nicht sehen darfst«, sagte meine Mutter gepresst. »Aber solange du noch minderjährig bist, bestimme ich, wo du dich aufhältst, und du wirst tun, was ich dir sage.«

Ich stieß ein sarkastisches Lachen aus.

»Im Januar werde ich achtzehn.« Die Tatsache erleichterte mich ungemein. »Dir bleiben also noch genau zweieinhalb Monate, in denen du mir vorschreiben kannst, was ich zu tun und zu lassen habe. Dann war’s das.«

»Kamila …«, rief mein Vater mich zur Ordnung.

»Nein!«, protestierte ich genervt. »Wenn ich volljährig bin, ziehe ich zu dir, es ist mir egal, was du sagst.«

Danach stapfte ich wortlos davon. Ich hätte vor Wut platzen können.

Es war einfach unfassbar.

Und ich hatte geglaubt, meine Mutter könnte nicht tiefer sinken.

In meinem Zimmer warf ich mich aufs Bett, schlang die Arme um mein Kissen und weinte. Die Ungewissheit, was mich erwartete, machte mir Angst. Wie konnte sie es wagen, meinen Vater zu verlassen? Sie war ihm untreu gewesen. Sie hatte uns alle hinters Licht geführt. Sie hatte zwei Familien zerstört. Es war ihre verdammte Schuld, dass die kleine Schwester von Taylor und Thiago gestorben war und dass Katia Di Bianco das verloren hatte, was sie am meisten liebte auf der Welt. Eigentlich müsste sie das Haus verlassen. Sie, die Tochter aus reichem Haus, hatte sich immer nur aushalten lassen. Von Kindheit an war sie immer nur darauf aus gewesen, dass jemand für sie aufkam, damit sie einen auf glückliche Familie machen, sich in irgendwelche Retreats zurückziehen und im Ausverkauf schicke Chanel-Handtaschen kaufen konnte.

Die Frau war so lächerlich.

Ich weinte mich in den Schlaf, und als ich nach ein paar Stunden wieder aufwachte, war es schon dunkel, und der Wind schlug gegen die Fensterscheibe.

Ich setzte mich auf.

Jemand klopfte an meine Tür.

Ich gab keine Antwort.

Sie öffnete sich, und herein kam das Wesen, das ich in diesem Haus am meisten liebte.

»Kami«, sagte Cameron, während er in mein Bett schlüpfte. »Was ist eine Scheidung?«

Ich schloss die Augen und umarmte ihn.

Am nächsten Tag fuhr uns mein Vater zur Schule. Erst setzte er mich ab und wuchtete mein Fahrrad aus dem Heck des Wagens, dann wendete er, um meinen Bruder zum Gebäude der Elementary School zu bringen, die mit meiner Highschool durch einen langen Gang verbunden war, in dem immer irgendwelche Werke von den Leuten aus dem Kunstkurs ausgestellt waren. Da ich kein Auto mehr besaß, fuhren uns meistens unsere Eltern, sofern ich nicht das Fahrrad nahm. Pech für Cam, denn sein Unterricht fing erst eine Stunde später an, aber er vertrieb sich die Zeit mit seiner Spielekonsole.

Ich ging über den Parkplatz und tauchte in das Getümmel auf den Fluren ein. Mir war die Lust vergangen, noch ein wenig draußen bei den anderen zu bleiben, die rauchten, quatschten, lachten und sich für die Tollsten hielten. Zwischen Kate und mir herrschte immer noch Funkstille und die anderen Cheerleaderinnen folgten ihr wie eine Herde auf Schritt und Tritt.

Am Spind angekommen, schnappte ich mir die Bücher für die nächste Stunde. Bald würde der November anbrechen und damit die Zeit der Prüfungen. Außerdem mussten wir unsere Referate ausarbeiten und vortragen und zusätzlich noch alle möglichen anderen außerschulischen Aktivitäten absolvieren, die Voraussetzung waren, wenn man an einer renommierten Universität aufgenommen werden wollte.

Es war schon schwierig genug, überhaupt einen Platz in Yale zu ergattern, aber nun brauchte ich zu allem Überfluss auch noch ein Stipendium. Das setzte mich enorm unter Druck. Ich musste alles geben, meine Zukunft und meine Unabhängigkeit hingen davon ab … einfach alles.

»Hallo, Süße«, flüsterte mir jemand von hinten zu.

Schmunzelnd drehte ich mich um und lehnte mich zurück.

»Hi«, sagte ich, beseelt von Taylors Wärme, die ich an dem Tag mehr denn je brauchte.

»Ich war eigentlich davon ausgegangen, dass ihr heute mit mir zur Schule fahrt«, sagte er und schob eine Haarsträhne hinter mein Ohr.

»Mein Vater hat darauf bestanden, uns selbst zu bringen«, erwiderte ich. »Ich habe ganz vergessen, dir Bescheid zu geben, sorry«, schob ich schnell nach, als mir mein Versäumnis klar wurde.

»Kein Problem«, sagte er. Sein Blick wanderte über mein Gesicht, während er mir mit den Fingern sachte über die Wangen strich. »Hast du geweint?«, fragte er unvermittelt.

»Nein«, erwiderte ich reflexartig.

»Kami …«

Ich drehte mich schnell um, schloss den Spind ab und flüchtete.

»Wir sehen uns im Literaturkurs«, sagte ich im Gehen und fragte mich, warum ich es nicht über mich gebracht hatte, ihm von der Sache mit meinen Eltern zu erzählen.

In erster Linie wollte ich kein Mitleid. Die bedauernden Blicke könnte ich nicht ertragen. Was bei mir zu Hause abging, wollte ich, so gut es ging, geheim halten.

»Hey, Kami, warte!«, rief Ellie vom anderen Ende des Flures. Ich blieb stehen, bis sie mich eingeholt hatte. »Wie war dein Wochenende?«, fragte sie ein wenig betreten.

Es war alles nicht mehr wie vorher.

Ich machte ihr keine Vorwürfe.

In den letzten Wochen hatte ich mich von allen zurückgezogen, Taylor ausgenommen.

»Es gab schon bessere«, erwiderte ich und begab mich in den Klassenraum, wo wir gleich bei Mr Trivequi Unterricht haben würden.

»Hast du von der Party am Wochenende gehört?«, ging sie über meinen düsteren Kommentar hinweg. »Weil Halloween diesmal auf einen Tag unter der Woche fällt, wollen sie die Party am Samstag bei Aron steigen lassen.«

Puh, dachte ich bei mir. Party bei Aron Martin.

Allein bei dem Gedanken bekam ich schon Kopfschmerzen, aber Halloween war voll mein Ding. Ich liebte es, mich zu verkleiden, mein Zuhause zu dekorieren, Süßkram zu futtern … Doch in dem Jahr musste das alles ausfallen. Ich wollte nur Cam auf seiner Sammeltour begleiten und mir dafür als Kostüm lediglich ein Betttuch mit zwei Sehschlitzen überstreifen. Ich sah schon vor mir, wie Taylor sich kaputtlachte, während wir beide mit meinem kleinen Bruder an der Hand das Viertel abklapperten.

»Du bist dabei, oder?«, fragte Ellie voller Vorfreude.

»Ich weiß nicht, Ellie«, sagte ich und biss mir auf die Lippe. Ich setzte mich in die erste Reihe und Ellie ließ sich auf den Stuhl neben mir sinken.

»Ach, komm schon«, sagte sie enttäuscht. »Du schwebst seit Wochen wie ein Skelett mit Grabesmiene durch die Flure und sprichst mit niemandem. Also raus mit der Sprache: Was ist los? Wir sind doch beste Freundinnen.«

Ja, das waren wir. Von all meinen Freundinnen war Ellie diejenige, die ich am liebsten hatte, der ich am meisten vertraute und mit der ich mich am besten verstand, aber in der letzten Zeit kam ich mit anderen Leuten einfach nicht mehr klar …

»Kate will auch, dass du kommst«, sagte sie, als ob mich das interessieren würde. »Sie hat gesagt, wir sollen uns alle gleich verkleiden, wie ihr das früher in der Schule gemacht habt.«

Ellie war die Einzige, die erst später dazugestoßen war. Sie kam aus einer großen Stadt wie New York und war folglich nicht so engstirnig wie die Leute von hier. Deswegen hatten wir auch gleich so einen guten Draht zueinander gehabt. Sie war frei von albernen Vorurteilen.

»Wenn ich komme, werde ich mich so verkleiden, wie ich will, und nicht, wie Kate es vorschreibt.«

Ellies Miene hellte sich auf.

»Heißt das, du kommst?«

Ich sah die Freude in ihren braunen Augen aufblitzen und da konnte ich unmöglich Nein sagen.

»Es wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben.«

Ellie umarmte mich stürmisch. In dem Moment betrat der Lehrer den Raum.

»Holt Papier und Stift heraus. Nicht angekündigte Klausur zum Thema Matrizen.«

Ellie und ich sahen uns entgeistert an.

Oh, Karma, was hast du gegen mich?

Die Klausur lief so lala. In den letzten Wochen hatte ich intensiv gelernt, aber es war nicht viel hängen geblieben. Mein Kopf war so voll mit anderen Dingen, dass es mir schwerfiel, mich zu konzentrieren. Mein Blick war über die Buchstaben und Zahlen gewandert, aber ich war die ganze Zeit mit meinen Problemen beschäftigt: den Zwistigkeiten meiner Eltern, dem Beef mit meinen vermeintlichen Freundinnen und dem Hin und Her mit Taylor und Thiago. Ich konnte nur inständig hoffen, dass es noch für eine brauchbare Note reichte, denn es genügte nicht, einfach nur bestanden zu haben.

Beim Verlassen des Klassenraums vibrierte das Handy in der hinteren Hosentasche meiner Jeans. Ich weiß, ich weiß, das Handy gehört nicht in die Hosentasche, aber keiner ist unfehlbar.

Ich schaute auf das Display.

Meine Mutter.

Ich drückte sie weg.

Ich dachte nicht daran, mit ihr zu reden. Und das würde den Rest des Schuljahres so bleiben.

Sie rief wieder an.

Und ich drückte sie wieder weg.

»Wer ist das?«, fragte Ellie, die still neben mir herging. Wir waren auf dem Weg zu den Räumen der Naturwissenschaften.

»Meine Mutter.«

Ellie zog eine Grimasse, als stünde der Leibhaftige vor ihr, und wir mussten beide lachen.

In dem Moment hörten wir die Stimme des Direktors über die Lautsprecher.

»Kamila Hamilton, bitte umgehend zum Büro des Direktors.«

Alle Köpfe drehten sich zu mir um.

»Was hast du denn jetzt wieder angestellt?«

»Nichts!«

Mir wurde mulmig, als mir klar wurde, dass es vielleicht einen Zusammenhang zwischen den weggedrückten Anrufen meiner Mutter und dem Aufruf des Direktors gab. Vielleicht war etwas mit meinen Eltern oder meinen Großeltern oder was weiß ich. Fuck!

»Bis später«, sagte ich und machte auf dem Absatz kehrt.

Wenige Minuten später stand ich vor dem Büro von Direktor Harrison. Er erwartete mich schon.

»Guten Tag, Miss Hamilton, treten Sie ein.« Er bat mich, Platz zu nehmen.

»Was habe ich jetzt schon wieder falsch gemacht?«, fragte ich nervös.

Der Direktor setzte sich mir gegenüber und seufzte.

»Sie zur Abwechslung mal nichts«, erwiderte er ruhig. Ich wartete gespannt, dass er weiterredete. »Ihr Bruder Cameron hingegen …«, hob er an, doch in dem Moment klopfte es an der Tür.

»Herein!«, rief der Direktor, und ich drehte mich um, weil ich wissen wollte, wer der Besucher war. Die Tür ging auf und es erschien der Hauptdarsteller meiner nächtlichen Fantasien.

Ich spürte ein Ziehen im Magen, als sich unsere Blicke trafen. Aber es war nur für eine Sekunde. Er wandte den Blick so schnell ab, dass ich keine Chance hatte, mich in den dunkelgrünen Augen zu verlieren.

»Ah, Mr Di Bianco«, sagte Direktor Harrison, »ich war gerade dabei, Miss Hamilton zu erklären, warum ich sie zu mir gebeten habe.«

»Guten Tag, Mr Harrison. Ich wollte direkt mit Kamila sprechen«, sagte er. Meinen Namen aus seinem Mund zu hören, löste in mir einen prickelnden Schauer aus.

Wie sexy er aussah … Das dunkelblonde Haar lässig zurückgekämmt, der Dreitagebart und die große beeindruckende Statur … Wie machte er das? Wie schaffte er es bloß, so verdammt attraktiv zu sein?

»Was ist mit Cameron? Geht es ihm gut?«, fragte ich, als mir wieder einfiel, was der Direktor angesprochen hatte, bevor Thiago hereingeschneit war.

»Er hat sich wieder geprügelt«, sagte der Direktor mit ernster Miene. Thiago positionierte sich so, dass er uns beide im Blick hatte.

»Also, offen gesagt glaube ich, dass die Schlägerei nicht von Cameron ausging, Mr Harrison. Ich habe ihn in den letzten Wochen beobachtet und festgestellt, dass er sehr isoliert ist. Er spielt nicht mit den anderen Kindern. Ob im Hof oder drinnen, er setzt sich allein hin und spielt mit seinem Nintendo. Ich wollte Sie nicht informieren, solange ich mir nicht sicher war, aber ich denke, dass Cameron von seinen Schulkameraden gemobbt wird.«

Etwas in mir zerbrach.

»Was?«, sagte ich mit zittriger Stimme.

»Sind Sie sicher, Mr Di Bianco? Sie wissen, dass wir an dieser Schule bei Übergriffen eine Null-Toleranz-Politik fahren. Wenn Sie den Verdacht haben, dass jemand …«

»Es handelt sich um Geordie Walker, Mr Harrison«, sagte Thiago, während sein Blick auf mir ruhte. »Offensichtlich ist er der Anführer der Klasse, und die anderen tun, was er sagt.«

»Danis Bruder?«, fragte ich ungläubig.

»Haben Sie einen Beweis dafür, Mr Di Bianco? Denn eine solch gravierende Anschuldigung …«

»Mein Bruder kommt seit Wochen mit einem grün und blau geschlagenen Gesicht nach Hause«, sagte ich. Auf einmal wurde mir so manches klar.

»Herr Direktor, ich unterrichte die Klasse erst seit einigen Wochen in Sport, aber schon nach wenigen Tagen war mir klar, dass da etwas nicht stimmt.«

In der Tat. Vor zwei Wochen hatte der Sportlehrer der Kleinen aus persönlichen Gründen seinen Dienst quittiert und Thiago war eingesprungen. Seit zwei Wochen redete Cam von nichts anderem als von seinem neuen Lehrer, unserem Nachbarn, und davon, wie viel sie lernten und wie viel Spaß sie dabei hatten. Und seit zwei Wochen lag er mit einer plötzlichen Begeisterung für Ballsport unserem Vater in den Ohren, er brauche unbedingt einen Basketball und einen Korb, damit er üben und seinem Idol nacheifern könne.

»Was haben sie mit ihm gemacht?« Ich war auf hundertachtzig.

»Ich habe beobachtet, dass sie über Cameron lachen, ihn beleidigen und ihn schlagen. Die Kollegen und ich haben immer wieder versucht einzugreifen, aber er behauptet jedes Mal, es sei alles nur ein Spiel.«

Ich war fassungslos. Mein kleiner Bruder, mein süßer kleiner Bruder, der keiner Fliege was zuleide tun konnte.

»Und was macht Sie so sicher, dass es kein Spiel ist?«, fragte der Direktor.

Ich sah ihn erbost an. Das meinte der doch wohl nicht ernst! Das war ja schon ehrenrührig.

»Einen kleinen Jungen den ganzen Morgen auf der Schultoilette einzuschließen, ist wohl kaum ein Spiel, auf das man sich freiwillig einlässt, Mr Harrison«, erwiderte Thiago mit eisigem Blick.

Der Direktor hüstelte und begann, in einer Art Übersprungshandlung irgendwelche Papiere auf seinem Schreibtisch zu ordnen.

Jetzt dämmerte mir, wie der Hase lief. Geordie Walker genoss, ebenso wie sein Bruder Dani, an der Schule eine Sonderbehandlung, weil die Eltern zu den größten Sponsoren gehörten. Das wussten alle. Sie hatten eine astronomische Summe hingeblättert, damit Dani nicht aus dem Basketballteam geflogen war – eine totale Ungerechtigkeit, die mein Blut immer noch in Wallung brachte.

»Die Klassenlehrerin hat versucht, sich mit Ihrer Mutter in Verbindung zu setzen, damit sie hierherkommt und sie ihr erklären kann, was da vor sich geht, aber Ihre Mutter hat gesagt, wir sollen mit Ihnen reden.«

»Sie hat vorhin angerufen«, sagte ich und verschwieg dabei, dass ich sie absichtlich weggedrückt hatte.

»Herr Direktor, ich hätte gerne, dass Miss Hamilton mich zur Elementary School begleitet, damit wir mit den Lehrern sprechen und eine Lösung finden können.«

Der Direktor sah mich eine Weile an und stimmte dann zu.

»Ja, versuchen Sie, eine Lösung zu finden. Mensch, das sind sechsjährige Kinder, die Unschuld in Person.«

Wie sehr er irrte. Je kleiner die Kinder, desto grausamer sind sie. Ich schwor mir, ich würde nichts unversucht lassen, bis mein Bruder sich in dieser Schule wieder sicher fühlte.

Ich verließ das Büro, gefolgt von Thiago.

»Ich bringe dich zu Maggie, Camerons Lehrerin. Sie wollte unbedingt mit jemandem aus der Familie reden, und da du gerade die einzige Ansprechpartnerin bist …«

»Wo ist mein Bruder jetzt?« Ich wollte ihn so gerne in den Arm nehmen.

»Im Lehrerzimmer. Ich habe ihm gesagt, er kann dortbleiben, bis ich zurück bin.«

Ich folgte Thiago durch die verlassenen Flure, die anderen waren ja alle im Unterricht. Es kam mir ewig vor, bis wir den Gang mit den Kunstwerken erreichten, der uns zum Bereich der Elementary School führte.

»Ich muss gestehen, ich habe mir immer mal wieder die Bilder angeschaut, in der Hoffnung, darunter eins von dir zu entdecken«, sagte Thiago. Offenbar wollte er die Stimmung auflockern.

Ich hatte oft vor den Wänden gestanden und mir gewünscht, ich hätte den Mut, meine Gemälde oder Zeichnungen dort auszustellen.

Aber ich hatte mich nie getraut.

»Da wirst du keins von mir finden«, erklärte ich achselzuckend.

Thiago sah mich kurz an und ging weiter.

Schließlich betraten wir das Gebäude der Elementary School, das vollkommen anders gestaltet war als die Highschool. Die Wände waren – anders als in unserem in Grau und Weiß gehaltenen Gebäude – in bunten Farben gestrichen, und überall fand man selbst gemalte Bilder von den Kindern. Unzählige kleine Mäntel hingen an den Haken und in den Ecken lagen überall Kinderrucksäcke.

Als Thiago die Tür zum Lehrerzimmer öffnete, lag Cameron eingerollt auf dem Sofa und schlief. Tränen stiegen mir in die Augen.

Wie musste er gelitten haben, während wir ihn bestraft und wegen seines seltsamen Benehmens in den letzten Wochen mit ihm geschimpft hatten …

Ich hätte nicht auf meine Mutter hören dürfen. Ich wusste, dass Cam sich niemals prügeln würde, zumindest nicht, solange man ihn nicht provozierte.

»Ich freue mich, dass du gekommen bist, Kamila«, sagte hinter mir eine sanfte Stimme.

Ich drehte mich um und da stand sie.

Die hübsche Frau, die Thiago am Tag zuvor vor seinem Haus geküsst hatte. Die mit einem äußerst knappen Minirock ihre Reize spielen ließ und ihm gleichzeitig brav die Werkzeuge reichte.

»Ich bin Maggie Brown«, sagte sie mit einem supersüßen Lächeln, bei dem sie ihre perfekten weißen Zähne zeigte, »Camerons Lehrerin. Wir müssen reden.«

Ich wäre beinahe umgefallen.

Ja, sie hatte tatsächlich hellblaue Augen.

Ja, sie war umwerfend schön.

Und ja, sie arbeitete jetzt eng mit Thiago zusammen.

2

Kami

»Am besten, wir reden draußen«, sagte sie und gab mir mit einem Wink zu verstehen, dass ich ihr folgen sollte. Über einen langen Flur gelangten wir zu einer Tür mit einem Schild auf dem »Die Orang-Utans« stand.

Wir betraten zu dritt den Klassenraum und ich fühlte mich in meine eigene Grundschulzeit zurückversetzt. Überall bunte Farben und Zeichnungen, auf einer Wand aufgemalt das Einmaleins, auf der anderen das Alphabet.

»Als Erstes wollte ich dich fragen, wie es bei euch zu Hause läuft«, fragte sie, während sie sich an den Lehrertisch lehnte und ich mich an ein Pult setzte. Thiago stellte sich neben sie und wie in einer Art Zwang konnte ich meinen Blick nicht von ihren sich fast berührenden Körpern abwenden.

»Warum fragst du?« Ich dachte nicht daran, sie zu siezen. Sie war vielleicht gerade mal fünf Jahre älter als ich.

»Vom Beginn des Schuljahres an hat dein Bruder sich von der Klasse abgesondert. Das wurde von den anderen als Schwäche gedeutet, und sie haben angefangen, ihn zu provozieren. Das kindliche Verhalten ist manchmal …«

»Und warum hast du nichts dagegen unternommen?«, attackierte ich sie wütend. Ich war ziemlich auf Krawall gebürstet. »Wie Direktor Harrison eben gesagt hat, sie sind sechs Jahre alt. Das sind Knirpse.«

»Diese Schule legt Wert darauf, dass sich die Schüler in Freiheit entwickeln und ihre eigene Identität innerhalb der …«

»Verschon mich mit dem Geschwurbel. Mein Bruder wird misshandelt und keiner unternimmt etwas dagegen!«

»Kamila«, warf Thiago ein. Er sah mich tadelnd an.

Ich wandte mich ihm zu.

»Hör mit dem Getue auf.« Ich war in Rage. »Seit zwei Wochen merkst du, dass hier was schiefläuft, und hältst es nicht mal für nötig, mit mir zu reden? Wir sind Nachbarn, verdammt!«

Ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe. Vielleicht, damit sich diese Maggie beim nächsten Mal vorsah und nicht halb nackt durch den Garten ihres Lovers turnte. Mein Bruder durfte sie keinesfalls so zu Gesicht bekommen. Er würde jeglichen Respekt verlieren.

»Ich habe vorhin beim Direktor erklärt, warum. Ich wollte rausfinden, was da läuft, bevor ich …«

»Das sieht doch ein Blinder mit Krückstock«, gab ich zornig zurück. »Oder findest du es normal, dass ein sechsjähriger Junge überall Kratzer und blaue Flecken hat?«

Als ich es aussprach, wurde mir klar, wie dumm ich gewesen war. Warum war ich nicht von selbst darauf gekommen? Wie hatte ich Cameron nur all die Ausflüchte abkaufen können? Von wegen, das seien die Brombeeren gewesen oder er sei beim Fußballspielen hingefallen …

Es war meine Schuld. Ich war so sehr mit meinem Leben und meinen Problemen und denen meiner Eltern beschäftigt, dass ich die Zeichen nicht bemerkt hatte. Der arme Cam.

»Deswegen werden wir jetzt einschreiten, Kamila«, sagte Maggie ruhig. »Aber du musst mir sagen, ob es bei euch zu Hause eine Baustelle gibt, von der wir wissen sollten.«

Ich sah erst zu Thiago, der keine Miene verzog, aber auf mich dennoch besorgt wirkte, und dann zu ihr.

»Meine Eltern wollen sich scheiden lassen«, gestand ich. Ich vermied es, Thiago dabei anzusehen, weil ich die zu erwartende Schadenfreude in seinem Blick nicht ertragen konnte. Er hatte ja mehrfach deutlich gemacht, wie sehr er sich wünschte, dass meine Familie genauso zerstört würde wie seine.

Maggie sah mich bedauernd an.

Jetzt schau nicht so, hätte ich ihr am liebsten entgegengeschrien, aber ich riss mich zusammen.

»Also ja. Man kann sagen, die Umgebung, in der mein Bruder lebt, ist gerade nicht die gesündeste …«

»Mir schwante schon so was, als ich die Zeichnung gesehen habe, die dein Bruder vor ein paar Tagen gemalt hat.« Sie ging um den Tisch herum und kramte in der Schublade.

Der Anblick des Bildes machte mich unglaublich traurig.

Man sah verschiedene Strichmännchen. Die Figur auf der linken Seite sollte offenbar meine Mutter darstellen. Sie war überproportional groß und befand sich abseits von den anderen. Als Augen hatte mein Bruder zwei grüne Kreise gemalt. Mir drängte sich sofort das klassische Bild der Gurkenscheiben auf, die den Frauen in den Schönheitssalons auf die Lider gelegt werden. Auf der anderen Seite am Rand befand sich mein Vater, leicht zu erkennen durch die ausgeprägte Wampe. Er stand mit dem Rücken zu den anderen und hatte das Handy am Ohr. Cam hatte sich selbst in die Mitte der Zeichnung gesetzt, mit seinem Leguan an der Seite. Aber am meisten überraschte mich, wie er mich gezeichnet hatte. Ich war winzig klein, hatte kurzes blondes Haar und ein großes trauriges Gesicht. Aus meinen Augen flossen hellblaue Tränen …

So sah mich also mein Bruder?

So sah er uns alle?

Fassungslos starrte ich das Bild an.

Aus den Augenwinkeln glaubte ich zu sehen, wie Thiago die zur Faust geballte Hand hob und dann wieder sinken ließ.

»Kleine Kinder leiden sehr stark, wenn ihre Eltern sich trennen. Häufig ziehen sie sich in sich selbst zurück. Wahrscheinlich hat er euch deswegen nicht erzählt, was vorgefallen ist.«

»Und was machen wir nun?«, fragte ich leise.

»Ich würde gerne mit euren Eltern sprechen, aber beide haben erklärt, dass sie sich momentan außerstande fühlen, sich mit mir zu treffen. Ich habe mitbekommen, dass einige Kinder zu Cam gesagt haben, sein Vater sei ein Dieb, deswegen habe ich so nachgebohrt, wie es bei euch zu Hause aussieht. Ich wollte mir ein Bild machen, um zu überlegen, wie wir weiter vorgehen können. Ich möchte nicht schon wieder jemanden vom Unterricht ausschließen, das schürt nur noch mehr Unfrieden und …«

»Dieb?«, fiel ich ihr ins Wort, nachdem mir klar wurde, was sie da eben gesagt hatte. »Wer hat das behauptet?«

Maggie blickte kurz zu Thiago. Die Situation war ihr sichtlich unangenehm.

»Geordie sagt, dein Vater hätte seinem eine Menge Geld gestohlen.«

»Das stimmt nicht!«

»Ich gebe nur wieder, was sich die Kinder untereinander so erzählen.«

Ich stand auf.

Da konnte nur einer dahinterstecken.

»Ich habe dir alles gesagt, was du wissen musst«, sagte ich. Ich wollte nur noch weg.

»Es wäre mir recht, wenn du ab und an mal in der Pause vorbeischauen und nach Cameron sehen könntest. Manchmal wirkt die Anwesenheit eines erwachsenen Familienangehörigen auf die anderen Kinder einschüchternd, und sie hören auf, ihr Opfer zu misshandeln.«

Ich sah sie ungläubig an.

»Natürlich schaue ich in den Pausen vorbei. Da kannst du Gift drauf nehmen«, sagte ich bestimmt. »Und ich werde jedem eine schallende Ohrfeige verpassen, der meinen kleinen Bruder auch nur anrührt.«

Dann stürmte ich hinaus.

»Kamila!«, hörte ich Thiago rufen, als ich durch den Flur davoneilte.

Ich blieb stehen und atmete tief ein, bevor ich mich umdrehte.

»Was willst du?«

Er kam mit großen Schritten auf mich zu.

»Du kannst doch nicht zu einer Lehrerin sagen, dass du anderen Kindern eine scheuern willst. Spinnst du?!«

»Wenn den kleinen Bastarden sonst keiner Einhalt gebietet, werde ich das tun.« Ich funkelte ihn zornig an.

»So funktioniert das nicht.«

»Ach, nein? Wie denn, deiner Meinung nach?«

Thiago schaute rasch nach rechts und links und zog mich hinter eine Säule direkt vor einem Putzschrank.

»Beruhige dich, ja?« Seine grünen Augen blitzten, wie ich es noch nie gesehen hatte. »Ich sorge dafür, dass ihm niemand mehr ein Haar krümmt.«

Eigentlich hätte ich ihn am liebsten zum Teufel gejagt, doch als ich das hörte, änderte ich meine Meinung.

»Echt jetzt?«, fragte ich überrascht.

Thiago nickte wortlos und sah mich so eindringlich an, wie ein Arzt seinen Patienten mustert, um dessen Gesundheit er sich Sorgen macht.

»Geht es dir gut?«, fragte er, ohne den Blick abzuwenden.

Ich verspürte ein Kribbeln in den Händen. Am liebsten hätte ich sie um seinen Nacken geschlungen und ihn an mich gezogen, um seine Lippen wieder auf meinen zu spüren.

»Es ging mir noch nie besser«, erwiderte ich kühl.

»Das mit deinen Eltern tut mir leid«, sagte er. Das entlockte mir ein hämisches Lachen.

»Beleidige nicht meine Intelligenz«, erwiderte ich und trat einen Schritt zurück. »Das wolltest du doch immer, oder hast du schon vergessen, wie sehr du meine Familie hasst?«

Thiagos Augenlider flatterten. Zorn blitzte in seinen Augen auf.

»Ich werde niemals vergessen, dass deine Mutter mit ihrem Egoismus meine Schwester getötet hat, da kannst du dir sicher sein. Aber deshalb wünsche ich noch lange nicht, dass dir oder deinem Bruder etwas Schlimmes passiert.«

Wow, damit hatte ich nicht gerechnet.

Plötzlich verspürte ich den unbändigen Wunsch, von ihm berührt, umarmt, geküsst zu werden.

Ich dachte nicht lange nach.

Ich umschlang seinen Hals und stellte mich auf die Zehenspitzen.

Doch Thiago stoppte mich.

Er legte seine Hände auf meine Taille und schob mich sanft von sich.

»Nicht«, sagte er ernst. Er atmete vernehmlich durch die Nase ein. »Das dürfen wir nicht tun, aus Tausenden von Gründen, aber der entscheidende ist, dass du mit meinem Bruder zusammen bist, verdammt.«

Meine Hände lösten sich von seinem Nacken, als hätte ich einen Stromschlag bekommen.

Meine Augen füllten sich mit Tränen.

Was war ich für eine miese Bitch.

Thiago sah mich an. Für einen kurzen Moment sah es so aus, als bereute er seine Worte, doch dann meinte er entschlossen:

»Wenn es um Cameron geht, bin ich für dich da. Aber ansonsten bitte ich dich, Abstand zu halten.«

Ehe ich mich’s versah, war er verschwunden.

Ich blieb noch eine Weile bei meinem Bruder und sprach mit ihm. Ich sagte, ich wüsste jetzt, was los sei, und dass ich nicht verstehen könne, warum er mir nichts davon erzählt hatte.

»Ich bin keine Petze.«

Maggie hatte mir erlaubt, Cam in den Hof »der Großen« mitzunehmen, und nachdem ich ihm am Schulkiosk ein Eis gekauft hatte, setzten wir uns auf den Rasen und unterhielten uns. Weiter weg spielten seine Kameraden derweil Fußball.

»Cam, das hat nichts mit Petzen zu tun, okay? Niemand hat das Recht, dir wehzutun. Niemand. Hörst du?«

Mein Bruder sah mich nicht an. Sein Blick war auf die Fußball spielenden Jungs gerichtet, aber irgendwie verloren, als würde er seine Umgebung nicht wirklich wahrnehmen.

»Cam …«, nahm ich einen neuen Anlauf, »dass Mom und Dad sich scheiden lassen, ist traurig, aber du kannst mit mir darüber reden. Ich bin auch traurig, weißt du?«

Endlich hob er den Blick.

»Du auch?«

»Ja klar.« Es tat mir in der Seele weh, ihn so zu sehen. »Aber manchmal ist es besser, wenn Eltern sich trennen. Oder findest du es gut, wenn sie die ganze Zeit streiten?«

Cam riss ein paar Grashalme aus und warf sie weg.

»Ich will nicht, dass Dad allein ist«, sagte er mit Tränen in den Augen.

Mir wurde schwer ums Herz.

Ich schlang von hinten meine Arme um ihn.

»Dad ist nicht allein.« Er begann zu schluchzen und ich drückte ihn fest an mich. »Wir besuchen ihn an den Wochenenden, und dann können wir uns bis in die Puppen eine Folge von Star Wars nach der anderen reinziehen, weil Mom nicht da ist und uns ins Bett schickt.«

Cam drehte sich zu mir um und ein Lächeln huschte über sein tränenüberströmtes Gesicht.

»Alle? In einem Morathan?«

»Es heißt Marathon. Na klar.«

Die Aussicht, weit weg von unserer Mutter hin und wieder ein wenig über die Stränge schlagen zu können, heiterte ihn auf.

Nach dem Gespräch brachte ich ihn in seine Klasse und hatte gerade noch Zeit, mir meine Bücher zu schnappen und zum Literaturkurs zu hechten.

»Alles okay?«, fragte Taylor, als er mich in den Raum stürmen sah. Wenn wir gemeinsam Unterricht hatten, saßen wir immer nebeneinander. Ich weiß nicht, ob das wirklich eine gute Idee war, denn ich ließ mich leicht ablenken, und Taylor machte es mir echt schwer, bei der Sache zu bleiben. Ständig versuchte er, seine Hand zwischen meine Schenkel zu schieben, aber ich torpedierte seine Versuche. Einen weiteren Tadel vom Direktor konnte ich mir nicht leisten.

Ich war überrascht, wie viel Taylor auf dem Kasten hatte. Einmal hatten wir uns auf einem College-Block im Unterricht Nachrichten geschrieben. Ich weiß nicht mehr, worum es ging, aber ich erinnere mich noch gut, dass ich zu kichern anfing, und das blieb dem Lehrer nicht verborgen. Er stellte uns daraufhin eine komplizierte Frage zu Lenin, die Taylor locker beantwortete und uns damit den Arsch rettete.

»Was willst du eigentlich studieren?«, hatte ich ihn mal gefragt, als wir im strömenden Regen in seinem Auto saßen und uns unterhielten. Ich staunte nicht schlecht, als er sagte, er wolle Astronaut werden.

Er bekam einen Lachanfall, weil ich ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte.

»Du glaubst aber auch alles. Nein, ich will Informatikingenieur werden.«

Auch das überraschte mich.

»Wieso gerade Informatik?«