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Ein Mädchen. Zwei Brüder. Eine unmögliche Entscheidung
Die 17-jährige Kamila hat alles im Griff – dachte sie zumindest. Bis die Di-Bianco-Brüder plötzlich wieder in ihr scheinbar perfektes Leben treten und es auf den Kopf stellen. Thiago, der sie als Erster geküsst hat. Und Taylor, der sie immer beschützt hat. Seit die Brüder fortgegangen sind, hat sie niemand mehr ihr Herz geöffnet, nicht einmal ihrem Freund Dani ... Dass Taylor und Thiago sie nun komplett ignorieren, ist mehr, als sie ertragen kann. Sie setzt alles daran, Taylor als besten Freund zurückzugewinnen. Doch als sich daraus mehr entwickelt, scheint das Thiagos offenen Hass nur noch zu befeuern …
Mit ihrer sinnlichen und temporeichen New-Adult-Trilogie »Culpa Mía« hat sich Mercedes Ron in die Herzen von Millionen Fans auf der ganzen Welt geschrieben. Die Verfilmung von Band 1 wurde zum erfolgreichsten nicht-englischsprachigen Film auf Amazon Prime Video.
Die Tell-Me-Reihe:
Tell Me Softly (Band 1)
Tell Me in Secret (Band 2) erscheint im Herbst 2025
Tell Me with Kisses (Band 3) erscheint im Frühjahr 2026
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 391
Veröffentlichungsjahr: 2025
Mercedes Ron
Aus dem Spanischen
von Ursula Bachhausen
und Sabine Giersberg
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INHALTSWARNUNG:
Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.
Deshalb findet ihr auf der letzten Seite einen Hinweis.
Er enthält Spoiler für die gesamte Geschichte.
Deutsche Erstausgabe Juli 2025
© 2020 Mercedes Ron
© 2025 für die deutschsprachige Ausgabe
cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel
»Dímelo bajito« bei Penguin Random House Grupo Editorial, S. A. U., Travessera de Gràcia, 47 – 49, 08021 Barcelona
Aus dem Spanischen von Ursula Bachhausen und Sabine Giersberg
Umschlaggestaltung: Marie Graßhoff, nach einer Gestaltung von Elsie Lyons unter Verwendung von Motiven von: Getty Images/Tuomas A. Lehtinen, Getty Images/Mariia Demchenko, Getty Images/Jane Khomi, istock/ooyoo, shutterstock/Chinnapong, shutterstock/Michanano
kk · Herstellung: DiMo
Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss
ISBN 978-3-641-32891-7V002
www.cbj-verlag.de
Für meine Familie in Bali
Durch euch habe ich meine Inspiration wiedergefunden.
Tausend Dank!
Kami
Ich erinnere mich so genau, als wäre es erst gestern gewesen. Wie vereinbart war ich um Punkt Mitternacht aufgestanden. Wie aufregend das war. Ich hatte noch nie so lange aufbleiben dürfen, spätestens um zehn hieß es bei uns ab ins Bett und Schäfchen zählen. Aber an dem Abend war alles anders. Ich schnappte mir meine geliebte rosa Taschenlampe und steckte sie in meinen Rucksack. Es war mir egal, dass Taylor sich darüber lustig machen würde. Ich war so weit startklar und musste mir nur noch die Zöpfe flechten. Das war damals der letzte Schrei unter zehnjährigen Mädchen. Ich schaute aus dem Fenster und musste schmunzeln, als ich sah, wie im oberen Stockwerk des Nachbarhauses das Licht einer Taschenlampe blinkte. Das war das verabredete Zeichen.
Mit einem Kribbeln im Bauch zog ich das zusammengeknotete Seil unter dem Bett hervor und band es um den Fuß des Tisches, wie Taylor es mir gezeigt hatte. Als ich mich vergewissert hatte, dass es ordentlich festgezurrt war, warf ich es vorsichtig aus dem Fenster, ließ es an der Außenwand herunter und holte tief Luft, um mir Mut zu machen. An dem Abend hatten wir Großes vor: Wir wollten in das Haus von Mr Robin eindringen und die Schokolade klauen, die er im Keller bunkerte. Mr Robin war ein alter Griesgram und der geizigste Mensch, den ich kannte. Ihm gehörte der Süßwarenladen im Ort, und er zeigte uns gern das angelieferte Naschwerk, aber mehr als ein Lutscher fiel für uns nie ab. Der alte Knauserer machte keinen Hehl daraus, dass er uns, also mich und die Brüder Di Bianco, Taylor und Thiago, nicht leiden konnte.
Taylor war in meinem Alter und mein Partner in Crime. Thiago war lange Zeit der Dritte im Bunde gewesen, aber an seinem dreizehnten Geburtstag hatte er beschlossen, diesen, wie er sagte, »albernen Kinderkram« hinter sich zu lassen. Aber an diesem Abend machte er eine Ausnahme, und auch wenn er uns gegenüber heraushängen ließ, dass er längst in einer anderen Liga spielte, war er doch genauso aufgeregt wie wir.
Ich kletterte aus dem Fenster und auf halber Höhe hörte ich Taylor flüstern:
»Beeil dich, Kami, sonst werden wir noch erwischt.«
Das versetzte mich erst recht in Stress.
»Ich komm ja schon!«, zischte ich, krampfhaft bemüht, nicht abzustürzen. Unser Haus war ziemlich hoch, und mein Zimmer lag im Obergeschoss, es war also ein ganz schön langer Weg nach unten. Wir hatten drei Seile aneinanderknoten müssen.
»Nun mach schon, Kam!«, brummte Thiago, der einzige Mensch, der mich im Nullkommanichts zum Platzen oder zum Heulen bringen konnte – und der Einzige, der mich Kam nannte.
Irgendwie hatte ich ihm immer beweisen wollen, dass ich genauso mutig war wie die beiden, auch wenn ich Zöpfe und Kleider trug. Es war allein meine Mutter, die aus mir eine Puppe machen wollte. Doch es half alles nichts: Ich konnte so viele Abenteuer bestehen, so viele eklige Tiere aufsammeln und ungehobelt durch die Gegend spucken, wie ich wollte, Thiago nahm mich nicht für voll. In seiner Gegenwart fühlte ich mich klein. Deshalb machte es mich auch wütend, als er mich auf den letzten Zentimetern bei der Taille fasste und mir hinunterhalf.
»Du hast doch nicht etwa kalte Füße bekommen, Prinzessin?«, zog er mich mit diesem schelmischen Blick auf, den er und sein Bruder gemeinsam hatten. Der Unterschied war nur, wenn Taylor mich ansah, fühlte ich mich wie Superwoman, doch wenn Thiago mich mit seinen grünen Augen fixierte, verlor ich sofort die Fassung.
»Nenn mich nicht so, du weißt, dass ich das nicht leiden kann«, erwiderte ich und wandte mich ab. Er streckte die Hand aus und zog an einem meiner Zöpfe.
»Warum trägst du dann immer so ’nen Schnickschnack?«, fragte er und löste die Schleife des Haarbands. Zum Glück blieb das Gummi an seinem Platz.
»Gib das sofort wieder her!«, fauchte ich.
Er lachte nur hämisch und schob das Band in seine Hosentasche.
»Lass sie in Ruhe, T, du bringst sie nur wieder zum Weinen«, sagte Taylor.
Er nahm meine Hand und wollte mich wegziehen. Ich drückte sie fest und kämpfte zornig gegen die in mir aufsteigenden Tränen. Wir rannten los. Als wir den schmalen Bach erreichten, der unser Haus von dem des Geizhalses trennte, wurde Thiago plötzlich ernst und schlüpfte in die Rolle des großen Bruders. Wir hatten am Tag zuvor ein Brett deponiert, das uns als Brücke dienen sollte. Taylor hatte panische Angst vor Wasser, seit er einmal beinahe ertrunken wäre, und so ging Thiago vor, um uns hinüberzuhelfen. Als ich die Hand, die er ausstreckte, geflissentlich ignorierte, sah ich einen Hauch von Stolz in seinen Augen aufblitzen.
Kurz darauf standen wir vor dem Haus von Mr Robin. Mann, war das aufregend. Für ein zehnjähriges Mädchen war das eine echte Mutprobe.
Thiago schlich zu dem kaputten Kellerfenster. Die zerborstene Scheibe ging auf unser Konto: Beim Spielen hatte sich ein Ball verirrt und Mr Robin hatte den Schaden nicht reparieren lassen. Als wir hineinspähten, sahen wir schemenhaft all die Süßigkeiten und die Schokolade, die unser Herz so begehrte. Das war besser als jede Schatzsuche, denn es war kein Spiel: Die Beute war echt.
»Wer geht als Erster?«, fragte Thiago und warf mir einen spöttischen Blick zu.
»Du bist der Älteste, also los.« Ich tat erwachsen und sah ihn ernst an.
»Okay«, meinte er grinsend. »Einer steht Schmiere und nimmt die Ware entgegen.«
»Ware« … was Thiago immer für Worte benutzte. Das wäre mir nie in den Sinn gekommen. Das war Naschkram!
Taylor und ich sahen uns unschlüssig an, wir wären wohl beide am liebsten davongelaufen. Ich hatte einen Mordsschiss. Es war stockfinster und die Baumkronen raschelten unheimlich im Wind. Ich hätte es nie zugegeben, aber ich hatte einen Heidenrespekt vor Mr Robin. Deshalb wollte ich lieber zu Thiago in den Keller hinuntersteigen, als allein in dem Garten zurückzubleiben, wo mir wer weiß was passieren konnte.
»Ich komme mit nach unten«, sagte ich rasch, bevor Taylor mir zuvorkam.
»Gut. T, du hältst die Stellung«, sagte Thiago. Er benutzte immer dieselbe Abkürzung wie sein Bruder. Anfangs fand ich das verwirrend, aber mit der Zeit hatte ich mich dran gewöhnt. Das war so ein Brüderding. Und eine Familientradition: Der Vorname des Vaters fing auch mit T an.
Thiago schob die Hand durch das Loch und entriegelte das Fenster. Das knarzende Geräusch hörte sich in der Dunkelheit verdammt laut an.
»Sei leise!«, ermahnte ich ihn. Mir war flau im Magen. Ich mochte mir nicht ausmalen, was passierte, wenn wir erwischt wurden.
Das Fenster schwang auf, die Bahn war frei. Thiago erkundete den Raum.
»Das ist ziemlich hoch. Ich springe auf den Tisch und helf dir beim Runterklettern.«
Ich nickte und beobachtete nervös, wie er die Beine durch das Fenster schob und mit einem sauberen Sprung auf dem Tisch landete.
»Beeilt euch«, sagte Taylor, und ich sah die Angst in seinen blauen Augen.
Dann war ich an der Reihe. Zögerlich schob ich die Beine durch das Fenster. Mir war klar, dass ich auf Thiago angewiesen war. Allein würde ich da im Leben nicht runterkommen. Er hatte im Sommer einen ordentlichen Schuss getan und war mittlerweile locker einen Kopf größer als Taylor und ich.
Als er mich losließ, verspürte ich ein seltsames Kribbeln und zugleich die tiefe Verbundenheit des gemeinsam bestandenen Abenteuers. Ein breites Grinsen huschte über unsere Gesichter, als wir die Unmengen von Schokolade, Süßigkeiten und Kuchen in den Regalen sahen.
»Na, dann wollen wir mal«, sagte er und half mir, vom Tisch zu klettern. In Windeseile füllten wir unsere Rucksäcke mit Naschwerk. Das war ein echtes Paradies für Kinder: Süßigkeiten, so weit das Auge reichte und alle zum Greifen nah. Als die Rucksäcke schon aus allen Nähten platzten, hörten wir plötzlich ein Geräusch.
Reflexartig drehte ich mich zu Thiago um, mein Herz raste vor Aufregung und Angst.
»Er ist aufgewacht«, meinte Thiago alarmiert.
Wieder ein Geräusch.
Wir ließen alles stehen und liegen, schnappten uns unsere Rucksäcke und machten uns bereit für den Abgang. Thiago reichte die Beute eilig an Taylor weiter.
»Mach dich damit vom Acker. Wir kommen nach!«, zischte er ihm nervös zu. Taylor nickte ängstlich, schulterte die Rucksäcke und rannte los.
Ich sah Thiago an, der mir hochhelfen musste, damit ich aus dem Fenster klettern konnte.
»Nun mach schon!«, flehte ich, als ich sein Grinsen sah.
»Okay. Aber dann musst du auch etwas für mich tun«, sagte der Satansbraten.
»Ich überlasse dir meinen Anteil an der Beute, aber jetzt müssen wir erst mal schnell hier raus!«, sagte ich. Mr Robin könnte uns jeden Moment erwischen.
»Die Schokolade interessiert mich nicht, ich will … einen Kuss«, erwiderte er.
»Iiiih! Wie eklig! Nie im Leben!«, entfuhr es mir.
Er drehte sich um und legte die Hände auf den Fensterrahmen, um sich hochzuziehen.
»Dann bleibst du eben hier«, meinte er trocken und stieß sich mit den Füßen ab.
»Warte!«, rief ich verzweifelt und zog an seinem Hosenbein, um ihn zurückzuhalten. Auf einmal war da eine gewisse Neugier: Ich fragte mich, wie sich so ein Kuss wohl anfühlen würde.
»Was ist jetzt? Bekomme ich den Kuss?« Er sah mir fest in die Augen.
Mir schossen tausend wirre Gedanken durch meinen Kinderkopf, aber ich verspürte ein Kribbeln im Bauch, als ich ihn an mich zog.
Er drückte seine Lippen auf meine. Es fühlte sich seltsam an, warm und feucht, aber ich würde diesen Moment nie vergessen, und erst recht nicht Thiagos strahlenden Blick, als er sich von mir löste und mir mit einem beseelten Lächeln half, der süßen Hölle zu entkommen. Hand in Hand rannten wir, so schnell wir konnten, bis wir Taylor eingeholt hatten. Ich erinnere mich noch daran, wie diebisch wir uns freuten, als die Beute ausgebreitet vor uns lag.
An dem Abend bekam ich meinen ersten Kuss … und es sollte unser letztes Abenteuer sein.
Kami
Sieben Jahre später …
Als ich am Morgen des 1. September die Augen aufschlug, hatte ich das elektrisierende Gefühl, dass etwas Neues vor mir lag. Nicht, dass ich mich besonders auf das letzte Schuljahr gefreut hätte, aber ich sehnte mich nach der Alltagsroutine zurück. Die Sommerferien mit meinen Eltern und meinem kleinen Bruder hatten mir den letzten Nerv geraubt. Warum bestanden unsere Eltern bloß darauf, vier Wochen gemeinsam mit uns am Meer zu verbringen, wenn sie einander nur auf den Zeiger gingen?
Meine Mutter war bestimmt nicht die treibende Kraft dahinter gewesen. Ich war mir hundertpro sicher, dass mein Vater, der stadtbekannte Roger Hamilton, um jeden Preis daran festhalten wollte, dass wir so etwas wie eine heile Familie waren.
Und ich wollte ihm die Illusion nicht rauben. Nicht ein zweites Mal.
Mein Blick wanderte wie so oft automatisch zu der Narbe an meinem Handgelenk: Ein perfektes Dreieck zeichnete sich in einem helleren Ton auf meiner sonnengebräunten Haut ab. Ich konnte mich noch gut an den Schmerz erinnern, als ich es selbst hineingeritzt hatte. Bei dem Anblick verspürte ich jedes Mal einen Stich in der Brust und das war mitnichten ein rein körperlicher Schmerz. Wie hatte sich alles nur so schlagartig ändern können? Eben waren wir noch unschuldig gewesen und im nächsten Moment schon gebrannte Kinder. Für den Rest unseres Lebens.
Ich schob die Erinnerung beiseite und rief mich zur Ordnung: Von einer Sache, die ewig her war, würde ich mich nicht runterziehen lassen.
Also stand ich auf und ging in das zu meinem Zimmer gehörende Bad. Alles bestens: Alle Dinge lagen an ihrem Platz. Manchmal war bei meiner Rückkehr nichts mehr da, wo ich es hingelegt hatte. Dann hätte ich total ausrasten können, obwohl ich nach außen hin sonst stets das stille, brave Mädchen ohne Fehl und Tadel war.
Wenn die anderen wüssten …
Ich wusch mir das Gesicht, putzte mir die Zähne und betrachtete eingehend mein Spiegelbild, während ich mich in Zeitlupe kämmte. Eigentlich war ich ganz zufrieden mit meinem Äußeren. Wenn ich nur nicht so sehr meiner Mutter geähnelt hätte … Ich hatte von ihr das blonde Haar geerbt – nur dass es in meinem Fall leicht gewellt war –, und die Grübchen an den Wangen. Nur meine Augen mit den langen, dichten Wimpern waren nicht strahlend blau wie ihre, sondern braun wie die meines Vaters. Ich hatte das Glück gehabt, nur ein Jahr lang eine Zahnspange tragen zu müssen. Als ich auf die Highschool kam, war mein Gebiss schon perfekt. Aber natürlich hatte ich genauso meine Komplexe wie alle anderen, und meine Mutter ließ keine Gelegenheit aus, auf meinen Unzulänglichkeiten herumzureiten. Wie damals, als ich mit fünfzehn die ersten Pickel bekam … Das war in dem Alter völlig normal, einige meiner Freundinnen hatten noch immer damit zu kämpfen. Natürlich missfielen mir diese hässlichen roten Punkte, die völlig sinnfrei in Massen auf meinem Kinn und meiner Stirn sprossen, aber meine Mutter machte ein Riesendrama daraus. Sie schleppte mich zu fünf Hautärzten, stellte meine Ernährung um und zwang mich zu einer Behandlung, die sie ein Vermögen kostete.
Zwei Jahre später hatte ich eine Haut wie ein Pfirsich. Trotzdem schminkte ich mich für die Schule, weil keiner meine Augenringe oder meine Sommersprossen sehen sollte. Kamila Hamilton musste immer perfekt sein, genau wie ihre Mutter, die große, blonde, ausnehmend schlanke, elegante und stets auf ihr Äußeres bedachte Eiskönigin, die nie die Contenance verlor. Nichts und niemand konnte sie aus der Fassung bringen – nur ich, damals, als meine kindliche Neugier alles zerstörte.
Neben dem Frisiertisch stand eine Schaufensterpuppe mit einem marineblauen Hängerchen. Das Kleid war genau mein Fall, einfach und zugleich ein Luxusteil, wie alles in meinem übervollen Schrank. Zu einem Abendessen oder einer Party hätte ich es supergern angezogen, aber nicht unbedingt zum ersten Schultag. Aber das war typisch meine Mutter: Alles, was sie mir kaufte, war an Bedingungen geknüpft, und sie bestimmte darüber, wann ich es anzuziehen hatte. Widerspruch war zwecklos, sie ließ sich nicht umstimmen. Immer ging es ihr um den schönen Schein, und ich war es leid, gegen Windmühlen zu kämpfen.
Ich schminkte mich und zog das Kleid an. Es war ziemlich kurz, aber draußen herrschte eine Affenhitze, und ich konnte dazu die hübschen weißen Sandalen tragen, die meine gebräunten Beine zur Geltung brachten.
Mit dem Mädchen im Spiegel war ich ganz zufrieden, wäre da nicht der traurige Blick gewesen. Was war mit mir los? War es wegen Dani?
Unsere Beziehung hatte im Sommer einen gewaltigen Knacks bekommen. Der Abend war einer der schlimmsten meines Lebens gewesen. Ich verstehe mich selbst nicht. Warum zum Teufel hatte ich mich hinreißen lassen, etwas zu tun, wozu ich noch gar nicht bereit war?
Dani und ich waren seit meinem fünfzehnten Geburtstag zusammen. Nach Thiago hatte ich keinen Jungen mehr geküsst, und Dani war der Erste, bei dem ich dazu wieder den Mut fasste. Seit dem Tag waren wir unzertrennlich. Aber was als Teenagerliebe begonnen hatte, verkam mit der Zeit zu einer albernen Show, bei der unsere Eltern schon Pläne für unsere Zukunft schmiedeten und über uns bestimmten. Dani war der Sohn des Bürgermeisters und mein Dad war sein Rechtsanwalt und Vermögensverwalter. Mein Dad hatte an den besten Universitäten studiert, seinen Abschluss in Yale mit summa cum laude gemacht und an der New York University über Börseninvestments promoviert. Er verwaltete das Vermögen von vielen Unternehmern, auch das der wenigen, die es in unserem Kaff Carsville gab. Er war ständig unterwegs, und wir sahen ihn kaum, aber ich liebte ihn über alles.
Für meine Mutter, die Königin des schönen Scheins, war die Tatsache, dass ihre Tochter mit dem Sohn des Bürgermeisters liiert war, wie ein Traum aus Disneyland. Anfangs war ich ganz angetan davon, dass ich es ihr endlich einmal recht machen konnte, aber irgendwann hatte ich das Gefühl, unmündig in einem Käfig zu sitzen. Auch wenn Dani nicht viel auf die Meinung seiner Eltern gab, spürte auch er den Erwartungsdruck, der auf uns lastete. Und der sanfte, superattraktive Junge, in den ich total verliebt gewesen war, verwandelte sich am Ende in einen mies gelaunten, tyrannischen Kerl, der nichts anderes im Kopf hatte als Sex. Er bedeutete mir viel, aber ich war nicht mehr in ihn verliebt. Erst recht nicht mehr seit jenem Abend, der der Anfang vom Ende war.
Ich schloss die Augen und versuchte, die Erinnerung daran zu verdrängen. Wie gern hätte ich die innere Stimme ignoriert, die mir sagte, dass ich früher oder später mit ihm reden müsste. Die Sommerferien waren die perfekte Ausrede gewesen, auf Abstand zu gehen – was ich bitternötig gehabt hatte –, doch es gab natürlich noch Klärungsbedarf. Wer würde es schon einfach hinnehmen, dass ihm jemand das erste Mal schenkte, nur um dann Schluss zu machen?
»Was hast du denn?«, hatte er gefragt, nachdem es vorbei war.
Wir hatten es in seinem Zimmer getan. Seine Eltern waren übers Wochenende weggefahren und die Erwartungen nach zwei Jahren Beziehung waren riesig gewesen.
Obwohl alles scheinbar perfekt war, hatte ich einen Heulkrampf bekommen. Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen. Nicht, dass es besonders wehgetan hätte oder so.
Ich hatte geweint, weil mir, obwohl ich es mit Dani getan hatte, der mich liebte, plötzlich der Junge im Kopf herumspukte, dem ich vor vielen Jahren mein Herz geschenkt hatte.
In diesem Moment trat mein kleiner Bruder Cameron ins Zimmer und riss mich aus meinen Gedanken.
»Mom hat gesagt, du fährst mich heute zur Schule.«
Irritiert drehte ich mich um. Er ging auf dieselbe Schule wie ich, aber die Elementary School befand sich in einem anderen Gebäude, das mit unserem durch einen langen Flur verbunden war, der für Ausstellungen genutzt wurde. Mein Unterricht begann eine Stunde früher als seiner, und normalerweise brachte ihn meine Mutter hin, damit er noch ein wenig länger schlafen konnte.
Er war bepackt, als ginge er zu einem Camping-Ausflug. Der Rucksack auf seinem Rücken war fast größer als er, dazu hielt er Juana, seinen Leguan, fest unter dem Arm, und an seinem Gürtel hingen eine Taschenlampe und eine Trinkflasche und noch anderes Zeug.
»Das kannst du unmöglich alles mit in die Schule nehmen«, erklärte ich geduldig.
»Warum nicht?«, erwiderte er mit grimmigem Gesicht und presste den Leguan noch stärker an sich. Das Teil war riesig und abstoßend, aber mein Bruder liebte seine Juana heiß und innig, und so mochte ich sie irgendwie auch.
»Mit dem ganzen Kram werden die dich nicht mal auf den Hof lassen«, sagte ich und gab ihm einen Kuss auf den Kopf. Ich schnappte meine Tasche und die Autoschlüssel. »Hast du gefrühstückt?«, fragte ich im Rausgehen. Mein Bruder war erst sechs, na ja, fast sieben, aber für mich war er gefühlt noch wie vier: niedlich, aber eine Nervensäge.
»Ja, vor Ewigkeiten. Du bist ja einfach nicht aufgewacht. Mom wird sauer sein«, meinte er und stolperte, weil er so beladen war.
»Gib her«, sagte ich und nahm ihm den Kescher zum Fröschefangen weg. »Das ist doch wohl nicht dein Ernst, Cameron.« Ich schüttelte den Kopf. »Das kannst du alles schön in deinem Zimmer lassen.«
»Okaaaay«, sagte er widerwillig und verschwand in seinem Zimmer, während ich die ewig lange Treppe hinunterging. Als Kind hatte ich einen Heidenspaß daran gehabt, das Geländer hinunterzurutschen, und kurz hatte ich die verrückte Idee, es in dem Moment einfach noch mal zu tun.
»Was machst du, Kamila?«, fragte eine sanfte, aber kühle Stimme. Am Fuß der Treppe stand meine Mutter. Seufzend schlug ich mir meine Idee aus dem Kopf und schritt artig die Stufen hinunter. Meine Mutter war, wie gesagt, eine schöne Frau, die alles dafür tat, dem Zahn der Zeit ein Schnippchen zu schlagen. Sie gab ein Vermögen dafür aus, mit vierzig noch auszusehen wie zwanzig.
»Guten Morgen, Mom«, sagte ich und marschierte an ihr vorbei in die Küche.
»Das Kleid steht dir ausnehmend gut. Ich hab dir ja gesagt, es ist wie geschaffen für den ersten Schultag.« Sie folgte mir. »Schade, dass du nicht so groß bist wie ich, aber vielleicht wächst du ja noch ein Stück …«
Ich schaltete die Ohren auf Durchzug, als sie mit ihrer üblichen Leier anfing. Ihre Predigten kannte ich in- und auswendig. Die meisten ließen sich auf den Satz »Du bist in meinen Augen nicht perfekt genug« reduzieren.
Die Küche war so großzügig konzipiert wie alle Räume im Haus. Durch das riesige Fenster an der Seite flutete viel Licht in den Raum und man hatte einen fantastischen Blick auf die Felder. Am Herd stand Prudence, die für uns kochte, seit ich denken konnte. Sie strahlte so eine Herzenswärme aus, dass mir ihr Anblick gleich ein Lächeln aufs Gesicht zauberte.
»Hallo, Prue«, begrüßte ich sie und schielte Richtung Pfanne: Mmmh, Rühreier mit Speck. Mir lief das Wasser im Mund zusammen.
»Guten Morgen, Miss«, sagte sie förmlich, weil meine Mutter im Raum war. »Und für Sie, wie immer?«, fragte sie.
»Habe ich eine Wahl?«, erwiderte ich und beobachtete, wie sie eine Grapefruit in zwei Hälften schnitt und sie mir mit einer Tasse Kaffee servierte. Was hätte ich dafür gegeben, mich über diese leckeren Eier hermachen zu dürfen.
»Kamila, du musst Cameron heute in die Schule bringen und nachmittags auf dem Rückweg im Club vorbeikommen und mir helfen, mit den anderen Müttern der Elternpflegschaft den Tee vorzubereiten«, sagte meine Mutter und überhörte geflissentlich meinen Seufzer.
»Meinetwegen«, erwiderte ich abwesend.
In dem Moment betrat mein Vater den Raum. Er war stattlich, hatte einen ziemlichen Bauch, und sein dunkles Haar war bereits ergraut, aber wenn er lachte, ging mir das Herz auf. Er drückte mir einen Kuss auf den Scheitel.
»Hallo, mein Augenstern«, sagte er und setzte sich neben mich.
Mein Vater war das genaue Gegenteil meiner Mutter. Wie heißt es doch so schön: Gegensätze ziehen sich an. Die beiden waren ein Paradebeispiel dafür. Irgendetwas müssen sie aneinander gefunden haben, sonst hätten sie wohl kaum geheiratet und zwei Kinder bekommen, aber das Ganze hatte ein Verfallsdatum, und das war längst überschritten. Sie waren nur noch zusammen, weil mein Vater zu gutmütig war, der Frau an seiner Seite die Stirn zu bieten, und so hatten wir alle unter ihrer Gefühlskälte zu leiden.
Ich liebte meinen Vater über alles. Unter den gegebenen Umständen hatte er sich stets bemüht, ein guter Vater zu sein, auch wenn ich tief in meinem Innern wusste, dass er mir nicht verzeihen konnte, dass ich ausgeplaudert hatte, was meine unschuldigen Augen an jenem Abend damals gesehen hatten. Der Spruch »Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß« definierte exakt die Lebensphilosophie des Mannes, der die Rühreier verschlang, als hätte er nicht schon genug Cholesterin in den Adern.
Als mein Bruder in der Tür erschien, sprang ich sofort auf. Ich konnte es nicht erwarten, all den unausgesprochenen Vorwürfen zu entkommen.
Mein Bruder hatte Gott sein Dank den ganzen überflüssigen Kram im Zimmer gelassen und die Klamotten angezogen, die meine Mutter ihm herausgelegt hatte: Jeans und ein Markenpoloshirt, das am Ende des Tages vor Schmutz starren würde. Ich werde nie verstehen, welchen Sinn es hatte, ein Vermögen für Teile von Ralph Lauren für ein Kind auszugeben, das sich ständig im Dreck wälzte.
Während wir eine Abkürzung zu meinem Auto nahmen, einem weißen Cabrio, das früher meiner Mutter gehört hatte, bevor sie sich den knallroten Audi zulegte, fiel mein Blick auf den Umzugswagen vor dem Haus gegenüber.
Mein Herzschlag setzte buchstäblich für ein paar Sekunden aus.
»Bekommen wir wieder Nachbarn?«, fragte mein Bruder erfreut.
Das Haus stand seit sieben Jahren leer, ebenso wie das von Mr Robin, der vor vier Jahren gestorben war. Mein Bruder beklagte sich immer, dass er keine Spielkameraden hatte, und es war nachvollziehbar, dass der Umzugswagen eine Woge der Begeisterung in ihm auslöste – im Unterschied zu mir.
Ich schob die Sonnenbrille vom Kopf auf die Nase, um besser sehen zu können, und beobachtete mit stockendem Atem, wie ein Motorrad vor dem Lkw hielt und der Fahrer ins Haus ging.
Auf die Entfernung war es unmöglich, zu erkennen, um wen es sich handelte, aber das Kribbeln in meinem Körper ließ nur einen Schluss zu.
»Wir kommen zu spät«, sagte mein Bruder hinter mir. Ich war so damit beschäftigt gewesen, herauszufinden, wer der ominöse Fahrer war, dass ich vollkommen vergessen hatte, dass wir auf dem Weg in die Schule waren.
»Rein mit dir«, sagte ich und öffnete ihm die Beifahrertür.
»Können wir mit offenem Verdeck fahren?« Er hampelte voller Vorfreude auf dem Sitz herum. Ich drückte auf den Knopf und wenig später wehte uns der Wind um die Nase. Ich handelte wie ferngesteuert, alle meine Gedanken drehten sich um die Person, die gerade vom Motorrad gestiegen war.
Ich ließ den Motor an und parkte rückwärts aus. Kurz darauf fuhren wir direkt am Eingang vorbei, und ich konnte einen Blick auf die Neuankömmlinge werfen, die das Haus bewohnen würden, das so viele Erinnerungen barg.
Eine Sekunde genügte, um bestätigt zu sehen, was mein Körper längst wusste. Unsere Blicke trafen sich. In mir spannten sich sämtliche Muskeln an. Die Brüder Di Bianco waren zurück oder zumindest einer von ihnen.
Auf der Fahrt entwickelte mein Bruder alle möglichen Theorien, wer die neuen Nachbarn sein könnten. Ich wollte ihm nicht die Illusion rauben, indem ich ihm verriet, dass ich längst wusste, wer sie waren, und dass kein Kind in seinem Alter dabei sein würde. Ich setzte ihn ab und hauchte ihm rasch einen Kuss auf die Wange, denn er wollte nicht mehr, dass ich ihn in der Öffentlichkeit umarmte und küsste.
Dann fuhr ich schnurstracks zum Parkplatz. Gott sei Dank war die Idee, mich auf eine Privatschule zu schicken, damals schnell vom Tisch gewesen. Da meine Mutter diese Schule besucht hatte, waren meine Eltern schnell zu der Überzeugung gelangt, dass es meinen Charakter nur stärken konnte, wenn ich »mit allen möglichen Leuten« in Kontakt käme. Ich weiß nicht genau, was sie damit meinten, aber es bezog sich bestimmt auf die Bankkonten der Eltern meiner Klassenkameraden.
Nun brach mein letztes Schuljahr an, und ich hatte mir geschworen, dass alles anders würde, vor allem, was mein Auftreten gegenüber anderen anging. Ich war es satt, überall diese perfekte Maske zur Schau zu tragen, die nichts mit dem zu tun hatte, was in meinem Inneren vorging. In diesem Jahr sollte alles besser werden – und da traf ich ausgerechnet Thiago Di Bianco vor meinem Haus.
Thiago war nicht mehr der schlaksige Junge mit hellbraunem Haar und grünen Augen, den ich von früher kannte. Er war jetzt so groß wie sein Vater, was mich nicht weiter verwunderte, denn er hatte die anderen Jungs in seinem Alter schon immer überragt.
Warum war er zurückgekehrt?
Als ich aus dem Auto stieg, zog ich gleich alle Blicke auf mich. Meine Mitschüler konnten es kaum erwarten, das It-Girl der Schule in Augenschein zu nehmen, zu dem ich ohne mein Zutun geworden war. Es war klar, was kommen würde. Sie würden begutachten, was ich anhatte, wie ich mein Haar trug, wie ich geschminkt war, und wenn etwas nicht passte oder ich weniger Glamour ausstrahlte als erwartet, würden sie über mich herziehen. Hinter meinem Rücken, versteht sich.
Da schob sich plötzlich eine helle Lockenmähne zwischen mich und die aufdringlichen Blicke und ich fand mich in einer herzlichen Umarmung wieder.
»Hi, Lady Kamila!«, rief meine beste Freundin Ellie. Wir waren seit dem ersten Jahr an der Highschool befreundet. Sie war neu dazugekommen und hatte mich, im Unterschied zu den anderen, nie als eine Art Berühmtheit betrachtet.
»Bitte nenn mich nicht so. Du weißt, dass ich das nicht leiden kann«, sagte ich und erwiderte die Umarmung. »Oder soll ich dich Elfie nennen?«
Sie streckte mir die Zunge raus, denn sie hasste es, wenn jemand sie so nannte. Eigentlich hieß sie nämlich gar nicht Ellie, sondern Galadriel, wie die Elfe aus Herr der Ringe. Ihre Eltern standen auf dieses Fantasy-Zeug, aber zum Leidwesen ihres Vaters verachtete sie die Filme und die Bücher und alles, was mit dem verrückten Hype zu tun hatte, ihren Namen eingeschlossen. Ich fand’s gut, denn so hatte ich etwas, womit ich sie piesacken konnte.
Kurz darauf war ich von meinen Freundinnen umringt. Sie brannten darauf, zu erfahren, wohin ich gereist war und was ich alles gekauft hatte. Carsville war ein ödes Kaff, und jede Neuigkeit machte die Langeweile und Monotonie erträglicher, vor allem für meine Klassenkameradinnen, die den Sommer im örtlichen Freibad verbringen mussten. Meine Reisegeschichten waren für sie wie großes Kino. Wenn sie gewusst hätten, dass mein Leben nicht annähernd so beneidenswert war, wie sie glaubten …
In der Schule traf ich auf eine Menge bekannter Gesichter.Alle grüßten freundlich. Ich nahm ein Heft und einen Kuli aus meinem Schließfach, richtigen Unterricht gab es am ersten Tag nach den Ferien nicht. Chloe, Kate und Marissa redeten die ganze Zeit nur über die Abschlussfeier und den dazugehörigen Ball. Das Schuljahr hatte noch nicht mal angefangen und sie dachten schon über das Ende nach.
Wenn ich in Yale studieren wollte wie mein Vater, würde ich mich mächtig ins Zeug legen müssen. Ich wollte weg von zu Hause. Für meinen Bruder tat es mir leid, aber ich würde es schon irgendwie schaffen, ihn regelmäßig zu besuchen.
Während meine Freundinnen ununterbrochen schwatzten, wurde ich plötzlich von hinten gepackt. Ich brauchte mich nicht umzudrehen. Ich wusste sofort, wer es war. Das Aftershave war unverkennbar.
»Hallo, mein Herz«, säuselte mir Dani ins Ohr. Seine Nähe jagte mir einen Schauer über den Rücken, im negativen Sinn.
Ich löste mich aus der Umklammerung und sah ihn an.
»Hallo!«, stieß ich aus. Es klang ziemlich gezwungen.
Dani war zweifellos ein heißer Typ: groß, athletische Figur – nicht umsonst war er Kapitän der Basketballmannschaft –, dunkles Haar, blaue Augen … Andere Mädchen würden wahrscheinlich töten, um ihn zum Freund zu haben, aber bei mir war der Ofen aus.
»Du siehst toll aus«, startete er einen neuen Versuch und zog mich wieder an sich, um seine Lippen auf meine zu pressen.
Genau in dem Moment stürmte jemand an uns vorbei zu seinem Schließfach.
Mein Herz setzte für einen Moment aus.
»Entschuldige«, sagte ich wie in Trance und eilte, gefolgt von den Blicken der anderen, die Schließfächer entlang.
Er musste mich bemerkt haben, denn er wirkte angespannt. Bevor er sich zu mir umdrehte, seufzte er leise.
Wie er sich verändert hatte! Er war fast so groß wie sein Bruder. Seine Augen waren immer noch strahlend blau, aber ich hatte den Eindruck, sie blitzten nicht mehr ganz so schelmisch wie früher, wenn wir anderen Streiche spielten oder irgendwelchen Mist bauten. Klar, er war ja auch kein Kind mehr. Sein Haarschopf war nicht mehr blond, sondern eher hellbraun, und er hatte ein Tattoo am Hals, es sah aus wie ein keltisches Symbol.
»Hallo, Taylor«, stammelte ich.
Ich wurde von Erinnerungen überwältigt. Was hatten wir nicht alles gemeinsam erlebt! Und wie hatten wir gelacht …
Er musterte mich irritiert, als entspräche mein Bild nicht dem in seiner Erinnerung.
»Hallo, Kami«, erwiderte er kühl.
Seine Reaktion und der abschätzige Blick trafen mich ins Herz.
»Ihr seid zurück«, sagte ich. Es klang wie eine Frage.
»Ja«, erwiderte er und schulterte seinen Rucksack. Er wirkte auf einmal beklommen.
Ich wollte ihm so viel sagen, so vieles mit ihm teilen … Es war so viel passiert, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten. Ich war kreuzunglücklich, die Zeit der Abenteuer und des fröhlichen Herumalberns war in den letzten Jahren einer sterbenslangweiligen Routine gewichen, in der es nur darum ging, möglichst perfekt zu sein. Er war mein Vertrauter, mein Beschützer gewesen. Er und sein Bruder waren damals alles für mich und wir hatten uns nicht mal verabschieden können. Und jetzt tauchten die beiden plötzlich nach sieben Jahren wieder auf, und das war alles, was er mir zu sagen hatte?
Okay, meine Mutter hatte ihre Familie zerstört, aber unsere war auch daran zerbrochen, was sollte also diese Gefühlskälte mir gegenüber? Ich wollte ihn so gern umarmen. Warum konnte nicht wieder alles wie früher sein?
»Es macht mich sehr glücklich, dass du wieder da bist«, wagte ich mich aus der Deckung. »Ich habe dich vermisst … deinen Bruder natürlich auch.«
»Ich muss los«, unterbrach er mich. Die Worte blieben mir im Halse stecken.
In dem Moment ertönte der Gong. Ich erschrak und Taylor zog wortlos ab. So hatte ich mir unser Wiedersehen nicht vorgestellt. Tausende Male hatte ich mir beim Einschlafen ausgemalt, wie es sein würde, ihm und Thiago wieder zu begegnen, und ich hätte nicht im Traum daran gedacht, dass es so schmerzhaft und befremdlich sein würde.
Alle starrten mich an. Ich war kurz davor, zusammenzubrechen, aber ich drängte die Tränen zurück und setzte die Maske auf, die ich für gewöhnlich in der Schule trug.
»Was gibt’s da zu glotzen?«, fragte ich in die Runde. Dann drehte ich mich auf dem Absatz um und begab mich zum Klassenraum. Meine Freundinnen folgten mir, und ich war dankbar, dass mich keine auf die Szene ansprach, zumindest nicht gleich in der ersten Stunde.
Die Gefühle drohten mich zu überwältigen, aber das war ein No-Go für die Eisprinzessin, das hatte ich von meiner Mutter gelernt.
Thiago
Ich war nicht mal einen halben Tag wieder da und schon verfolgte mich ihr Bild. Kam … Fuck. Warum zur Hölle hatte es mich so aus der Bahn geworfen, sie zu sehen? Sie war nicht mehr das kleine Mädchen, das ich als Junge so gerngehabt hatte. Diese eingebildete Bitch hatte nichts mit dem süßen Mädchen mit Zöpfen gemein, das ich so gerne aufgezogen hatte. Ich hatte sie am Morgen nur flüchtig wahrgenommen, aber nun ging sie mir nicht mehr aus dem Kopf. Sie war erwachsen geworden und bildschön. Hübsch war sie schon als Kind gewesen, aber ich hätte nicht gedacht, dass mich ihr Anblick so umhauen würde. Kamila Hamilton war nicht mehr meine Freundin, sie war nicht mehr das erste Mädchen, das ich in meinem Leben geküsst hatte und von dem ich in meiner kindlichen Naivität geglaubt hatte, ich sei in es verliebt. Sie war die Tochter der Frau, die unser Leben ruiniert hatte und die dafür verantwortlich war, dass mein Vater uns verlassen hatte, ihretwegen konnte meine Mutter seitdem nie mehr so lachen wie früher. Ich kann gar nicht sagen, wie ich diese Familie hasste, vor allem Kamila. Wenn dieses kleine Biest nur auf mich gehört und ihren verdammten Mund gehalten hätte, wäre nichts von alldem passiert. Meine Mutter wäre nicht in Depressionen versunken, sie wäre nicht zu einem Schatten ihrer selbst geworden, sie hätte sich nicht mit diesem Arschloch eingelassen, das sie misshandelt hatte und wegen dem ich sechshundert Sozialstunden ableisten musste, weil ich ihm die Fresse poliert hatte. Wenn Kamila den Mund gehalten hätte, wenn sie nicht …
Sie so glücklich, so strahlend in ihrem Cabrio zu sehen, reich und unbeschwert, hatte mein Blut in Wallung gebracht.
Sie hatte nicht gelitten wie mein Bruder und ich. Ihre Familie war heil geblieben. Die Hamiltons hatten sich nicht getrennt, sie lebten in Saus und Braus, und keiner von ihnen musste sich auf einer Scheißbaustelle abrackern, um das Haushaltseinkommen zu sichern. Kamila hatte man nicht vom College geworfen und wieder zurück an die alte Schule verbannt, weil der Staat für den angerichteten Schaden Buße sehen wollte.
Mir war klar, dass mein Vater ebenso schuldig war wie alle anderen Beteiligten. Aber mein Vater war schon immer ein Schwein gewesen. Er hatte meine Mutter schon oft betrogen, das wusste ich. Er hatte sich nicht sonderlich Mühe gegeben, es zu verbergen, wenn er eine seiner Geliebten zu Hause anschleppte. Es war ihm egal, dass seine Kinder unten mit dem Kindermädchen spielten, während er sich im oberen Stockwerk vergnügte. Die Einzige, die von alldem nichts mitzubekommen schien, war meine Mutter, sie lebte die ganze Zeit in ihrer Blase. Sie hatte sich in einer Scheinwelt eingerichtet, aber zumindest war sie glücklich.
Deshalb hatte ich Kam inständig gebeten, zu schweigen und zu vergessen, was sie gesehen hatte. Doch es war umsonst. Sie hatte alles ausgeplaudert und damit unser ganzes Leben kaputt gemacht.
Und nun waren wir wieder da. Vor sieben Jahren hatten meine Eltern sich scheiden lassen, sieben Jahre, in denen mein Vater Stück für Stück aus unserem Leben verschwunden war. Er schickte nur den monatlichen Scheck über die vom Gericht festgelegte Summe für den Unterhalt und das war’s.
Das Schwein hatte uns, seine beiden Söhne und die Frau, die alles für ihn gegeben hatte, einfach verlassen. Er hatte behauptet, er käme nicht darüber hinweg, wenn er bei uns wohnen bliebe, alles würde ihn an den unheilvollen Abend erinnern. Trotzdem weinte meine Mutter insgeheim immer noch um ihn, ihr Herz war gebrochen.
Mein Bruder Taylor kam am besten mit der Situation klar, dafür sorgte ich. Meine Mutter wandte sich nie an ihn, wenn es ihr schlecht ging, sie weinte niemals vor ihm. Ich hingegen war für sie der Fels in der Brandung. Mit gerade mal dreizehn Jahren hatte ich all die Streitereien zwischen ihr und meinem Vater mitbekommen und sogar vor Gericht aussagen müssen, dass ich die ganze Zeit von seinen Affären gewusst hatte. Das traf meine Mutter sehr, aber ich wollte das Schwein nicht einfach so davonkommen lassen. Dank meiner Aussage konnten wir das Haus behalten, auch wenn uns das nicht viel brachte. Meine Mutter hatte sich geweigert, neben den Hamiltons wohnen zu bleiben, sie konnte den Gedanken nicht ertragen, und vermieten hatte sie es auch nicht wollen. Uns stand finanziell das Wasser bis zum Hals, weil wir unsere Miete in Brooklyn zahlen und auch noch das Haus weiter unterhalten mussten. Ich hatte deswegen oft mit meiner Mutter gestritten, aber sie war hart geblieben: Das Haus blieb verschlossen, Thema beendet.
Mit der Zeit hatten wir gelernt, damit klarzukommen, jeder auf seine Weise. Ich hatte dafür gesorgt, dass mein Bruder die beste Kindheit hatte, die wir ihm ermöglichen konnten, um den Preis, dass ich mich selbst dabei verlor. Meine Kindheit war mit einem Schlag beendet und ich musste von einem Tag auf den anderen erwachsen werden.
Die angestaute Wut in meinem Innern führte dazu, dass ich mich mit den falschen Leuten einließ. Meine Noten rauschten in den Keller, und ich flog vom College, weil ich mehrfach in Prügeleien verwickelt war. Und letzten Sommer war das Ganze eskaliert, als ich den Freund meiner Mutter dabei erwischte, wie er auf sie eintrat, als sie schon nahezu bewusstlos am Boden lag. Ich sah rot und vermöbelte das Schwein. Dummerweise war der Kerl Chef der Kinderabteilung eines großen New Yorker Krankenhauses und nutzte all seine Kontakte, um mich wegen der Abreibung hinter Gitter zu bringen. Ich war mit einer Bewährungsstrafe davongekommen. Doch beim kleinsten Fehltritt würde ich im Knast landen. So weit durfte es nicht kommen.
Und so verschlug es uns zurück nach Carsville, wo ich geboren wurde und eine glückliche Kindheit verbracht hatte, bis alles den Bach runterging. Nur dort war man bereit gewesen, mir eine Chance zu geben, damit mir das Gefängnis erspart blieb. Irgendwie hatte ich gehofft, die Hamiltons wären inzwischen weggezogen, aber es war alles wie früher, nur dass wir jetzt älter waren und bis zum Hals in der Scheiße steckten. Ich zumindest.
Mein Bruder war schon in die Schule gefahren. Die Umzugsleute hatten die Kartons einfach wild durcheinander im Eingangsbereich und im Wohnzimmer abgestellt. Ich hatte meine Mutter mit dem Chaos allein lassen müssen, da ich zur zweiten Stunde erscheinen musste, um meinen Job als Assistent des Basketballtrainers anzutreten – ohne Bezahlung versteht sich. Ich sollte auch der Sekretärin zur Hand gehen und nachmittags auf die Schüler aufpassen, die nachsitzen mussten. Tolle Aussichten, ich weiß.
Ich ließ also meine Mutter zurück, die wegen des Umzugs erst am nächsten Morgen ihre Tätigkeit als Krankenschwester im Hospital von Carsville aufnehmen würde, und brauste auf meinem Motorrad zu der Highschool, an der ich nur das erste Jahr besucht hatte. Für einen Zwanzigjährigen ist es der totale Albtraum, an die alte Schule zurückkehren zu müssen, vor allem, wenn man, wie ich, gefühlt gerade erst den Abschluss hinter sich gebracht hat.
Der Parkplatz war voll, aber es war weit und breit kein Schüler zu sehen, alle waren im Unterricht. Ich stellte mein Motorrad an einem sicheren Platz ab und spazierte mit Sonnenbrille und dem Helm unter dem Arm zum Sekretariat.
Eine junge Frau, die nicht viel älter war als ich, begrüßte mich mit einem freundlichen Lächeln. Sie wirkte erschöpft. Der erste Tag schlauchte immer besonders. Die Schüler hatten Fragen zu ihren Stundenplänen und auch für die Lehrer gab es einiges zu organisieren.
Sie sah mich neugierig an.
»Kann ich dir helfen?« Offenbar hielt sie mich für einen Schüler der Oberstufe.
»Mein Name ist Thiago Di Bianco. Ich bin hier, um …«
»Deine Sozialstunden abzuleisten, ich weiß Bescheid«, meinte sie locker. Sie hatte blondes Haar und blaue Augen. Eine echte Augenweide, bestimmt waren einige Schüler insgeheim in sie verliebt. Mich ließ sie kalt.
»Genau. Wenn du mir die Stundenpläne gibst, bist du mich auch schon los«, sagte ich und setzte mich vor ihren Schreibtisch. Ihre Lider flatterten, als ich die Sonnenbrille hochschob und ihr direkt in die Augen sah.
»Direktor Harrison möchte dich sprechen, um dir die Regeln zu erklären und so«, sagte sie und kicherte. Ich war mir nicht sicher, wie ich das einordnen sollte.
»Gut«, sagte ich, nahm das Blatt und stand auf.
»Sein Büro ist dahinten«, erklärte sie und deutete auf eine Tür mit einem Schild, auf dem in großen schwarzen Lettern DIREKTOR zu lesen war. Es war nicht zu verfehlen. »Ich bin übrigens Sarah«, meinte sie und streckte mir die Hand entgegen. Ihr Händedruck war sanft und warm.
»Freut mich, Sarah«, erwiderte ich trocken und machte mich auf den Weg zum Büro des Direktors. Ich fühlte mich wieder klein wie ein Schüler.
Mr Harrison war schon zu meiner Zeit Direktor an der Highschool gewesen. Er bat mich, Platz zu nehmen, und dem kam ich wortlos nach. Wir taxierten uns gegenseitig einen Moment. Anders als die Sekretärin wirkte er wenig begeistert.
Ich schmunzelte amüsiert.
»Mr Di Bianco, schön, dass Sie uns mal wieder beehren«, sagte er mit einem gezwungenen Lächeln. »Ich muss sagen, ich hätte mir andere Umstände gewünscht, aber ich will nicht klagen.«
»Danke, Mr Harrison. Das Gleiche gilt auch für mich«, erwiderte ich mit einem breiten Grinsen.
»Ich will gleich zum Punkt kommen.« Er stützte die Unterarme auf die Tischplatte und beugte sich vor. »Du bist zwanzig. Ich darf doch Du sagen? Du bist hier, weil der Staat Virginia dir Sozialstunden aufgebrummt hat. Du hast es deiner Mutter zu verdanken, dass ich dich nicht als Tellerwäscher in die Cafeteria schicke. Ich erkläre dir jetzt deine Pflichten: Du wirst Trainer Clab bei den Trainingseinheiten unterstützen. Ich weiß, dass du ein Basketballtalent bist und im College-Team gespielt hast. Es ist bedauerlich, dass man dich rausgeworfen hat, aber dein Know-how kann uns hier nützlich sein. Außerdem hast du dich zur Verfügung zu halten, wenn ein Lehrer krank wird. Du sollst natürlich keinen Unterricht halten, es geht allein um die Aufsicht. Das Gleiche gilt auch nachmittags für die Nachsitzer. Außerdem wirst du die Schüler der letzten Klasse zu ihrem jährlichen Zeltlager begleiten.«
Moment, das war aber nicht Teil der Vereinbarung.
»Ich soll eine Horde Teenager auf einem Zeltlager beaufsichtigen?«, fragte ich. Dafür war ich die denkbar ungeeignetste Person. Jeder weiß doch, was da abgeht, und ich hatte keine Lust, die Geheimpolizei zu spielen und dafür zu sorgen, dass die Leutchen die Finger voneinander ließen. Totaler Schwachsinn.
»Genau das«, erwiderte er. Sein Blick war eiskalt. »Deshalb wirst du dich genau an die folgenden drei goldenen Regeln halten. Erstens: Kein Alkohol und keine Drogen, wir beide wissen, dass du sonst direkt ins Gefängnis wanderst. Zweitens: Die Beziehung zu den Schülern ist eine reine Tutor-Schüler-Beziehung, das gilt auch für deinen Bruder Taylor. Und drittens: Sollte mir zu Ohren kommen, dass es in dieser Schule zu irgendeinem Verstoß gekommen ist, an dem du in welcher Form auch immer beteiligt warst, werde ich höchstpersönlich dafür sorgen, dass alle Sozialstunden hier für null und nichtig erklärt werden. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Ich hielt seinem Blick stand.
»Absolut, Sir«, erwiderte ich und stand auf, um zu gehen.
»Thiago«, pfiff er mich zurück. »Wir wissen beide, dass deine Anwesenheit hier großen Wirbel machen wird, vor allem bei der Damenwelt.« Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. »Gib acht, was du tust. Du wirst bald einundzwanzig, du bist volljährig und für dein Handeln verantwortlich, verstanden?«
»Aber ja, Sir.«
Als ich das Büro verließ, war mir das Lachen vergangen. Ich musste höllisch aufpassen, dass ich nicht alles verkackte, nur weil ich mich nicht an Regeln halten konnte.
Die Trainingseinheit war unterhaltsamer als erwartet. Taylor war Teil der Mannschaft, und die anderen hatten schnell mitbekommen, dass wir Brüder waren. Damit war das Eis gebrochen, die Jungs betrachteten mich als einen von ihnen. Ich war jung, kaum älter als sie, und am Ende spielten wir eine schnelle Partie. Trainer Clab beglückwünschte mich für meine Geschicklichkeit, und wir unterhielten uns noch eine Weile über Basketball, während die Jungs in der Umkleide duschten. Alles lief super, bis ich auf den Flur hinaustrat, um zum Lehrerzimmer zu gehen, wo ich bis zur nächsten Stunde warten sollte, und genau der Person in die Arme lief, der ich am wenigsten begegnen wollte: Kam.
Wir rannten regelrecht ineinander. Ich fasste sie bei den Schultern, damit sie nicht stürzte, und spürte ein Kribbeln in meinen Händen wie bei einem elektrischen Schlag. Ich ließ sie sofort los. Wir starrten uns gefühlt eine Ewigkeit an, obwohl es bestimmt nur Sekunden waren. Es war, als bliebe die Zeit für einen Moment stehen, damit wir uns an den neuen, fremden Anblick gewöhnen konnten. Ihre Züge hatten sich verändert, sie waren reifer geworden, auch wenn das kleine Mädchen von damals darin noch immer zu erkennen war. Kein Zweifel, vor mir stand der Mensch, den ich mehr als jeden anderen auf der Welt hasste.
Sie hatte lange, dunkle Wimpern. Ihre geschminkten sinnlichen Lippen glänzten so verführerisch, dass meiner Fantasie Flügel wuchsen. Und diese neckischen Grübchen an den rosigen Wangen … Sie brauchte kein Rouge. Ich erinnerte mich, wie leicht sie immer errötete. Und was für eine Figur! Ich musste mich zwingen, meinen Blick abzuwenden. Nur eines hatte sich nicht verändert: Sie war immer noch zwei Köpfe kleiner als ich.