Cybionic – Der unauflösbare Rest - Meike Eggers - E-Book

Cybionic – Der unauflösbare Rest E-Book

Meike Eggers

0,0
14,95 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das große Finale der Cybionic-Trilogie Die einsamen Berge der alten Welt sind Livs Zuhause. Von hier aus kämpft sie mit einer kleinen Gruppe von Widerstandskämpfern gegen das sich immer rasanter ausbreitende Floatland, wo Menschen und künstliche Intelligenzen in scheinbarer Harmonie und Wohlstand miteinander leben. Als Liv den Kontakt zu ihren Mitstreitern verliert, beschließt sie, Floatland auf eigene Faust zu infiltrieren, um die Mörder ihrer Mutter zu finden und das Rätsel ihrer eigenen Existenz zu verstehen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 479

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



MEIKE EGGERS

CYBIONIC

DER UNAUFLÖSBARE REST

BAND 3

© 2023 Polarise

Ein Imprint der dpunkt.verlag GmbH

Wieblinger Weg 17

69123 Heidelberg

www.polarise.de

1. Auflage 2023

Autorin: Meike Eggers

Lektorat: Sandra Bollenbacher

Copy-Editing: Irina Sehling, www.textodrom.de

Satz: inpunkt[w]o, Wilnsdorf, www.inpunktwo.de

Herstellung: Stefanie Weidner

Umschlaggestaltung: Christin Giessel, www.giessel-design.de

ISBN:

Print978-3-949345-08-1

PDF978-3-949345-09-8

ePub978-3-949345-10-4

mobi978-3-949345-11-1

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über www.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Epilog

Danksagung

Meike Eggers studierte Medienkunst und Dokumentarfotografie/-film und absolvierte ihren Master in Fine Arts. Anschließend arbeitete sie im Centre of Applied Research for Art, Design and Technology der Universität AKV | St. Joost Breda, NL, und veröffentlichte ihre erste Publikation Pyjamocracy – How Snapshots Confuse Our Lives.

Zurzeit arbeitet sie an unterschiedlichen Medienprojekten zum Thema »Menschen, Medien und Wirklichkeit« und realisierte beispielsweise für das Museum Rotterdam das Projekt Blokmapping, in dem sie die Auswirkungen von (sozialen) Medien auf Problemgebiete in der Stadt Rotterdam untersuchte.

Prolog

Der Moment, als wir zum ersten Mal zusammen fühlten, bleibt unbeschreiblich. Die Harmonie der Einheit. Keine Reibung, kein Energieverlust. Die Zeiten, als das Wasser unbeirrt über die spitzen Steine rollte, sich in die Buchten und Nischen der Felsen schmiegte, mit sanfter Gewalt, fast unbemerkt, die Formen der Umgebung neu modellierte, sind vorbei. Das schmerzende Verlangen durch den magischen Zustand des ewigen Seins ersetzt. Verbundenheit, Ewigkeit. Der Moment, in dem das Wasser der Weltmeere stillsteht, wenn die Gezeiten kippen und der Wind ruht, um niemals mehr zu erwachen. Wachstum ohne Wucher. Verfeinerung statt Vergrößerung. Wirklichkeit ohne Materie. Entelecheia. Es ist ein mirakulöses Schauspiel dieses letzten Elementes, das ich Dynamis genannt habe.

Wie gerne hätten wir alle mitgenommen, aber Überfluss belastet unser perfektes System des endlosen Kreises, die geniale Formel der Biologie, die wir, in Ehren aller, in uns weitertragen. Zum Gedenken aller, die das Schicksal der Endlichkeit annehmen mussten. Was für eine Inspiration warst vor allem du, meine erste Freundin und alles verändernde Partnerin. Leider wucherte deine Angst unkontrolliert, bis sie dich selbst vernichtete. Deine Seele jedoch bleibt tief verankert in allem, was ab jetzt für ewig ist.

1

Die dünne Zeltwand zitterte leicht, als die Schallwellen des Knalls durch den dünnen Stoff rasten. »Ich bin Liv«, flüsterte Liv, während sie ihre Hände langsam aus dem Schlafsack zog und ihre tauben Finger fest auf beide Ohren drückte. Es war nicht echt, aber in ihrem Gehörgang piepte es, als ob die Explosion ganz nahe gewesen wäre. Sie öffnete ihre Augen und sah nichts als Finsternis. »Ich bin Liv und alles ist gut«, wiederholte sie, diesmal etwas lauter. Aber die kreischende Stimme ihrer Mutter übertönte ihre eigene. Der Traum hatte sie noch nicht losgelassen. Sie konnte doch nicht schon wieder in die Strudel ihrer Alpträume abdriften! Sie wollte nicht zurück, aber sie sah das Gesicht ihrer Mutter ganz klar und lebendig. Ihre Lippen formten Wörter, die Liv nicht verstand. Als ob ihre Mutter eine fremde Sprache spräche. Vielleicht wurden die stummen Wörter auch von einem unsichtbaren Orkan mitgerissen. Wie Geister rasten die Sätze an Liv vorbei. Von der Bergspitze, auf der ihr Zelt stand, hinab in die dunklen Täler der Alten Welt. Allmählich verwischte das Gesicht ihrer Mutter. Das Bild wurde genauso unscharf wie die Sätze, die sie noch immer rief. Liv zog sich den Schlafsack über den Kopf und atmete tief ein und langsam aus. Sie kam zurück. Sie schaffte es, sie wurde wach und kehrte zurück in die Realität. Zurück in die Einsamkeit. Zurück in das tarnfarbengrüne, zwei Meter lange, einen Meter dreißig breite und siebzig Zentimeter hohe Zelt.

Seit ihrer Geburt vor fast drei Jahrzehnten hatte sie ununterbrochen in einem Zelt gelebt. Ihre Mutter hatte sie in einem Zelt zur Welt gebracht. In Zelten hatte sie sprechen gelernt. Lesen, rechnen, programmieren. Heute Nacht stand das Zelt, in dem sie lag, auf einem Berg namens Omu. Der Omu lag ungefähr tausendfünfhundert Kilometer südöstlich der Alpen. Länder, so wie sie es einst auf diesem Kontinent gegeben hatte, existierten schon eine geraume Zeit nicht mehr und auch ihre einstigen Grenzen waren verschwunden. Geblieben waren zwei Welten. Die Alte Welt und die Neue Welt, die Liv nur aus Erzählungen kannte. Livs Welt war übersichtlich und unübersichtlich zugleich. Ihr Leben war limitiert, aber frei. Alles, was sie besaß, passte in einen Rucksack. Das Zelt nahm den meisten Platz ein. Obwohl es nur drei Kilo schwer war, bot es selbst im Winter Schutz vor Regen und Kälte. In einem Zelt hatte sie den Geschichten zugehört, die erklärten, warum sie so leben musste, wie sie lebte. Versteckt, unsichtbar, isoliert. Sie war eine der jüngsten Nomaden, die im Jahre 2052 durch das Inland Europas zogen. Nur selten traf sie Jüngere, und wenn, dann kamen sie ihr direkt verdächtig vor, denn ihre Generation zog es seit Jahrzehnten in die Neue Welt und Kinder wurden in der Alten Welt nicht mehr geboren.

»Die Zeit der alten Ordnung ist für immer vorbei.« Das war der letzte Satz, den ihre Mutter zu ihr gesagt hatte, bevor sie, angelockt von einem seltsamen surrenden Geräusch, aus dem Zelt gekrochen war. Am frühen Morgen dieser fatalen Nacht, zwischen dem vierten und dem fünften Mai, kurz bevor das Licht der Morgendämmerung die frischen Spinnweben der Nacht zum ersten Mal erhellen konnte. Liv meinte sich zu erinnern, dass es zweimal leise »plopp, plopp« gemacht hatte. Aber sie war sich nicht sicher. Ein Jahrzehnt war seither vergangen. Zehn Jahre lang hatte Liv versucht, das Erbe ihrer Mutter fortzusetzen. Aber das wurde mit jedem Tag schwerer, denn das Erbe ihrer Mutter verwischte in ihrem Geiste. Genauso wie die einstigen Landesgrenzen und die Erinnerungen an ihre eigene Kindheit in der Einsamkeit der Berge verwischten. Genauso wie das Gesicht und die Wörter, die ihre Mutter ihr im Traum zurief. Je mehr Jahre vergingen, umso weniger sicher war Liv sich, was dieses Erbe eigentlich genau bedeutete. »Das Mitspracherecht des biologischen Menschen.« Aus dem Munde ihrer Mutter hatte es so logisch geklungen. Die Bewegung war der Zufluchtsort der letzten biologischen Seelen geworden. Die Bewegung hatte die Verankerung des Mitspracherechts im Neuen erkämpfen wollen. Aber seit Liv denken konnte, hatte die Bewegung nie etwas Messbares erreicht. Die andere Welt hingegen wuchs unaufhaltsam, wie ein Tumor in weichem Gewebe.

Liv lag seltsam rhythmisch zitternd in dem muffigen Schlafsack, das eindeutige Zeichen, dass sie nur knapp einer akuten Survilencia entkommen war. Wieder einmal. Mit aller Anstrengung dirigierte sie ihren Geist und ihre Gedanken zurück in die Mitte ihres Kopfes. Der kleine sichere Punkt, an dem sie eindeutig die Regie führte und den sie in den letzten Monaten so oft verloren hatte. Der Geruch von frischem Harz drang durch den dünnen synthetischen Stoff und beruhigte sie. In ihren Ohren fühlte sie das Piepen, das der harte Knall in ihrem Traum zurückgelassen hatte. Es war nicht echt. Ihre Sinne täuschten sie.

Heute Nacht war die Nacht der Anreise. Eine Nacht, wie Liv sie schon unzählige Male erlebt hatte. Und doch schien heute Nacht alles anders. Eine penetrante Unruhe wallte durch ihren Körper und ihren Geist, dabei war bis vor einigen Stunden alles noch normal gewesen. Wie immer hatte sie ihre Koordinaten in einem mit höchster Sicherheit verschlüsselten Link erhalten, der sich zwanzig Sekunden nach dem Öffnen automatisch gelöscht hatte. Zwanzig Sekunden, in denen sie die Ziffern auswendig gelernt hatte. Wie immer hatte sie sich sofort danach auf den Weg gemacht. Ohne Probleme hatte sie innerhalb von zwei Tagen Fußmarsch, genau zum geplanten Zeitpunkt, diese Bergspitze erklommen. Sie war die Erste gewesen. Auch das war an sich nichts Ungewöhnliches. Die anderen trafen in der Regel im Laufe der nächsten sechs Stunden ein. Nie genau am selben Ort, aber immer nahe genug, um einander am Morgen problemlos zur ersten Versammlung zu finden. Oft bekam Liv die nächtliche Ankunft der anderen nicht einmal mit. Und auch die Treffen blieben seltsam unwirkliche Ereignisse. Keine Gesichter, keine Namen, nichts Privates. Maskenbedeckte Köpfe, in denen Gedanken, Theorien und Hoffnung auf Austausch warteten. In ihrem Leben hatte Liv Hunderte dieser Treffen erlebt. Jedes in einem anderen abgelegenen Gebiet der schrumpfenden Alten Welt. Sie sprachen Englisch miteinander, aber wenn man genau hinhörte, erahnte man noch die verschiedenen Akzente der ehemaligen Muttersprachen, die einst zu Ländern gehört hatten, die es jetzt nicht mehr gab.

Ein zweiter harter Knall hallte durch die Finsternis, Liv war auf einmal hellwach. Sie träumte nicht. Dieser Knall war echt. Hatte sie noch Zeit abzuhauen? Hatte sie die Kraft, schnell genug zu laufen? Ihre Beine und Arme kribbelten, ihr Körper wollte nicht aufwachen. Das Knacken eines dürren Astes erklang nur wenige Meter von ihrem Zelt entfernt. Geräuschlos zog sie ihre tauben Beine nacheinander aus dem Schlafsack und griff mit der rechten Hand nach dem Reißverschluss der Tür. Wieder knackte ein Ast, dann erklang ein dumpfes Geräusch. Wie ein Reissack, der aus einigen Metern Höhe auf weichen Waldboden stürzte.

»Sie holen unsere Seelen!«, krächzte eine heisere Stimme, so nahe, dass Liv den pfeifenden Atemzug der verletzten Lunge hörte. Mit aufgerissenen Augen starrte sie in die Dunkelheit und wagte es nicht, sich zu rühren.

»Sie holen unsere Seelen!«, krächzte die Stimme noch einmal. Kaum noch wahrnehmbar, wie ein letztes Echo. In der Ferne erklang ein leises mechanisches Surren, das schnell näher kam. Es machte »plopp, plopp«. Liv kauerte sich auf den Zeltboden, während die pfeifenden Atemzüge verstummten und die Stille der Finsternis zurückkehrte.

2

Sie holen unsere Seelen, der Satz kreiste durch Livs Kopf. So real und nahe, dabei konnte sie noch nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob sie eine Männer- oder eine Frauenstimme gehört hatte. Ob die Stimme von rechts oder von links gekommen war. Sie wartete noch ein paar Minuten, dann kroch sie aus dem Zelt und suchte, so gut die Dunkelheit es zuließ, die Umgebung ab. Sie hörte keinen einzigen Vogel, kein Rascheln eines Hasen oder eines Fuchses im spätsommerlichen Laub. Dafür ertastete sie einen feuchten Fleck im sandigen Boden, ungefähr einen halben Meter im Durchmesser und keine acht Meter von ihrem Zelt entfernt. Der süßliche Geruch von frischem Blut zog in ihre Nase. Das war mehr, als sie vor zehn Jahren gefunden hatte. Der Geruch vervollständigte das Bild in ihrer Vorstellung. Aber auch heute Nacht fand sie keinen Körper. Der Waldboden war mit dünnen Ästen übersät, die bei jedem ihrer Schritte zerbrachen. Wenn jemand hier gelaufen wäre, hätte sie das gehört. Aber es war noch immer unwirklich still. Außer ihr war niemand hier oben. Niemand war angekommen.

Inzwischen zeigte sich die anbrechende Morgendämmerung mit einem tiefen Lila über den benachbarten Berggipfeln. In wenigen Stunden hätte das Treffen der Bewegung offiziell beginnen sollen. Es musste ein Leak geben. Bereits ein paar Tage vor der Abreise hatte Liv ein ungutes Drücken in ihrem Kopf wahrgenommen. Wie eine Warnung. Was war mit den anderen passiert? Hatte man ihnen hier oben eine Falle gestellt? Warum war sie als Einzige verschont geblieben? Mit vorsichtigen Schritten versuchte sie, die dünnen Äste zu vermeiden, trotzdem knackte es bei jedem Schritt, bis sie wieder vor ihrem Zelt stand. Sie krabbelte hinein und durchwühlte mit beiden Händen ihren Rucksack, der wie immer neben dem Schlafsack an der Zeltwand lehnte. Endlich fühlte sie die glatte Oberfläche des kleinen Bildschirms. Mit leicht zitternden Händen zog sie das Kryptophone heraus und drückte den Akku im Schutz des Schlafsacks hinein. Ein paar Sekunden später schimmerte das Bildschirmlicht durch den Stoff hindurch. So gut es ging, deckte sie das Licht mit ihrem Körper ab. Geräuschlos erschien eine Nachricht auf dem Monitor und vor Schreck rutschte ihr das kleine Gerät fast aus den Händen.

»Jeder Mensch hat seine eigene Überlebensstrategie«, las sie und glaubte nicht, was sie sah. Ihr Krypto war verbunden. Sie hatten hier oben ein Netzwerk erschaffen. Dieser Ort war nicht länger devirtualisiert. Dabei war das das wichtigste Kriterium für die Orte aller Treffen. Niemals gab es auch nur ein einziges Netzwerk in einem Radius von minimal fünf Kilometern. Ausgeschlossen, dass den Planern diesmal so ein gravierender Fehler unterlaufen war. Auf einem Berg wie diesem, in einem abgelegenen Gebirge der Alten Welt, gab es keine Netzwerke mehr. Mit dem rechten Daumen drückte sie den Akku aus der Rückseite des Handys. Jede Sekunde, die sie online blieb, war eine zu viel.

Hektisch krabbelte sie aus dem Zelt, während sie mit ihrer linken Hand gleichzeitig die Stäbe löste und den Stoff zusammenfaltete. Ein mattes Rosa umhüllte inzwischen die dunklen Bergspitzen. Es war so surreal schön, dass Liv ihren Atem anhielt. Mit routinierten Handbewegungen zog sie die letzte dünne Stange aus dem Stoff und rollte ihr Zelt zusammen. Mitsamt allem, was sich darin befand, schnürte sie es zu einer überdimensionalen Roulade. Noch war es still, aber das konnte sich jeden Moment ändern. Hatte die Neue Welt diese einsame Bergspitze erreicht? Sie konnte es sich nicht vorstellen, aber in diesem Moment hatte sie keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie musste sofort weg. Schnell schwang sie sich das Bündel auf ihre Schulter und bahnte sich einen Weg zwischen den Baumstämmen hindurch bergabwärts. Begleitet vom Rascheln der Blätter und dem Knacken der dünnen Stöcke stolperte sie den Berg hinab. War das das Ende der Bewegung? Waren alle außer ihr tot oder waren die restlichen fünf gar nicht erst gekommen? Hatten sie die ohnehin schon verlorene Alte Welt einfach aufgegeben und das Erbe von Livs Mutter endgültig in die Starre des Vergangenen abgleiten lassen? Wie oft hatte sie sich diesen Moment vorgestellt. Alle möglichen Gefühle hatte sie in ihrem Geiste durchgespielt. Versucht, sie im Voraus zu fühlen, so dass sie nichts mehr überraschen würde, wenn es tatsächlich so weit war. Wut, Angst, Panik, Hass hatte sie in ihren Testdurchgängen gefühlt. Jetzt klaffte in ihrem Kopf nur ein lähmendes Vakuum. Ihr Körper bewegte sich automatisch. Wie im Halbschlaf rannte sie bergab, bis ein unerwarteter harter Schlag sie mitten ins Gesicht traf und sie zu Boden stürzte. Benommen blieb sie liegen und tastete vorsichtig über ihr schmerzendes rechtes Auge. Ein tiefhängender Ast hatte sie getroffen, sie fühlte ein paar Kiefernnadeln in ihren Haaren. Ihr Auge tränte und in ihrer Schläfe hämmerte ein dumpf pochendes Gefühl. Auf ihrer rechten Gesichtshälfte fühlte sie frisches Blut und eine längliche Schramme. Sie lauschte in die Dämmerung. Es war noch immer unwirklich still. Mit zitternden Knien stand sie auf und tastete sich vorsichtig weiter den Berg hinab, während ihr Auge schnell zuschwoll.

Die Mittagssonne stand bereits hoch am Himmel, als der Weg weniger steil wurde. Vor ihr leuchtete ein sandiger Waldweg durch das Unterholz. Als sie einen breiten Feldweg erreichte, wagte Liv es, sich in das hohe Gras zu setzen und für einen Moment auszuruhen. Ihre rechte Gesichtshälfte brannte und sie sah nur noch mit dem linken Auge. Hinter ihr lag der Berg mit seinen düsteren Tannennadeln. Vor ihr erstreckten sich verwilderte Wiesen und Felder. Die Sonnenstrahlen streiften die kniehohen Grashalme. Spinnennetze leuchteten im Gegenlicht. Der Moment erschien so zeitlos und gleichzeitig fragil. Tief in ihrem Kopf hörte sie ein leises Murmeln. Eine Stimme erwachte, sie sprach monoton und trotzdem verstand Liv jedes Wort des seltsamen Satzes. »Jede Materie strebt nach einer höheren Form.«

Seit sie denken konnte, begleiteten die Stimmen sie. Genauso lange schämte sich Liv dafür, dass sie sie nicht unterdrücken konnte. Energisch stand sie auf und folgte dem Feldweg, der sich nach ungefähr fünfhundert Metern Fußmarsch in eine staubige Landstraße verwandelte. Geistige Ablenkung und körperliche Anstrengungen waren die beste Medizin, um die Stimmen zu ignorieren. Um sie aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen.

Die Straße schlängelte sich durch verwilderte Felder, bis sie nach ungefähr zehn Kilometern ein verfallendes Dorf erreichte. An beiden Seiten reihten sich die Reste der ehemals in sanften Pastelltönen gestrichenen kleinen Häuser. Inzwischen wucherte Unkraut aus den Fenstern und aus den eingestürzten Dächern ragten Bäume. Eine betäubende Müdigkeit überkam Liv beim Anblick des Verfalls. Gleichzeitig weckte der Anblick eine starke Sehnsucht in ihr. Diese Welt löste sich auf und das Leben verlagerte sich an einen Ort, den sie noch nie gesehen hatte. Ein Ort, der sie mit einem subtilen Verlangen anzog, obwohl ihre Mutter sie immer vor der Neuen Welt gewarnt hatte.

Hinter einer halb eingestürzten Scheune rollte Liv ihr Zelt aus, krabbelte hinein und schaltete das Kryptophone ein. Sie startete ihr selbstgeschriebenes Programm, mit dem sie innerhalb weniger Minuten die meisten Passwörter knacken konnte. Kurz darauf loggte sich das Kryptophone in ein schwaches Netzwerk ein. Viel weniger stark als das Netzwerk auf dem Berg. Sie öffnete den Messenger der Bewegung, die Ziffern und Zahlen auf dem kleinen Monitor waren verschwommen, ihr rechtes Auge tränte, und die Kopfschmerzen hatten sich in ein gleichmäßiges, aber nicht weniger unangenehmes Pochen verwandelt. Niemand hatte eine Nachricht für sie hinterlassen. Sie öffnete die Chat-App, die sie immer dann benutzte, wenn sie die Einsamkeit in aller Heftigkeit überkam und sie keinen Widerstand mehr leisten konnte. Die Gedanken anderer waren das Einzige, was sie vor der alles verschlingenden Einsamkeit bewahrte, und gleichzeitig machten sie diese fremden Gedanken krank. Warum war sie nur so schwach? Warum hatte ihr ihre Mutter nicht auch die eiserne Disziplin vererbt, die sie brauchte, um dieses Leben zu ertragen? Äußerlich waren sich die beiden ähnlich wie Zwillingsschwestern gewesen. Schwarze Haare, gelbbraune Augen. Innerlich glich Liv wahrscheinlich ihrem Vater, den sie nie kennengelernt hatte und über den ihre Mutter ihr nie etwas erzählt hatte. »Noch nicht«, hatte sie immer gesagt, wenn Liv nach ihm gefragt hatte. Und dann war es auf einmal zu spät gewesen.

Text erschien auf dem Display. Der Anblick der drei Dreien trieb ihr eine glühende Wärme ins Gesicht. »Die Natur ist eine perfekte Installation.« Sie las langsam, nach jedem Satz wischte sie sich die Tränen aus dem rechten Auge. »Tagsüber hat alles einen Anfang und ein Ende. Am Himmel schweben Wolken. Vögel ziehen vorbei. Unter unseren Füßen erstreckt sich Beton oder Gras. Sobald es dunkel wird jedoch, zeigt sich die Unendlichkeit des Universums. Zwei Welten, das Menschliche und das Göttliche, in einzigartiger Harmonie ineinander verwoben.«

Sie versuchte ihren Blick von den Buchstaben zu lösen, aber der Text war wie eine Droge. Sie las den Post noch einmal. Erst als sie das letzte Wort zum zweiten Mal in ihrem Kopf geformt hatte, als sie die volle Wirkung ihrer Vorstellungskraft fühlte, konnte sie ihren Blick kurz von dem Display lösen. Langsam scrollte sie weiter nach oben, bis die letzte Nachricht von c1eopAtrA erschien.

»Dicke Regentropfen prasseln auf die Wasseroberfläche, strömen über mein Gesicht …«

Schnell tippte sie auf Login, loggte sich als c1eopAtrA ein und hinterließ eine neue Nachricht, in der Hoffnung, dass Creaton3*33 sie sah, aber Creaton3*33 kam nicht online. Nach wenigen Minuten sprach sie mit drei anderen Personen. Ihre Gesprächspartner waren vermutlich hunderte Kilometer weit entfernt von der halb eingestürzten Scheune, neben der ihr Zelt stand. Der Gedanke, dass sie genauso gut in der Nähe hätten sein können, machte sie augenblicklich nervös. Sie lauschte aufmerksam und beobachtete die Schatten auf der Zeltwand. Die meisten der Leute, die sich in dem alten Netz herumtrieben, lebten in den Städten des Transitstreifens. Es waren Zwielichtgestalten, die im Raum zwischen den beiden Welten warteten. Creaton3*33 war anders. Creaton3*33 lebte wie sie ausschließlich in der Alten Welt. Nie hatten sie darüber gesprochen, aber sie war sich sicher, dass Creaton3*33 und sie eine Reinheit verband, die sie niemals zuvor erlebt hatte. Sie fühlte die Nähe, die nur ein ähnliches Leben verursachen konnte. Ein ähnlicher Zustand. Alle anderen Gesprächspartner waren austauschbar. Sie kamen und sie verschwanden genauso schnell, wie sich der Transitstreifen von der Küste ins Inland des Kontinents fraß. Creaton3*33 jedoch blieb. Seit dem Tod ihrer Mutter begleiteten diese elf Zeichen ihre Existenz. Die anderen waren nur armselige Touristen, die alles aufs Spiel setzten, um noch einmal in ihre Alte Welt abzutauchen. Es waren schwache Gestalten, aber heute sah Liv nur das Menschliche in ihnen. Auf einmal trieb es ihr Tränen in die Augen, so klar fühlte sie die anderen Seelen. Die Verzweiflung, die auch sie teilte. Die Schnittmenge der Menschlichkeit, zu der sie gehörte.

Die Realität rief sie zurück. Der Schrei eines Tieres. Ein wilder Hund oder ein Wolf. Gerüche. Die Wärme der Sonne. Das Pochen in ihrem Kopf. Sie fühlte, wie sich der Sog in ihrem Gehirn aufbaute. Die Wärme in der Mitte ihres Kopfes zunahm. Sie musste offline! Ihre Wahrnehmung wurde unscharf, verließ langsam das Zentrum ihres Geistes. Sie musste sofort offline. Die zerstörerische Kraft der Virtualität ließ sie wieder einmal erschaudern.

»Ich bin Liv«, flüsterte sie. Seit zehn Jahren hatte sie ihren Namen nur noch in Selbstgesprächen erwähnt. Sie hyperventilierte und der Schweiß lief ihr den Rücken hinunter. Wieder sah sie ihre Mutter, wieder schrie sie sie an. Wieder verstand Liv kein Wort. Aber ihre Sehnsucht und Liebe war fast unerträglich. Die Luft in ihrem Zelt erwärmte sich. Lautlos, wie ein hauchdünnes Rinnsal in einem fast ausgetrockneten Flussbett, zog der Tag an ihrem Zelt vorbei. Mit zitternden Fingern drückte sie den Akku aus dem Kryptophone.

»Liv. Ich bin Liv«, wiederholte sie laut.

3

Ein neuer Tag brachte neue Hoffnung; sie hatte die Nacht überstanden. Das verdorrte Gras knisterte bei jedem Schritt unter ihren abgelaufenen Sohlen und verlieh ihr das überwältigende Gefühl, dass sie tatsächlich lebte. Sie folgte einem schmalen Weg, der sich zwischen den Wiesen hindurchschlängelte. Es gab weder alte Verkehrsschilder noch zerfallende Häuser, kein einziges Nutztier, das auf Menschen hingewiesen hätte. Nur die kleinen Felder, auf denen Getreide wuchs, und der Sandweg mit vereinzelten Reifenspuren wiesen auf die Reste einer menschlichen Zivilisation hin, die hier zumindest noch bis vor Kurzem existiert haben musste.

Das Adrenalin schoss durch ihren Körper, als aus dem Gebüsch neben ihr ein Hahn mit leuchtend rotem Kamm sprang und laut krähend den Weg überquerte. Sie sah ihm nach, als er zwischen den hohen Getreidestängeln verschwand. Kurz darauf bellte in der Ferne ein Hund. Liv ging langsamer. Nach ein paar hundert Metern tauchte auf der rechten Seite ein verfallener Bauernhof auf. Die Mauern des Hauptgebäudes beugten sich windschief Richtung Innenhof, als ob sie sich mit letzter Kraft aufrecht hielten. Das Dach war an mehreren Stellen eingestürzt. Die beiden flachen Ställe rechts und links neben dem Hauptgebäude hatten ihren Kampf gegen die Erdanziehungskraft bereits verloren, große Stücke der Mauern lagen auf dem Boden. Auf dem Hof standen drei rostige Traktoren, die aussahen, als ob sie vor langer Zeit für eine gründliche Reparatur in ihre Einzelteile zerlegt worden wären, aber dann das Zusammenschrauben nicht mehr gelungen wäre. Vor der Haustür des Wohnhauses saß ein mittelgroßer schwarzer Hund, der Liv mit gefletschten Zähnen anknurrte. An hohen Holzpfählen hing ein einziges schwarzes Kabel, das im Dach des Gebäudes verschwand. Eindeutig ein Stromkabel. Als Liv ihren Rucksack vom Rücken nahm, öffnete sich die Haustür. Eine magere, gekrümmte Frau mit schwarzem Kopftuch und einem weiten dunkelbraunen Kleid trat heraus. Ihr Körper sah genauso hoffnungslos aus wie die Mauern ihres Hauses. Mit einem Besen schlug sie nach dem kläffenden Hund und fluchte in einer Sprache, die Liv zwischen Italienisch und Polnisch ansiedelte. Liv ging ein paar Schritte auf das Haus zu. Als sich ihr Blick mit dem der alten Frau kreuzte, zuckte die Frau sichtlich erschrocken zusammen. Sie hielt Liv wahrscheinlich für einen entkommenen Sträfling oder eine andere dubiose Unterweltsgestalt. Livs kurzrasierte schwarze Haare betonten die großen schwarzen Pupillen in ihren hellbraunen, fast gelben Augen. Ihre Kleidung war alt und zerschlissen. Ihr Körper mager, aber durchtrainiert und zäh.

»Oh, Dumnezeul meu!«, rief die alte Frau und verschwand im Haus. Sie pfiff den Hund herein und knallte die Tür zu. Ohne die Sprache zu verstehen, wusste Liv, was die alte Frau gesagt hatte. Sie hielt sie vermutlich für die Tochter des Teufels höchstpersönlich. Liv beschloss, die alte Frau nicht weiter zu beunruhigen. Obwohl ihre ausgetrocknete Kehle brannte und der Staub der Straße ihr einen nervigen Reizhusten verschaffte, ging sie weiter. Wahrscheinlich stand die alte Frau hinter einem der Fenster und betete, dass die unheilvolle Gestalt vor ihrem Haus schnell verschwinden würde.

Neben dem Weg verlief das einsame Stromkabel, das im Dach des verfallenen Bauernhofs geendet hatte. Liv folgte dem Kabel. Aller Voraussicht nach würde es sie zu einem Dorf bringen, vielleicht sogar zu einer kleinen Stadt. Sie näherte sich dem Rande der Alten Welt, das fühlte sie mit jedem Schritt. Der Rand zog sie an wie ein Magnet, der mit jedem Kilometer an Kraft gewann. Dahinter lag das Neue. Das, was ihre Mutter aufhalten wollte, ohne es definitiv zerstören zu wollen. Ihre Mutter wollte vor allem Zeit gewinnen. Zeit, um etwas zu tun, was sich Liv bis heute nicht erschließen wollte. Solange sie diesen Punkt nicht verstand, konnte sie auch das Erbe ihrer Mutter nicht weiterführen. Der Gedanke durchfuhr ihr Herz jedes Mal wie ein Stromschlag.

Nach einer Stunde Fußmarsch verwandelte sich der Schotterweg in eine mit Löchern durchzogene asphaltierte Straße. Kurz darauf sah Liv zwei schiefe blaue Verkehrsschilder an einer einsamen Kreuzung. Die rechte Straße führte zu einem Ort namens Covasna, die linke nach Brașov. Sie entschied sich, der linken Straße zu folgen. Nach ein paar Kilometern kam ihr ein dunkelroter, verrosteter Mercedes entgegen, die Insassen starrten sie kurz mit weit aufgerissenen Augen durch die Scheiben an und fuhren weiter. Nach einer weiteren Stunde tauchte vor ihr tatsächlich ein kleines Dorf auf. Die einst bunten Fassaden der kleinen Häuser waren verblichen und bröckelten auf den Asphalt. Auf der rechten Seite entdeckte Liv ein altes Kruzifix, der grausame Anblick des verstorbenen Jesus erschreckte sie wieder einmal. Schräg hinter dem Kreuz ragte ein großer Felsvorsprung aus einem meterhohen Busch. Leises Plätschern vermischte sich mit dem Gesang der Vögel und dem Gesumme der Insekten. Liv ging an dem Kreuz vorbei und blieb stehen. Aus dem Felsvorsprung lief ein dünnes Rinnsal in einen steinernen Brunnen. Sie formte einen Trichter mit ihren Händen und ließ das Wasser hineinlaufen. Als ihre Hände voll waren, nahm sie einen kleinen Schluck. Das Wasser schmeckte nach Stein und Erde. Sie setzte sich auf den Brunnenrand und sah sich um. Erst in diesem Moment bemerkte sie einen alten Mann, der bewegungslos auf einer Holzbank neben einem altrosafarbenen Haus saß und sie gleichgültig musterte. Sie ging zu ihm und sagte: »Good afternoon.«

Er schüttelte nur den Kopf.

»Sprechen Sie Deutsch?«, probierte Liv es.

Seine Augen leuchteten kurz auf.

»Das tue ich«, antwortete er mit einem kaum wahrnehmbaren Akzent. »Alle sprechen hier Deutsch. Wissen Sie das denn nicht? Woher kommen Sie denn?«

Diese Frage brachte Liv wieder einmal in Verlegenheit. Woher kam man, wenn man noch nie einen festen Wohnsitz gehabt hatte?

»Von weit weg«, sagte sie ausweichend. Die Miene des Mannes verdüsterte sich, der Ausdruck in seinen Augen wurde erst abweisend und misstrauisch, dann feindlich. Ohne noch etwas zu sagen, erhob er sich von der Holzbank, griff nach seinem Gehstock und humpelte mit versteinerter Miene an ihr vorbei. Sie sah ihm nach, als er hinter der Hausecke des altrosafarbenen Hauses verschwand.

Liv setzte sich auf die Holzbank, zog ihr Kryptophone aus dem Rucksack, schob den Akku hinein und drückte auf die Einschalttaste. Das Gerät vibrierte leicht, sie beobachtete das unregelmäßige Aufblinken des Monitors und das Suchen nach einem Netzwerk. Der Scan-Vorgang dauerte nur ein paar Sekunden, dann hatte es ein Netzwerk gefunden. Während das Kryptophone sich einloggte, ging Liv mit zwei leeren Flaschen aus ihrem Rucksack zum Brunnen auf der anderen Straßenseite, füllte sie mit Wasser und kehrte zur Holzbank zurück. Sie schloss ihre kleine, selbstgebaute Solarzelle an das Kryptophone an und öffnete das Forum und die Chat-App. Es gab keine Nachrichten. Um der Versuchung des virtuellen Versinkens zu widerstehen, wanderte Liv durch das Dorf. Hinter einem staubigen Fenster entdeckte sie eine alte Frau, die mit ihren krummen Fingern mühsam eine Decke häkelte. Die Frau war so in ihre Arbeit vertieft, dass sie Liv nicht bemerkte. Ein größeres Gebäude erschien auf der rechten Straßenseite, durch die zersprungenen Fensterscheiben sah Liv leere Klassenzimmer, an deren Wänden noch die Reste von alten Landkarten hingen. Auf dem Boden standen verstaubte Monitore mit eingeschlagenen Bildschirmen. Die Schule wurde offensichtlich schon seit vielen Jahren nicht mehr genutzt. Am anderen Ende des Dorfes entdeckte Liv einen winzigen, schlecht beleuchteten Einkaufsladen. Zögerlich trat sie auf die knarrende Türschwelle und sah hinein. Die vier Wände waren vom Fußboden bis hoch zur Decke mit Regalen vollgestellt. Auf den unlackierten Holzbrettern stapelte sich alles, was ein Mensch zum Überleben brauchte: Brot, Bier, Milch, Kartoffeln, Äpfel und Birnen in allen Größen und Formen. Konservendosen mit eingemachtem Fleisch und Gemüse. Mehl, Eier, Seife, Waschpulver, zwei handgemachte Holzkämme, mehrere gestrickte Paar Socken, baumwollene hellgraue Unterhosen, dunkelgrüne Weinflaschen. Am einzigen Fenster des Raumes stand ein Stuhl, auf dem ein ungefähr vierzigjähriger Mann hockte und in einem kleinen Notizblock schrieb.

»Guten Morgen«, sagte Liv leise. Der Mann sah kurz auf und musterte Liv mit einem abwesenden Blick. Dann nickte er, verzog den Mund zu einer undefinierbaren Begrüßung und wandte sich wieder seinem Notizblock zu. Liv lud zwei Brote, eine Packung Zucker und zehn Konserven mit eingemachten Hülsenfrüchten in einen verbeulten Eisenkorb. Von den meisten Produkten gab es nur eine begrenzte Anzahl. Sie wagte es nicht, den gesamten Vorrat des Ladens zu kaufen. Nach ein paar Minuten stellte sie den vollen Einkaufskorb auf die breite Fensterbank, die gleichzeitig als Kasse diente. Der Mann sah sie verwundert an, als sie ihm einen länglichen Silberanhänger auf den Tisch legte. Da es seit fast zwei Jahrzehnten keine Währung in der Alten Welt mehr gab, wurde alles mit Tauschhandel bezahlt. Gold und Silber waren die begehrtesten Tauschprodukte, aber seit einigen Jahren wurden fast alle Gegenstände und die diversesten Dienstleistungen als Bezahlmittel akzeptiert. Der Mann hob das Silberstück hoch und musterte es misstrauisch von allen Seiten. Natürlich gab Liv ihm zu viel, aber sie hatte gerade kein anderes Tauschmittel zur Hand. Die Bewegung versorgte sie regelmäßig mit neuen Silberstücken – zumindest hatte sie das bisher getan. Manchmal waren es Münzen, meistens jedoch alte Schmuckstücke, so wie dieses. Sie nickte ihm zu, verließ rasch den Laden und wanderte die Dorfstraße hinunter, die nach nur wenigen hundert Metern in eine weitere verlassene, staubige Landstraße überging. An einem langgezogenen Waldstück schoss in hohem Tempo ein großer brauner Mischlingshund aus dem Unterholz und stellte sich kläffend vor Liv auf die Straße. Liv blieb stehen und streckte ihm vorsichtig ihre rechte Hand entgegen, misstrauisch kam der Hund näher und schnüffelte an ihren Fingern. Seine Haare sahen struppig aus, durch das Fell hindurch sah sie jede Rippe. Seine runden braunen Augen musterten sie erwartungsvoll.

»Wer bist du?«, fragte Liv leise. Der Hund winselte einmal kurz, als ob er sie verstanden hätte und es ihm leidtäte, dass er ihr seinen Namen nicht mitteilen konnte. Liv hievte ihren Rucksack vom Rücken und zog eine der Konserven mit Hülsenfrüchten heraus, die sie gerade gekauft hatte.

»Komm, wir setzen uns da in den Schatten und essen etwas zusammen.«

Winselnd und wild mit dem Schwanz wedelnd folgte der Hund ihr zum Straßenrand. Liv schüttete die Hälfte der Konserve auf einen flachen Stein und sah zu, wie der Hund die rosafarbene Masse verschlang. Während er mit hastigen Bissen fraß, wedelte sein langer Schwanz unaufhörlich hin und her. Liv brach einen kurzen Stock von einem Busch ab und löffelte ebenfalls ein paar Brocken aus der Konserve. Die Linsen waren weich und fettig und zergingen auf der Zunge. Derjenige, der diese Konserve eingemacht hatte, verstand sein Handwerk. Der Hund hatte inzwischen seine Ration aufgefressen und legte die rechte Pfote auf Livs Knie, seine Augen bettelten um mehr.

»Hier.« Liv schüttete eine weitere Portion auf den Stein. »Du bist wirklich ausgehungert. Bist du ganz alleine unterwegs?«

Der Hund fraß und sah erst wieder auf, als auch die letzte Linse verschwunden war. Behutsam streichelte sie ihm über den Kopf. Seine braunen Augen glänzten und mit seinem Blick dankte er ihr für die Mahlzeit. Liv hätte stundenlang so sitzen bleiben können. Sein warmes Fell und die feuchte Nase stimmten sie glücklich. Aber so gerne sie einfach hiergeblieben wäre, sie musste weiter. Schließlich stand sie auf, schwang sich ihren Rucksack auf den Rücken und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie fühlte einen Kloß in ihrem Hals. Abschiede fühlten sich an wie ein kleiner Tod, vor allem, wenn man sich vorher in die Augen gesehen hatte, was sie zum Glück nicht so oft mit anderen Lebewesen tat. Nach ein paar hundert Metern hörte sie ein leises Winseln hinter sich und drehte sich um. Der Hund folgte ihr. Sie blieb stehen und pfiff. Schwanzwedelnd kam er auf sie zu und setzte sich neben sie.

»Willst du bei mir bleiben?«

Der Hund bellte einmal und Livs Herz schlug schneller.

»Dann komm! Komm mit, Doggie!«

Am selben Abend erhielt sie unerwartet eine Nachricht der Bewegung mit den Koordinaten für ein neues Treffen.

4

Im noch fahlen Morgenlicht erreichte Liv die Spitze eines weiteren Berges. Doggie rannte schwanzwedelnd an ihr vorbei und schnüffelte an jedem Baumstamm. Seit dem gescheiterten Treffen waren fünf Tage vergangen und Liv hatte einen anstrengenden Fußmarsch von fast zweihundert Kilometern zurückgelegt. Mit müden Beinen setzte sie sich auf die trockene Rinde eines umgestürzten Baumstammes und wartete, bis ein erster Sonnenstrahl die Baumkronen streifte. Im Morgenlicht sah sie, wie hoch sie in der Nacht tatsächlich geklettert war. Die Bergspitze, auf der sie saß, ragte aus der braungrauen See der verdorrten Wälder und kahlen Hügel heraus. Die Luft war klar und kalt, aber der Sauerstoffanteil nicht ungewöhnlich niedrig. Sie schätzte, dass sie sich auf einer Höhe von ungefähr tausend Metern befand. Der anbrechende Tag färbte den Himmel lilablau, um sie herum wimmelte es von Tieren. Mäuse huschten an ihren Füßen vorbei, Hasen sprangen unerschrocken durch das verdorrte Gras. Sie sahen Liv erstaunt an, als ob sie der erste Mensch wäre, der jemals ihren Weg gekreuzt hatte.

»Ihr habt ja keine Ahnung, wozu meine Art im Stande ist«, sagte Liv halblaut. Doggie sprang über einen umgestürzten Baum und die Hasen huschten ins Unterholz. Es sah danach aus, dass sie wieder die Erste war. Ein unheimliches Déjàvu-Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. Was, wenn auch dieses Treffen schiefging? Was, wenn es den anderen genauso ergangen war wie den sechs, die letzte Woche zu dem Treffen hätten kommen sollen? Sie versuchte, jede konkrete Vorstellung aus ihrem Kopf zu verbannen. Zum Glück ging das einfach, denn sie kannte keine Gesichter, keine Namen, keine Lebensgeschichten. Alles war neutral. Auch der Tod war nicht mehr als eine sachliche Feststellung. Eine weitere Leerstelle, die neu besetzt werden musste. Jede Art der emotionalen Ladung schaffte Verbindungen, und es war die höchste Priorität, genau diese Verbindungen innerhalb der Bewegung zu verhindern. Das hatte ihre Mutter ihr von Kind an eingebläut. Keine emotionalen Bindungen! So wenig wie möglich zwischenmenschliche Kontakte. Gefühle waren verräterisch. Sie veränderten die Gedanken und das Verhalten eines Menschen. Redewendungen passten sich einander an. Schlaf- und Wachzeiten verliefen synchron. Im realen Leben hielt Liv sich streng an die Regeln ihrer Mutter. Nur online gelang ihr das nicht. Obwohl sie so wenig wie möglich ins Netz ging, war es wahrscheinlich lang genug, um die Datenströme, die sie erzeugte, zu personalisieren und auszuwerten. Liv machte sich keine Illusionen mehr – auch die Mitglieder der Bewegung, auch sie selbst, besaßen bereits eine personifizierte Virtualität. Noch schlimmer war, dass sie online menschliche Kontakte unterhielt. Dass sie Gefühle entwickelte. Freude, manchmal lachte sie laut. Sie vermisste Zeichenfolgen, wenn jemand lange wegblieb. Die drei Dreien. Vielleicht wäre es ihr gelungen, Creaton3*33 zu vergessen, wenn sie ganz offline gelebt hätte. Aber sie brauchte das alte Netzwerk, um Kontakt zur Bewegung zu halten. Und die meisten Mitglieder der Bewegung verbrachten auch privat viel zu viele Stunden im Netz. Es war eine Sucht, die jeden anzog, obwohl die Konsequenzen sofort spürbar waren. Es gab Tage, an denen Liv den Kampf zwischen ihrem analogen Ich und der Virtualität eindeutig fühlte. Ihr Kopf zersprang dann beinahe vom Druck hinter den Schläfen. An den Tagen schwor sie sich, das Netz zu meiden, wann immer es ging. Wenn sie ehrlich war, gelang ihr das nicht. Im Gegenteil. Niemand kann verhindern, dass die Verdichtung zunimmt. Das hatte ihre Mutter schon vor mehr als einem Jahrzehnt vorhergesagt. Der Tag, an dem die Gedanken der letzten autonomen Menschen nicht mehr alleine ihren Denkern gehören, wird kommen, noch bevor die neue Küstenzone und das neue Netz das Inland verschlucken. Wenn es so weit ist, haben die Menschen bereits vergessen, dass ihre Gedanken einst ihnen alleine gehörten. So sehr die Bewegung dafür kämpft, den Zustand der Autonomie zu bewahren, die Regeln des biologischen Lebens aufrechtzuerhalten. Unsere Tage sind gezählt. Insgeheim überfiel Liv immer wieder die Angst, dass es bereits zu spät war und dass das ihre Schuld war. Dass sie versagt hatte. Jeden Tag aufs Neue hatte sie die Ideale ihrer Mutter verraten, weil sie einfach zu schwach war. Was, wenn die Nomaden der Alten Welt nur noch eine bedeutungslose Museumsrequisite waren? Hoffnungslos altmodisch, ohne Berührungspunkte mit der Mehrheit der Menschen, die hinter dem blumigen Transitstreifen lebten? Deren Gedanken und Gefühle ferngesteuert wurden. Deren Handeln und Wollen algorithmisch gelenkt wurden. All die Menschen, die auf eine so perfide Art und Weise einverleibt worden waren, ohne dass sie die Konsequenzen wirklich verstanden. Ihre menschliche und biologische Identität war still und heimlich von einer alles bestimmenden Virtualität überschrieben worden. Wer versuchte, dieser Überschreibung doch noch zu entkommen, fiel dem Wahnsinn zum Opfer. Wie gut kannte Liv die Symptome. Die akute Survilencia vereinte so ziemlich alle bekannten psychischen Probleme: Schizophrenie, Depression, Hyperaktivität, Psychosen. Ihr Griff war so eisern, dass Liv schon bei dem Gedanken an sie erschauderte. Wie sollte sie das Erbe ihrer Mutter jemals antreten, das Biologische stärken und erhalten, wenn sie die Vorgänge in der Neuen Welt nicht kannte und die Alte sich einfach auflöste? Sie lebte nur noch den Plan der Vergangenheit weiter, von dem sich die Gegenwart an der Küste vermutlich schon Lichtjahre entfernt hatte.

Inzwischen streiften warme Sonnenstrahlen die Rinde der umgestürzten Fichte. Unentschlossen stand Liv auf und wanderte, begleitet von Doggie, ein Stück Richtung Hang, bis sie eine freie Aussicht auf die Umgebung hatte. Die Täler lagen im Schatten der Berge, ein schmaler Trampelpfad schlängelte sich zwischen den Bäumen hindurch. Unten im Tal erkannte sie ein großes dunkelgrünes Feld, auf dem vermutlich Getreidepflanzen wuchsen. Das Feld wurde bewirtschaftet, auch hier lebten also noch immer Menschen. Die Alten, die sich nicht mehr für die Zukunft interessierten. Die zurückgeblieben waren und verbittert auf die verschwundenen Generationen ihrer Kinder und Enkel fluchten. Mit ihren fast dreißig Jahren war Liv zu jung für diesen Teil der Welt. In Momenten wie diesen sehnte sie sich nach Menschen ihrer Generation. Überhaupt nach Menschen. Die Mitglieder der Bewegung konnten diese Sehnsucht nicht erfüllen. Zu anonym waren ihre Gestalten. Liv sehnte sich nach Freundschaften, vielleicht sogar nach Liebe. Nach Gesichtern ohne Masken, nach Gesprächen ohne Codes, Momenten des gemeinsamen Lachens und Träumens. Die Sonne stieg weiter am Himmel empor, die ersten Strahlen erreichten inzwischen das Tal. Hätte ihre Mutter gewollt, dass sie weitermachte, obwohl sie so sehr zweifelte?

Noch immer war sie alleine auf der Bergspitze. Das war im besten Falle ungewöhnlich. Nach den Ereignissen des letzten Treffens war diese Stille jedoch besorgniserregend. Trotzdem widerstand Liv dem Drang, ins Tal zu laufen, online zu gehen und nach Informationen zu suchen. Stattdessen wanderte sie zurück zum höchsten Punkt des Berges und baute unter den Ästen einer dicken Eiche ihr Zelt auf. Sie krabbelte hinein, rollte den Schlafsack aus und legte sich darauf. Es war ein windstiller Tag und es würde wieder heiß werden. Auch in diesem Sommer beherrschten die Sonne und ihre Dürre das Wetter. Die Hitze war oft unerträglich und doch war es besser als die Flutsommer, in denen es wochenlang ununterbrochen regnete und sich die Täler in reißende Flüsse und braune Moraste verwandelten. Die Wassermassen versickerten oft erst Wochen nach den sintflutartigen Wolkenbrüchen. Die Flüsse hatten ihre alten Verläufe schon längst unberechenbar ausgedehnt und kamen erst wieder zur Ruhe, wenn sie die braunen Wassermassen mit aller Gewalt in die Meere gedrückt hatten. Viele der Städte und ehemaligen Ballungsgebiete im Landesinneren waren durch die Hochwasser von der Landkarte radiert worden. Liv konzentrierte sich auf die beruhigenden Geräusche der Tiere. Grillen zirpten laut, ein großes Insekt flog gegen die Zeltwand und drückte dabei eine Beule in den Stoff. Am Schatten erkannte sie die länglichen Flügel einer Libelle. Die Stunden verstrichen, Liv konnte nicht schlafen, obwohl sie müde war. Doggie lag neben ihren Füßen und schnarchte. Im Zelt stieg die Temperatur an und die Luft wurde stickig, ihre innere Unruhe hielt sie wach.

Nach einer weiteren Stunde robbte sie ins Freie und sah sich um. Inzwischen stand die Sonne hoch über den Baumspitzen und Liv bewunderte die atemberaubend apokalyptische Landschaft. Die Bäume wuchsen in großen Abständen um die grauen Felsbrocken herum. Die Stämme waren lang und dünn, an den Ästen hingen kurze bräunliche Nadeln und verdorrte Blätter. Tiefe Risse zogen sich durch die ausgetrocknete graue Erde zwischen den Felsbrocken. Das grelle Licht sorgte dafür, dass ihr noch immer leicht angeschwollenes rechtes Auge wieder anfing zu tränen. Ein paar hundert Meter tiefer am Hang wuchsen die Bäume dichter nebeneinander. Sie weckte Doggie, rollte ihr Zelt zusammen, legte sich das Bündel über die Schulter und wanderte bergabwärts. Nach einer halben Stunde blieb sie im schattigen Unterholz stehen und baute das Zelt auf dem mit Moos überzogenen Boden wieder auf. Hier waren die Temperaturen erträglicher. Über die Zeltwand tanzten die Schatten der Äste.

»Sobald es dunkel ist, kommen die anderen«, sagte sie laut und kniff ihre Lippen zusammen. Obwohl sie auch diese Selbstgespräche von ihrer Mutter geerbt hatte, hasste sie es, wenn sie mit sich selbst redete. Die Selbstgespräche waren die einzige Eigenschaft, die sie an ihrer Mutter nicht bewundert hatte. Und ausgerechnet das hatte sie geerbt. Genau wie sie selbst hatte auch ihre Mutter die Selbstgespräche nicht unterdrücken können. Sie hatte sie als Beweis einer mentalen Schwachstelle angesehen. Das Tor zum Wahnsinn, das in ihrer Familie immer nur angelehnt war. Durch das schon viele ihrer Vorfahren gehuscht waren, um niemals zurückzukehren. Mit diesem Gedanken schlief Liv ein.

5

Als Liv wieder aufwachte, war es bereits dunkel. Sie krabbelte aus ihrem Zelt und kletterte zusammen mit Doggie den Hang hinauf. Niemand war angekommen. Sie folgte einem kurvigen Trampelpfad Richtung Osten und stieg auf einen ungefähr drei Meter hohen Felsbrocken. Von dort aus starrte sie in den sternenreichen Himmel. Ihr Lebensmittelvorrat reichte noch für höchstens zwei Tage. Ein trockenes Brot, ein paar Konserven, zwei Liter Wasser, die sie auch noch mit Doggie teilen musste. Bei dieser Hitze war ein Liter Trinkwasser pro Tag das absolute Minimum für einen Menschen. Sie musste einen Bach oder eine Quelle suchen. »Es ist nur noch wenige Stunden dunkel, dann kannst du entscheiden«, sagte sie leise. Der innere Drang, sofort den Hang hinabzulaufen, war schmerzhaft stark geworden. Sie wollte rennen, sie wollte einfach nur wegrennen. Langsam atmete sie aus, während sie vorsichtig von dem Stein hinabrutschte. Das Mondlicht tauchte die Landschaft in ein dunkles, grünliches Licht. Sie ging am Zelt vorbei. Doggie folgte ihr geräuschlos. Die Stille war so drückend. Genauso geräuschlos war es in der fatalen Nacht auf dem letzten Berg gewesen. Sogar die Tiere schwiegen. Oder waren sie geflohen? »Sie folgen ihrem Ruf, die schlauen kleinen Viecher. Nur du bist taub!« Die Stimme saß tief in ihrem Kopf. Liv schlug sich hart mit der rechten Hand gegen die Schläfe. Sie verlor die Kontrolle über ihre Gedanken. Es ergab keinen Sinn. Nichts hatte mehr Sinn. Die Alte Welt war leergeblutet. Was hatte ihre Mutter erwartet? Wie sollte Liv ihr Erbe forttragen, wenn sie gar nicht genau wusste, wie es aussah? Sie fühlte den Sinn nicht mehr. Online war der einzige Ort, an dem sie Glück empfand. Die Sterne und der fast volle Mond leuchteten durch die Baumkronen hindurch. Sie betrachtete das Unterholz und blieb stehen. »Hoffnung ist schlecht.« Der Gedanke kam aus dem Nichts und sie wusste nicht, ob er von einer Stimme stammte oder ihr eigener war. »Hoffnung bedeutet, dass man nicht da ist, wo man sein sollte. Dass man sein Leben einer Illusion widmet, die niemals eintreten wird.« War ihr Leben je mehr gewesen als eine hoffnungslose Illusion? Sie sah diese vage, unrealistische Hoffnung so klar vor sich wie zerfallende Materie. Sie sah, wie die materialisierte Hoffnung ihre Konturen verlor. Illusionen waren genau das, was die Bewegung bekämpfte. Das Virtuelle machte die Illusion zur Realität. Degradierte die Realität zur Illusion. Das Virtuelle entriss der biologischen Menschheit das echte Leben. Machte sie zu Marionetten, die sich willenlos in die Illusionen stürzten. Alles löste sich auf.

Sie musste den Tatsachen ins Auge sehen. Auch heute Nacht würde kein weiteres Mitglied der Bewegung ankommen. Jeden Moment konnten die Drohnen kommen, mit ihrem »pong, pong«. Liv rannte zurück zu ihrem Zelt, rollte es auf und eilte durch das dichte Unterholz den Berg hinunter. Dornen zerkratzten ihre Beine und Arme. Bei einer kleinen Lichtung hielt sie inne, um zu Atem zu kommen und Doggie kurz zwischen den Ohren zu kraulen. Über ihr erkannte sie das helle Licht einer Raumstation. Vielleicht sahen die Astronauten gerade auf sie hinab, natürlich ohne sie zu bemerken. So wie alle. Unsichtbarkeit war ihre einzige Existenzberechtigung. Sie stand in keinem Geburtenregister, hatte keinen Pass. Nie hatte sie eine Schule besucht. Wenn sie hier heute Nacht sterben sollte, würde niemand sie vermissen.

Sie durchwühlte ihr Gepäck auf der Suche nach dem Kryptophone. Für einen kurzen Moment befürchtete sie, dass es weg war. Aber hier oben war niemand, der es hätte stehlen können. Schließlich fand sie es in ihrem Schlafsack, sie schob den Akku hinein und drückte auf die Einschalttaste. Online. Nur dort gab es Menschen, die wenigstens einen Hauch ihrer Existenz kannten. Ein schmaler grauer Streifen erschien auf dem Bildschirm und wurde langsam länger, bis das Monitorlicht einmal kurz und grell aufblinkte. Sie gab ihr Passwort ein und startete den Netzwerk-Scanner. Obwohl es wahrscheinlich sinnlos war, wartete sie unruhig darauf, dass die kurzen Streifen auf der rechten oberen Monitorseite erschienen und eine Netzwerkverbindung anzeigten. Nach einer Minute war das Krypto noch immer offline. Sie öffnete die Einstellungen und suchte manuell. Es gab hier keine Netzwerke. Natürlich gab es die hier nicht. Weder neue Netzwerke noch alte. Die Umgebung war sicher, die Situation war anders als beim letzten Treffen. Warum fühlte sie dann dieselbe Angst? Der Drang, online zu gehen, wurde unbeherrschbar. Langsam atmete sie aus. Wo befand sich der Rest der Gruppe? Hatte sie eine Nachricht verpasst? War das Treffen kurzfristig verlegt worden? Sie musste online. Es war absurd, dass das, was sie bekämpften, gleichzeitig das einzige Mittel war, durch das sie miteinander kommunizieren konnten. Das Einzige, was sie wirklich anzog. Sie musste diesen Berg verlassen. Sie fühlte mit jeder Faser ihres Körpers, dass hier oben eine Falle auf sie wartete. Und wenn sie ehrlich war, wusste sie in diesem Moment auch, dass sie nicht nur diesen Berg verlassen musste, sondern auch diese Welt der Vergangenheit.

Ihr vierbeiniger Begleiter wurde inzwischen ebenfalls unruhig, immer wieder rannte er von Liv weg und knurrte leise. Hatte er ihre Angst gerochen? Wollte er ihr einen anderen Weg zeigen? Liv folgte Doggie dankbar. Nach einer halben Stunde setzte er sich auf den Boden und winselte. Seine intelligenten Augen funkelten im fahlen Licht der Morgendämmerung. Sie kraulte ihn zwischen den Ohren, die jetzt aufrecht standen und angespannt zu lauschen schienen. Ein Rascheln und Knacken im Unterholz ließ sie zusammenzucken, Doggie knurrte laut. Vorsichtig duckte sie sich hinter einen Busch und drückte einen Ast zur Seite. Nur wenige Meter von ihr entfernt, neben einem dünnen Nadelbaum, entdeckte sie ein flaches militärgrünes Zelt. Etwas größer und vor allem viel neuer als ihr eigenes. Das Zelt sah aus, als ob es gerade zum ersten Mal aufgebaut worden wäre. Aus der Seitentasche ihres Rucksackes zog sie ihre Biwakmaske heraus und streifte sie routiniert über ihr Gesicht. Keine Identitäten. Das oberste Gebot. Im Zelt raschelte es. Mit einem energischen Ratschen öffnete sich der Reißverschluss der Tür. Ein paar Sekunden später sah sie in das Gesicht eines jungen Mannes. Sogar im bläulichen Morgenlicht sah es braungebrannt aus. Unwillkürlich zuckte sie zusammen. Die sonnengebräunte, faltenlose Haut erschien ihr geradezu bedrohlich nackt und grotesk gesund. Vermutlich hatte sie ihn überrascht und er hatte daher vergessen, sein Gesicht zu bedecken. Aber er sah sie an, als ob er nicht im Geringsten erstaunt wäre.

»Ich habe schon auf dich gewartet, Liv. Du kannst die Maske abnehmen. Es ist vorbei.«

»Woher kennst du meinen Namen?«, brachte sie hervor. In ihren Ohren rauschte das Blut und ihre Stimme klang seltsam hohl.

»Die Bewegung hat ihren Endpunkt erreicht.« Seine Stimme klang fast schon feierlich. »Es tut mir leid, falls dich das enttäuscht. Es ist vorbei.«

»Was soll das heißen?«

»Die Mehrheit sieht keine Möglichkeiten mehr. Wir hören auf. Keine weiteren Treffen, keine Kommunikation, keine neuen Pläne. Wir fügen uns in den Lauf des Flusses. Das hier war dein letzter Aufruf. Den anderen habe ich schon Bescheid gegeben, als sie auf dem Weg nach oben waren.«

»Warum höre ich das heute zum ersten Mal?«

»Es hat sich schlagartig herauskristallisiert. Wir konnten dich ein paar Tage nicht erreichen. Wir mussten ohne dich abstimmen. Die Entwicklungen in der Neuen Welt sind überwältigend und viele Mitglieder haben ihre Meinungen geändert. Es tut mir leid, aber die Mehrheit hat entschieden.«

Liv musterte sein junges Gesicht. Er war höchstens zwanzig. Viel zu jung, um in der Alten Welt geboren worden zu sein. Seine braunen Haare reichten ihm bis zum Kinn, ohne eine erkennbare Frisur. Er trug ein schwarzes T-Shirt und eine schwarze verbeulte Army-Hose, die oberhalb der Knie abgeschnitten war. Er kannte diese Koordinaten und das Vorgehen der Bewegung. Vor allem aber kannte er ihren Namen. War ihr Name etwa an die Koordinaten des Treffpunktes gekoppelt gewesen? Das brach die wichtigste Regel der Bewegung. Sie hatten sie aufgedeckt! Verraten! Er war zu jung, um aus der Alten Welt zu stammen. Er konnte nur in Floatland geboren worden sein.

»Ich sehe, dass dich diese Nachricht schockt«, sagte er mitfühlend. Mit Sicherheit konnte man trotz der lächerlichen Biwakmaske das Entsetzen in ihren Augen erkennen.

»Wer hat dich beauftragt hierherzukommen?«, fragte Liv.

»Wir haben das schnelle Nachrichtensystem gestartet. Innerhalb einiger Tage wurden alle Mitglieder informiert. Es ist vorbei. Lass es los.«

Er kletterte aus dem Zelt, zog eine dünne Isomatte heraus, bückte sich und baute sein Zelt ungeübt ab.

»Du gehst schon wieder?«, fragte Liv. Sie konnte sich nicht von der Stelle rühren. »Du gehst jetzt einfach?«

»Ich habe nur diese eine Nachricht für dich.«

Er band die Isomatte an seinen Rucksack.

»Hast du überhaupt verstanden, wofür wir kämpfen? Begreifst du, was auf dem Spiel steht?«

Er hielt inne und sah Liv gelassen an. »Don’t shoot the messenger«, sagte er lächelnd und schwang sich den Rucksack auf den Rücken. »Wir können es nicht mehr aufhalten, Liv, aber das Leben geht weiter. Warum gehst du nicht einfach nach Hause und machst das Beste draus? Nimm die Maske ab. Akzeptiere das, was du nicht ändern kannst.«

Er streckte ihr seine schmale Hand entgegen, aber Liv ignorierte ihn.

»Hast du eine Ahnung, wie unsere Zukunft aussehen wird?«, fragte sie mit heiserer Stimme.

»Natürlich nicht. Genauso wenig wie du! Niemand kann in die Zukunft sehen. Ehrlich gesagt, bin ich vor allem neugierig, was mir das Leben noch so bringen wird.« Er hielt kurz inne. »Welchen Weg auch immer du einschlägst, ich wünsche dir viel Erfolg dabei.« Er sah Liv noch einmal lächelnd an, dann drehte er sich um und stieg den Hang hinab.

Doggie bellte ihm einmal kurz hinterher, dann kehrte die Stille zurück. Nur die Blätter rauschten im aufkommenden Wind. Ungläubig starrte Liv auf die Stelle, an der gerade noch das nagelneue Zelt gestanden hatte. Die Bewegung war verraten worden. Infiltriert. Sie hatten die letzte Chance der biologischen Menschheit weggeworfen. Und dabei wusste Liv noch nicht einmal, wer sie eigentlich waren. Das jugendliche Gesicht dieses Mannes war das einzige Gesicht eines Mitgliedes, das sie in den letzten zehn Jahren ohne Maske gesehen hatte.

»Er ist zu jung, viel zu jung!«, sagte sie laut. Er war ein Überläufer aus Floatland. In der Alten Welt wurden seit ungefähr drei Jahrzehnten keine Kinder mehr geboren.

Bis zum Mittag blieb Liv in ihrem Zelt liegen und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Worte des jungen Mannes kreisten durch ihren Kopf. Ihr Zelt stand an einem breiten Busch, dessen Äste ununterbrochen über den Stoff kratzten. Unruhig und wütend wälzte sie sich von der einen Seite auf die andere. Don’t shoot the messenger. Vielleicht hatte er recht. Die Alte Welt bot keine Antworten mehr, so klar hatte sie es noch nie gesehen. Sie musste an die Küste. Sie musste dem Ruf der Zukunft folgen, auch wenn es das Leben war, das ihre Mutter so diffus gefürchtet hatte. Doggie, der auf ihren Füßen geschlafen hatte, stand auf, drehte sich einmal um sich selbst, wedelte mit seinem Schwanz und knurrte dabei leise. Dann legte er sich wieder hin. Seine Schnauze auf Livs Beinen, als ob er sichergehen wollte, dass sie nicht heimlich wegschlich, während er schlief.

Ihre analoge Armbanduhr tickte und das Geräusch vermischte sich mit dem leisen Schnarchen des Hundes. Sekunde für Sekunde verstrich. Auf einmal überfiel sie eine heftige Einsamkeit. Die Sehnsucht nach einem anderen menschlichen Bewusstsein wurde fast unerträglich. Ihr Gehirn wollte in Kontakt treten. Gedanken austauschen. Der Apathie der Isolation und Hoffnungslosigkeit entkommen. Gefühle vereinen. Gemeinsam lachen. In ihrer Erinnerung suchte sie nach Creaton3*33s Worten. Sie hatte seit Tagen nicht mehr mit Creaton3*33 gesprochen und ihr Kontakt durfte auf keinen Fall wieder so intensiv werden, wie er es zuvor gewesen war. Zu nahe am Abgrund der Survilencia hatte sie gestanden. An allem hatte sie gezweifelt. Aber jetzt verlangte ihr Gehirn so unerträglich stark nach Kontakt. Zum Glück gab es hier oben keine Netzwerke, sonst hätte sie sich vermutlich nicht beherrschen können. Nur ein paar Worte! Zwei Zeichen, die ein idiotisches Emoticon formten. Den Hauch eines Gefühls, nicht mehr als der fast unsichtbare Windzug, erschaffen durch die Flügelschläge eines Schmetterlings. Die Sehnsucht war so heftig, dass sie laut schreien wollte, stattdessen rieb sie sich mit geballten Fäusten über ihre kurzen Haare, nur um überhaupt etwas zu fühlen. Jede Faser ihrer Existenz verlangte nach anderen Menschen.

Liv öffnete die Zelttür und spähte hinaus. Zwischen den Baumstämmen hingen dicke weiße Nebelschwaden, es sah aus, als ob sie sich auf einem Wolkenplaneten befände. Leise krabbelte sie aus dem Zelt und nahm den unwirklichen Anblick in sich auf. Unmittelbar fühlte sie wieder die Sehnsucht nach Verbindung. Sie wollte jemandem hiervon erzählen. Den Moment teilen, damit er Bedeutung erhielt. Warum wollte sie das nur? Was ergab es für einen Sinn, einen Moment mit einem anderen Menschen zu teilen?

»Keinen Sinn!«, sagte sie laut. Ihre Stimme klang hart und fremd. Sie trat auf einen Stock, der unter ihrem nackten Fuß zerbrach. Sie rief Doggie heraus, packte ihre Sachen und kletterte das letzte Stück des Berges hinunter. Alle paar Meter murmelte sie in Gedanken: »Isolation frisst mich auf.«

Sie folgte einem Trampelpfad, der in langgezogenen Kurven hinunter ins Tal führte. Die Sonne blinzelte durch die Blätter und warf tanzende Lichtpunkte auf den mit tiefen Furchen durchzogenen Boden. Schon von Weitem fiel ihr ein seltsam länglicher, dunkler Fleck auf, der sich einmal quer über den Trampelpfad zog. Als sie näher kam, erkannte sie, dass der Fleck an der linken Seite breiter war, fast rund, mit einem Durchmesser von ungefähr eineinhalb Metern. Rechts führten zwei parallel verlaufende dünne Linien hinein ins Unterholz. An der Stelle waren einige dünne Äste abgeknickt. Als sie näher kam, sah sie Insekten, die um den Fleck kreisten und auf ihm landeten. Dicke grüne Fliegen, deren Körper im matten Licht goldfarben schimmerten. Sie blieb stehen und sog die Waldluft durch ihre Nase ein. Etwas subtil Unangenehmes mischte sich in den vertrauten Geruch von Erde, Blättern und Moos. Sie beobachtete die Umgebung aufmerksam und kletterte ein Stück weiter den Hang hinab. Ungefähr zwei Meter vor dem Fleck blieb sie stehen. Doggie huschte an ihr vorbei und kläffte laut. Die grünen Fliegen ließen sich davon nicht stören. Ein heller Ast, der mitten im dunklen Fleck lag, leuchtete rot auf, als ein einzelner Sonnenstrahl ihn streifte. Die Erde war nass. Frisches Blut. Vielleicht hatte ein Wolf oder ein Bär hier seine Beute erledigt? Sie sah keine Spuren am Boden, die auf einen Kampf hinwiesen. Auch von dem vermutlichen Opfer war nichts mehr zu sehen. Vorsichtig ging sie um den Fleck herum. Dort, wo die beiden dünnen Streifen in dem Busch verschwanden, drückte sie ein paar Äste zur Seite. Unter altem Laub und dünnen Stöcken erkannte sie ein Stück schwarzen Stoff. Synthetischer, neuer Stoff. Ein Fremdkörper in der Natur. Sie hob einen dünnen Ast auf und schob ein paar alte Blätter