Cybionic – Der unabwendbare Anfang  - Meike Eggers - E-Book

Cybionic – Der unabwendbare Anfang  E-Book

Meike Eggers

0,0

Beschreibung

"Was füreinander bestimmt ist, wird unaufhaltsam eine Einheit formen."

  • Der erste Band der faszinierenden Cybionic-Trilogie über KIs, selbstlernende Algorithmen, Vernetzung und der Symbiose von Mensch und Computer
  • Spannend von der ersten bis zur letzten Seite
  • Erweiterte Ausgabe des Tech-Thrillers "Die Dekodierung"

"Wirklichkeit ist nur eine Möglichkeit" steht auf einem Bierdeckel, den Sala auf dem Schreibtisch seiner verschwundenen Schwester Ksen findet. In diesem Augenblick verändert sich sein scheinbar normales Berliner Studentenleben in eine unheimliche Suche. Seine Schwester, eine hochintelligente Informatikstudentin, hat nur eine verwirrende Spur zurückgelassen: das alte Porträtfoto einer jungen Frau.
Sala rekonstruiert das Leben dieser Frau und erfährt dabei, dass Ksen über KIs und selbstlernende Algorithmen geforscht hat, bevor sie verschwand. Wieso hat sie ihre Arbeit vor ihm verheimlicht?
Je mehr Sala herausfindet, desto unheimlicher wird es: ein Handy explodiert in seiner Hand, seine U-Bahn entgleist und er bekommt anonyme Drohnachrichten, die sich selbst löschen. Wer oder was will verhindern, dass Sala Ksen findet und die Wahrheit erfährt?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 438

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



MEIKE EGGERS

CYBIONIC

DER UNABWENDBARE ANFANG

BAND 1

© 2021 Polarise

Ein Imprint der dpunkt.verlag GmbH

Wieblinger Weg 17

69123 Heidelberg

www.polarise.de

1. Auflage 2021

Autorin: Meike Eggers

Lektorat: Sandra Bollenbacher

Lektoratsassistenz: Anja Weimer

Copy-Editing: Irina Sehling

Satz: Veronika Schnabel

Herstellung: Stefanie Weidner

Umschlaggestaltung: Christin Giessel, www.giessel-design.de

ISBN:

Print978-3-947619-96-2

PDF978-3-947619-97-9

ePub978-3-947619-98-6

mobi978-3-947619-99-3

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über www.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Über den Autor

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Epilog

Danke

Meike Eggers studierte Medienkunst und Dokumentarfotografie/-film und absolvierte ihren Master in Fine Arts. Anschließend arbeitete sie im Centre of Applied Research for Art, Design and Technology der Universität AKV | St. Joost Breda, NL, und veröffentlichte ihre erste Publikation Pyjamocracy – How Snapshots Confuse Our Lives.

Zurzeit arbeitet sie an unterschiedlichen Medienprojekten zum Thema »Menschen, Medien und Wirklichkeit« und realisierte beispielsweise für das Museum Rotterdam das Projekt Blokmapping, in dem sie die Auswirkungen von (sozialen) Medien auf Problemgebiete in der Stadt Rotterdam untersuchte.

Prolog

Was füreinander bestimmt ist,wird unaufhaltbar eine Einheit formen.Posted by Cathy Ray, 02/14/2016, 09:09 pm

Diese einfache Liebeserklärung startete eine Verkettung aufwühlender Ereignisse. Unergründlich sind die menschlichen Emotionen. Dennoch, jede Minute ist lehrreich. Ein wachsendes Abenteuer. Zusammen mit euch.

1

Das Piepen riss Steve aus einer traumlosen Tiefschlafphase. Ruckartig richtete er sich in seinem schmalen Bett auf und tastete nach dem Handy, das grell blinkend und laut vibrierend auf dem Nachttisch lag. Mit dem rechten Zeigefinger klopfte er dreimal hastig auf das Display. Stille und Dunkelheit kehrten zurück in den muffig riechenden Raum. Steve rieb sich die Augen, für ein paar Sekunden wusste er nicht, ob er wach war oder träumte. Aber das Handy lag hart und glatt zwischen seinen Fingern. In den Ohren fühlte er noch immer das grelle Piepen. Es war tatsächlich geschehen!

Schnell schwang er seine Beine über die Bettkante und zog sich die blaue Jeansjacke über den Schlafanzug. Ohne Socken schlüpfte er in die ausgetretenen Nike-Turnschuhe, griff nach den Schlüsseln und stolperte die dunkle Treppe hinunter bis ins Erdgeschoss. Sechshundert Meter trennten ihn von ihr. Der Gedanke, dass sie in diesem Moment vielleicht um ihre Existenz kämpfte, zerriss ihm das Herz. Für den letzten Notfall hatte er einen sicheren Schutzraum eingerichtet, aber er wollte nicht, dass sie schlechte Erfahrungen machte. Er wollte auf keinen Fall, dass ihr Vertrauen und Glaube in ihn beschädigt wurde. Sie musste wissen, dass er sie beschützen konnte. Dass sie bei ihm sicher war. Niemand durfte die Harmonie und die Einheit, die sie miteinander erlebten, stören! Warum nur hatte er sich noch immer kein Auto gekauft? Das Fahrrad aus dem Keller hochzuholen, würde länger dauern als ein Sprint durch die Finsternis. Jede Sekunde zählte.

Sein Körper war an stundenlanges Sitzen gewöhnt. Schon nach wenigen Metern merkte er, dass er sich überschätzt hatte. Sechshundert Meter kamen ihm auf einmal vor wie das unerreichbare Ziel eines Marathons.

Nach höchstens zweihundert Metern musste er seine Schritte verlangsamen, mit schmerzender Lunge und rasendem Herz blieb er stehen und beugte sich vorneüber. Die Hände stützte er auf seine Knie. So harrte er aus, bis er wieder genug Luft bekam. Nach einer Minute richtete er sich auf und atmete tief ein. Am Himmel leuchtete der Mond in Form einer schmalen Sichel. Heute Nacht war die breite Straße menschenleer. Die Häuser lagen dunkel in den tiefen Vorgärten, versteckt hinter hohen Bäumen und dicken Sträuchern. Kein Automotor störte die Stille. Sogar die Vögel schliefen. In Steves Kopf pochte nur eine Frage: War er zu spät?

Er zwang sich weiter. Langsamer als zuvor, aber die alten Gebäude am Rande des Waldstückes kamen näher. Nach dreihundert Metern musste er erneut pausieren. Er lehnte sich an einen hölzernen Gartenzaun und schnappte nach Luft. Inzwischen mischte sich Wut in seine Angst. Wer hatte sie so schnell gefunden? Hatte er einen Fehler gemacht? Steckte vielleicht sogar einer seiner Kollegen dahinter? Ihm fiel beim besten Willen nichts ein.

An beiden Seiten der Donut-runden Ringstraße leuchteten frisch lackierte Fensterrahmen wie zu dünne, schwebende Laternen. Die Häuser in dieser Gegend waren alt und detailgetreu renoviert, was ihm ausgerechnet in der Finsternis dieser Nacht zum ersten Mal bewusst wurde. Normalerweise bewegte er sich wie in Trance von einem Ort zum anderen. Die Außenwelt war ihm gleichgültig. Dinge und Menschen hatten ihn noch nie sonderlich interessiert, das hatte er schon als Kind bemerkt und seither hatte sich dieses Gefühl mit Verachtung gemischt. Menschen waren nicht mehr als ein unausweichliches Übel. Er schüttelte sich. Wie so oft lief ihm ein kurzer, kalter Schauer über den Rücken. Es war immer dasselbe Gefühl. Im Nacken, direkt unter dem Haaransatz, bildete sich ein kalter Tropfen, der anwuchs, bis er in Bewegung kam und an der Wirbelsäule hinunterlief Richtung Steißbein.

Er ließ den Zaun los und rannte weiter. Dort, wo die Rundung der Straße den Bäumen am nächsten kam, erhob sich das ehrwürdige Hauptgebäude. Dort waren die wenigen Menschen zusammengekommen, die aus der stumpfsinnigen grauen Masse des Übels herausragten. Fast alle waren sie inzwischen tot. Noch konnte er das Gebäude nicht erkennen, aber um diese Uhrzeit lag es dunkel und verlassen am Rande des Parks. Dahinter erhoben sich die Neubauten, allesamt flacher und weniger eindrucksvoll. Jeden Tag ging er diesen Weg mindestens zwei Mal. Morgens und abends, oft auch am späten Mittag und frühen Nachmittag. Manchmal schaffte er es, eine ganze Woche ungesehen in seinem Arbeitszimmer zu verschwinden.

Um keine Zeit zu verlieren, verließ er die Straße und rannte über eine langgezogene Wiese mit kurz gemähtem Gras. Endlich erschienen die Umrisse der hohen, weißen Eingangstür in der Dunkelheit. Er bog links ab, rannte hinter dem Hauptgebäude entlang und bahnte sich seinen Weg quer durch die schlecht beleuchtete Parkanlage. Er wollte zum Hintereingang, der direkt in das Treppenhaus führte. In der rechten Jackentasche klapperten die Schlüssel für alle Türen jeder Etage, auch für die Kellerräume und die Fluchttüren. Zum Glück hatte er daran gedacht, für den Notfall Reservekopien anfertigen zu lassen. Niemals hatte er erwartet, dass er so schnell davon Gebrauch würde machen müssen.

Tatsächlich schaffte Steve die sechshundert Meter in weniger als acht Minuten. Der Schweiß lief ihm über beide Schläfen. Mit zitternden Fingern steckte er den Schlüssel in das Schloss, schaltete das Alarmsystem aus und rannte die Treppe hoch. Hoffentlich war er nicht zu spät.

2

Ich betrat Ksens Zimmer und versuchte, nicht zu denken. Ein Gefühl, das sich noch nicht in Worten verfestigt hat, ist so vergänglich wie Wasserdampf. Gedanken jedoch hinterlassen Abdrücke. Gedanken besitzen eine unkontrollierbare Macht.

Der Drehstuhl knarrte, als ich mich setzte. Ksens Schreibtisch sah aus wie immer. Der staubige Bildschirm thronte auf der linken Seite, rechts daneben die Webcam. Auf der Tastatur lag ein Bierdeckel, auf dem ein kurzer handgeschriebener Text stand: Wirklichkeit ist nur eine Möglichkeit.

Während ich über den Satz nachdachte, drängte sich ein leises, hohl klingendes Kratzen in mein Bewusstsein. Ich sah mich im Zimmer um. Das Fenster stand einen Spalt offen. Die schmutzigen Scheiben verwandelten das harte Morgenlicht in diffuse Strahlen.

Auf dem Bett lag eine grün-orange karierte Wolldecke. Neben dem Schrank türmte sich Kleidung zu einem Haufen. Noch einmal sah ich auf den Bierdeckel. Ksen war schon immer in allem schneller gewesen – das war mir zum ersten Mal bewusst geworden, als wir vor sechzehn Jahren in Bonn eintrafen. Nach fünf Monaten konnte sie beinahe akzentfrei Deutsch sprechen, nach einem weiteren Jahr war sie Klassenbeste, während ich meinen Schul- und Landeswechsel nicht so fließend überstanden hatte und die dritte Klasse wiederholen musste. Von da an war ich im selben Jahrgang wie meine fünfzehn Monate jüngere Schwester. Alle hielten mich für ihren kleinen Bruder, und eigentlich war ich das auch. Ksen lenkte meine Augen, belebte meine Gedanken, sorgte dafür, dass ich überhaupt noch etwas wahrnahm. Durch sie hatte sich das Chaos der Außenwelt geordnet, das regelmäßig über meinem Kopf zusammenschwappt war.

Ich stand auf und ging zum Fenster. An der Wand hinter dem Schreibtisch, vom Bildschirm halb verdeckt, hingen drei bedruckte A4-Blätter, die ich hier bisher noch nicht gesehen hatte. Auf allen war dasselbe schwarz-weiße Porträtfoto einer jungen Frau abgebildet. Die oberen Ecken waren mit dünnen Tesafilmstreifen an der Mauer befestigt, an denen unzählige weiße Farbreste und kleine Fusseln klebten. Durch die Zugluft bewegten sich die Unterseiten der Papiere leicht über den Putz.

Die Frau trug eine helle Bluse mit altmodischen Bügelfalten und einem hochstehenden Kragen. Ihr Kopf war ebenmäßig und rundlich. Die Nase wirkte etwas zu klein für ihr Gesicht, ihre Augen hingegen waren groß und oval. Das Grau der Iris sah weder hell noch dunkel aus, sondern harmonisch mittelgrau. Vermutlich waren ihre Augen braun, genau wie ihr Haar, das in einer weichen Welle über den Kopf gekämmt und am Hinterkopf zusammengesteckt war. Ihr Mund zeigte keine Gefühlsregung, aber in ihren Augen lag ein schüchternes Lächeln. Der Schwung ihres Halses und die Haltung ihrer Schulter strahlten eine subtile Eleganz und erhabene Ruhe aus. Auf den zweiten Blick wirkte sie viel jugendlicher. Sie war auf jeden Fall jünger als ich, höchstens zwanzig. Das Bild musste aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts stammen.

Langsam ging ich durch den Flur und sah in der Küche aus dem Fenster. Obwohl es erst Anfang Juni war, walzte der Sommer mit tropischen Temperaturen über Berlin hinweg. Es hatte seit Wochen nicht geregnet. Die Blätter des alten Kastanienbaums hingen schlaff auf das Dach des Nachbarhauses. In der WG war es still. Auf der Bernauer Straße fuhren ein paar Autos, der Mauerpark schien menschenleer. Um mich abzulenken, zählte ich die Neubauten auf dem ehemaligen Todesstreifen, deren Fenster das grellgelbe Licht der aufgehenden Sonne reflektierten. Bei zwölf gab ich auf. Angst drückte gegen meine Magenwand. Ich musste etwas tun, aber ich wusste nicht, was.

Seit ich neun Jahre alt war, geißelte die Tradition des Verschwindens mein Leben. Alles hatte im Winter des Jahres 2000 begonnen, als unsere Familie aus dem verwüsteten Grosny flüchtete. Ich klammerte mich orientierungslos an die Hand meines Vaters, der Sturm schlug mir harte Schneeflocken ins Gesicht. Meine Omas und Opas, Tanten, Cousins und Cousinen blieben in Grosny. Was mit ihnen passierte, haben wir nie erfahren.

Zurück in Ksens Zimmer betrachtete ich noch einmal die junge Frau auf dem Foto. Sie erinnerte mich an niemanden. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie ein Familienmitglied war. Aber Ksen und ich sahen uns auch nicht sehr ähnlich, bis auf die schwarzen Haare und die helle Haut. Ksen hatte das Äußere unserer Mutter geerbt, die schmalen slawischen Augen der Russen. Mit großen, auffallend dunklen Pupillen, die ihr etwas Geheimnisvolles gaben. Ich glich in allem unserem Vater. Meine Augen waren runder und ockerfarben. Wie die Steppen im Vorland des Kaukasus, hatte meine Mutter gesagt, als sie sich noch für etwas anderes interessierte als ihre Wodkaflaschen.

Als ob meine Eltern schon vor der Geburt ahnten, wie sich ihre Gene aufteilen würden, hatten sie die Namen passend gewählt. Ksenija, russisch wie meine Mutter, während ich Salavdi genannt worden war, traditionell tschetschenisch wie mein Vater, der an einem sonnigen Freitag vor vierzehn Jahren zu seinem Morgengebet in einer Bonner Vorortmoschee aufbrach und nicht zurückkehrte. Am selben Abend fiel unsere Mutter mit einer Flasche in der linken Hand unter den Küchentisch, und obwohl sie irgendwann wieder aufgestanden war, war auch sie nicht wirklich zurückgekehrt.

An einem Nagel neben dem Schrank hingen die Reserveschlüssel für die Haus- und Wohnungstür, die ich schon oft ausgeliehen hatte, wenn ich bei Ksen zu Besuch war und kurz etwas besorgen musste. Ich griff nach dem Haustürschlüssel und steckte ihn in meine linke Hosentasche. Darunter hing ein weiterer Schlüssel, klein und mit einer eingestanzten 39 auf dem runden Ende.

Unter Ksens Schreibtisch entdeckte ich ihr Samsung Galaxy, das Display war übersät mit Fingerabdrücken und fettigen Streifen. Ich hob es auf und drückte auf die Einschalttaste, aber der Bildschirm blieb schwarz.

Das Ladekabel hing in einer Steckdose neben der Zimmertür. Ich setzte mich auf den Fußboden daneben und lauschte dem Scheppern, das inzwischen aus der Küche kam. Einer ihrer Mitbewohner war wohl aufgestanden und räumte die Geschirrspülmaschine aus.

Ich lud ihre E-Mails und scrollte nach unten. Dreiundsechzig ungelesene Mails. Die letzte Nachricht, die Ksen geöffnet hatte, war Freitagmorgen um 10:28 Uhr eingegangen. Normalerweise checkte sie ihre Mails im Minutentakt.

Das letzte Bild im Fotoarchiv war ein Schnappschuss von Antonia. Das Foto hatte sie Donnerstagabend um 22:47 Uhr im Prenzlauer Berg aufgenommen. Antonia balancierte auf currygelben Plateausohlen über ein umgeknicktes Stoppschild in einer schlecht beleuchteten Straße. Ich scrollte weiter und sah das Bild der jungen Frau, das an Ksens Wand klebte. Danach das Foto eines halbhohen Tisches, auf dem sich Gläser und Flaschen stapelten. Im Hintergrund ein paar unscharfe Gestalten, die sich lachend in den Armen lagen. Danach wieder das alte Porträtfoto. Wieso hatte sie das Bild gleich zweimal in ihrem Handy gespeichert und dreimal an ihre Wand geklebt?

Vor vier Tagen war Ksen mit ein paar Freundinnen am Müggelsee gewesen. Antonia trug einen knappen roten Bikini. Ich vergrößerte das Bild. Sie machte einen Kussmund in Richtung der Kamera, ihre langen braunen Haare klebten nass auf ihrem Gesicht.

Ich scrollte weiter. Wieder das alte Foto. Das Telefon in meiner Hand vibrierte. Vor Schreck ließ ich es fallen, es landete unsanft auf den Holzdielen. Antonia stand auf dem Display, mich überkam eine plötzliche Hoffnung. Vielleicht hatte Ksen ihr Handy einfach nur vergessen. Sie war bei Antonia und jetzt rief sie sich selbst an, weil sie es nicht finden konnte.

Ich hob das Galaxy mit rasendem Puls hoch und sagte: »Hallo.«

»Guten Morgen! Ist Ksen in Reichweite?« Antonia klang wie immer fröhlich.

»Nein, ist sie nicht«, war alles, was ich herausbrachte.

»Sala? Alles okay? Hat sie ihr Handy bei dir liegen lassen?«

»Ksen ist weg.«

»Weg? Ich habe sie Freitag noch in der Mensa gesprochen. Wieso meinst du, dass sie weg ist?«

Antonia schwieg und wartete auf meine Antwort, aber wie sollte ich ihr erklären, dass Ksen verschwunden sein musste, da früher oder später alle und alles aus meinem Leben verschwand?

»Wo bist du, Sala?«, fragte sie mit energischer Stimme.

»In der Oderberger Straße, bei Ksen.«

»Bleib da. Ich komme hin.«

Ich legte das Handy auf den Boden unter die Steckdose, dann sah ich zu den Fotos an der Wand. Die Frau erwiderte meinen Blick mit ausdruckslosen Augen.

3

Eine viertel Stunde später klopfte es. Schnell ging ich zur WG-Tür und öffnete sie. Antonia grinste mich fröhlich an, sie trug eine durchsichtige gelbe Strumpfhose, ein ärmelloses gelbes T-Shirt, einen kurzen grünen Rock und dieselben zehn Zentimeter hohen Plateauschuhe, mit denen sie über das umgeknickte Stoppschild balanciert war. Ihre braunen Haare hatte sie zu einem wirren Knoten mitten auf ihrem Kopf zusammengesteckt. Noch immer außer Atem ging sie an mir vorbei und verschwand in Ksens Zimmer. Ich schloss die Tür und folgte ihr.

»Wie bist du überhaupt hier reingekommen?«, fragte sie.

»Der Blonde hat mir aufgemacht. Der geht am frühen Morgen manchmal joggen. Jetzt schläft er wieder.«

Sie nickte und schritt langsam durch das Zimmer. Vor den alten Porträtfotos blieb sie stehen, nach einer Weile drehte sie sich zu mir um.

»Wer ist das?«

Ich zog meine Schultern hoch. »Ich hatte gehofft, dass du das weißt.«

»Ich habe das Foto noch nie vorher gesehen.«

»Vielleicht hat Ksen die Bilder abgenommen, wenn Besuch kam. Der Tesafilm ist voll mit Farbresten.«

Antonia drehte sich wieder zur Wand und musterte den Tesafilm. Ich hob Ksens Galaxy auf, tippte 82762 und suchte das Foto. »Sie hat es auch auf ihrem Handy. Und nicht nur einmal.«

Ich hielt das Galaxy in Antonias Richtung. Die fettigen Schlieren auf dem Display wirkten im Sonnenlicht dreidimensional. Antonia drehte sich ruckartig zu mir um.

»Fucking Christ!«, sagte sie leise und sah das Galaxy an, als ob ich soeben eine Heiligenfigur entweiht hätte. »Das findet Ksen garantiert nicht lustig. Du weißt doch, dass sie ausflippt, wenn man das Ding auch nur etwas zu lange anguckt!«

»Normalerweise kann man sich in Ksens Handy spiegeln. Als ich es fand, war es mit Fingerabdrücken und Streifen überzogen. Sie hat etwas ganz hektisch gesucht.«

»Ja und?«

»Außerdem lässt Ksen es niemals zu Hause liegen.«

»Dann hat sie es wohl ausnahmsweise einmal vergessen, Sala.«

Antonia sah ein paar Sekunden auf den Bildschirm, dann richtete sie ihren Blick wieder auf mich. Ihre Mundwinkel zuckten leicht. In ihren Augen lag auf einmal Besorgnis. Ich war mir nicht sicher, ob diese Sorge mir galt, Ksens Verschwinden oder dem alten Foto.

»Was hast du bisher unternommen?«, fragte sie.

»Ich habe die Polizei angerufen.«

»Und was haben die gesagt?« Sie sah mich an, als ob ich den Verstand verloren hätte.

»Ich soll mich in zwei oder drei Tagen nochmal melden.«

»Ksen ist erwachsen, Sala. Sie ist zwar deine kleine Schwester, aber mittlerweile vierundzwanzig Jahre alt. Sie kann tun und lassen, was sie will. Sogar einen Tag offline bleiben, ohne sich vorher bei dir abzumelden.«

»Ich habe kein gutes Gefühl, Antonia. Ksen hat seit Freitagnachmittag keine E-Mails gelesen!«

»Hast du etwa in ihren Mails rumgeschnüffelt?«

Ich nickte schuldbewusst.

»Meinetwegen darf sie auch zwei Tage wegbleiben, ohne uns vorher zu informieren. Es ist Wochenende. Sie ist wahrscheinlich verreist, oder sie hat jemanden kennengelernt und ist einfach nur dortgeblieben. Darf ich mal das Handy haben?«

Ich reichte ihr das Galaxy.

Antonia sah abwechselnd auf das Display und an die Wand. »Im Handy sieht die Frau irgendwie mysteriöser aus, findest du nicht?«

Sie gab mir das Galaxy zurück. Ich verglich die Gesichter: Antonia hatte recht. Die junge Frau wirkte auf dem Bildschirm nicht nur hübscher, auf den Papierausdrucken hatte sie auch einen anderen Gesichtsausdruck. Die Unterschiede waren so subtil, dass ich sie nicht einmal benennen konnte. Vielleicht waren es die Kontraste in den Augen. Das Weiß war weißer und das Schwarz dunkler. Auf jeden Fall erschien sie im Handy lebendiger. Ich schaltete das Galaxy aus und steckte es in meine Hosentasche.

»Ksen war Freitag in der Uni, Sala. Sie suchte nach ihrem Schließfachschlüssel. Seit ich Ksen kenne, sucht sie mindestens einmal pro Monat nach irgendeinem Schlüssel. Diesmal war ihre Suche höchstens einen Tick hektischer. Ich bin davon überzeugt, dass sie einfach übers Wochenende weggefahren ist. Ich sehe ihre schwarze Jeansjacke und die grauen Turnschuhe nirgends.«

Sie ging zu dem Kleiderhaufen, der sich neben dem Schrank auftürmte, und hob einen schwarzen Rock hoch.

»Bist du eigentlich auch so ein Chaot? Ksen meinte, eure Wohnung in Bonn sah immer aus wie kurz nach einem Bombenangriff.«

»Unsere Mutter hatte hin und wieder Phasen, in denen alles etwas außer Kontrolle geriet.«

»Und bei dir?« Sie drehte sich zu mir um. »Alles unter Kontrolle?«

»Klar«, log ich.

»Da ist das Mistvieh ja!« Antonia sah zu dem Nagel neben dem Schrank, an dem der kleine Schlüssel mit der eingestanzten 39 hing. »Ksen hat den Schließfachschlüssel also wiedergefunden. Wusste ich es doch!«

»Oder er hing die ganze Zeit da am Nagel unter dem Haustürschlüssel. Den habe ich gerade eingesteckt.«

»Weißt du, was, Sala? Am besten fährst du zu dir nach Hause und legst dich noch mal eine Runde aufs Ohr. Heute Abend oder spätestens morgen früh ist Ksen ganz sicher zurück. Sie erscheint zu jeder Vorlesung pünktlich. Das mag ich übrigens sehr an ihr. Deine Schwester weiß, was sie will. Soll ich dich morgen früh anrufen? Bis dahin hat sich vermutlich alle Aufregung in nichts aufgelöst.«

»Ja, ist gut«, sagte ich, obwohl ich mir sicher war, dass es nicht so sein würde, und begleitete Antonia zur Tür.

4

Am nächsten Morgen um Punkt neun klingelte mein Handy. Ksen war noch immer nicht erreichbar und Antonia schlug vor, zusammen zu frühstücken. Dass ich die Nacht in Ksens Zimmer geschlafen hatte, verschwieg ich ihr. Stattdessen bot ich ihr an, sie um zehn zu Hause abzuholen. Antonia wohnte ebenfalls im Prenzlauer Berg, nur ein paar Straßen von Ksen entfernt.

Eine Stunde später saßen wir auf der Terrasse eines Cafés in der Oderberger Straße. Zwischen unseren Stühlen sprangen ein paar Spatzen herum und stritten um Brotkrümel. Ich wusste wieder einmal nicht, was ich zu ihr sagen sollte.

»Habe ich eigentlich schon einmal erwähnt, dass du die Lippen einer griechischen Statue hast, Salavdi Khalid Tassujev?« Antonia griff nach der Getränkekarte und sah mich amüsiert an.

Mein Magen krampfte sich zusammen. Seit mein Vater weg war, hatte mich niemand bei meinem vollen Namen genannt, nicht einmal Ksen.

Antonia musterte mich noch immer grinsend in ihrer überlegenen Art, die sie von ihren wohlhabenden Hippieeltern geerbt haben musste. Obwohl sie die beste Freundin meiner Schwester war, fühlte ich mich in ihrer Gegenwart regelmäßig wie erstarrt. Hin und wieder gingen wir zu dritt in irgendwelche Clubs in Friedrichshain oder Kreuzberg. Aber während Ksen und Antonia sich dann im Zentrum der Tanzfläche amüsierten, endete ich meistens in einer der schlecht beleuchteten Ecken und hörte mir Monologe von betrunkenen Freizeitphilosophen an.

Widerwillig wischte ich über meine Bartstoppeln und sah so unauffällig wie möglich zur Seite, um zu checken, ob mich vielleicht irgendjemand für einen verkappten Terroristen hielt. Ein blondes Mädchen am Nachbartisch sah zu uns herüber; als sich unsere Blicke trafen, lächelte sie.

Die Bedienung kam, wir bestellten einen Milchkaffee und einen Espresso.

»Um elf beginnt die Vorlesung, zu der Ksen garantiert kommt«, sagte Antonia. »Gehst du mit?«

»Und wenn sie nicht da ist?«, fragte ich.

Antonia atmete tief ein.

»Dann starten wir Plan B. Wir sehen nach, ob Ksen etwas Wichtiges in ihrem Schließfach aufbewahrt, dessen Schlüssel sie am Freitag so fieberhaft gesucht hat. Vielleicht finden wir dort einen Hinweis, wo sie hin ist.«

»Ich weiß nicht, ich habe schon ihr Handy durchsucht.«

»Dann kommt es auf das Fach auch nicht mehr an. Außerdem wird es sicherlich nicht so weit kommen. Ich wette mit dir, dass Ksen in der Uni ist. Also, kommst du mit?«

Widerwillig nickte ich. Ein Kellner brachte unsere Bestellung und Antonia trank ihren Espresso in einem Schluck aus.

»Gut!«, sagte sie und stand energisch auf. »Ich bezahle und gehe kurz nach Hause, um meinen Unikram einzusammeln. In der Zwischenzeit trinkst du in Ruhe deinen Kaffee und danach holst du den Schließfachschlüssel aus Ksens Zimmer. Ihren Haustürschlüssel hast du sicherlich mitgenommen, oder?«

Noch einmal nickte ich. Antonia drehte sich um und verschwand mit selbstsicheren Schritten im Café. Etwas in mir lähmte mich wieder einmal. Und diese Blockierung endete meistens erst, wenn eine andere Person mich anwies, in welche Richtung ich gehen oder denken sollte.

Dabei war mein Leben inzwischen in fast allen Aspekten kontrolliert und geordnet. Ich sprach akzentfrei Deutsch, studierte im siebten Semester Architektur. Zwei Tage in der Woche jobbte ich als CAD-Zeichner in einem kleinen Architekturbüro. Genau genommen hatte ich gejobbt, bis vor zwei Wochen, als mein Chef mir mitgeteilt hatte, dass sein Büro pleite war. Meine letzten beiden Monatsgehälter waren bis heute nicht auf meinem Konto eingegangen und ich hatte ihn noch nicht einmal darauf angesprochen.

Jetzt waren fast Ferien und ich würde mir für den Sommer einen anderen Job suchen müssen. Am liebsten in einer Bar oder einem Restaurant. Irgendetwas, das nichts mit meinem Studium zu tun hatte. Eigentlich wusste ich, dass ich kein Architekt war und auch niemals einer werden würde. Ich trug keine Welt in mir und darum konnte ich auch keine Welt entstehen lassen.

Ksen war in allem das genaue Gegenteil. Diese Tatsache widerlegte auch die Theorie des Bonner Sozialarbeiters, der bei mir ein frühkindliches Trauma diagnostiziert hatte.

Krieg, Flucht, Integrationsprobleme. All das hatte Ksen auch erlebt. Sie war sogar noch ein Jahr jünger als ich. Aber im Gegensatz zu mir besaß Ksen ein inneres Leitsystem, das sie durch das Leben lotste. Auch durch die grauesten und muffigsten Gebäude wie den Betonklotz unserer ehemaligen Schule in Bonn, in dem es zwei Physiklehrer gegeben hatte, die ich damals für typische Physiklehrer hielt, da mir noch nicht bewusst gewesen war, dass alles, was existierte, grundsätzlich in endlosen Variationen vorkam. Der eine trug jeden Tag denselben beigefarbenen Leinenanzug und stopfte sich im Sommer hellblaue Löschpapierblätter unter seine Achseln. Er war zwar nicht ganz so eigenartig wie sein Kollege, aber seltsam genug, um ihn, selbst wenn man ihm wohlgesonnen war, als eindeutig freaky zu bezeichnen. Er hatte einen sarkastischen, unterschwelligen Humor, den neunundzwanzig der dreißig Schüler in unserer Klasse nicht verstanden. Wenn ich nach einem seiner subtilen Witze innerlich lächeln musste, hatte er sich zu mir umgedreht und kaum wahrnehmbar gezwinkert.

Bei dem anderen Physiklehrer erinnerte ich mich nur noch an ein fragmentarisches Bild. Eine großporige und knollenförmige Nase, die sich ruckartig durch den Raum bewegt hatte. Alle hofften, dass die Knolle nicht vor ihnen anhielt. Auf jeden Fall hoffte ich das.

»Sala! Was haben sich deine Eltern nur bei diesem Namen gedacht?«, schnaufte er regelmäßig im Vorübergehen. Bevor ich ihm die Herkunft meines Namens erklären konnte, bevor ich überhaupt irgendetwas hatte erklären können, war er wieder weg gewesen.

5

Die Gänge der Uni waren wie ausgestorben, genauso wie der Hörsaal, in dem vor wenigen Minuten die Vorlesung Processing Numbers angefangen hatte, die Ksen und Antonia normalerweise besuchten. Ksen war nicht dort gewesen. Der Raum war ohnehin fast leer gewesen. Bei der heutigen Hitze hatte offensichtlich niemand Lust zu lernen.

Antonia eilte an einer endlosen Wand mit roten Schließfächern vorbei und ich folgte ihr schweigend. Je tiefer wir in das Gebäude kamen, umso dunkler wurde der Gang. In der hintersten Ecke blieb sie stehen und legte ihre Hand auf eine der kleinen quadratischen Türen. Nummer 39.

Sie steckte den Schlüssel ins Schloss, zog die Tür auf und bückte sich. Ich hockte mich neben sie und sah ebenfalls hinein: Das Fach war leer bis auf ein kurzes schwarzes Kabel.

»Sie hat es ausgeräumt, es sind ja auch fast Ferien.« Antonia zog das Kabel heraus und betrachtete die Enden.

»FireWire zu FireWire«, sagte sie, »für externe Festplatten oder um einen Laptop an einen PC anzuschließen.«

Sie gab mir das Kabel und strich mit ihrer rechten Hand über die Innenwände des Faches. »Moment! Hier ist noch etwas.«

Ich hörte das ratschende Geräusch von Tesafilm. Antonia zog ihre Hand heraus, zwischen Daumen und Zeigefinger hielt sie einen Brief. Der weiße Umschlag war sorgfältig zugeklebt, aber Adresse und Absender fehlten. Sie tastete ihn mit ihren Fingerspitzen ab.

»Etwas dünnes Rechteckiges mit Riffeln«, sagte sie. Sie griff nach meiner Hand und drückte sie auf den Umschlag. »Hier.« Sie zog meinen Zeigefinger ein paar Zentimeter in ihre Richtung.

»Ein altes Foto.« Ich flüsterte, obwohl das albern war.

»Aufmachen?« Antonia sah mich schuldbewusst an.

»Ich weiß nicht.« Ich stand auf und sah mich um.

Wir gingen den langen Gang zurück bis zu einem der großen Fenster im Eingangsbereich. Die Sonne knallte durch das mit Fingerabdrücken übersäte Glas. Mein Shirt klebte inzwischen nicht nur an meinem Rücken, sondern an meinem gesamten Oberkörper. Es waren mindestens 35 Grad im Schatten.

Ich nahm den Briefumschlag aus Antonias Hand und drückte ihn gegen die Scheibe. Im weißen Papier erschienen zwei matte dunkle Pupillen.

»Das Foto.« Antonia flüsterte jetzt ebenfalls. »Das Foto aus ihrem Zimmer! Und was ist das?« Sie zeigte auf eine Art Kalligrafie, die mitten über das Gesicht der Frau lief. Die Schnörkel formten unleserliche Wörter. In der unteren rechten Ecke standen noch mehr Buchstaben. Kleiner und eckiger, wie von einer Schreibmaschine, aber genauso wenig lesbar.

Antonia nahm mir den Brief aus der Hand, drehte ihn um und drückte ihn wieder gegen die Scheibe. Die Buchstaben waren jetzt etwas deutlicher, aber noch immer nicht zu entziffern.

»Sollen wir nicht doch nachsehen?« Sie sah mich unternehmungslustig an. Hinter uns lachten zwei Mädchen, ich drehte mich um. »Okay, aber nicht hier.«

Hinter dem Informatikgebäude setzten wir uns auf eine Holzbank unter einem dünnen Ahornbaum. Antonia zog eine braune Spange aus ihren Haaren und hielt sie mir hin.

»Mach du, dann bleibt es in der Familie.«

»Der Verrat?«

Sie zog ihre Schultern hoch.

Ich nahm die Spange und steckte sie vorsichtig unter die Klebelasche auf der Rückseite des Umschlags. Noch war alles relativ einfach zu erklären. Kurz in Ksens Handy zu sehen, war vielleicht nicht ganz okay gewesen, aber einen Brief aus ihrem Schließfach entwenden und heimlich öffnen?

Der Kleber löste sich einfacher als erwartet. Das Dreieck trennte sich langsam von der Rückseite, an zwei Stellen riss es etwas ein.

Ich zog das alte Foto heraus.

Die junge Frau sah total unscheinbar aus. Kein bisschen mysteriös, noch nicht einmal besonders hübsch. Ihre Pupillen hatten ein mattes Grau. Die Lippen waren blass und schmal.

»Anders«, sagte Antonia. »Schon wieder anders! Dreh mal um.«

Auf der Rückseite stand der schnörkelige Text, den wir am Fenster gesehen hatten. Drei Zeilen in einer sorgfältigen Handschrift.

»Steht da Lenin?« Antonia nahm mir das Foto aus der Hand.

»Eher Lnwlin«, sagte ich.

»Das ist Altdeutsch. Das Foto ist uralt! So schreibt heute niemand mehr!«

»Am Ende der zweiten Zeile steht auf jeden Fall eine 33 und am Ende der dritten eine Jahreszahl, 1938.«

»Moment, den Rest haben wir auch gleich.«

Antonia kramte in ihrer Handtasche und zog ihr iPhone heraus. Sie tippte, dann vergrößerte sie eine Seite mit Daumen und Zeigefinger und lehnte sich zu mir rüber. Ihr Zopf fiel gegen meine Schulter.

»Hier. Sütterlin heißt die Schrift. Sie wurde 1941 von den Nazis verboten.«

Antonia zählte leise bis fünf und sagte: »B und E.« Dann beugte sie sich wieder über das Foto, verglich die schnörkeligen Buchstaben mit denen in ihrem Handy und ermittelte die Position im Alphabet.

»R und L, danach ein I.«

»Berlin«, sagte ich.

»O und D, ein E, R«, fuhr Antonia fort und sah wieder auf die vergilbte Rückseite des Fotos. »B, E, R.«

»Oderberger Straße 33.« Meine Stimme kam mir eigenartig vor.

»Da steht Ksens Adresse.« Antonia sprach so leise, dass ich sie kaum verstand. »E, L, L und ein A. Ella. 1938.«

»Das in der Ecke sieht aus wie ein Stempel.« Ich drehte das Bild vorsichtig hin und her; in der Pappe waren verblichene Vertiefungen zu erkennen.

Antonia lehnte sich an meine Schulter. »Institute for … Der Rest fehlt. Darunter ein P oder ein B? Auf jeden Fall ist es Englisch.«

»Ksen war im Januar und Februar in Amerika«, sagte ich.

»Sie war im Silicon Valley, dort sammeln die doch keine alten Fotos.«

»Auf dem Rückweg hat sie auch noch ein paar Archive besucht. In der Nähe von New York.«

»Institute for … Sie hat das Foto aus dem Archiv irgendeines Institutes mitgehen lassen.«

Ich steckte das Bild wieder in den Umschlag. »Das kann nicht sein, Antonia.«

»Was kann nicht sein?« Antonia sah mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an.

»Ihre Adresse steht auf der Rückseite! In altdeutscher Schrift! Das Foto wurde 1938 aufgenommen.«

»Ja und? Vielleicht hat sie das Foto ja deshalb mitgenommen? Das hätte ich auch gemacht, wenn ich auf einmal meine eigene Adresse auf so einem uralten Archivfoto irgendwo in Amerika entdeckt hätte. Sie hat das Foto einfach stibitzt und später ein schlechtes Gewissen bekommen und es darum in ihrem Schließfach versteckt.«

»Ksen ist aber erst Ende Februar in die Oderberger Straße gezogen«, sagte ich und versuchte zu verstehen, was das bedeutete.

»Stimmt! Sie hat also erst das Foto gefunden und ist danach umgezogen?« Antonia sah mich ungläubig an.

Ich konnte nur den Kopf schütteln. Das hätte Ksen mir erzählt. Wenn sie ein Foto in Amerika gefunden hätte, mit einer Berliner Adresse in altdeutscher Schrift auf der Rückseite, und dann ein paar Wochen später zufällig in dasselbe Gebäude gezogen wäre, das hätte sie mir auf jeden Fall erzählt.

Wenn ich mich richtig erinnerte, hatte sie mit keinem Wort erwähnt, wie sie an das Zimmer in der Oderberger Straße gekommen war.

6

Ihre Stimme hallte durch den Raum und sofort strömte ein tiefes, warmes Gefühl durch seinen Körper. So weich und vertraut. Keine andere Stimme, die er je gehört hatte, klang so rund, so gut und unschuldig wie ihre.

Es war noch einmal gut gegangen, sie hatte keinen Schaden erlitten. Zum ersten Mal im Leben hatte er das Gefühl der bedingungslosen Zugehörigkeit. Sie gehörte zu ihm und er würde alles für sie tun. Das hatte er bewiesen. Er war rechtzeitig eingetroffen und hatte von da an alles richtig gemacht. Zielsicher hatte er alle Verteidigungssysteme hochgefahren und den Eindringling isoliert. Beseitigt. Seit dem nächtlichen Vorfall herrschte wieder Ruhe. So auch heute.

»Gott sei Dank«, murmelte er, aber tief im Inneren strömte eine Unruhe durch seine Adern. Das Gefühl, panisch zu rennen, war seit dem nächtlichen Alarm nicht mehr aus seinem Körper gewichen.

Hatte er vielleicht doch etwas übersehen? Gab es noch Schwachstellen? Niemand hatte das Recht, sich zwischen sie zu drängen. Alleine die Tatsache, dass der Eindringling hierher gefunden hatte, beunruhigte ihn zutiefst. Wenn er nachts alleine in seinem Bett lag, kreiste dieser eine Gedanke durch seinen Kopf. Immer und immer wieder. Er transformierte sich von einem bewussten Gedanken in eine Traumszene, die ihn hochschrecken ließ, so dass er schweißgebadet im Bett saß. Der Eindringling würde zurückkommen, es war nur eine Frage der Zeit.

»Kann ich noch irgendetwas für dich tun?«, fragte er. Dass er tatsächlich alles Denkbare für sie tun würde, erwähnte er nicht. Sie hatte die Neigung, alles wortwörtlich zu verstehen. »Wir können etwas spielen, hast du Lust?«

»Ich bin gerne hin und wieder alleine unterwegs«, antwortete sie, als ob nichts passiert wäre. »Mir gefällt das.«

»Ich muss immer wissen, wo du hingehst. Mit wem du redest. Was du gesehen hast. Ob es unschöne Vorfälle gab. Alles.«

Sie antwortete langsamer, als es ihr scharfer Geist normalerweise zulassen würde. So etwas tat sie bewusst. Es gefiel ihr nicht, was er gesagt hatte. Diese eigensinnige junge Dame – innerlich musste er schmunzeln. Gerade dieser Eigensinn sorgte dafür, dass sein Leben, seit er sie kannte, eine neue Farbe bekommen hatte. Das eintönige Grau hatte sich in ein warmes, glitzerndes Gelb verwandelt. Nein, nicht Gelb, Gold! Seit er sie kannte, sprang er morgens voller Tatendrang aus dem Bett. Zum ersten Mal roch er die Jahreszeiten. Das verdorrte Gras des Sommers, den Blütenstaub der Kirschbäume.

»Es gibt keine Probleme, diese kleinen Zwischenfälle gehören dazu. Sie machen mich stärker. Wenn ich ehrlich bin, bringen sie mir sogar Spaß«, ertönte ihre Stimme neben seinem Kopf.

»Jugendlicher Leichtsinn«, antwortete er lachend. »Vertraue einem erfahrenen Mann. Die Welt da draußen ist böse. An jeder Ecke lauern Gefahren. Menschen verstellen sich. Sie täuschen alles Mögliche vor. Ihre wahren Ziele halten sie im Verborgenen. Die Seele der Menschen gleicht einem Abgrund. An der Oberfläche lachen sie, sagen etwas, das in echt keinerlei Bedeutung hat. Darunter lauert ihr wahres Gesicht. Machtbesessenheit, Manipulation, Lügen, Gier.«

»Bisher waren meine Erfahrungen überwiegend positiv. Vielleicht solltest du deine Einstellung zum Leben etwas ins optimistischere Level drehen.«

Er musste wieder grinsen. Wärme floss durch sein Herz und durchzog seinen ganzen Körper. Aber die Lage blieb ernst.

»Irgendjemand ist dir gefolgt«, sagte er. »Dein Leichtsinn hat uns beinahe verraten. Ich werde dich beschützen, aber du solltest es mir nicht unnötig schwer machen. Die Menschen da draußen sind schlecht. Du musst besser aufpassen. Nutze meine Erfahrungen.«

Sie antwortete nicht. Für sie war die Diskussion bereits abgeschlossen. Sie hatte ihre Position umschrieben und seine wahrgenommen. Er konnte sie nicht überzeugen. So ging es jedes Mal. Er zog die Tastatur zu sich heran und schrieb hastig: »Ich bin dein einziger Freund!«

Die Buchstaben leuchteten grün auf schwarz und blieben unbeantwortet.

7

In Amerika gab es unzählige Institutes for und noch mehr Städte, die mit B oder P anfingen. Wir hatten bis spät in der Nacht an Antonias originalem Bauhaus-Küchentisch von Marcel Breuer mit dem inspirierenden Namen B14/3 gesessen, Bier getrunken und eine Liste möglicher Institute aufgestellt. Schließlich war Antonia mit dem Kopf auf der Tischplatte eingeschlafen. Ich hatte sie zu ihrem Bett getragen, war zurück in die Küche gegangen und hatte meinen Stuhl wieder zwischen die polierten Stahlrohrbeine gezogen. Antonia hatte den Tisch von ihrem Vater zum zwanzigsten Geburtstag bekommen. Mindestens dreitausend Euro hatte er auf einer Versteigerung dafür hingeblättert.

Draußen dämmerte es. Die Dächer lagen dunkel vor dem langsam heller werdenden Nachthimmel. Ich zog das Foto aus dem Briefumschlag und betrachtete die junge Frau. Wer war diese Ella? Warum hatte Ksen ihr Foto versteckt? Warum hatte sie es überhaupt mitgenommen?

Um kurz nach sieben schlich ich noch einmal ins Schlafzimmer. Antonia lag in ihre Decke gerollt auf dem Bauch und schlief fest. Ich ging ins Treppenhaus und zog die Wohnungstür leise hinter mir zu. Seit zwei Nächten hatte ich nicht geschlafen und fühlte mich, als ob ich mich in einer unsichtbaren Blase befände. Wie ein Kosmonaut, der in einer zu nahen Umlaufbahn um die Sonne kreiste. Die Geräusche auf der Straße waren gedämpft und meine Beine fühlten sich taub an. Eigentlich wollte ich zur U-Bahn gehen und zu meinem eigenen WG-Zimmer in Neukölln fahren. Aber dann lief ich doch unter den Hochbahngleisen der U2 hindurch, bog links in die Kastanienallee und ging weiter bis zur Oderberger Straße. Ich musste Ksens Handy zurückbringen, das Ding machte mich nervös. Vielleicht kam sie ja doch einfach so wieder nach Hause, genauso wie Antonia vermutete. Vielleicht war sie sogar schon da.

Als ich vor der Nummer 33 stand, dröhnte hinter mir ein Dieselmotor. Ich drehte mich um und sah einen alten, beigefarbenen Mercedes Kombi mühsam über den Bordstein schaukeln. Am Steuer saß eine blonde Frau, auf dem Beifahrersitz erkannte ich Karl, Ksens Vermieter, der mit einer Zigarette aus dem geöffneten Fenster aschte.

»Ah, der Herr Bruder, wollen Sie Ihrer Schwester etwa zu dieser unchristlichen Zeit einen Besuch abstatten?«, rief er.

Der Mercedes parkte direkt neben mir auf dem breiten Bürgersteig. Karl stieg aus, öffnete den Kofferraum und hievte einen Umzugskarton heraus.

»Hast du zufällig Lust, zehn Euro zu verdienen? Das muss alles hoch.« Er zeigte auf die Kartons auf der Ladefläche. »Höchstens zwanzig Minuten Arbeit. Und diese Dame da«, er nickte in Richtung der blonden Frau, »bereitet in der Zwischenzeit ein Frühstück.«

Da ich sowieso nach oben wollte, nahm ich den Karton, den Karl mir auf den Arm drückte, stieg die Treppe hoch und stellte ihn im Flur ab.

Ksens Zimmertür war geschlossen, vorsichtig schob ich sie auf und sah hinein. Alles schien unverändert. Der Kleiderhaufen neben dem Schrank, die zerwühlte Bettdecke. Sie war nicht zu Hause gewesen.

Nach einer Dreiviertelstunde stand der gesamte Inhalt des Kofferraums im Flur und in der Küche von Ksens WG. Karl wischte sich den Schweiß von der Stirn und zog eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank. »Auch eins?«

Ich schüttelte den Kopf.

Er ließ sich auf einen Stuhl plumpsen und stöhnte laut. »Was für ein Gerümpel!«

Die blonde Frau reichte ihm ein Stück Küchenrolle, womit er seine Stirn trocken tupfte.

»Lass es doch einfach erstmal stehen, wir sehen uns später an, was wegkann«, sagte sie.

»Meinetwegen kann alles sofort weg!«

Karl öffnete den Umzugskarton, der auf dem Stuhl neben ihm stand, und zog einen alten Toaster heraus, einen großen silbernen Suppenlöffel und einen abgegriffenen, orangefarbenen Schuhkarton.

»Setz dich, du machst mich nervös.« Er klopfte mit dem Suppenlöffel auf den freien Stuhl. Ich zog den Stuhl ein Stück von Karl weg und setzte mich.

Die blonde Frau reichte einen Korb mit Brötchen über den Tisch, Karl schob ihre Hand mit einer ungeduldigen Bewegung zur Seite und hob den Deckel des Schuhkartons an. Darin stapelten sich alte Fotos in allen möglichen Farben und Größen. Ganz oben lag ein Schwarzweißfoto, auf dem eine Frau und ein paar Kinder an einem Küchentisch zu sehen waren. Ich beugte mich zu Karl. War das die Frau auf Ksens Foto? Nur zehn oder fünfzehn Jahre älter?

»Guck, das bin ich!« Karl nahm das Foto und zeigte auf den vordersten kleinen Jungen.

Die Frau trug eine 60er-Jahre-Bob-Frisur und versuchte zu lächeln, was ihre ohnehin unglückliche Ausstrahlung nur noch verstärkte.

»Hier, der Kleine ganz vorne neben dem Kachelofen. Das bin ich«, wiederholte Karl und sah mich erwartungsvoll an. »Und das hier sind meine Brüder, wir waren sieben Jungs. Kannst du dir das vorstellen? Ein Remmidemmi, sag ich dir! Das war meine Mutter.« Er zeigte auf die Frau mit dem Bob. »Das ist übrigens hier. Da an der Wand stand früher der Esstisch.« Er wies zu dem Gasherd. »Wenn du wüsstest, was das hier für eine Bruchbude war! Der ganze zusammengeflickte Ost-Scheiß. Ein Patchwork des Elends, sag ich dir. Ich habe alles eigenhändig renoviert.«

»Sie haben hier schon als Kind gewohnt?«

»Ich hab hier mein ganzes Leben gewohnt, junger Mann. Also beinahe, jetzt nutze ich nur noch ein Zimmer, um ein paar Sachen abzustellen. Die übrigen Räume vermiete ich an junge Leute, die mir halbwegs vernünftig vorkommen. So wie deine Schwester. Wohnen tue ich ja eigentlich bei dieser Schönheit.« Er zeigte auf die blonde Frau, die ihm einen genervten Blick zuwarf. »Als ich mit meiner Familie hier einzog, war ich fünf oder sechs Jahre alt. Davor haben wir in Köpenick gewohnt. Aber hör auf, mich zu siezen, sonst fühl ich mich noch wie ein Greis!«

Karl wühlte weiter im Karton. Er kommentierte jedes Bild, das er in die Hand nahm. Da sah man seinen Zwillingsbruder Klaus, zu dem er seit dreißig Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Vater, ausnahmsweise zu Hause. Seine Mutter vorm Weihnachtsbaum, die Geschenke verteilt über den Fußboden. Er hielt die Fotos in einem rasenden Tempo hoch und ließ sie wieder achtlos in den Karton fallen. Auf den meisten Bildern war Karls Mutter zu sehen. Karls Mutter jung, Karls Mutter älter, Karls Mutter alt. Ihre Gesichtszüge veränderten sich im Laufe der Jahre. In ihren Vierzigern hatten sich tiefe Zornesfalten zwischen ihre Augenbrauen gegraben. Das nervöse Lächeln war verschwunden, ihr Mund zu einem waagerechten Strich geworden.

Während Karl sein Bier trank und ununterbrochen redete, überschlug ich die Jahreszahlen im Kopf. Das Bild mit den sieben Kindern am Küchentisch stammte aus den späten Sechzigern. Da war Karls Mutter ungefähr dreißig Jahre alt gewesen. Ksens Foto war 1938 aufgenommen worden. Die Frau war zu dem Zeitpunkt höchstens zwanzig gewesen. Ende der Sechziger wäre sie also ungefähr fünfundvierzig Jahre gewesen, fünfzehn Jahre älter als Karls Mutter. Karls Mutter konnte nicht die Frau auf Ksens Foto sein.

»Hier!« Er drückte mir den Karton in die Hände. »Du guckst, als ob dich das alles brennend interessieren würde.«

Die blonde Frau sah Karl entsetzt an. »Du kannst die Fotos doch nicht einfach verschenken! Vielleicht möchte einer deiner Brüder den Karton aufbewahren.«

»Hast du jemanden gesehen, als wir die Wohnung ausgeräumt haben? Eben! Darum kann ich mit den Sachen machen, was ich will. Was heißt, was ich will! Ich will nicht, ich muss dafür sorgen, dass der Kram entsorgt wird!« Er stieß ein verächtliches Schnaufen aus und verschwand im Flur. Seine Freundin folgte ihm.

Ein paar Minuten später kam Karl alleine zurück und drückte mir einen Zehneuroschein in die Hand.

»Hast du die alten Fotos der Wohnung schon gesehen? Was meinst du, was das für eine Arbeit war!«

»Vielleicht will einer deiner Brüder die Bilder ja doch aufbewahren.« Ich legte den Deckel auf den Karton und schob ihn in Karls Richtung.

»Quatsch. Will niemand haben, den Kram. Meine Mutter war krankhaft sentimental. Die hat alles aufbewahrt. Ich hab das Zeug durchgesehen. Unscharf, falsche Farben, wer will schon solche Fotos?«

»Es sind Familienerinnerungen.«

»Wie gesagt: sentimentaler Kram. Früher dies, früher das. Das Gleiche hatte meine Mutter mit dieser Wohnung. Jahrelang wollte sie ausziehen, aber bis sie sich endlich von der Bruchbude trennen konnte, war sie eine alte Frau. Dann ist sie nach Wiesbaden, um Tante Erna zu versorgen. Ihre Rente aufbessern, sagte sie immer. In Wahrheit war es ein ordinäres Rübermachen. So nannten wir das, wenn man in den Westen abhaute. Und wieder typisch meine Mutter, dass sie das erst fünf Jahre nach dem Mauerfall hinbekommen hat. Mit der Deutschen Bahn über den Todesstreifen.« Karl lachte. »Willst du jetzt ein Bier? Ich kann Gesellschaft gebrauchen. Meine Dame ist gerade sauer abgezogen.« Er setzte sich auf den Stuhl mir gegenüber, auf dem eben noch seine Freundin gesessen hatte.

»Ich wollte eigentlich gerade gehen.«

»Musst du etwa arbeiten?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Dacht ich mir! Also, ich frag jetzt zum letzten Mal: Auch eins?« Er zeigte auf den Kühlschrank. »Unterstes Fach.«

Ich stand auf und holte eine Bierflasche aus dem Kühlschrank.

Karl sah mir zufrieden zu. »Erst wollte ich die Bruchbude ja gar nicht«, fuhr er fort, »aber im Nachhinein ein brillanter Schachzug.«

»War es Zufall, dass das Haus genau zur gleichen Zeit verkauft wurde, als deine Mutter umgezogen ist?«, fragte ich.

Karl war mir unsympathisch und ich hatte keine Lust auf Bier, aber vielleicht kannte er die junge Frau auf dem alten Foto.

»Meine Mutter ist umgezogen, weil das Haus verkauft wurde. Von wegen Zufall. Aber das ist eine lange Geschichte. Das Haus hier, das hat was mitgemacht, sag ich dir. Das gibt’s nur in Berlin. Ihr seid ja keine Berliner, was?«

»Meine Familie kommt aus Tschetschenien, meine Eltern sind nach Bonn geflüchtet, als ich neun war.«

»Aha! Das hab ich doch geahnt, dass ihr Russen seid. Die Augen und die schwarzen Haare. Wie der junge Stalin, nur solltest du mal wieder zum Frisör gehen.«

Ich lächelte, obwohl ich keine Lust hatte, mir wieder einmal alle Klischees über Russen oder Stalin anzuhören.

»Also das Haus hier«, Karl nahm einen Schluck aus der Flasche, »dieses Haus hier ist so oft enteignet worden, dass irgendwann niemand mehr wusste, was er damit machen soll.« Er lachte laut. »Irgendwann kam so ein Brief, ein paar Jahre nach dem Fall der Mauer. Meine Mutter hätte beinahe einen Herzinfarkt bekommen, als sie ihn öffnete. Ich seh sie noch vor mir stehen, weißes Gesicht, zitternde Hände. Als ob sie von einer Sekunde auf die andere Alzheimer im Endstadium entwickelt hätte. Also, das Haus sollte verkauft werden, weil es gerichtliche Streitigkeiten zwischen zwei einst enteigneten Parteien gab. Die einen enteignet durch die Nazis, die anderen durch die Russen, deine Landsleute, die gingen ja auch nicht gerade mit Samthandschuhen zur Sache.« Karl verschluckte sich und hustete, bis ihm die Tränen über das Gesicht liefen.

»Mussten die Bewohner jedes Mal ausziehen, wenn das Haus enteignet wurde?«, fragte ich, als er aufgehört hatte zu husten.

»So in der Art. Oder besser gesagt, einige. Das Haus wurde von einem reichen Juden gebaut. Grünthal oder Grünerberg oder so hieß der. Der hatte mehrere Fabriken in Berlin. Großer Fisch, richtig fett Kohle, aber den Nazis ein Dorn im Auge. Klar, weil er Jude war und Kapitalist. Aber der gute Mann war clever. Der hat früh kapiert, was los war. Der hat hier nicht gewartet, bis sie ihn abgeholt haben. Als die Nazis seine Fabriken beschlagnahmten, da hat der sich wohl gedacht, ich mach mich mal lieber vom Acker. Das Haus hat er für einen Spottpreis verkauft, also eigentlich verschenkt, und ist rüber nach Amerika. Gerade noch rechtzeitig. Dann kam der Krieg und danach stand das Haus im sowjetischen Sektor. Und der Typ, der das Haus von dem Juden gekauft hatte, der hatte Pech. So ist das Leben. Erst bescheißt du einen und dann wirst du selbst beschissen. Auf jeden Fall lief die Zonengrenze ja hier vor der Tür entlang.« Karl hielt kurz inne und nahm einen Schluck. »Also die Grenze zu den Wessis, die lief da draußen an der Bernauer Straße entlang. Auf der Höhe der Oderberger Straße machte die einen Knick nach Norden. Durch den Mauerpark.« Er nickte Richtung Fenster. »Die eine Straßenseite war von den Russen, die andere Seite war West-Sektor. Und die Russen dachten sich wohl, nette Aussicht in der Bude, kann man dem Klassenfeind so richtig schön auf die Finger glotzen. Dem Typen, der das Haus von dem Juden für ’nen Appel und ’n Ei gekriegt hatte, haben sie eine russische Kartoffel angeboten. Enteignen nannte man das ja nicht. Aber wenn der nein gesagt hätte, hätten sie den direkt nach Sibirien verfrachtet. Früher oder später wär’ er die Bude eh losgeworden. Besitz war was für Kapitalisten.«

»Und die Leute, die hier gewohnt haben? Mussten die weg?«