Da kann ich ja gleich zu Fuß gehen! - Andreas Schorsch - E-Book

Da kann ich ja gleich zu Fuß gehen! E-Book

Andreas Schorsch

4,4
7,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die DB-Information ist das Herz eines jeden Bahnhofs. Und wir, die freundlichen Mitarbeiter, die dort am Tresen stehen, wissen alles. Wir können alles, kennen jeden. So denken es jedenfalls die Zugreisenden. In ihrer Vorstellung haben wir den Bahnchef auf Kurzwahl, einen direkten Draht in jede Behörde der Stadt und das gebündelte Wissen der Welt im Kopf. Wir geben Auskunft zu jedem erdenklichen Thema, seien es komplizierte Verbindungen in die tiefste Provinz, EDV-Probleme oder wie man am besten eine Verabredung übersteht. Das schmeichelt uns natürlich. Deswegen kümmern wir uns gerne. Auch um das Unmögliche und um das, was mit dem Bahnreisen gar nichts zu tun hat. Aber höflich sollten Sie schon sein. Sind Sie es nicht, könnte es kritisch werden. Denn wer weiß schon, wo wir Sie hinschicken – wo Sie doch eigentlich auf direktem Weg nach Hannover wollten?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 252

Bewertungen
4,4 (16 Bewertungen)
8
6
2
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Köfferchenmann: Wann geht der nächste Zug nach Frankfurt?

Schorsch: Meinen Sie Frankfurt am Main oder Frankfurt an der Oder?

Köfferchenmann: Ist mir egal. Ich werde abgeholt.

Seit mehr als dreieinhalb Jahrzehnten ist Andreas Schorsch DB-Mitarbeiter mit Leib und Seele. Unerschrocken hütet er den Service Point in der Vorhalle des Düsseldorfer Hauptbahnhofs, unermüdlich widmet er sich den Menschen, die seine Infotheke ansteuern.

Was sie Schorsch fragen, was sie von ihm wollen und wie sie regelmäßig aus der Haut fahren – das sind Geschichten, die das Leben schreibt. Jeden Tag und jede Nacht. Ein Mann, der halb drei Uhr morgens wissen will, ob der Bürgermeister in seinem Büro ist, weil er ihm eine dringende Frage stellen muss. Fußballfans auf dem Sprung zu ihrem Lieblingsverein; alte Damen, die keinen Schlaf finden; Horden von angeschickerten Junggesellen, die jedes Wochenende den Bahnhof mit peinlichen Trinkspielen plattmachen. Die Durchgeknallten, die Verzweifelten, die Einsamen: Sie alle landen früher oder später im Bahnhof. Direkt vor dem Tresen von Andreas Schorsch …

Die Autoren

Andreas Schorsch, geboren 1960 in Düsseldorf, verbrachte nach der Hauptschule lässige 458 Tage beim Bund. Seine Ausbildung zum Fachverkäufer für Schuhmode fand ein abruptes Ende, als er eine Diskussion mit seinem Vorgesetzten nonverbal beendete. Es blieb bis heute sein einziger Sieg durch K.o. Seitdem setzt er sich als Mitarbeiter der Deutschen Bahn wortgewandt und hilfsbereit für die liebe Kundschaft ein.

Oliver Uschmann und Sylvia Witt haben mit der Romanreihe Hartmut und ich seit 2005 einen Kosmos geschaffen, der die Absurdität der real existierenden Welt pointiert überspitzt auf den Punkt bringt. Sie sind außerdem die Autoren zahlreicher weiterer erfolgreicher Bücher und privat sehr gut mit Andreas Schorsch befreundet.

Bei Goldmann ist von den Autoren außerdem lieferbar:

Wofür sitzen Sie eigentlich hier? Geschichten vom DB-Service-Point (15845)

Andreas Schorsch

Da kann ich jagleich zu Fuß gehen!

Neue Geschichtenvom DB-Service-Point

Aufgeschrieben von Oliver Uschmann & Sylvia Witt

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage Originalausgabe Oktober 2016Copyright © 2016 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München, unter Verwendung von Motiven von FinePic®, München Lektorat: Doreen Fröhlich DF ∙ Herstellung: Str.Satz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-18355-4V001www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz:

Inhalt

Vorwort

FRÜHSCHICHT

Die Pünktlichkeitsgarantie

Damwild im Zug

Filzgleiter

Wer nicht meckert, der ist krank!

Wo die Liebe hinfährt

Nervöse Männer

ERSTE PAUSE

Das Schienen von Taubenbeinen

SPÄTSCHICHT

Nur Bekloppte

Der Hass steht auf der Stirn geschrieben

Einer geht noch rein

Alles einfach so im Kopf?

Passt schon

ZWEITE PAUSE

Nudeln mit Nutella

NACHTSCHICHT

Störung im Betriebsablauf

Auswärtsspiel

Nice People

Sammlerwerte

Hamstern beim Amerikaner

DRITTE PAUSE

Der letzte Spaziergänger

Vorwort

In Science-Fiction-Filmen gibt es immer irgendwo ein Gehirn. Eine Zentrale, in der alle Fäden zusammenlaufen. Hat man sie einmal gefunden, kann man von dort aus alles bewirken. Das Zentrum streckt seine Nervenbahnen in sämtliche Richtungen aus. Millionenfach verzweigen sie sich und erreichen die entlegensten Winkel des Systems.

Für die echten Menschen in der echten Welt sind wir das Gehirn. Das Zentrum von allem. Wir, die freundlichen Helferinnen und Helfer an der Information der Deutschen Bahn. Der Tresen in der großen Halle des Bahnhofs ist nicht bloß das Herz der örtlichen Station oder die Auskunft für komplizierte Verbindungen in die tiefste Provinz.

Nein.

Wir wissen alles.

Wir können alles.

Wir kennen jeden.

So glauben es jedenfalls die Menschen.

In ihrer Fantasie erstreckt sich unser Einfluss nicht bloß in jedes einzelne Ladenlokal des Düsseldorfer Hauptbahnhofs sowie sämtliche Behörden der ganzen Stadt, sondern weit, weit darüber hinaus. Wir haben den kurzen Draht zu Bürgermeistern, Landräten und Präsidenten. Der Bahnchef sitzt bei uns auf Kurzwahl, und Frau Merkel ruft meist innerhalb einer Stunde zurück. Außerdem geben wir Auskunft zu jedem Thema, seien es Heimwerkertipps, EDV-Probleme oder die Geschichte der Hanse zwischen Rhein und Weser mit besonderer Berücksichtigung der Kartoffelzucht in den Jahren 1259 bis 1404.

So eine unterstellte Allmacht schmeichelt natürlich. Daher kümmern wir uns gerne um alles, auch um das Unmögliche. Wenn man uns höflich fragt. Fragt man unhöflich, kümmert sich nur noch meine Kollegin, die Annika. Die hat die Ruhe weg. Eine Seele von Mensch. Ich bin da ungeduldiger. Oder sagen wir es so: Ich fordere meine Mitmenschen gerne heraus, immer entlang ihrer Möglichkeiten.

Weil es so unglaublich ist, was die Menschen uns tagtäglich fragen oder was sie von der Deutschen Bahn verlangen, habe ich 2015 mein erstes Buch geschrieben. Es heißt Wofür sitzen Sie eigentlich hier? Geschichten vom DB-Service-Point und erzählt Anekdoten aus der Zeit, als die DB-Information noch »Service Point« hieß. Diese Anekdoten finden nun hier ihre Fortsetzung. Weil’s Spaß macht. Mir. Ihnen hoffentlich auch. Das Personal hinter dem Tresen ist dabei das gleiche geblieben. Die gute Annika, mein junger Kollege Yannick, ich und unser Chef, der »kleine Prinz«, eine seelenvolle und sehr lebendige Mischung aus Norbert Blüm, Don Quichotte und Napoleon. Die Menschen vor dem Tresen, die mit den unglaublichen Fragen und Vorstellungen, sind ohnehin zeitlos. Sie begegnen mir immer, vom ersten Tag an bis zum heutigen. Was sie fragen, was sie wollen und wie sie aus der Haut fahren – das ist alles echt. Das sind Geschichten, wie sie das Leben schreibt. Jeden Tag. Jede Nacht.

Letzte Nacht war zum Beispiel ein Mann da – nüchtern sogar, das sehe ich sofort –, der fragt mich, ganz ernsthaft, ob der Bürgermeister von Dortmund in seinem Büro sei.

Ja, genau.

So wie Sie gerade habe ich auch geguckt.

»Ich glaube kaum, dass der Mann um 2:33 Uhr arbeitet«, habe ich geantwortet. Dass ich nicht mal weiß, wie er heißt, verschwieg ich geflissentlich.

Der Kunde wollte wissen, ab wann er wieder zu erreichen wäre.

Ich googelte nach.

Seine Verdienste aus Nebentätigkeiten legt der Bürgermeister offen.

227 416,76 Euro im Jahre 2014. Respekt. 167 001,98 Euro davon hat er an die Stadt Dortmund abgeführt und so seine eigene Besoldung als Oberbürgermeister refinanziert. Kann man alles ganz offen im Internet finden. Sprechstunden hat er allerdings nicht.

Jedenfalls stehen da keine.

Aber ich könne doch da was machen, meinte der nächtliche Kunde.

Um es noch mal zu betonen: nüchtern.

Ich: »Öh, nein.«

Er: »Wofür sitzen Sie eigentlich hier?«

Deswegen der Titel des letzten Buches.

Warum dieses heißt, wie es heißt, müssen Sie selber herausfinden. Dabei wünsche ich Ihnen viel Spaß und gute Unterhaltung.

Und wenn Sie mögen, kommen Sie ruhig mal vorbei und sagen mir, wie Sie es finden. Düsseldorf, Haupthalle, Information.

Ich bin der Lange.

(… aber bitte nur, wenn sich die Schlange der Hilfeersuchenden nicht bis zum nichtexistenten Gleis 1 windet …)

Herzliche Grüße,

Ihr Andreas Schorsch

FRÜHSCHICHT

Die Pünktlichkeitsgarantie

Wir haben einen neuen Stammgast. Willi. Gelassen lehnt er am Tresen, als wäre die Information eine Bar. Willi fährt nie mit der Bahn, angeblich ist er sein gesamtes Leben lang keinen Zug gefahren. Ich glaube das nicht. Annika schon. Annika glaubt grundsätzlich an die Menschen. Eigentlich würde ich Willi gerne mal fragen, was man früher auf dem Schulhof fragte, wenn einer ständig neben einem stand und redete. Da fragte man: »Sag mal, hast du kein Zuhause?« Aber das finde ich zu böse. Fand ich immer schon. Und so ganz unter uns gesagt: Im Grunde mag ich den kleinen Mann. Ich gewöhne mich schnell an Rituale. Ist es einmal da, das neue Ritual, gewöhne ich es mir nur sehr ungern wieder ab. Und Willi, das ist ein Ritual auf zwei Beinen. Zwei kurzen Beinen. Willi bringt es fertig, in noch tieferen Luftschichten zu leben als der kleine Prinz, also mein Chef. Außerdem ist Willi geduldig und brav. Er wartet mit dem Weiterquasseln immer ab, bis ich einen offiziellen Fahrgast abgefertigt habe. So wie jetzt gerade auch. Ich fertige ab, er steht schön still daneben und lauscht.

»Das heißt also, Sie können mir keine verbindliche Auskunft darüber geben, ob die Verbindung von Düsseldorf nach Krefeld im Frühjahr 2017 zuverlässig ist?«

Ich schaue mir den Kunden, der das fragt, in aller Ruhe an. Anfang dreißig, schwarze Anzugschuhe zur Jeans, graues T-Shirt, dunkelblaues Jackett. Zierliche Statur. Die Uhr ist deutlich zu groß für sein schmales Handgelenk. Sie zieht den ganzen Körper links leicht nach unten. Seine Haare hat der spätpubertäre Geschäftsmann unter Einsatz von sehr viel Gel so gestaltet, dass sie aussehen sollen, als sei er gerade aus dem Bett gefallen. Im Winter wird er nach Düsseldorf ziehen, um von unserer schönen Stadt aus täglich zu seinem neuen Job in Krefeld zu pendeln. Da braucht man selbstverständlich Planungssicherheit. Ich verstehe das. Willi rollt dezent mit den Augen.

»Die Verbindung steht«, sage ich.

»Also doch!«, freut sich die Out-of-Bed-Frisur.

»Ja, ja«, sage ich, »täglich mit der NordWestBahn, unserem freundlichen Partner in Gelb und Blau. Oder mit dem ICE und Umsteigen in Duisburg in die Regionalbahn nach Krefeld. Die Schienen liegen, der Schotter wird so schnell nicht schlecht, und ein, zwei Kunden wollen mindestens jeden Tag nach Krefeld. Da wird der dortige Bahnhof vorerst nicht abgeschafft. Ich gehe demnach stark davon aus, dass die Verbindung auch 2017 noch gegeben ist. Eine Garantie gibt es allerdings nicht.«

»Ja, aber das war doch gar nicht meine Frage!«

Jetzt guckt Out-of-Bed wieder empört. Wüsste ich’s nicht besser, könnte ich schwören, dass eines seiner steil aufragenden Haare gerade wie ein Zweig im Sturm abgeknickt ist. Er wirft seine Hühnerbrust auf die Theke und zeigt seinerseits seitlich auf meinen Bildschirm, den er trotz seiner Bemühungen nicht einsehen kann.

»Meine Frage war: Kann ich sicher sein, dass die NordWestBahn ab dem 1. März 2017 morgens pünktlich kommt und keine Verspätung hat?«

»Tatsächlich?«, frage ich.

»Wie, tatsächlich?«

»Das war wirklich Ihre Frage? Ob der Pendlerzug in einem Jahr pünktlich oben an Gleis 5 einfährt? Das war die Frage?«

»Ja! Sind Sie taub?«

»Ich wollte nur sichergehen.«

Willi dreht am Ende der Theke den Kopf ein wenig zur Seite, damit sein Kichern nicht bemerkt wird.

Ich sage: »Sie möchten also von mir eine verbindliche Zusicherung, dass der blaugelbe Zug Sie in 365 Tagen morgens pünktlich zur Arbeit bringt?«

»Ja. Oder geht das nicht, weil das die Konkurrenz ist? Für den Fall machen Sie mir irgend so ein ICE-Abo. Das mit Duisburg da, was Sie eben meinten.«

»Schiene ist Schiene«, antworte ich. »Unsere Züge müssen genauso anhalten wie die NordWestBahn, wenn ein Baum auf den Gleisen liegt. Da können wir leider keine Kurve drumherum fahren.«

»Sie sind so witzig«, sagt der junge Mann.

Ich beuge mich ein Stück vor und lege meine Stimme noch tiefer, als sie ohnehin schon brummt. Stünde ein Glas Wasser auf dem Tresen, würde dessen Oberfläche nun vibrieren wie im ersten Teil von Jurassic Park, wenn der große Saurier naht. Ich frage meinen Kunden: »Was genau bedeutet denn für Sie pünktlich?«

»Na, pünktlich eben. In time. Eine, höchstens zwei Minuten später.«

»Aha. Also drei wären schon zu spät?«

»Aber sicher!«

»Sie wollen also von mir wissen, ob der Pendlerzug oben an Gleis 5 täglich mit allerhöchstens zwei Minuten Verspätung einfährt? Im März 2017?«

»Ja, doch. Spreche ich Kasachisch?«

»Ich wollte nur sichergehen.«

Der junge Mann schüttelt den Kopf. Ich kratze mein rasiertes Kinn und schaue für ein paar Sekunden nach links in die Passage, um tiefe Nachdenklichkeit zu simulieren. Zwischen den Aufgängen zu den Gleisen kleben die Geschäfte im Tunnel. Die Parfümerie und die Apotheke. Die ReiseBank und der Tchibo-Shop. Die Schuhauslage von Görtz und die Klamotten von Six. Als ich mit dem vorgetäuschten Nachdenken fertig bin, schaue ich den gepflegten Mittdreißiger mit der schweren Uhr wieder an: »Muss der Zug jeden Tag garantiert pünktlich kommen oder würde Ihnen das Anfang März reichen, damit Sie bei Ihrem neuen Arbeitgeber die ersten fünf Werktage einen guten Eindruck machen?«

Der junge Mann schöpft Hoffnung. Eine Pünktlichkeitsgarantie von der Bahn, wenn auch nur für eine Woche!

»Nun ja«, sagt er, »eine ganze Woche, das wäre schon was.«

Ich schaue erneut kurz zu Tchibo, Görtz und Six. Zähle ein paar Sekunden ab. Beobachte schnatternde Teenager vor dem Schaufenster und einen Pfandsammler, der sich ärgert, weil er nur eine 8-Cent-Glasbierflasche aus der Tonne zieht statt eines 25-Cent-Wassers aus weichem Kunststoff.

»Gut«, sage ich. »Dann bräuchten wir für diese Woche, ich würde mal schätzen, 750 Leute.«

»Was?«

»Können auch 800 oder 900 sein, da spielen viele Faktoren eine Rolle.«

»Was reden Sie denn da?«

»Sie machen doch sicher was mit Zahlen«, sage ich. »So gut wie Sie kleidet sich ja kein Realschullehrer oder Berufslyriker.«

Der Anflug eines Lächelns erscheint auf seinem skeptischen Gesicht. So schnell geht das. Bring ein paar Feindbilder deines Gegenübers ins Spiel, und du hast einen Freund gewonnen.

»Diese zusätzlichen Mitarbeiter müssten in der ersten Märzwoche 2017 in dichtem Abstand entlang der Gleisstrecke von Düsseldorf nach Krefeld stehen. Um im Fall der Fälle Astwerk von den Schienen zu klauben, aber vor allem, um sicherzustellen, dass sich an dem Tag keiner vor den Zug wirft. Das ist schon machbar, weil die NWB75018 hier im Bahnhof startet, also nicht erst von irgendwo herkommt. Allerdings könnte sie aufgehalten werden, falls jemand meint, sich im weiteren Umkreis der Stadt umbringen zu müssen, so dass andere Linien später einfahren und dann den Vorzug kriegen. Nehmen wir aber mal an, es reicht, die Gleise entlang Meerbusch-Osterath und Krefeld-Oppum bis zum Ziel selbstmordfrei zu halten, müssen wir zusätzlich für jede beteiligte Person einen Echtzeitersatz bereitstellen. Der Zugführer und sein Assistent im Fahrzeug, die Männer in der Zentrale. Fällt einer ohne Vorankündigung aus, darf der Ersatz nicht zehn Minuten brauchen, bis er von zu Hause angetanzt ist. Am teuersten von allem wird aber sicherlich sein, die Flugzeuge loszuschicken.«

»Die Flugzeuge? Welche Flugzeuge?«

»Wetterbeeinflussung durch gezielte Abgabe bestimmter Partikel in den oberen Luftschichten. Es ist keine narrensichere Methode, aber so ließen sich eventuell heftige Niederschläge oder Gewitter in der ersten Märzwoche 2017 verhindern, die ebenfalls ein Grund für Verspätungen sein könnten. Leider hat die Bahn noch gar keine Wetterbeeinflussungsflugzeuge in ihrem Fuhrpark. Die müsste der Konzern erst einmal bei Dornier oder der Airbus-Gruppe einkaufen und vorher seine Kontakte zum Bund sowie zum Geheimdienst spielen lassen, da es Wetterbeeinflussungsflugzeuge offiziell ja gar nicht gibt. Das wird kostspielig. Sehr kostspielig.«

Der Haargelgeschäftsmann macht einen Schritt zurück und führt einen Entrüstungstanz auf, das in einer vorwurfsvoll auf meine uniformierte Brust zeigenden Hand endet.

»Wissen Sie was? Unsereins muss sein Leben planen. Unsereins kann es sich nicht leisten, nach Nordrhein-Westfalen zu ziehen und dann nicht sichergehen zu können, in der ersten Woche pünktlich zur Arbeit zu kommen! Unsereins ist in der freien Wirtschaft nämlich ganz schnell wieder weg vom Fenster! Das können Sie als Beamter natürlich nicht verstehen.«

Ich schüttele den Kopf und benenne grinsend meinen wahren Arbeitgeber: »Nix Beamter. Angestellter der DB Station & Service AG innerhalb der DB Netz AG. Hören Sie das? Da kam direkt zwei Mal AG vor in diesem Satz.«

Die Leute gucken schon. Die vorwurfsvolle Hand zeigt immer noch auf mich. Allerdings sinkt sie langsam nach unten. Sie wissen ja noch, die schwere Uhr …

»Eine Lösung hätte ich für Sie, wie Sie tatsächlich im März 2017 jeden Tag pünktlich zu Ihrem neuen Job kommen, und das garantiert.«

Die Hand ist nun wieder unten, die Uhr zieht gnadenlos Richtung Erdmittelpunkt. Der junge Mann hebt hoffnungsvoll den Kopf, weil er den Eindruck hat, dass ich das Folgende ernst meinen könnte. Diesen Eindruck hat er, weil es tatsächlich so ist. Zwei dramatische Sekunden warte ich noch ab. Dann sage ich: »Ziehen Sie doch einfach direkt nach Krefeld, statt täglich von hier aus zu pendeln.«

Die Farbe weicht vollständig aus dem Gesicht des jungen Mannes. In Krefeld zu leben, scheint eine schlimmere Vorstellung zu sein, als wenn ich ihm als Wohnort den Archipel Gulag vorgeschlagen hätte. Er bringt fünfzig Meter zwischen sich und meine Theke, bevor er so laut, dass alle Gäste im Bahnhof es hören können, schimpft: »Sie können Sie wirklich nicht alle haben! Aber echt! Nach Krefeld ziehen! Sie können Sie nicht alle haben!«

Ich sehe ihm nach.

Willi sieht ihm nach.

Die gute Annika ist gerade in der Pause und mümmelt Marzipancroissants bei Le Crobag. Sie hätte mich wahrscheinlich spätestens bei den Flugzeugen zur Wetterbeeinflussung gebremst. Für sie ist jeder Fahrgast gleich, auch die mit den ganz dummen Fragen. Die Gute.

»Was ist so schrecklich an Krefeld?«, frage ich Willi, der sich nun langsam wieder Richtung Tresenmitte bewegt. Es steht ja momentan kein anderer Kunde an. Wie Willi sich da immer so schön auflehnt, den Ellbogen fast auf Höhe seiner Ohren, das ist einfach herrlich. Da möchte ich ihm am liebsten tatsächlich einen Barhocker und eine Fußschiene spendieren. Und natürlich einen echten DB-Drink. Wäre vielleicht ein Geschäftsmodell.

»Andreas, Andreas, Andreas …«, sagt Willi und ignoriert meine Krefeld-Frage. »Das hätte ich dir gar nicht zugetraut.«

»Was? Dass ich Grünschnäbel auf den Arm nehme, die von mir eine Pünktlichkeitsgarantie für einen Nahverkehrszug in einem Jahr wollen?«

»Nein. Dass du dich auch für die Chemtrails interessierst!«

Oh nein. Meine Fantasie des Wetterbeeinflussungsflugzeugs. Das hätte ich besser nicht im Beisein Willis erwähnen sollen. Willi ist Experte für Verschwörungstheorien. Das heißt, er glaubt grundsätzlich an alles, was von den Nachrichten ignoriert wird. Zum Beispiel an die Theorie, dass die Abgasspuren der Flugzeuge am Himmel absichtlich ausgebrachte Chemikalien sind, um das Wetter zu manipulieren und die Bevölkerung krank zu machen. Angeblich verteilen sie winzige, wollfädenartige Parasiten, die sich in die Haut eingraben. Fängt Willi jetzt damit an, hört er bis zum Ende meiner Schicht nicht mehr auf.

»Weißt du da vielleicht mehr als wir Normalsterblichen?«, fragt Willi.

Das denken übrigens alle Kunden, nicht nur mein Stammgast. Dass wir von der Bahn keine »Normalsterblichen« sind. Dass wir mehr wissen. Dass wir den Einblick in alle Hinterzimmer haben. Und wenn wir behaupten, das wäre nicht so, ist das erst recht der Beweis dafür.

»Eins nach dem anderen«, sage ich und klicke konzentriert die Maustaste. »Jetzt schauen wir erst mal nach, wieso man nicht in Krefeld leben kann.«

Damwild im Zug

»So richtig schlüssig ist das alles nicht«, sage ich.

»Nun ja, der Geist der Geschichte wirkt häufig Jahrhunderte nach«, sagt Willi. Mittlerweile hat er einen Drink vor sich auf der Infotheke stehen, einen Caffé Latte vom Bäcker. Ich trinke meinen Kaffee schwarz, direkt aus der Tasse des 1. FC Köln. Anders als sonst bekommt diese kleine Provokation heute Morgen bislang niemand mit.

»Sei nicht so esoterisch«, ermahne ich den kleinen Willi.

»Wieso?«, wehrt er sich. »Stell dir mal vor, die alteingesessene Bevölkerung würde heute plötzlich in Scharen Andersgläubige angreifen? Da wären alle entsetzt und das mit Recht.«

Annika beobachtet uns bei unserer Recherche und schüttelt nachsichtig den Kopf. Wie eine Mutter, deren pubertierende Söhne sich im Spiel mit den Ritterfigürchen verlieren. Auf dem Bildschirm sind die Lexikonseiten zu Krefeld geöffnet. Sie verraten uns, dass der Zustrom von katholischen Mennoniten in die protestantische Stadt Ende des 17. Jahrhunderts zu einer Vergrößerung des Ortes und schließlich zu Übergriffen auf die Zuwanderer führte. 1758 gab es außerdem die Schlacht bei Krefeld während des Siebenjährigen Krieges. Die Preußen meuchelten unter Prinz Ferdinand von Braunschweig am Stadtrand gleich reihenweise Franzosen.

»Das ist doch alles lange her«, sage ich. »Aber gut, es stimmt schon. In Krefeld herrschte wohl häufiger schlechte Chemie.«

Willi haut so heftig mit der flachen Hand auf den Tresen, dass sogar ich zusammenzucke. Annika lässt fast den Ausdruck der Verbindung fallen, den sie gerade einer Frau in roter Kapuzenjacke überreicht.

»Chemie!«, ruft Willi. »Natürlich! Schlechte Chemie! Das ist es!«

»Ich kann nicht folgen«, sage ich.

Annika macht eine Notiz auf unserem Block für selten angefahrene Bahnhöfe. Ich linse neugierig hinüber. Das Rotkäppchen von eben muss sich ein überaus exotisches Reiseziel ausgesucht haben. Der Block ist unser neues Hobby. Es gibt Ziele, die wählt die Kundschaft nur einmal im Jahr. Wenn es hochkommt. Manche Orte werden noch seltener genannt, so dass wir sie nachschlagen müssen, um sicherzugehen, dass sie keine Fantasiedörfer sind, die ein Hacker nur aus Spaß in die Datenbank eingepflanzt hat. Annika und ich gestalten uns den geliebten Beruf immer gerne abwechslungsreich. Sie legt den Block weg, da der nächste Kunde ansteht. Ich muss daran denken, nachher zu schauen, welche Station sie aufgeschrieben hat.

»Schlechte Chemie!«, fährt Willi fort. »Die Bayer-Werke in Krefeld-Uerdingen. Der Konzern hat doch schon vor Jahren diese Pipeline gebaut, durch die hochgiftiges Kohlenstoffmonoxid transportiert wird. Tritt davon etwas aus und gerät in die Luft oder in den Boden, ist es aus mit dem Gemüse und dem Menschen.«

Ich googele die Pipeline und überfliege die Zeilen auf dem Monitor.

Annika bedient einen Fahrgast, der das Gegenteil unserer Exotenziele auf dem Block darstellt. Er möchte eine Verbindung von Düsseldorf nach Frankfurt Flughafen. Das ist ungefähr so originell wie ein Anrufer im Radio, der sich »Atemlos« von Helene Fischer wünscht. Trotzdem nutzt der Kunde den Moment für einen kleinen Plausch, sodass ein weiterer Fahrgast entschlossen auf meine Seite des Tresens zumarschiert. Willi macht seinen Ausfallschritt, ich setze mein zuvorkommendstes Lächeln auf. Der Kunde ist ein hagerer, leicht hühnerhalsiger Mann Ende fünfzig. Runde Brille, Stoffhose, Weste, Hemd und Fliege. Das sieht man selten.

»Guten Tag«, sage ich.

»Guten Tag«, sagt er.

»Was kann ich für Sie tun?«

Die Fliege zieht ein Papier aus der Westentasche und faltet es vor mir auf. »Sie können das bitte an die Gastronomie weitergeben.«

»Wie meinen?«

Der Mann tippt auf die eng geschriebenen Zeilen. Er hat sie selber aufs Papier gebracht, mit Füller und Tinte. Die Schrift ist sehr schön. Es könnte sich genauso gut um ein Originalmanuskript von Siegfried Lenz oder Günter Grass handeln.

»Grundsätzlich geht das in Ihren Bordrestaurants alles schon in die richtige Richtung«, sagt der Mann. »Aber statt irgendwelcher Sterneköche, die ihr Gesicht in die Kamera halten, muss dringend etwas an der Vielfalt getan werden. Und an der Frische.«

Das wird jetzt schwierig.

Unmögliche Wünsche, vorgetragen von vorlauten Vokuhila-Trägern in Ballonseide, das ist leicht. Aber unmögliche Wünsche, vorgetragen von feinsinnigen Fliegenträgern in edler Kluft, das ist schwer. Ich überfliege die handschriftliche Liste der Vorschläge. Sie beginnt mit dem Abschnitt »Getränke/nicht alkoholisch«. Neben den Klassikern Bitter Lemon, Tonic Water und Ginger Ale fallen mir diverse Fruchtsäfte ins Auge. Kirsche, Johannisbeere und Grapefruit, Letzterer frisch gepresst.

»Ein Glas Grapefruitsaft moderiert den Appetit und fördert die Verdauung«, erklärt der Fliegenmann. Er rückt seine Brille zurecht und lenkt meine Aufmerksamkeit auf den Abschnitt »Gerichte/Wild und Geflügel«.